Nur ein wenig lieben
Roman
Für Michel, einen jungen Franzosen in Deutschland, ist es Liebe auf den ersten Blick: Er weiß sofort, dass Inge die Frau ist, die er schon immer gesucht hat. Er verliebt sich haltlos in sie, entschlossen, für immer an ihrer Seite zu bleiben. Doch die beiden...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nur ein wenig lieben “
Für Michel, einen jungen Franzosen in Deutschland, ist es Liebe auf den ersten Blick: Er weiß sofort, dass Inge die Frau ist, die er schon immer gesucht hat. Er verliebt sich haltlos in sie, entschlossen, für immer an ihrer Seite zu bleiben. Doch die beiden sind sich zur falschen Zeit am falschen Ort begegnet. Eine grausame Fügung entreißt Michel die Geliebte und er muss erkennen, dass seine eigene Vergangenheit auf unglaubliche Weise mit Inges Geschick verknüpft ist... »Ein zutiefst berührendes Buch voller Menschlichkeit Quint ist ein großer Autor!« (Elle)
Klappentext zu „Nur ein wenig lieben “
Der neue Roman vom Autor des literarischen Erfolgs "Die schrecklichen Gärten" - die bewegende Geschichte einer tragischen Liebe: "Ein zutiefst berührendes Buch voller Menschlichkeit. Michel Quint ist ein großer Autor!" (Elle). "Haben Sie sich schon einmal gefragt, was genau "ein kleines Meisterwerk' ist? Dieser Roman ist die Antwort." (Brigitte) zu "Die schrecklichen Gärten".Als der junge Franzose Michel in den frühen Siebzigerjahren nach Deutschland kommt, kann er noch nicht ahnen, dass dieser Aufenthalt sein Leben für immer verändern wird. Denn eines Abends macht er die Bekanntschaft von Inge, einer rebellischen jungen Frau, mit der er Tango tanzt. Vom ersten Moment an weiß er, dass sie die Frau ist, die er schon immer gesucht hat, und er verliebt sich haltlos in sie. Doch die beiden sind sich am falschen Ort, zur falschen Zeit begegnet. Denn ein grausames Schicksal entreißt Michel die Geliebte - und er muss erkennen, dass ihr sinnloser Tod auf tragische Weise mit seiner eigenen Vergangenheit verknüpft ist ... "Nur ein wenig lieben", das an "Die schrecklichen Gärten" anknüpft, ist ein nachdenklich und einfühlsam erzähltes Buch über die Liebe, aber auch über die großen Themen der Schuld und der Verantwortung, der Scham und des Schweigens.
Lese-Probe zu „Nur ein wenig lieben “
"Aujourd'hui maman est morte..."Kerzengerade in ihrem langen schwarzen Kleid, schaute sie mit ihren kummerblauen Augen zu mir auf, flüsterte, sie habe ihre Mutter verloren, und alles drang mir ins Herz: die unerwartete Trauer, ihr Tragödinnenblick und die schallende Ohrfeige der Liebe.
Im Augenblick des furchtbaren Geständnisses tanzten die junge Dame und ich Tango. Sie vor allem, denn ich kann nicht tanzen, höchstens ein bisschen mit dem Hintern wackeln, wenn ich in Hochstimmung bin.
In jener letzten Augustnacht stand ich an der Bar eines Festsaals im tiefsten Deutschland. Rein zufällig. War bloß hineingegangen, um noch ein letztes Bier an meinem ersten Abend hier zu trinken. Ich klammerte mich an meinem Bierkrug fest und betrachtete die angesäuselte Menschheit unter den Lichtpünktchen der Facettenkugel, die sich an der Decke drehte. Und ich hatte sie schnurstracks auf mich zukommen sehen, eine große Nachtlilie mit weißer Haut und tiefem Dekolleté, zwanzig, nicht viel mehr, dunkles Zigeunerhaar und ein Loreleigesicht, bei dem man sofort in den Rhein springen möchte. "Darf ich bitten...? Est-ce que vous voulez bien...?"
