Nocturnes
Nocturnesvon John Connelly
LESEPROBE
Dasspiegelnde Auge
1
Das Grady-Haus ist nicht einfach zu finden. Es liegt an einer Landstraße,die sich wie ein todgeweihtes Reptil von der 210 aus in nordwestlicher Richtungzwischen steilen, mit Kiefern und Tannen bewachsenen Abhängen windet und immerunwegsamer wird, erst Asphalt, dann aufgeplatzter Beton, dann Schotter undschließlich Sand, als setzte die Straße alles daran, jeden, der einen Blick aufdas Haus mit blauem Giebel an ihrem Ende werfen will, davon abzuhalten. Undsollte es einem Neugierigen dennoch gelingen, so weit vorzudringen, muss ernoch ein letztes Hindernis überwinden, denn der Kiesweg zur Haustür ist vonwild wucherndem Unkraut überwachsen. Umgestürzte Bäume sind nicht weggeräumtworden, Ranken und Kriechpflanzen haben sich diese natürlichen Brücken zunutze gemachtund bilden gemeinsam mit dornigen Sträuchern und Brennnesseln eine hässlichegrün-braune Wand. Nur die Hartnäckigsten kämpfen sich durch dieses dichteGestrüpp oder klettern über Gräben und Felsen, stolpern über Baumwurzeln, dieso wenig Halt im Boden finden, dass die Bäume, die sie tragen, schon demgeringsten Sturm zum Opfer fallen.
Wer weitervordringt, gelangt in einen Garten mit grauer Erde und faulig stinkendemUnkraut, begrenzt vom Wald, der in einer bemerkenswert geradlinigen Baumreihegut fünf Meter vom Haus entfernt endet, als wagte selbst die Natur sich nichtnäher heran. Es ist ein einfaches Haus mit zwei Etagen, einem Dachgaubenfensterund einer Veranda, die um drei der vier Seiten verläuft; eine altersschwache Schaukelhängt schief an einem einzigen Seil. Verdorrte Blätter, eingerollt wie toteInsekten, sind vor Fenstern und Türen aufgehäuft. Darunter begraben liegt diemumifizierte Hülle eines Zaunkönigs, mit Gefieder, so brüchig wie altes Pergament.
Die Fensterdes Hauses wurden schon vor langer Zeit mit Brettern vernagelt, Vorder- undHintereingang sind durch Stahltüren gesichert. Es gibt keinerleiEinbruchsspuren, denn selbst die verwegensten Strolche halten respektvoll Abstand.Hin und wieder kommen Halbstarke, um einen Blick auf das Haus zu werfen und inseinem Schatten Bier zu trinken, als wollten sie die bösen Geister herausfordern,aber wie kleine Jungs, die einen Löwen durch die Gitterstäbe seines Käfigsreizen, sind auch sie nur so lange mutig, wie es eine Barriere zwischen ihnenund dem Ungewissen im Innern gibt.
Denn dasHaus birgt etwas Unheilvolles. Es mag keinen Namen haben, nicht einmal eineForm, aber es existiert. Es besteht aus Kummer, Schmerz und Verzweiflung. Essteckt im Staub auf dem Fußboden und in den verblichenen Tapeten, die sich nachund nach von den Wänden lösen. Es steckt in den Flecken des Spülbeckens und inder Asche des letzten Feuers. Es steckt in der Feuchtigkeit an der Decke und imBlut auf den Dielen. Es steckt überall, und es hat viele Gesichter.
Und eswartet.
Seltsamerweisewird John Gradys Name kaum jemals ausgesprochen, außerim Zusammenhang mit Morden, die von anderen begangen wurden. Über ihn wurdenkeine Bücher geschrieben, nicht einmal in der heutigen, von unersättlicher Neugierauf die schwärzesten Seelen unter uns geprägten Zeit, und so bieten seineVerbrechen keinen Stoff, der die öffentliche Phantasie beflügelt. Natürlichkönnte jemand, der bereit ist, sich in kriminalistische Zeitschriften oderLehrbücher über Gewaltverbrechen zu vertiefen, versuchen, etwas über John Grady in Erfahrung zu bringen, aber er wird unweigerlich scheitern.John Grady ist unerklärlich, denn um ihn erklären zukönnen, müsste man zumindest etwas über ihn wissen. Man bräuchte Fakten:über seine Geschichte, seine Persönlichkeit. Man bräuchte Schulkameraden oderKollegen, einen abwesenden Vater oder eine übermächtige Mutter. Man bräuchtetraumatische Erlebnisse und Hinweise auf eine gestörte Sexualität.
Doch inBezug auf John Grady gibt es nichts dergleichen. Erkam 1977 nach Maine und kaufte ein Haus. Seine Nachbarn statteten ihm Besucheab, und er lud sie ein, das Haus zu besichtigen. Das Haus war alt, aber John Grady war offenbar ein erfahrener Handwerker, denn er rissWände heraus, verlegte neue Fußböden, erneuerte den Putz und baute neue Bäderein. Seine Nachbarn blieben nie lange, denn John Gradywar ein sehr beschäftigter Mann, doch alle hatten irgendwie ein seltsamesGefühl. Die ursprünglichen teuren Tapeten waren weg, stattdessen klebte einschmuckloser, billiger Ersatz an den Wänden. Den Kleister, den Grady benutzte, hatte er selbst hergestellt, ein stinkendesZeug, das den Besuchern einen weiteren Grund gab, sich nicht sehr lange im Hausaufzuhalten. Grady führte alle Arbeiten allein aus.Wenn er davon erzählte, wie er das Haus einrichten wollte, spürte man, dass ereine genaue Vorstellung davon hatte. Er sprach von roten Vorhängen und tiefenSamtsofas, von Badewannen mit Tatzenfüßen und Esstischen aus Mahagoni. Es seiein Liebesdienst an dem Haus, sagte er, doch die Leute betrachteten die billigenTapeten, rochen die ranzige Substanz, mit der er sie angeklebt hatte, und tatenihn als Spinner ab. John Grady entführte Kinder. Daserste, den kleinen Mattie Bristol aus North Anson, holte er sich im Herbst 1979; das zweite, Evie Munger aus Fryeburg, im Frühjahr 1980; das dritte, Nathan Lincoln ausSouth Paris, im Sommer 1980. Denny Maguire, das vierte Opfer und das einzige, das überlebte, wurde in der dritten Maiwoche nach der Schule auf demHeimweg entführt. Und sein letztes Opfer, Louise Matheson,verschwand am 21. Mai 1981 auf dem Weg von ihrem Elternhaus zu ihrer bestenFreundin Amy Lowell.
