Nullpunkt
Thriller
Fear Base, eine verlassene Militärstation in Alaska. Ein kleines Team von Wissenschaftlern untersucht einen Berg, der den einheimischen Tunits heilig ist. In einer Höhle blickt sie aus der Tiefe des Eises ein riesiges gelbes Auge an. Ein alter...
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Produktinformationen zu „Nullpunkt “
Fear Base, eine verlassene Militärstation in Alaska. Ein kleines Team von Wissenschaftlern untersucht einen Berg, der den einheimischen Tunits heilig ist. In einer Höhle blickt sie aus der Tiefe des Eises ein riesiges gelbes Auge an. Ein alter Tunit warnt die Forscher, aber es ist bereits zu spät: Ein ehrgeiziges Filmteam fällt in die Station ein. Zum Entsetzen der Wissenschaftler sägen die Dokumentarfilmer das Monstrum aus dem Eis, um es vor laufenden Filmkameras aufzutauen. Doch über Nacht verschwindet es aus dem Tiefkühlcontainer. Am Morgen findet man sein erstes Opfer - oder das, was von ihm übrig geblieben ist.
Klappentext zu „Nullpunkt “
Jahrtausende hat es geschlafen. Jetzt wacht es auf.Zwei gelbe Augen, eingefroren im Eis eines Gletschers. Eine wissenschaftliche Sensation, die sogar ein Filmteam auf den Plan ruft. Doch dann verschwindet die Kreatur. Aber sie kommt wieder - und sie bringt den Tod ...
Fear Base, eine verlassene Militärstation in Alaska. Ein kleines Team von Wissenschaftlern untersucht einen Berg, der den einheimischen Tunits heilig ist.
In einer Höhle blickt sie aus der Tiefe des Eises ein riesiges gelbes Auge an. Ein alter Tunit warnt die Forscher, aber es ist bereits zu spät: Ein ehrgeiziges Filmteam fällt in die Station ein. Zum Entsetzen der Wissenschaftler sägen die Dokumentarfilmer das Monstrum aus dem Eis, um es vor laufenden Filmkameras aufzutauen.
Doch über Nacht verschwindet es aus dem Tiefkühlcontainer. Am Morgen findet man sein erstes Opfer - oder das, was von ihm übrig geblieben ist.
In einer Höhle blickt sie aus der Tiefe des Eises ein riesiges gelbes Auge an. Ein alter Tunit warnt die Forscher, aber es ist bereits zu spät: Ein ehrgeiziges Filmteam fällt in die Station ein. Zum Entsetzen der Wissenschaftler sägen die Dokumentarfilmer das Monstrum aus dem Eis, um es vor laufenden Filmkameras aufzutauen.
Doch über Nacht verschwindet es aus dem Tiefkühlcontainer. Am Morgen findet man sein erstes Opfer - oder das, was von ihm übrig geblieben ist.
Lese-Probe zu „Nullpunkt “
Nullpunkt von Lincoln ChildProlog
In der Abenddämmerung, als die Sterne einer nach dem anderen in den gefrorenen Himmel stiegen, näherte sich Usuguk dem Schneehaus so leise wie ein Fuchs. Am Morgen war frischer Schnee gefallen, und der Dorfälteste starrte hinaus über die grau-weiße arktische Ödnis, die sich endlos in alle Richtungen erstreckte bis hin zu einem bleichen, eisigen Horizont. Hier und da ragten Stücke von dunklem Permaeis aus der Schneedecke wie die Knochen prähistorischer Tiere. Der Wind wurde stärker und zerrte am Fell seiner Parkakapuze, und Eiskristalle brannten auf seinen Wangen. Ringsum stand eine Ansammlung kleinerer Iglus, unbeleuchtet und dunkel wie Gräber. Usuguk schenkte alldem keine Aufmerksamkeit. Er spürte nichts außer dem rasenden Hämmern in seiner Brust und einer überwältigenden Angst. Als er das Schneehaus betrat, blickte die kleine Gruppe von Frauen, die sich um das Moosfeuer drängten, zu ihm auf. In ihren Gesichtern stand Anspannung und Sorge. «Moktok e inkarrtok», sagte er. «Es ist Zeit.» Wortlos und mit zitternden Händen sammelten sie ihre wenigen Habseligkeiten ein. Sie legten Knochennadeln in Kästchen zurück und schoben Fellschaber und Flensmesser Ulus in ihre Parkas. Eine der Frauen, die auf Robbenfellstiefeln
gekaut hatte, um sie weich zu machen, bündelte die Stiefel sorgfältig und wickelte sie in ein fadenscheiniges Tuch. Dann erhoben sich alle nacheinander und schlüpften durch die roh behauene Öffnung, die als Eingang diente. Nulathe begab sich als Letzte hinaus. Sie hielt den Kopf gebeugt vor Angst und Scham. Usuguk wartete, bis das Karibufell wieder über die Öffnung gefallen war und den Blick nach draußen versperrte: das einsame Wirrwarr von Iglus, die trostlose eisige Landschaft, die sich über den gefrorenen See
... mehr
