Nur eine Sekunde
Roman
Eine Landstraße. Am Horizont zieht ein Sturm auf. Die junge Frau auf dem Fahrrad will schnell nach Hause zu ihrem Mann. Sie wird übermütig, passt einen Moment lang nicht auf. Als das Auto viel zu schnell auf sie zurast, kann sie schon nicht...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Nur eine Sekunde “
Eine Landstraße. Am Horizont zieht ein Sturm auf. Die junge Frau auf dem Fahrrad will schnell nach Hause zu ihrem Mann. Sie wird übermütig, passt einen Moment lang nicht auf. Als das Auto viel zu schnell auf sie zurast, kann sie schon nicht
mehr ausweichen - Eine einzige Sekunde, die Alex+ Leben von Grund auf verändert. Als er die Nachricht vom Unfall seiner Frau erhält, macht er sich sofort auf den Weg ins Krankenhaus. Er kommt zu spät. Isabel ist bereits tot - Hirntod. Doch
ihr Herz wird noch gebraucht. Woanders wartet bereits eine junge Frau auf das lebensnotwendige Organ. Für sie ist Isabels plötzlicher Tod die einzige Hoffnung - Bewegend und ohne jeden Kitsch erzählt Stephen Lovely, wie ein schwerer Verlust
und ein tragischer Gewinn das Leben zweier Menschen auf eine harte Probe stellen.
Klappentext zu „Nur eine Sekunde “
Eine Landstraße. Am Horizont zieht ein Sturm auf. Die junge Frau auf dem Fahrrad will schnell nach Hause zu ihrem Mann. Sie wird übermütig, passt einen Moment lang nicht auf. Als das Auto viel zu schnell auf sie zurast, kann sie schon nicht mehr ausweichen - Eine einzige Sekunde, die Alex Leben von Grund auf verändert. Als er die Nachricht vom Unfall seiner Frau erhält, macht er sich sofort auf den Weg ins Krankenhaus. Er kommt zu spät. Isabel ist bereits tot - Hirntod. Doch
ihr Herz wird noch gebraucht. Woanders wartet bereits eine junge Frau auf das lebensnotwendige Organ. Für sie ist Isabels plötzlicher Tod die einzige Hoffnung - Bewegend und ohne jeden Kitsch erzählt Stephen Lovely, wie ein schwerer Verlust
und ein tragischer Gewinn das Leben zweier Menschen auf eine harte Probe stellen.
Alex ist dreißig Jahre alt, glücklich verheiratet und ein vielversprechender junger Wissenschaftler mit der Aussicht auf eine glanzvolle Karriere, als seine Frau Isabel plötzlich bei einem Unfall ums Leben kommt. Weil Isabel Organspenderin ist, muss Alex akzeptieren, dass ihr Herz zukünftig in der Brust einer anderen schlägt. Die Empfängerin, Janet, wäre ohne Isabels Spende gestorben. Ein Jahr später möchte sie sich bei Isabels Familie bedanken - und sie schreibt Alex einen Brief. NUR EINE SEKUNDE erzählt, was danach passiert. Wie Alex und Janet mit der für beide schwierigen Situation umgehen, aber auch, wie ihre Familien auf das einschneidende Erlebnis reagieren und alle erst lernen müssen, mit dem tragischen Verlust und der unverhofften zweiten Chance umzugehen. Mit feinem Gespür für die Gefühle aller Beteiligten stellt Stephen Lovely uns Menschen vor, die das Leben auf eine harte Probe stellt. Das Ergebnis ist ebenso authentisch wie berührend.
Lese-Probe zu „Nur eine Sekunde “
Nur eine Sekunde von Stephen LovelyProlog
April 2005
Isabel beugte sich nach vorne über ihr Rennrad, die Hände am unteren Teil des Lenkers, und trat rhythmisch durch. Das Trikot, zwischen den Schultern feucht vor Schweiß, klebte ihr am Körper. Schweißperlen liefen ihr über Stirn und Schläfen und tropften ihr in die Augen. Mit einem behandschuhten Handrücken wischte sie sie fort. Dann legte sie drei Finger an die Halsschlagader und spürte das heftige Pochen.