Leichter Akzent, dieses Taktgefühl, zuerst deutsch zu sprechen und dann zu übersetzen. Höflichkeit und Scharfblick in einem. Donnerwetter! Ich habe nämlich offen gestanden nichts von einem French lover... "Pourquoi pas? Warum nicht...? Hahaha...!
Dümmliches Lachen, zu mehr galantem Getue bin ich nicht fähig. Und dann nehme ich sie in die Arme, mir wird ganz schwummrig. Meine rechte Hand liegt zitternd auf ihrer Hüfte, die linke habe ich leicht angehoben, besser gesagt an meine Brust gepresst, ihr Händchen fest darin eingeschlossen, damit sie meine Gefühle durch das Jackett hindurch pochen fühlt. Ich spüre kaum ihr Gewicht, dieses Mädchen ist eine Liane, eine Amazone aus der Pampa, eine geborene Tangotänzerin. Ich dagegen... Ich bin eher ein Pferd! Zwei Stampfschritte, ein entschuldigendes Wiehern, ein Ausbruchsversuch, schon liege ich
... mehr
in den letzten Zügen... Sie schafft es, mich trotz allem im Takt zu halten, mein Herzrasen lässt nach, ich trabe brav hinter ihr her, zwischen den anderen Tänzern hindurchschwankend, und genau in dem Augenblick, wo man mich fast für lebendig halten könnte, gibt sie mir mit drei, vier Wörtern den Gnadenschuss! Mama, gestorben, heute...!
Mit zunehmendem Alter war meine Fassade alles andere als schöner geworden, ich glich immer mehr einem dumpfen, kurzsichtigen Hirsch, voll bestialischer Kraft, so dass ich mich morgens hin und wieder dabei ertappte, wie ich mir die Stirn betastete, vielleicht fing ja schon das Geweih zu sprießen an, aber da, mit der plötzlichen Aufregung, mit der Anstrengung, wieder in mein Menschsein zurückzufinden, gelang es mir bloß, mich in einen alternden Hengst zu verwandeln, und ich reagierte in Übereinstimmung mit meiner Physis, instinktiv, wie ein in Panik geratenes Tier. Ich kam mit meinem Tango völlig durcheinander und zermatschte ihr die Füße mit meinen großen Hufen. Wenn Sie die Würde ihres Schmerzes gesehen hätten, ihr leises, verzeihendes Lächeln, während ihr Tränen in die Augen traten, ich kriegte Lust, den barmherzigen Samariter zu spielen, sie sollte sich mal richtig ausheulen, das tut gut...! Ich versuchte nicht länger, wie ein argentinischer Gaucho auszusehen, den Oberkörper nach hinten gewölbt, um der Schönen meine ganze Männlichkeit vor Augen zu führen. Stopp mitten auf der Tanzfläche, die anderen rempelten uns von allen Seiten her an, ich zog ihren Kopf an meine Brust, und natürlich hoffte ich mehr oder weniger, dass die Trostworte, die ich ihr ins Ohr flüsterte, uns zu einem Küsschen führen würden und zu wahrer Völkerverbrüderung: "Meine ist letztes Jahr gestorben..."
Und dann, genau im selben Augenblick, kapierte ich, dass ich den Tiefpunkt erreicht hatte, dass ich ein erbärmlicher Vollidiot war! Ein Geheimkämmerchen, ein Keller, ein Mauseloch, selbst die Röcke einer alten Jungfer, eines ewigen Mauerblümchens - alles wäre mir recht gewesen, um mich zu verkriechen. Verdammt und zugenäht, ich, der gebildete Schnösel, der unfehlbare Gelehrte, wie konnte ich den Anfang vergessen, den ersten Satz des berühmtesten Romans von einem der berühmtesten französischen Schriftsteller. Die ersten Worte aus Der Fremde von Camus, ich, der diplomierte Politikwissenschaftler, und im Rahmen eines Berufspraktikums in den deutschen Bundesländern unterwegs, ich hielt das für eine private Traueranzeige, für das spontane und herzzerreißende, das schmeichelhafte Geständnis einer eroberten Frau... Meine Selbstgefälligkeit werde ich wohl nie loswerden! "Meine ist letztes Jahr...!" Und dazu warf ich mich auch noch in Rednerpose mit meinen traurigen Familiengeschichten: dein "letztes Jahr gestorben" kannst du dir mal...! Mama ist an Krebs zugrunde gegangen, an so einem Dreckszeug, das sie von innen aufgefressen hat, und ihre letzten Monate waren alles andere als schön, weil Leiden nie schön ist.