in Richtung der untergehenden Sonne erstreckte. Einen Augenblick lang stand er nur da. Er versuchte, die Beklemmung zu vertreiben, die sich auf ihn herabgesenkt hatte wie ein schwerer Umhang. Dann wandte er sich ab. Es gab viel zu tun und er hatte nur wenig Zeit. Der Schamane bewegte sich behutsam in den hinteren Teil des Schneehauses, wo er eine Decke von einem kleinen Haufen Felle zog. Darunter kam eine Schachtel aus poliertem schwarzem Holz zum Vorschein. Vorsichtig nahm er sie in die Hand und stellte sie vor das Feuer. Als Nächstes zog er einen zeremoniellen, mit ritueller Sorgfalt zusammengelegten Amauti zwischen den Fellen hervor. Er streifte den Kapuzenparka über den Kopf, legte ihn zur Seite und zog den Amauti unter leisem Klimpern der kunstvollen Perlenbehänge an, bevor er sich im Schneidersitz vor der Schachtel niederließ. Er saß eine Minute lang da und streichelte das Holz mit seinen alten, im Kampf gegen eine feindselige Umwelt krumm gewordenen Fingern. Dann öffnete er das Kästchen, entnahm ihm einen der Gegenstände, drehte ihn in den Händen und spürte seine Macht, lauschte, ob er ihm etwas zu erzählen hatte, um ihn anschließend wieder zurückzulegen. Das tat er der Reihe nach mit allen Objekten aus dem Kästchen. Er spürte die Angst in sich. Sie ruhte tief und schwer in seinem Innern wie unverdauter Tran. Er wusste nur allzu genau, was dieses Ding, das sie gesehen hatten, dieses grauenvolle Omen, zu bedeuten hatte. Es war erst ein einziges Mal vorher geschehen in der lebendigen Erinnerung des Volkes, vor vielen, vielen Generationen, obwohl das Geschehen, vor dem wärmenden Feuer im Schneehaus weitererzählt von Vater zu Sohn, so unheilvoll klang, als hätte es sich erst gestern ereignet. Und doch diesmal schien es in einem beängstigenden Missverhältnis zu stehen zu dem geringfügigen Vergehen, das es hervorgerufen hatte . . . Der Schamane atmete tief durch. Sie alle vertrauten darauf, dass er den Frieden wiederherstellen und die natürliche Ordnung der Dinge wieder ins Gleichgewicht rücken würde. Doch es war eine erdrückende Aufgabe. Das Volk war inzwischen so geschrumpft, dass nur eine Handvoll von den Seinen übrig gewesen war, um ihn in das geheime Wissen der Vorfahren einzuweihen. Und selbst sie waren jetzt gegangen, übergetreten in die Geisterwelt. Er war der Einzige, der noch übrig war vom geheimen Orden der Natur. Er griff unter den Amauti und zog eine Handvoll getrockneter Kräuter und Pflanzenteile hervor, die sorgfältig mit Fasern von arktischem Springkraut zusammengebunden waren. Er nahm das Büschel in beide Hände, hob es hoch und legte es auf das Feuer. Wolken aus grauem Qualm stiegen auf und erfüllten das Schneehaus mit dem Geruch nach Wald. Langsam und ehrfürchtig nahm er die Gegenstände aus dem Kästchen und arrangierte sie vor dem Feuer in einem Halbkreis: die Stoßzahnspitze eines seltenen weißen Walrosses, das sein Urururgroßvater gejagt und getötet hatte. Einen Stein in der
Farbe des Sommersonnenlichts, geformt wie der Kopf eines Vielfraßes. Ein Karibugeweih, feierlich zersägt in einundzwanzig Teile, verziert mit kunstvollen Mustern aus winzigen, eingestanzten Löchern, jedes einzelne gefüllt mit Ocker. Als letzten Gegenstand nahm er die winzige Figur eines Mannes hervor, erschaffen aus Rentierhaut, Elfenbein und Stoff. Er legte die Figur in die Mitte des Halbkreises. Dann, indem er seine Handflächen flach auf den Boden des Iglus presste und das Kinn auf die Brust sinken ließ, verneigte er sich tief vor den Symbolen. «Mächtiger Kuuk'juag», inkantierte er. «Jäger der Gefrorenen Wüste, Beschützer des Volkes. Nimm deinen Zorn von uns. Gehe dahin im Mondlicht. Kehre zu den Wegen des Friedens zurück.» Er setzte sich aufrecht hin. Dann streckte er die Hand nach dem ersten Gegenstand des Halbkreises aus, dem WalrossStoßzahn, und drehte ihn im Uhrzeigersinn, bis er der kleinen Figur in der Mitte zugewandt war. Mit der Hand auf dem Stoßzahn sang er halb, halb betete er das Sühnegebet und flehte Kuuk'juag an, sich zu erbarmen und zu vergeben. Die Verfehlung hatte sich am vorangegangenen Morgen ereignet. Während ihrer täglichen Arbeit hatte Nulathe unabsichtlich die Sehnen eines Karibus mit dem Fleisch einer Robbe in Berührung gebracht. Sie war müde gewesen und krank nur so konnte man einen solchen Fehler erklären. Dennoch war die verbotene Tat begangen, das uralte Gesetz gebrochen. Die Seelen der toten Tiere, die in spirituellem Gegensatz zueinander standen, waren besudelt worden. Und Kuuk'juag der Jäger hatte ihren Zorn gespürt. Das erklärte, was Usuguks winzige Gruppe in der Nacht zuvor in der gefrorenen Ödnis gesehen hatte.