Als sie vor etwa einer Stunde aus der Stadt geradelt war, war es leicht bewölkt gewesen, doch inzwischen wehte ein böiger Wind, und die Wolken rasten über den tintenschwarzen Himmel. Die Luft roch nach Feuchtigkeit und Dung, auf einer Telefonleitung saßen aufgeregt flatternde Rotschulterstärlinge. Ihr blieben vermutlich noch fünf bis zehn Minuten, bis der Himmel seine Schleusen öffnen würde.
Der Wind rüttelte und schubste sie herum, und sie fasste die Lenkerstange etwas lockerer, damit das Rad die Windstöße abfedern konnte. Den heftigeren Böen stemmte sie sich entgegen, indem sie sich förmlich in sie hineinwarf, wodurch sie ein fragiles Gleichgewicht herstellte, bis der tückische Wind nachließ und sie ihr Gewicht blitzschnell wieder verlagern musste, um nicht im hohen Bogen im Straßengraben zu landen.
Sie fühlte sich schutzlos und verletzlich, denn das hier war immerhin Iowa, und auch wenn sie noch keine Tornado-Warnsirenen gehört hatte, so hielt sie doch die Augen auf und suchte den Horizont nach einer jener unheilverkündenden, schlauchförmigen Wolken ab. Sie wollte nur noch nach Hause. Sie wollte zu Alex, ihrem Mann. Sie wollte ihren Hund kraulen, ein Glas Orangensaft trinken und sich im Keller verschanzen – sollte es wirklich eine Tornado -Warnung geben. Und wenn nicht, dann wollte sie so richtig schön
... mehr
heiß duschen.
Gleichzeitig war sie aber auch ziemlich aufgeregt, richtiggehend aufgekratzt sogar. Es war dieses Gefühl, gegen den Wind anzukämpfen, gegen diesen aufziehenden Sturm, sich der Gefahr zu stellen.
Mit halsbrecherischem Tempo raste sie einen steilen Hügel hinunter wie durch einen Schacht rauschender Luft, Körper und Rad zu einem dahinschießenden Projektil verschmolzen. Es war ein Gefühl unglaublicher Geschwindigkeit, wie im freien Fall, als sei sie vollkommen losgelöst von aller sie umgebenden Materie.
Sie flog förmlich über eine lange, schnurgerade Straße, vorbei an Feldern, auf denen noch die Stoppeln der Maispflanzen vom letzten Jahr standen, an einem Farmhaus, an weit entfernten Wiesen, schemenhaften Kühen, die in Grüppchen zusammenstanden, einem kleinen Eichenwäldchen.
Bei der Anfahrt auf die nächste Steigung trat sie wieder fest in die Pedale, schaltete herunter und preschte den Hügel hinauf. Sie hatte sich ganz flach über den Lenker gebeugt, die Stange mit den Handflächen nach unten umklammert, sodass sie mit der Nasenspitze fast ihre Unterarme berührte. Nun verlagerte sie ihr Gewicht nach hinten und strampelte unverdrossen weiter. Ihre Trittfrequenz wollte sie unbedingt beibehalten, in ihrem Rhythmus bleiben, und so kämpfte sie sich immer weiter nach oben. Auf den ersten zwanzig Metern kam sie sich noch vor wie ein Motor, ein schnittiger, leistungsstarker, perfekt eingestellter Apparat, den man auf ein Fahrrad montiert hatte, um die Pedale ohne Pause herumzukurbeln. Doch irgendwann ging ihr die Puste aus. Es war ein langer, steiler Hügel, und sie war noch nicht wieder richtig in Form – es war erst ihre dritte Tour in dieser Saison. Ihre Lungen brannten, die Oberschenkel wurden schwer wie Blei. Das Rad kippelte leicht unter ihr.
Dann schaute sie auf und sah den Scheitelpunkt des Hügels vor sich auftauchen, nicht einmal zehn Meter entfernt. Da war ein Feld mit Sojabohnen, das zu einem Farmgebäude hin abfiel, und ein paar Ziegen, die sich im Eingang zu einer Scheune zusammendrängten.
Mühsam kämpfte sie sich nach oben, wo der Wind sich ein Spiel daraus machte, sie hin und her zu werfen. Das Heulen steigerte sich zeitweise zu einem durchdringenden Pfeifen.