Kurzum, hochrot vor Scham, begriff ich den peinlichen Irrtum, den mein Schulmeistergehabe noch verschlimmert hatte, und die junge Dame, die ich so fest an mich drückte, dass sie beinahe erstickte, sollte den Kopf lieber nicht heben, denn ich hatte Angst vor ihren Augen. Und dann fing sie an zu kichern und sich zu winden, und wir platzten alle beide vor Lachen wie reife Granatäpfel.
Bis hierher, werden Sie mir sagen, ist das doch lauter Kindergelaber, Zickereien eines Studenten, der im Ausland seine Freiheit entdeckt, Doktorspiele zurückgebliebener Gören, wie in angestaubten Drei-Groschen-Geschichten. Taugt doch alles nichts...
Die Zeit, von der ich Ihnen erzähle, meine Lehrzeit in Deutschland, der Ball, die junge Dame, die Camus gelesen hatte, das war im Spätsommer 72. In Petersberg, einem Ort oberhalb von Fulda, in der ehemaligen amerikanischen Besatzungszone, nur zwei Walzerschritte von der DDR-Grenze entfernt. An jenem Abend bin ich der einzigen Frau begegnet, mit der ich bis ans Ende meiner Tage hätte leben können, der einzigen, die vom Schicksal oder von der Geschichte für mich bestimmt war, die wiedergefundene Urfrau, mit der man jenseits von gut und böse gelangt, die Frau der allumfassenden Harmonie, deren Schatten ich hätte sein können. Jetzt, wo ich schreibe, am Beginn des neuen Jahrtausends, sind rund dreißig Jahre vergangen, und keine andere hat ihren Platz eingenommen.
Inge, dein Name war Inge. Und du warst keine trügerische Liebe, ich habe dich seit damals nie mit irgendwem verwechselt, und für dich wäre ich sogar zu den Muränen gesprungen. Aber ich habe dich in Deutschland zurückgelassen, oder verloren, und ich werde dich nie wiedersehen...
Schon in jenem Herbst 72, als ich nach einem Sommer in Deutschland wieder nach Frankreich fahre, ist alles besiegelt. Die Erinnerung ist bereits an der Arbeit, und der Schmerz lauert hinter jedem Wort. Ich bin nur zurückgegangen, um meinem Vater von dir zu erzählen, Inge, so schnell wie möglich, und trotzdem bin ich zu spät gekommen: Heute wird Papa begraben, in einem kleinen Dorf des Pas-de-Calais.
Hinter der Weißdornhecke, die ein stillgelegtes Gleis der Kohlengruben verdeckt, liegt dein Grab offen da im Nieselregen einer ekligen Jahreszeit, und ich muss unwillkürlich an das andere Loch denken, das tiefe Lehmloch, aus dem keiner rauskommt, wo man bei lebendigem Leib verfault, Papa. Die Wehrmachtsleitung hatte dich, gemeinsam mit deinem Cousin Gaston, als Geisel da hineingeworfen, eine Galgenfrist bis zur Hinrichtung, weil ihr einen Trafo in die Luft gesprengt hattet und sie die Schuldigen verhaftet hatten, ohne es zu wissen: euch...! Du erinnerst dich doch Papa, du hast es Gaston überlassen, mir dieses Résistance-Abenteuer zu erzählen, weil du dich nicht getraut hast, damals, an jenem Sonntag im Jahr 58, nach einer Nachmittagsvorstellung, an der Bar eines Kinos von Roubaix... Erinnerst du dich...? Es wurde Die Brücke gezeigt, ein deutscher Film von Bernhard Wicki... Gaston hat mir die Augen geöffnet über deine Berufung zum schäbigen Amateurclown, der mich vor Scham in den Erdboden versinken ließ: Ich wusste ja nicht, dass du, der ehrenwerte Grundschullehrer, bei jeder Gelegenheit, Betriebsratsfeier, Weihnachtsfest, den Hanswurst gespielt hast, um dem Soldaten Anerkennung zu zollen, der euch bewachte, während ihr auf den Tod gewartet habt. Dieser Deutsche, Bernhard Wicki, hatte seine Lebensmittelrationen mit euch geteilt, den Clown gespielt - was er vor dem Krieg auch war -, um den Menschen spielen zu können. Und 58 hat er Die Brücke gedreht, die wir uns alle zusammen angesehen haben. Heute, wo du zu Grabe getragen wirst, Papa, habe ich die Kinokarte von jenem Sonntag noch in der Tasche, abgerissen von der Platzanweiserin im "Tramway", liebevoll aufbewahrt und jetzt ganz fleckig... Eine Weile glaubte ich schon, sie verloren zu haben, und dann bekam ich sie wieder, ich werd's dir erzählen, Papa...