Das Gebet währte zehn Minuten. Dann langsam, vorsichtig bewegte Usuguk seine runzlige Hand zum nächsten Gegenstand und begann seinen Sprechgesang von neuem. Die vollständige Zeremonie dauerte zwei Stunden. Endlich, nachdem sich der alte Mann ein letztes Mal vor der Figur verneigt hatte, sprach er einen Abschiedssegen, bevor er die Beine unter dem Körper hervorzog und sich unter Schmerzen aufrichtete. Wenn alles gutgegangen war, wenn er das Gebet richtig aufgesagt hatte, in der Weise seiner Vorfahren, würde der Makel von ihnen gehen, und der Jäger würde seine Wut bezähmen. Der Schamane umrundete das Feuer, zuerst im Uhrzeigersinn, dann entgegengesetzt. Dann kniete er vor dem Kästchen nieder und legte die Gegenstände, beginnend mit der kleinen Figur, einen nach dem anderen zurück. Während er dies tat, vernahm er von draußen Lärm: Schreie, Schluchzen, Stimmen, die vor Verzweiflung und Schmerz laut klagten. Rasch erhob er sich, und Angst umklammerte seine Brust. Er schlüpfte in seinen Parka, schlug das Karibufell zurück und trat hinaus ins Freie. Dort waren die Frauen, rauften sich die Haare und zeigten hinauf zum Himmel. Er hob den Blick nach oben und stöhnte auf. Die Angst und die Beklemmung, die während des beruhigenden Rituals ein wenig abgeklungen waren, überwältigten ihn nun aufs Neue und mit verdoppelter Wucht. Sie waren zurück und schlimmer als in der Nacht zuvor. Sehr viel schlimmer. Die Zeremonie hatte nichts genutzt. In diesem Augenblick erkannte Usuguk mit einer schauerlichen Gewissheit noch etwas: Dies war nicht das Resultat von etwas, das Nulathe oder eine der anderen Frauen angerichtet hatte. Es war nicht der bloße Zorn von Kuuk'juag oder eine versehentliche Entweihung. Nur ein Bruch des größten aller Tabus konnte diese Art von spiritueller Wut erzeugen, die er nun mit ansehen musste. Und Usuguk war gewarnt gewesen wie die zahllosen Generationen vor ihm auch , was für ein Tabu das war. Nicht nur gewarnt gewesen er hatte es gewusst. Usuguk hatte es gesehen . . . Er starrte die Frauen an, die seinen Blick aus geweiteten Augen angstvoll erwiderten. «Packt zusammen, was ihr braucht», befahl er ihnen. «Morgen brechen wir nach Süden auf. Wir gehen zum Berg.»
«Hey, Evan. Mittagessen?» Evan Marshall legte den Ziploc-Beutel zur Seite, erhob sich und massierte seinen Rücken. Die letzten neunzig Minuten hatte er mit dem Gesicht nur wenige Zentimeter über dem Boden verbracht und Proben des glazialen Sediments gesammelt. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen wieder an die Umgebung gewöhnt hatten. Die Stimme, die ihn angesprochen hatte, war die von Sully, und jetzt konnte Marshall ihn auch erkennen: eine breite, leicht korpulente Gestalt in einem fellbesetzten Parka, die mit verschränkten Armen dreißig Meter weiter oben in dem steilen Tal stand. Hinter ihm erhob sich die Endzunge des Fear-Gletschers, ein sattes, mysteriöses Blau, durchzogen von zahlreichen weißen Bruchlinien. Große Eisbrocken lagen verstreut entlang der Basis wie monströse Diamanten, zusammen mit messerscharfen Splittern alter Lava. Marshall öffnete den Mund, um Sully zu warnen: Der Gletscher war genauso gefährlich wie schön, es war wärmer geworden, und die Eisfront kalbte mit ungeheurer Geschwindigkeit. Gewaltige Brocken lösten sich und stürzten herab, um alles unter sich zu begraben. Doch dann überlegte er es sich anders. Gerard Sully war stolz auf seine Position als nomineller Leiter der Expedition und mochte es überhaupt nicht, wenn ihm jemand sagte, was er tun sollte und was nicht. Also schüttelte Marshall nur den Kopf. «Ich denke, ich verzichte, danke.» «Wie Sie meinen.» Sully wandte sich an Wright Faraday, den Evolutionsbiologen der Gruppe, der ein wenig weiter den Hang hinunter vor sich hin arbeitete. «Wie steht's mit Ihnen, Wright ? » Faraday blickte auf, und seine wässrigblauen Augen wirkten unheimlich vergrößert hinter der Schildpattbrille. Er trug eine Digitalkamera an einem breiten Trageriemen um den Hals. «Nein danke», sagte er stirnrunzelnd, als wäre der bloße Gedanke, mitten während der Arbeit eine Essenspause einzulegen, eine unerhörte Häresie. «Verhungert meinetwegen, wenn ihr es so wollt. Verlangt bloß nicht von mir, irgendetwas wieder mit zurückzunehmen. »
«Nicht mal einen Eiszapfen?», fragte Marshall. Sully lächelte dünn. Er war ungefähr so klein wie Napoleon und eine Kombination aus Egoismus und Unsicherheit, die Marshall als ganz besonders ärgerlich empfand. An der Universität, wo Sully nur einer von vielen arroganten Wissenschaftlern war, hatte Marshall ihn noch ertragen, doch hier draußen auf dem Eis ohne jede Fluchtmöglichkeit war er absolut lästig geworden. Vielleicht, sinnierte er, vielleicht war es ja doch eine Erleichterung, dass ihre Expedition nur noch wenige Wochen dauern sollte. «Sie sehen müde aus», stellte Sully fest. «Waren Sie gestern Nacht wieder unterwegs?» Marshall nickte. «Passen Sie lieber auf. Sie könnten in eine Lavaröhre fallen und erfrieren.»
«Schon gut, Mutter. Ich werde vorsichtig sein, versprochen.» «Oder Sie laufen einem Polarbären über den Weg oder sonst irgendwas.» «Kein Problem ich sehne mich geradezu nach geistreicher Konversation.»