Urplötzlich hörte sie hinter sich das Dröhnen eines Motors, und der Schreck fuhr ihr durch den ganzen Körper: Im Bruchteil einer Sekunde direkt vor dem Aufprall wurde ihr klar, dass sie zu weit in die Mitte der Straße geraten war.
Erster Teil
April 2006
1. Kapitel
In sich zusammengesunken hockt Alex Voormann auf einem Klappstuhl in einem Kellerraum des Büros von U.S. Exam, einer Prüfungsfirma, dafür zuständig, schriftliche Schulprüfungen aus dem ganzen Land auszuwerten, und wünscht sich, seine Frau anrufen zu können. Wie gerne würde er ein bisschen Dampf bei ihr ablassen, ihr eine lustige kleine Slapstick-Einlage mit dem Titel »Mein Scheißtag« bieten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein hirnverbrannter Schwachsinn hier abgeht, Iz. Wie gerne hat er Isabel immer im Labor angerufen, um ihr hinter ihrer ernsten Fassade ein Lachen zu entlocken. Sie hatte dann immer gekichert und halbherzig protestiert. Alex, ich habe unheimlich viel zu tun. Trotzdem hatte sie sich dabei jedes Mal köstlich amüsiert und sich gefreut, wenn er sie anrief.
Alex würde Isabel gerne anrufen, aber Isabel ist tot. Nun schon seit beinahe einem Jahr.
Diane Topor, Direktorin des Aufsatzbewertungsprojekts von U.S. Exam, erscheint in einem ihrer schnittigen zitrusfarbenen Hosenanzüge neben Alex’ Schreibtisch und hält ihm ein Blatt Papier unter die Nase. »Erinnern Sie sich an diesen Aufsatz? Dafür haben Sie null Punkte gegeben. Von unserem Gremium für Qualitätssicherung hat er einstimmig drei Punkte bekommen. Können Sie mir diese Diskrepanz irgendwie erklären?«
Alex ist schon daran gewöhnt, dass Diane ihm seine Arbeit zurückbringt, seine Benotung infrage stellt und unfähige kleine Essayisten verteidigt. Um dem Aufsatz die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück, auch, damit Diane sein zerknittertes Polohemd bemerkt, das ihm aus der Hose hängt, und die verwaschene Jeans mit dem ausgefransten Riss am Knie. Dann fährt er sich mit den Fingern durch die aschblonden, ungekämmten Haare und versucht krampfhaft, sich an den Aufsatz und seinen Verfasser zu erinnern. Natürlich. Tina Criswell. Dreizehn Jahre alt, aus Fort Collins, Colorado. Als Antwort auf die Fragestellung – Was ist deiner Meinung nach Amerikas größtes Problem, und was kann zu seiner Lösung getan werden? Verwende Beispiele und Erläuterungen, damit deine Argumentation für den Leser möglichst anschaulich wird! – hatte Tina geschrieben: Teenagerschwangerschaften. Enthaltsam bleiben bis zur Ehe. Sie hat eine ordentliche, kleine, verschnörkelte Schrift. Darunter hatte sie einen zwinkernden Smiley gemalt. Der Smiley wirkt provokativ und lässt sich nicht so recht deuten. Was soll das heißen? Sex ist ’ne heiße Sache, wenn’s dann schließlich zur Sache geht? Enthaltsamkeit ist ein Witz?
Dieser Aufsatz war Alex kurz vor der Mittagspause untergekommen, und ihm war gleich klar gewesen, dass er einen typischen Null-Punkte-Kandidaten vor sich hatte. Der Schüler zeigt keinerlei Bemühungen, auf die Fragestellung einzugehen, und / oder die Antwort des Schülers ist unleserlich und / oder in einer anderen Sprache als Englisch verfasst.
Verdutzt schaut er zu Diane auf, immer in der Hoffnung, diese möge seine Verblüffung persönlich nehmen. »Drei Punkte?«
Diane runzelt die Stirn und stellt damit ziemlich unverblümt seine Intelligenz infrage.