Er ist da, Gaston. Vor deinem Sarg, der in die Grube hinuntergelassen wird. Sein Hemd franst am Kragen aus, er trägt eine schwarze Krawatte, wie niemand sie mehr zu tragen wagt, und seine runde Brille ist mit Heftpflaster zusammengeflickt. Nicole hat geschwollene Füße, beim Schniefen zieht sie die Augenbrauen hoch. Der Kummer verschmiert ihr die ganze Wimperntusche, vom Sprühregen hat sie fettig glänzendes Haar, die Dauerwelle spielt verrückt, und ihr Körper, in dem Kleid aus lila Satin unter dem Übergangsmantel, den sie nicht mehr zuknöpfen kann, ist trotz allem immer noch ein Argument für einfache Vergnügen. Sie haben dein Alter, Papa, gerade mal fünfzig. Und sie sind wundervoll.
Damals, Winteranfang 42, hatte der Tod nichts von euch wissen wollen, aber er hat dich schließlich in Lille auf dem Bahnsteig erwischt, dir mit einem Schlag das Herz zerquetscht, letzten Samstag, ein Nachmittag, an dem du keine rote Nase und keine Quadratlatschen dabeihattest. Du warst nicht verkleidet, deine neue Schiebermütze, eine richtige, kein lächerlicher Dummer-August-Fladen, reichte nicht, Freund Hein hat dich erkannt. Und ich war schuld, ich hatte dich überstürzt angerufen, weil ich kommen und dir nun meinerseits etwas über dein eigenes Leben erzählen wollte, über die merkwürdigen Folgen von 42, von denen du nichts wusstest, über alles, was du in deinen schrecklichen Gärten ausgesät hattest und was aufgegangen war, dort, in Deutschland. Es war klar, dass du losrennen würdest: Ich hatte mich wichtig gemacht und dich auf die Folter gespannt. Auf keinen Fall wollte ich am Telefon mit allem herausrücken. Oder dir schreiben. Nach meinem Berufspraktikum in Deutschland solltest du dir von Angesicht zu Angesicht den Epilog deiner Résistance-Abenteuer anhören. Von Angesicht zu Angesicht... Darum also, und dieses Ende, von dem du nie etwas erfahren wirst, will ich dir stumm vor deinem offenen Grab erzählen, während du noch nicht in die Erinnerung eingegangen bist, mit unseren Worten, von hier aus der Gegend, wenn ich sie noch weiß, den einfachen Ausdrücken, die du nie verleugnet hast, auch wenn dein Lehrerjob dich zu akademisch korrekter Grammatik verpflichtete. Hör also nicht auf das Getuschel ringsherum, sei taub für die Huldigungen und den Klatsch, der mit ernsten Mienen geflüstert wird hier auf den Friedhofswegen... Selbst Gaston und Nicole, lass sie mit ihrem Kummer allein.