«Das ist kein Witz! Wenn Sie sich wenigstens nicht weigern würden, eine Pistole zu tragen!» Marshall gefiel die Richtung nicht, die ihre Unterhaltung nahm. «Hören Sie, wenn Sie Ang begegnen, sagen Sie ihm, ich habe ein paar Proben fertig für den Transport ins Labor.» «Mache ich. Wahrscheinlich ist er ganz außer sich vor Aufregung. » Marshall sah dem Klimaforscher hinterher, wie er vorsichtig den Hang hinunter in Richtung der Basis am Fuß des Hügels kletterte. Er nannte sie «ihre» Basis, doch in Wirklichkeit gehörte sie natürlich der Regierung der Vereinigten Staaten und hieß offiziell «Mount Fear Remote Sensing Installation». Sie war vor beinahe fünfzig Jahren in Betrieb genommen worden und bestand im Wesentlichen aus einem niedrigen, grauen, institutionell aussehenden Gebäude, auf dem es von Radarkuppeln und anderen Überbleibseln des Kalten Krieges nur so wimmelte. Hinter dem Camp lag eine eisige Landschaft aus Permafrost und Lavaablagerungen, die der Berg vor Ewigkeiten aus seinen Eingeweiden gespien hatte, von Gräben durchzogen und aufgebrochen, als hätte die Erde sich selbst in geologischer Agonie zerrissen. An vielen Stellen war die Oberfläche unter ausgedehnten Schneefeldern verborgen. Es gab keine Straßen, keine anderen Gebäude, keine Lebewesen. Die Umgebung war so feindselig, so abgelegen und so fremdartig wie der Mond. Marshall streckte sich und ließ den Blick über die unwirkliche Landschaft schweifen. Selbst nach vier Wochen vor Ort fiel es ihm noch schwer, zu glauben, dass eine Gegend so karg und öde sein konnte. Andererseits hatte die ganze Expedition von Anfang an etwas Unwirkliches gehabt. Unwirklich die Tatsache, dass ein Medienriese wie Terra Prime ausgerechnet ihre Anträge auf Bezuschussung bewilligt hatte: vier Wissenschaftler von der Northern Massachusetts University mit keinerlei Gemeinsamkeit außer dem Interesse an der globalen Erwärmung. Unwirklich, dass die Regierung ihnen die Genehmigung zur Nutzung der Fear Base erteilt hatte, wenn auch für einen stattlichen Mietpreis und mit strikten Beschränkungen. Und unwirklich, dass die Erwärmung selbst mit solch atemberaubender, geradezu furchteinflößender Geschwindigkeit vor sich ging. Er wandte sich mit einem Seufzer ab. Seine Knie schmerzten vom stundenlangen Kauern über der Endmoräne, in der er seine Proben gesammelt hatte. Fingerspitzen und Nase waren halb erfroren. Und um das Fass voll zu machen, war der Schnee einem Schneeregen gewichen, ungemütlicher Nässe, die langsam durch drei Lagen Kleidung zu seinen intimsten Stellen drang. Doch Tageslicht war rar in dieser Jahreszeit, und das Forschungsfenster schloss sich rasch. Er war sich sehr deutlich bewusst, wie wenig Zeit ihm noch blieb. Daheim in Woburn, Massachusetts, würde es mehr als genug zu essen geben, und dort würde er auch mehr als genug Zeit haben zum Essen. Als er sich umwandte, um die Probenbeutel aufzuheben, hörte er Faraday sagen: «Vor fünf Jahren, ach, was sage ich vor zwei Jahren hätte ich so etwas nicht für möglich gehalten. Regen !» «Das ist kein Regen, Wright. Es ist Schneeregen.» «Meinetwegen, dann eben Schneeregen. In der Zone, meine Güte, obwohl der Winter vor der Tür steht? Unglaublich ! » Die «Zone» war ein ausgedehntes Gebiet im nordöstlichen Alaska, am Arktischen Ozean, eingekeilt zwischen dem Arctic National Wildlife Refuge auf der einen Seite und dem Yukon Ivvavik National Park auf der anderen. Es war eine so trostlose und kalte Gegend, dass niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte. Die Temperaturen schafften es nur an wenigen Monaten im Jahr, null Grad zu übersteigen. Vor Jahren hatte die Regierung die Gegend zur Federal Wilderness Zone erklärt und in der Folge prompt vergessen, dass sie überhaupt existierte. Es gab, sinnierte Marshall, wahrscheinlich nicht mehr als zwei Dutzend Leute in dem achttausend Quadratkilometer großen Gebiet: ihr eigenes wissenschaftliches Team, bestehend aus fünf Personen, die Rumpfbesatzung der Station, vier Mann, eine kleine Gruppe eingeborener Amerikaner im Norden und ein paar Rucksacktouristen und Einzelgänger, die zu exzentrisch oder zu hart waren, um sich mit irgendetwas außer der abgelegensten Gegend der Welt zufriedenzugeben. Wie eigenartig der Gedanke doch war, dass sich kaum ein Mensch weiter nördlich auf dem Planeten aufhielt als ihre Gruppe. Ein plötzlicher, gewaltiger Knall wie ein Kanonenschlag ließ das Gletschertal mit der Wucht eines Erdbebens erzittern. Das Geräusch hallte über die Tundra unter ihnen und erschütterte die tiefe Stille. Es wurde wie ein Tennisball hin und her geworfen und dann immer leiser, bis es in der endlosen Ferne verhallte. Über ihnen hatte der Gletscher erneut gekalbt. Tonnen von Eis und Schnee waren herabgestürzt auf den gefrorenen Haufen Geröll entlang der vorderen Gletscherkante. Marshall spürte, wie sein Herz einen erschrockenen Satz machte. Ganz gleich, wie oft er das Geräusch auch hörte, seine schiere Wucht war jedes Mal ein Schock. Faraday zeigte darauf. «Sehen Sie? Das ist genau, was ich meine. Ein Talgletscher wie der Fear sollte in einer hübschen, dünnen Gletscherzunge auslaufen, mit einem Minimum an Schmelzwasser und einer gesunden Perkolationszone, in der nur im Sommer vereinzelt Schmelzen auftreten. Aber das hier als würde ein Wassergletscher kalben. Ich habe die basale Schmelze gemessen . . .»