Das warsein Fehler, denn Amy freute sich so sehr auf ihre Freundin, dass sie sichhinter den Bäumen in der Nähe ihres Hauses versteckte, um im letzten Augenblickhervorzuspringen und sie zu überraschen. Sie sah, wie GradysLincoln neben ihrer Freundin anhielt, wie der Mann in dem Wagen sichherausbeugte und mit ihr sprach, und beobachtete starr vor Entsetzen, wie Grady Louise an den Haaren packte und ins Auto zerrte. AmysEltern hörten ihre Schreie, und schon nach wenigen Minuten fahndete die Polizeinach einem roten Lincoln.
Siebrauchten nicht lange zu suchen. Die Entführung von Louise Mathesonwar ein Gelegenheitsverbrechen von John Grady gewesen.Seine früheren Opfer hatte er in weiter entfernten Städten des Bundesstaatesentführt und zu sich nach Hause geholt, um sie zu töten, aber bis Shin Pond waren es kaum fünfzehn Kilometer. Die Gier hatte esJohn Grady immer schwerer gemacht, seinen Drang unterKontrolle zu halten, und die Erleichterung, die ihm die Morde verschafften,hielt nicht mehr so lange an wie früher. Man kann sich gut vorstellen, wie eran dem Tag, als er Louise Matheson aufgriff, durchdie Straßen kurvte, getrieben von seinem Hunger, wie er sich vielleichteinredete, er würde nur ein bisschen spazieren fahren, um sich abzulenken, undeigentlich gar nicht vorhatte, sich ein neues Opfer zu suchen.
John Grady war ein großer, hagerer Mann. Seine Haare warenvorzeitig ergraut, sein Schädel war fast kahlgeschoren,was sein Gesicht noch länger erscheinen ließ. Sein Kinn stand aufgrund desKalziummangels, unter dem er in seiner Kindheit gelitten hatte, unnatürlichweit vor, was er zu verbergen versuchte, indem er den Kopf meist gesenkt hielt.Wenn er aus dem Haus ging, trug er immer einen Anzug, von dem sich eineauffällige Fliege und dunkle Hosenträger abhoben. Auf gewisse Art wirkte eraltmodisch, seine Anzüge, wenngleich sauber, sahen aus, als hätten sie schon langeauf dem Dachboden gehangen oder als stammten sie aus einem Secondhandladen.Kragen und Manschetten seiner Hemden waren ein wenig durchgescheuert. Seine Fliegenwaren verschossen und fleckig, was auf langjähriges Tragen schließen ließ.
John Grady hatte lange Finger und riesige Hände. Amy Lowellhatte der Polizei berichtet, die Finger des Mannes hätten sich, als er den Kopfihrer Freundin ergriffen hatte, wie die Krallen eines großen Vogels fast bis zuden Augen über die Haare gebreitet.
Trotz ihresSchocks gab Amy Lowell der Polizei eine brauchbare Beschreibung des Mannes, derLouise Matheson entführt hatte, sowie seines Wagens.Einige Leute erinnerten sich daran, dass John Gradyeinen roten Lincoln fuhr, woraufhin die Polizei zu seinem Haus fuhr und den Wagenentdeckte. Auf das Klopfen der Polizisten hin öffnete niemand, und sodiskutierten sie auf den Stufen der Veranda darüber, ob Gefahr im Verzugvorlag. Als mitten in der Debatte, eingebildet oder nicht, der Schrei eines Kindesaus dem Haus drang, traten sie die Tür ein. John Gradystand im Hausflur. Sein großes Werk blieb unvollendet, überall standen Leiternund hingen Vorhänge. Seine linke Hand ruhte auf dem Knauf der Kellertür, in derRechten hielt er eine Waffe. Bevor man ihn aufhalten konnte, verschwand erblitzschnell hinter der Tür und zog sie hinter sich zu. Für einen solchen Fallhatte er vorgesorgt und die leichte Tür mit stabilen Eichenbrettern,Stahlbändern und einem Sicherheitsriegel verstärkt. Die Polizisten benötigtenzwanzig Minuten, um sie aufzubrechen. Als sie den Keller betraten, war Louisebereits tot. Auf dem Boden lag ein weiteres Kind, ein kleiner Junge. Er war nocham Leben, aber bewusstlos vor Hunger und Durst. Es war DennyMacguire.
John Grady stand über den Kindern und hielt sich die Pistole anden Kopf. Seine letzten Worte, bevor er abdrückte, waren:
»Dies istkein Haus. Dies ist ein Heim.«
© UllsteinBuchverlage
Übersetzung:Charlotte Breuer und Norbert Möllemann
- Autor: John Connolly
- 2007, 416 Seiten, Maße: 11,6 x 18,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Charlotte Breuer u. Norbert Möllemann
- Übersetzer: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548264123
- ISBN-13: 9783548264127
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