Hör auf niemanden, Papa... Denk an dich, einmal nur... Lausch einzig und allein dem Schatten meiner Worte, das ist die Geschichte einer Welt, die hätte sein können. Und bitte lass dich vor allem nicht ablenken von Françoise und ihrem Getue. Nimm dir den Teil ehrlichen Schmerz in ihrer ganzen Flennerei, und sei nachsichtig mit diesen Exzessen einer besitzergreifenden Tochter und mustergültigen Schwester.
Sie steht neben mir und ist sich selbst treu. Sie trägt einen Haute-Couture-Kummer zur Schau, maßgeschneiderte Tränen, Laufsteg-Schluchzer, und das ist gut so. Dann leidet sie weniger. Weil sie bei solchen makabren Anlässen zeigt, was sie kann, ihr großer, ziemlich feister Körper, dieser ganze Busen, der ihr normalerweise im Weg ist, ihre Ähnlichkeit mit mir, Ochsennase und Kuhaugen, und während sie ganz würdig bleibt, verklärt sie das alles durch eine Freigebigkeit des schmerzerfüllten Fleisches, eine Art Selbstopferung à la Maria Magdalena... Glauben Sie bloß nicht, dass ich aus Grausamkeit so über Françoise rede. Im Gegenteil, diese Art, vom Schmerz nie überrascht zu werden, diese gerade noch gebändigte Verzweiflung, das nötigt einem Bewunderung ab... Und tatsächlich, noch ganz junge Männer, mit roten Augen, ein paar von deinen ehemaligen Schülern, die gekommen sind, um deinen sterblichen Überresten die letzte Ehre zu erweisen, Papa, zucken zusammen, als sie ein kurzes, fast erotisches Stöhnen ausstößt, weil der Pfarrer seinen Weihwasserwedel über der Grube emporhebt: "Im Namen des Vaters..."
Jetzt schon...! Man will dein Grab schließen, dich einsperren in der lautlosen Finsternis... Also muss ich's dir schnell erzählen, Papa, ich habe noch zwei Sekunden und weiß nicht, womit ich anfangen soll.
Copyright © in der Verlagsgruppe Random House
Mit zunehmendem Alter war meine Fassade alles andere als schöner geworden, ich glich immer mehr einem dumpfen, kurzsichtigen Hirsch, voll bestialischer Kraft, so dass ich mich morgens hin und wieder dabei ertappte, wie ich mir die Stirn betastete, vielleicht fing ja schon das Geweih zu sprießen an, aber da, mit der plötzlichen Aufregung, mit der Anstrengung, wieder in mein Menschsein zurückzufinden, gelang es mir bloß, mich in einen alternden Hengst zu verwandeln, und ich reagierte in Übereinstimmung mit meiner Physis, instinktiv, wie ein in Panik geratenes Tier. Ich kam mit meinem Tango völlig durcheinander und zermatschte ihr die Füße mit meinen großen Hufen. Wenn Sie die Würde ihres Schmerzes gesehen hätten, ihr leises, verzeihendes Lächeln, während ihr Tränen in die Augen traten, ich kriegte Lust, den barmherzigen Samariter zu spielen, sie sollte sich mal richtig ausheulen, das tut gut...! Ich versuchte nicht länger, wie ein argentinischer Gaucho auszusehen, den Oberkörper nach hinten gewölbt, um der Schönen meine ganze Männlichkeit vor Augen zu führen. Stopp mitten auf der Tanzfläche, die anderen rempelten uns von allen Seiten her an, ich zog ihren Kopf an meine Brust, und natürlich hoffte ich mehr oder weniger, dass die Trostworte, die ich ihr ins Ohr flüsterte, uns zu einem Küsschen führen würden und zu wahrer Völkerverbrüderung: "Meine ist letztes Jahr gestorben..."