«Das ist Sullys Job, nicht Ihrer.»
«Ich habe die basale Schmelze gemessen, und sie sprengt jede Vorstellung.» Faraday schüttelte den Kopf. «Regen, eine beispiellose Gletscherschmelze . . . und das ist noch längst nicht alles. Beispielsweise die Nordlichter in den vergangenen Nächten. Haben Sie sie auch bemerkt?» «Selbstverständlich. Eine einzige Farbe es war spektakulär. Und ungewöhnlich.»
«Ungewöhnlich . . .», wiederholte Faraday nachdenklich. Marshall sagte nichts. Seiner Erfahrung nach hatte jede wissenschaftliche Expedition, selbst eine so kleine wie die ihre, ihre ganz persönliche Kassandra. Wright Faraday mit seinem ungeheuren Lernvermögen, seinem pessimistischen Ausblick auf das Leben, seinen dunklen Theorien und seinen ungeheuerlichen Vorhersagen spielte die Rolle meisterhaft. Marshall warf einen verstohlenen Blick auf den Biologen. Obwohl er ihn von der Universität her flüchtig als einen Kollegen kannte, wurde er doch nicht schlau aus dem Mann. Trotzdem, dachte Marshall, während er einen neuen Beutel füllte und verschloss und die Probennummer in einem Notizbuch vermerkte, trotzdem hatte Faraday nicht ganz unrecht. Und das war ein Grund, warum Marshall selbst mit beinahe panischem Fleiß Proben sammelte. Ein Gletscher bildete den perfekten Ort für seine Art von Forschung. Während seiner Entstehung, während er Schnee akkumulierte, fing der Gletscher zugleich organische Überreste ein: Pollen, Pflanzenfasern, Überreste von Tieren. Später, viel später, wenn der Gletscher sich wieder zurückzog und langsam schmolz, entließ er all seine Geheimnisse wieder in die Freiheit. Ein Paradies für einen Paläoökologen, eine Fundgrube aus der Vergangenheit. Nur dass am Rückzug dieses Gletschers nichts langsam oder graziös war. Er fiel praktisch auseinander, mit erschreckender Geschwindigkeit und riss dabei seine Geheimnisse mit sich. Wie auf ein Stichwort hin gab es eine weitere ohrenbetäubende Explosion an der Gletscherfront. Eine zitternde Kaskade aus Eis regnete ins Meer. Marshall wandte den Kopf in Richtung des Geräuschs und verspürte eine Mischung aus Verärgerung und Ungeduld. Diesmal war eine viel größere Sektion des Gletschers heruntergebrochen. Mit einem Seufzer beugte er sich hinunter zu seinen Proben und starrte dann wieder zum Gletscher. Zwischen den geborstenen Eisbrocken an seiner Basis konnte er sehen, dass durch das Kalben ein Teil der Bergflanke unter der Eisdecke freigelegt worden war. Er blinzelte einen Moment. Dann rief er Faraday zu: «Sie haben doch den Feldstecher dabei, oder?»
«Hier bei mir.» Der Biologe zog den Feldstecher aus der Tasche und hielt ihn mit schwerer behandschuhter Hand. Marshall nahm das Fernglas, hauchte die Okulare an, um sie aufzuwärmen, dann wischte er die Kondensation ab und hob den Feldstecher an die Augen, um den Gletscher genauer zu inspizieren. «Was gibt es denn?», fragte Faraday. Die Aufregung ließ seine Stimme zittern. «Was sehen Sie?» Marshall leckte sich über die Lippen, während er auf das starrte, was das herabstürzende Eis freigegeben hatte. «Eine Höhle», antwortete er. «Es ist eine Höhle.»
Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Farbe des Sommersonnenlichts, geformt wie der Kopf eines Vielfraßes. Ein Karibugeweih, feierlich zersägt in einundzwanzig Teile, verziert mit kunstvollen Mustern aus winzigen, eingestanzten Löchern, jedes einzelne gefüllt mit Ocker. Als letzten Gegenstand nahm er die winzige Figur eines Mannes hervor, erschaffen aus Rentierhaut, Elfenbein und Stoff. Er legte die Figur in die Mitte des Halbkreises. Dann, indem er seine Handflächen flach auf den Boden des Iglus presste und das Kinn auf die Brust sinken ließ, verneigte er sich tief vor den Symbolen. «Mächtiger Kuuk'juag», inkantierte er. «Jäger der Gefrorenen Wüste, Beschützer des Volkes. Nimm deinen Zorn von uns. Gehe dahin im Mondlicht. Kehre zu den Wegen des Friedens zurück.» Er setzte sich aufrecht hin. Dann streckte er die Hand nach dem ersten Gegenstand des Halbkreises aus, dem WalrossStoßzahn, und drehte ihn im Uhrzeigersinn, bis er der kleinen Figur in der Mitte zugewandt war. Mit der Hand auf dem Stoßzahn sang er halb, halb betete er das Sühnegebet und flehte Kuuk'juag an, sich zu erbarmen und zu vergeben. Die Verfehlung hatte sich am vorangegangenen Morgen ereignet. Während ihrer täglichen Arbeit hatte Nulathe unabsichtlich die Sehnen eines Karibus mit dem Fleisch einer Robbe in Berührung gebracht. Sie war müde gewesen und krank nur so konnte man einen solchen Fehler erklären. Dennoch war die verbotene Tat begangen, das uralte Gesetz gebrochen. Die Seelen der toten Tiere, die in spirituellem Gegensatz zueinander standen, waren besudelt worden. Und Kuuk'juag der Jäger hatte ihren Zorn gespürt. Das erklärte, was Usuguks winzige Gruppe in der Nacht zuvor in der gefrorenen Ödnis gesehen hatte.