Und dann, genau im selben Augenblick, kapierte ich, dass ich den Tiefpunkt erreicht hatte, dass ich ein erbärmlicher Vollidiot war! Ein Geheimkämmerchen, ein Keller, ein Mauseloch, selbst die Röcke einer alten Jungfer, eines ewigen Mauerblümchens - alles wäre mir recht gewesen, um mich zu verkriechen. Verdammt und zugenäht, ich, der gebildete Schnösel, der unfehlbare Gelehrte, wie konnte ich den Anfang vergessen, den ersten Satz des berühmtesten Romans von einem der berühmtesten französischen Schriftsteller. Die ersten Worte aus Der Fremde von Camus, ich, der diplomierte Politikwissenschaftler, und im Rahmen eines Berufspraktikums in den deutschen Bundesländern unterwegs, ich hielt das für eine private Traueranzeige, für das spontane und herzzerreißende, das schmeichelhafte Geständnis einer eroberten Frau... Meine Selbstgefälligkeit werde ich wohl nie loswerden! "Meine ist letztes Jahr...!" Und dazu warf ich mich auch noch in Rednerpose mit meinen traurigen Familiengeschichten: dein "letztes Jahr gestorben" kannst du dir mal...! Mama ist an Krebs zugrunde gegangen, an so einem Dreckszeug, das sie von innen aufgefressen hat, und ihre letzten Monate waren alles andere als schön, weil Leiden nie schön ist.
Kurzum, hochrot vor Scham, begriff ich den peinlichen Irrtum, den mein Schulmeistergehabe noch verschlimmert hatte, und die junge Dame, die ich so fest an mich drückte, dass sie beinahe erstickte, sollte den Kopf lieber nicht heben, denn ich hatte Angst vor ihren Augen. Und dann fing sie an zu kichern und sich zu winden, und wir platzten alle beide vor Lachen wie reife Granatäpfel.
Bis hierher, werden Sie mir sagen, ist das doch lauter Kindergelaber, Zickereien eines Studenten, der im Ausland seine Freiheit entdeckt, Doktorspiele zurückgebliebener Gören, wie in angestaubten Drei-Groschen-Geschichten. Taugt doch alles nichts...
Die Zeit, von der ich Ihnen erzähle, meine Lehrzeit in Deutschland, der Ball, die junge Dame, die Camus gelesen hatte, das war im Spätsommer 72. In Petersberg, einem Ort oberhalb von Fulda, in der ehemaligen amerikanischen Besatzungszone, nur zwei Walzerschritte von der DDR-Grenze entfernt. An jenem Abend bin ich der einzigen Frau begegnet, mit der ich bis ans Ende meiner Tage hätte leben können, der einzigen, die vom Schicksal oder von der Geschichte für mich bestimmt war, die wiedergefundene Urfrau, mit der man jenseits von gut und böse gelangt, die Frau der allumfassenden Harmonie, deren Schatten ich hätte sein können. Jetzt, wo ich schreibe, am Beginn des neuen Jahrtausends, sind rund dreißig Jahre vergangen, und keine andere hat ihren Platz eingenommen.
Inge, dein Name war Inge. Und du warst keine trügerische Liebe, ich habe dich seit damals nie mit irgendwem verwechselt, und für dich wäre ich sogar zu den Muränen gesprungen. Aber ich habe dich in Deutschland zurückgelassen, oder verloren, und ich werde dich nie wiedersehen...
Schon in jenem Herbst 72, als ich nach einem Sommer in Deutschland wieder nach Frankreich fahre, ist alles besiegelt. Die Erinnerung ist bereits an der Arbeit, und der Schmerz lauert hinter jedem Wort. Ich bin nur zurückgegangen, um meinem Vater von dir zu erzählen, Inge, so schnell wie möglich, und trotzdem bin ich zu spät gekommen: Heute wird Papa begraben, in einem kleinen Dorf des Pas-de-Calais.
Hinter der Weißdornhecke, die ein stillgelegtes Gleis der Kohlengruben verdeckt, liegt dein Grab offen da im Nieselregen einer ekligen Jahreszeit, und ich muss unwillkürlich an das andere Loch denken, das tiefe Lehmloch, aus dem keiner rauskommt, wo man bei lebendigem Leib verfault, Papa. Die Wehrmachtsleitung hatte dich, gemeinsam mit deinem Cousin Gaston, als Geisel da hineingeworfen, eine Galgenfrist bis zur Hinrichtung, weil ihr einen Trafo in die Luft gesprengt hattet und sie die Schuldigen verhaftet hatten, ohne es zu wissen: euch...! Du erinnerst dich doch Papa, du hast es Gaston überlassen, mir dieses Résistance-Abenteuer zu erzählen, weil du dich nicht getraut hast, damals, an jenem Sonntag im Jahr 58, nach einer Nachmittagsvorstellung, an der Bar eines Kinos von Roubaix... Erinnerst du dich...? Es wurde Die Brücke gezeigt, ein deutscher Film von Bernhard Wicki... Gaston hat mir die Augen geöffnet über deine Berufung zum schäbigen Amateurclown, der mich vor Scham in den Erdboden versinken ließ: Ich wusste ja nicht, dass du, der ehrenwerte Grundschullehrer, bei jeder Gelegenheit, Betriebsratsfeier, Weihnachtsfest, den Hanswurst gespielt hast, um dem Soldaten Anerkennung zu zollen, der euch bewachte, während ihr auf den Tod gewartet habt. Dieser Deutsche, Bernhard Wicki, hatte seine Lebensmittelrationen mit euch geteilt, den Clown gespielt - was er vor dem Krieg auch war -, um den Menschen spielen zu können. Und 58 hat er Die Brücke gedreht, die wir uns alle zusammen angesehen haben. Heute, wo du zu Grabe getragen wirst, Papa, habe ich die Kinokarte von jenem Sonntag noch in der Tasche, abgerissen von der Platzanweiserin im "Tramway", liebevoll aufbewahrt und jetzt ganz fleckig... Eine Weile glaubte ich schon, sie verloren zu haben, und dann bekam ich sie wieder, ich werd's dir erzählen, Papa...
Er ist da, Gaston. Vor deinem Sarg, der in die Grube hinuntergelassen wird. Sein Hemd franst am Kragen aus, er trägt eine schwarze Krawatte, wie niemand sie mehr zu tragen wagt, und seine runde Brille ist mit Heftpflaster zusammengeflickt. Nicole hat geschwollene Füße, beim Schniefen zieht sie die Augenbrauen hoch. Der Kummer verschmiert ihr die ganze Wimperntusche, vom Sprühregen hat sie fettig glänzendes Haar, die Dauerwelle spielt verrückt, und ihr Körper, in dem Kleid aus lila Satin unter dem Übergangsmantel, den sie nicht mehr zuknöpfen kann, ist trotz allem immer noch ein Argument für einfache Vergnügen. Sie haben dein Alter, Papa, gerade mal fünfzig. Und sie sind wundervoll.
Damals, Winteranfang 42, hatte der Tod nichts von euch wissen wollen, aber er hat dich schließlich in Lille auf dem Bahnsteig erwischt, dir mit einem Schlag das Herz zerquetscht, letzten Samstag, ein Nachmittag, an dem du keine rote Nase und keine Quadratlatschen dabeihattest. Du warst nicht verkleidet, deine neue Schiebermütze, eine richtige, kein lächerlicher Dummer-August-Fladen, reichte nicht, Freund Hein hat dich erkannt. Und ich war schuld, ich hatte dich überstürzt angerufen, weil ich kommen und dir nun meinerseits etwas über dein eigenes Leben erzählen wollte, über die merkwürdigen Folgen von 42, von denen du nichts wusstest, über alles, was du in deinen schrecklichen Gärten ausgesät hattest und was aufgegangen war, dort, in Deutschland. Es war klar, dass du losrennen würdest: Ich hatte mich wichtig gemacht und dich auf die Folter gespannt. Auf keinen Fall wollte ich am Telefon mit allem herausrücken. Oder dir schreiben. Nach meinem Berufspraktikum in Deutschland solltest du dir von Angesicht zu Angesicht den Epilog deiner Résistance-Abenteuer anhören. Von Angesicht zu Angesicht... Darum also, und dieses Ende, von dem du nie etwas erfahren wirst, will ich dir stumm vor deinem offenen Grab erzählen, während du noch nicht in die Erinnerung eingegangen bist, mit unseren Worten, von hier aus der Gegend, wenn ich sie noch weiß, den einfachen Ausdrücken, die du nie verleugnet hast, auch wenn dein Lehrerjob dich zu akademisch korrekter Grammatik verpflichtete. Hör also nicht auf das Getuschel ringsherum, sei taub für die Huldigungen und den Klatsch, der mit ernsten Mienen geflüstert wird hier auf den Friedhofswegen... Selbst Gaston und Nicole, lass sie mit ihrem Kummer allein.