Das Gebet währte zehn Minuten. Dann langsam, vorsichtig bewegte Usuguk seine runzlige Hand zum nächsten Gegenstand und begann seinen Sprechgesang von neuem. Die vollständige Zeremonie dauerte zwei Stunden. Endlich, nachdem sich der alte Mann ein letztes Mal vor der Figur verneigt hatte, sprach er einen Abschiedssegen, bevor er die Beine unter dem Körper hervorzog und sich unter Schmerzen aufrichtete. Wenn alles gutgegangen war, wenn er das Gebet richtig aufgesagt hatte, in der Weise seiner Vorfahren, würde der Makel von ihnen gehen, und der Jäger würde seine Wut bezähmen. Der Schamane umrundete das Feuer, zuerst im Uhrzeigersinn, dann entgegengesetzt. Dann kniete er vor dem Kästchen nieder und legte die Gegenstände, beginnend mit der kleinen Figur, einen nach dem anderen zurück. Während er dies tat, vernahm er von draußen Lärm: Schreie, Schluchzen, Stimmen, die vor Verzweiflung und Schmerz laut klagten. Rasch erhob er sich, und Angst umklammerte seine Brust. Er schlüpfte in seinen Parka, schlug das Karibufell zurück und trat hinaus ins Freie. Dort waren die Frauen, rauften sich die Haare und zeigten hinauf zum Himmel. Er hob den Blick nach oben und stöhnte auf. Die Angst und die Beklemmung, die während des beruhigenden Rituals ein wenig abgeklungen waren, überwältigten ihn nun aufs Neue und mit verdoppelter Wucht. Sie waren zurück und schlimmer als in der Nacht zuvor. Sehr viel schlimmer. Die Zeremonie hatte nichts genutzt. In diesem Augenblick erkannte Usuguk mit einer schauerlichen Gewissheit noch etwas: Dies war nicht das Resultat von etwas, das Nulathe oder eine der anderen Frauen angerichtet hatte. Es war nicht der bloße Zorn von Kuuk'juag oder eine versehentliche Entweihung. Nur ein Bruch des größten aller Tabus konnte diese Art von spiritueller Wut erzeugen, die er nun mit ansehen musste. Und Usuguk war gewarnt gewesen wie die zahllosen Generationen vor ihm auch , was für ein Tabu das war. Nicht nur gewarnt gewesen er hatte es gewusst. Usuguk hatte es gesehen . . . Er starrte die Frauen an, die seinen Blick aus geweiteten Augen angstvoll erwiderten. «Packt zusammen, was ihr braucht», befahl er ihnen. «Morgen brechen wir nach Süden auf. Wir gehen zum Berg.»
«Hey, Evan. Mittagessen?» Evan Marshall legte den Ziploc-Beutel zur Seite, erhob sich und massierte seinen Rücken. Die letzten neunzig Minuten hatte er mit dem Gesicht nur wenige Zentimeter über dem Boden verbracht und Proben des glazialen Sediments gesammelt. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen wieder an die Umgebung gewöhnt hatten. Die Stimme, die ihn angesprochen hatte, war die von Sully, und jetzt konnte Marshall ihn auch erkennen: eine breite, leicht korpulente Gestalt in einem fellbesetzten Parka, die mit verschränkten Armen dreißig Meter weiter oben in dem steilen Tal stand. Hinter ihm erhob sich die Endzunge des Fear-Gletschers, ein sattes, mysteriöses Blau, durchzogen von zahlreichen weißen Bruchlinien. Große Eisbrocken lagen verstreut entlang der Basis wie monströse Diamanten, zusammen mit messerscharfen Splittern alter Lava. Marshall öffnete den Mund, um Sully zu warnen: Der Gletscher war genauso gefährlich wie schön, es war wärmer geworden, und die Eisfront kalbte mit ungeheurer Geschwindigkeit. Gewaltige Brocken lösten sich und stürzten herab, um alles unter sich zu begraben. Doch dann überlegte er es sich anders. Gerard Sully war stolz auf seine Position als nomineller Leiter der Expedition und mochte es überhaupt nicht, wenn ihm jemand sagte, was er tun sollte und was nicht. Also schüttelte Marshall nur den Kopf. «Ich denke, ich verzichte, danke.» «Wie Sie meinen.» Sully wandte sich an Wright Faraday, den Evolutionsbiologen der Gruppe, der ein wenig weiter den Hang hinunter vor sich hin arbeitete. «Wie steht's mit Ihnen, Wright ? » Faraday blickte auf, und seine wässrigblauen Augen wirkten unheimlich vergrößert hinter der Schildpattbrille. Er trug eine Digitalkamera an einem breiten Trageriemen um den Hals. «Nein danke», sagte er stirnrunzelnd, als wäre der bloße Gedanke, mitten während der Arbeit eine Essenspause einzulegen, eine unerhörte Häresie. «Verhungert meinetwegen, wenn ihr es so wollt. Verlangt bloß nicht von mir, irgendetwas wieder mit zurückzunehmen. »
«Nicht mal einen Eiszapfen?», fragte Marshall. Sully lächelte dünn. Er war ungefähr so klein wie Napoleon und eine Kombination aus Egoismus und Unsicherheit, die Marshall als ganz besonders ärgerlich empfand. An der Universität, wo Sully nur einer von vielen arroganten Wissenschaftlern war, hatte Marshall ihn noch ertragen, doch hier draußen auf dem Eis ohne jede Fluchtmöglichkeit war er absolut lästig geworden. Vielleicht, sinnierte er, vielleicht war es ja doch eine Erleichterung, dass ihre Expedition nur noch wenige Wochen dauern sollte. «Sie sehen müde aus», stellte Sully fest. «Waren Sie gestern Nacht wieder unterwegs?» Marshall nickte. «Passen Sie lieber auf. Sie könnten in eine Lavaröhre fallen und erfrieren.»