Hör auf niemanden, Papa... Denk an dich, einmal nur... Lausch einzig und allein dem Schatten meiner Worte, das ist die Geschichte einer Welt, die hätte sein können. Und bitte lass dich vor allem nicht ablenken von Françoise und ihrem Getue. Nimm dir den Teil ehrlichen Schmerz in ihrer ganzen Flennerei, und sei nachsichtig mit diesen Exzessen einer besitzergreifenden Tochter und mustergültigen Schwester.
Sie steht neben mir und ist sich selbst treu. Sie trägt einen Haute-Couture-Kummer zur Schau, maßgeschneiderte Tränen, Laufsteg-Schluchzer, und das ist gut so. Dann leidet sie weniger. Weil sie bei solchen makabren Anlässen zeigt, was sie kann, ihr großer, ziemlich feister Körper, dieser ganze Busen, der ihr normalerweise im Weg ist, ihre Ähnlichkeit mit mir, Ochsennase und Kuhaugen, und während sie ganz würdig bleibt, verklärt sie das alles durch eine Freigebigkeit des schmerzerfüllten Fleisches, eine Art Selbstopferung à la Maria Magdalena... Glauben Sie bloß nicht, dass ich aus Grausamkeit so über Françoise rede. Im Gegenteil, diese Art, vom Schmerz nie überrascht zu werden, diese gerade noch gebändigte Verzweiflung, das nötigt einem Bewunderung ab... Und tatsächlich, noch ganz junge Männer, mit roten Augen, ein paar von deinen ehemaligen Schülern, die gekommen sind, um deinen sterblichen Überresten die letzte Ehre zu erweisen, Papa, zucken zusammen, als sie ein kurzes, fast erotisches Stöhnen ausstößt, weil der Pfarrer seinen Weihwasserwedel über der Grube emporhebt: "Im Namen des Vaters..."
Jetzt schon...! Man will dein Grab schließen, dich einsperren in der lautlosen Finsternis... Also muss ich's dir schnell erzählen, Papa, ich habe noch zwei Sekunden und weiß nicht, womit ich anfangen soll.
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Autoren-Porträt von Michel Quint
Michel Quint, 1949 in Pas de Calais geboren, studierte Literatur und Theaterwissenschaften. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer begann er in den Achtzigerjahren für Rundfunk und Theater zu schreiben, es folgten mehrere Romane. 1989 wurde er mit dem Großen Krimipreis ausgezeichnet. Den fulminanten literarischen Durchbruch aber erzielte er mit dem Überraschungserfolg Die schrecklichen Gärten : Das Buch, in einem sehr kleinen, literarischen Verlag publiziert, avancierte innerhalb kürzester Zeit durch Mund-zu-Mund-Propaganda zum Lieblingsbuch der Buchhändler und Leser. Es steht seit seinem Erscheinen im Herbst letzten Jahres auf den französischen Bestsellerlisten, wurde mit euphorischen Kritiken bedacht und in vierzehn Sprachen übersetzt. Die Filmrechte werden derzeit verhandelt. Michel Quint lebt mit seiner Familie in Lille und hat soeben seinen nächsten Roman fertiggestellt.Elisabeth Edl, 1956 in der Steiermark geboren, ist Romanistin und Übersetzerin vor allem von Klassikern aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie wurde mit dem Petrarca-Übersetzer-Preis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und 2006 mit dem Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet. 2014 erhielt sie den Romain-Rolland-Preis für deutsch-französische Literaturübersetzungen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michel Quint
- 2003, 156 Seiten, Maße: 12,8 x 19,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Edl, Elisabeth
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 344275092X
- ISBN-13: 9783442750924
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