«Schon gut, Mutter. Ich werde vorsichtig sein, versprochen.» «Oder Sie laufen einem Polarbären über den Weg oder sonst irgendwas.» «Kein Problem ich sehne mich geradezu nach geistreicher Konversation.»
«Das ist kein Witz! Wenn Sie sich wenigstens nicht weigern würden, eine Pistole zu tragen!» Marshall gefiel die Richtung nicht, die ihre Unterhaltung nahm. «Hören Sie, wenn Sie Ang begegnen, sagen Sie ihm, ich habe ein paar Proben fertig für den Transport ins Labor.» «Mache ich. Wahrscheinlich ist er ganz außer sich vor Aufregung. » Marshall sah dem Klimaforscher hinterher, wie er vorsichtig den Hang hinunter in Richtung der Basis am Fuß des Hügels kletterte. Er nannte sie «ihre» Basis, doch in Wirklichkeit gehörte sie natürlich der Regierung der Vereinigten Staaten und hieß offiziell «Mount Fear Remote Sensing Installation». Sie war vor beinahe fünfzig Jahren in Betrieb genommen worden und bestand im Wesentlichen aus einem niedrigen, grauen, institutionell aussehenden Gebäude, auf dem es von Radarkuppeln und anderen Überbleibseln des Kalten Krieges nur so wimmelte. Hinter dem Camp lag eine eisige Landschaft aus Permafrost und Lavaablagerungen, die der Berg vor Ewigkeiten aus seinen Eingeweiden gespien hatte, von Gräben durchzogen und aufgebrochen, als hätte die Erde sich selbst in geologischer Agonie zerrissen. An vielen Stellen war die Oberfläche unter ausgedehnten Schneefeldern verborgen. Es gab keine Straßen, keine anderen Gebäude, keine Lebewesen. Die Umgebung war so feindselig, so abgelegen und so fremdartig wie der Mond. Marshall streckte sich und ließ den Blick über die unwirkliche Landschaft schweifen. Selbst nach vier Wochen vor Ort fiel es ihm noch schwer, zu glauben, dass eine Gegend so karg und öde sein konnte. Andererseits hatte die ganze Expedition von Anfang an etwas Unwirkliches gehabt. Unwirklich die Tatsache, dass ein Medienriese wie Terra Prime ausgerechnet ihre Anträge auf Bezuschussung bewilligt hatte: vier Wissenschaftler von der Northern Massachusetts University mit keinerlei Gemeinsamkeit außer dem Interesse an der globalen Erwärmung. Unwirklich, dass die Regierung ihnen die Genehmigung zur Nutzung der Fear Base erteilt hatte, wenn auch für einen stattlichen Mietpreis und mit strikten Beschränkungen. Und unwirklich, dass die Erwärmung selbst mit solch atemberaubender, geradezu furchteinflößender Geschwindigkeit vor sich ging. Er wandte sich mit einem Seufzer ab. Seine Knie schmerzten vom stundenlangen Kauern über der Endmoräne, in der er seine Proben gesammelt hatte. Fingerspitzen und Nase waren halb erfroren. Und um das Fass voll zu machen, war der Schnee einem Schneeregen gewichen, ungemütlicher Nässe, die langsam durch drei Lagen Kleidung zu seinen intimsten Stellen drang. Doch Tageslicht war rar in dieser Jahreszeit, und das Forschungsfenster schloss sich rasch. Er war sich sehr deutlich bewusst, wie wenig Zeit ihm noch blieb. Daheim in Woburn, Massachusetts, würde es mehr als genug zu essen geben, und dort würde er auch mehr als genug Zeit haben zum Essen. Als er sich umwandte, um die Probenbeutel aufzuheben, hörte er Faraday sagen: «Vor fünf Jahren, ach, was sage ich vor zwei Jahren hätte ich so etwas nicht für möglich gehalten. Regen !» «Das ist kein Regen, Wright. Es ist Schneeregen.» «Meinetwegen, dann eben Schneeregen. In der Zone, meine Güte, obwohl der Winter vor der Tür steht? Unglaublich ! » Die «Zone» war ein ausgedehntes Gebiet im nordöstlichen Alaska, am Arktischen Ozean, eingekeilt zwischen dem Arctic National Wildlife Refuge auf der einen Seite und dem Yukon Ivvavik National Park auf der anderen. Es war eine so trostlose und kalte Gegend, dass niemand etwas mit ihr zu tun haben wollte. Die Temperaturen schafften es nur an wenigen Monaten im Jahr, null Grad zu übersteigen. Vor Jahren hatte die Regierung die Gegend zur Federal Wilderness Zone erklärt und in der Folge prompt vergessen, dass sie überhaupt existierte. Es gab, sinnierte Marshall, wahrscheinlich nicht mehr als zwei Dutzend Leute in dem achttausend Quadratkilometer großen Gebiet: ihr eigenes wissenschaftliches Team, bestehend aus fünf Personen, die Rumpfbesatzung der Station, vier Mann, eine kleine Gruppe eingeborener Amerikaner im Norden und ein paar Rucksacktouristen und Einzelgänger, die zu exzentrisch oder zu hart waren, um sich mit irgendetwas außer der abgelegensten Gegend der Welt zufriedenzugeben. Wie eigenartig der Gedanke doch war, dass sich kaum ein Mensch weiter nördlich auf dem Planeten aufhielt als ihre Gruppe. Ein plötzlicher, gewaltiger Knall wie ein Kanonenschlag ließ das Gletschertal mit der Wucht eines Erdbebens erzittern. Das Geräusch hallte über die Tundra unter ihnen und erschütterte die tiefe Stille. Es wurde wie ein Tennisball hin und her geworfen und dann immer leiser, bis es in der endlosen Ferne verhallte. Über ihnen hatte der Gletscher erneut gekalbt. Tonnen von Eis und Schnee waren herabgestürzt auf den gefrorenen Haufen Geröll entlang der vorderen Gletscherkante. Marshall spürte, wie sein Herz einen erschrockenen Satz machte. Ganz gleich, wie oft er das Geräusch auch hörte, seine schiere Wucht war jedes Mal ein Schock. Faraday zeigte darauf. «Sehen Sie? Das ist genau, was ich meine. Ein Talgletscher wie der Fear sollte in einer hübschen, dünnen Gletscherzunge auslaufen, mit einem Minimum an Schmelzwasser und einer gesunden Perkolationszone, in der nur im Sommer vereinzelt Schmelzen auftreten. Aber das hier als würde ein Wassergletscher kalben. Ich habe die basale Schmelze gemessen . . .»
«Das ist Sullys Job, nicht Ihrer.»
«Ich habe die basale Schmelze gemessen, und sie sprengt jede Vorstellung.» Faraday schüttelte den Kopf. «Regen, eine beispiellose Gletscherschmelze . . . und das ist noch längst nicht alles. Beispielsweise die Nordlichter in den vergangenen Nächten. Haben Sie sie auch bemerkt?» «Selbstverständlich. Eine einzige Farbe es war spektakulär. Und ungewöhnlich.»
«Ungewöhnlich . . .», wiederholte Faraday nachdenklich. Marshall sagte nichts. Seiner Erfahrung nach hatte jede wissenschaftliche Expedition, selbst eine so kleine wie die ihre, ihre ganz persönliche Kassandra. Wright Faraday mit seinem ungeheuren Lernvermögen, seinem pessimistischen Ausblick auf das Leben, seinen dunklen Theorien und seinen ungeheuerlichen Vorhersagen spielte die Rolle meisterhaft. Marshall warf einen verstohlenen Blick auf den Biologen. Obwohl er ihn von der Universität her flüchtig als einen Kollegen kannte, wurde er doch nicht schlau aus dem Mann. Trotzdem, dachte Marshall, während er einen neuen Beutel füllte und verschloss und die Probennummer in einem Notizbuch vermerkte, trotzdem hatte Faraday nicht ganz unrecht. Und das war ein Grund, warum Marshall selbst mit beinahe panischem Fleiß Proben sammelte. Ein Gletscher bildete den perfekten Ort für seine Art von Forschung. Während seiner Entstehung, während er Schnee akkumulierte, fing der Gletscher zugleich organische Überreste ein: Pollen, Pflanzenfasern, Überreste von Tieren. Später, viel später, wenn der Gletscher sich wieder zurückzog und langsam schmolz, entließ er all seine Geheimnisse wieder in die Freiheit. Ein Paradies für einen Paläoökologen, eine Fundgrube aus der Vergangenheit. Nur dass am Rückzug dieses Gletschers nichts langsam oder graziös war. Er fiel praktisch auseinander, mit erschreckender Geschwindigkeit und riss dabei seine Geheimnisse mit sich. Wie auf ein Stichwort hin gab es eine weitere ohrenbetäubende Explosion an der Gletscherfront. Eine zitternde Kaskade aus Eis regnete ins Meer. Marshall wandte den Kopf in Richtung des Geräuschs und verspürte eine Mischung aus Verärgerung und Ungeduld. Diesmal war eine viel größere Sektion des Gletschers heruntergebrochen. Mit einem Seufzer beugte er sich hinunter zu seinen Proben und starrte dann wieder zum Gletscher. Zwischen den geborstenen Eisbrocken an seiner Basis konnte er sehen, dass durch das Kalben ein Teil der Bergflanke unter der Eisdecke freigelegt worden war. Er blinzelte einen Moment. Dann rief er Faraday zu: «Sie haben doch den Feldstecher dabei, oder?»
«Hier bei mir.» Der Biologe zog den Feldstecher aus der Tasche und hielt ihn mit schwerer behandschuhter Hand. Marshall nahm das Fernglas, hauchte die Okulare an, um sie aufzuwärmen, dann wischte er die Kondensation ab und hob den Feldstecher an die Augen, um den Gletscher genauer zu inspizieren. «Was gibt es denn?», fragte Faraday. Die Aufregung ließ seine Stimme zittern. «Was sehen Sie?» Marshall leckte sich über die Lippen, während er auf das starrte, was das herabstürzende Eis freigegeben hatte. «Eine Höhle», antwortete er. «Es ist eine Höhle.»
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Autoren-Porträt von Lincoln Child
Lincoln Child studierte Literatur und arbeitete viele Jahre als Lektor bei St. Martin's Press. Gemeinsam mit seinem Freund Douglas Preston entwickelte er 1995 das Romanprojekt "Das Relikt", das innerhalb kürzester Zeit ein Millionenpublikum begeisterte. Child lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lincoln Child
- 2010, 2, 400 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Axel Merz
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805208820
- ISBN-13: 9783805208826
- Erscheinungsdatum: 14.01.2010
Pressezitat
Ein packender Pageturner, der lange Nachtwachen verkürzt und dabei hilft, selbst fiebrige Erkältungen wohlig schaudernd zu überstehen. Spiegel Online
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