Alex kramt in seinen Unterlagen nach den Ganzheitlichen Benotungsrichtlinien und liest die für drei Punkte nötigen Anforderungen laut vor. »Schwerpunkt nicht auf dem eigentlichen Thema. Schwerpunkt? Wo soll der sein? Inhalt beschränkt auf die Auflistung einzelner Gedanken. Gedanken? Ich sehe keine Gedanken. Uneinheitliche Gliederung. Gliederung? Von was? Wiederkehrende Schwächen in Technik und Sprachgebrauch. Welche Technik? Welcher Sprachgebrauch? Diane, dieses Mädchen hat fast gar nichts geschrieben. Sie hat die Frage überhaupt nicht ernst genommen.«
Sanft legt Diane eine Hand auf das Blatt. Der Ärmel ihres Blazers rutscht dabei nach oben und gibt den Blick auf eine gestärkte weiße Manschette und eine goldene Uhr mit einem Zifferblatt in Schmetterlingsform frei. »Wir betrachten das als Versuch. Ein schwacher Versuch, aber trotzdem immer noch ein Versuch. Es gibt einen Schwerpunkt. Der Schwerpunkt liegt auf Teenagerschwangerschaften. Sie hat zwei Gedanken aufgezählt und gegliedert. Erstens, Teenagerschwangerschaften sind ein Problem, und zweitens, eine mögliche Lösung ist, sexuelle Handlungen bis zur Ehe zu unterlassen. Keinerlei Schwächen in Technik oder Sprachgebrauch. Ja, wir haben es hier sogar mit einem gekonnten Umgang mit dem Imperativ zu tun.«
Alex lässt den Blick über die schwefelgelben Wände und die beinahe urinfarbenen Fenster des Kellerraums mit der herrlichen Aussicht auf die Rückseite einer Hecke schweifen. Könnte es sein, dass das alles bloß ein böser Traum ist, aus dem er irgendwann erwachen wird?
Um Diane direkt in die Augen sehen zu können, rückt er mit dem Stuhl ein wenig nach hinten. »Ich kann einfach nicht glauben, dass dieser Aufsatz vom Gremium drei Punkte bekommen hat. Haben die Richtlinien denn überhaupt keine Bedeutung mehr? Sind Sie ganz sicher, dass den Leuten von der Qualitätssicherung nicht die Richtlinien für Erst- und Zweitklässler vorlagen?« Seine Bestürzung ist gespielt, und natürlich maßlos übertrieben. Es ist ihm ohnehin alles ziemlich gleich, er rebelliert bloß gegen Diane, diese blöde Firma und das ganze zweifelhafte Unternehmen, Heranwachsende mit irgendwelchen willkürlichen Zahlen zu brandmarken. »Sie belohnen dieses Mädchen fürs Nichtstun. Wir wissen, dass sie was draufhat. Sie hat das Wort enthaltsam benutzt und es sogar richtig geschrieben. Sie hat den Test einfach in den Wind geblasen. Sie hat Ihnen gesagt, sie können sich Ihren Test sonst wohin stecken.«
Diane holt tief Luft, wohl um zu demonstrieren, was für einen langen Atem sie für ihre Antwort brauchen wird. »Wir finden es bedenklich, Alex, dass es Ihnen offenbar schwerfällt, das reine Bemühen der Kinder anzuerkennen. Sie geben durchweg niedrigere Punktzahlen als das Gremium für Qualitätssicherung, und das im Schnitt um zwei bis drei Punkte. Auf Dauer ist das ein unhaltbarer Zustand, aber fürs Erste sind wir bereit, es weiter mit Ihnen zu versuchen.«
Alex versucht sich zu beruhigen. Denn schließlich braucht er diesen Job. Also lässt er in seinem Tonfall einen Anflug von Reue mitschwingen. »Hören Sie, das ist Ermessenssache. Ich würde nicht behaupten, dass sie sich Mühe gegeben hat. Nicht für eine Siebtklässlerin. Sehen Sie dieses weiße Blatt?« Er zeigt mit der Hand auf den Fragebogen, das beinahe leere Antwortfeld unter der Frage. »Da sollten viele, viele Worte stehen. Ideen, Gedanken.«
Diane nickt, um der Form halber Verständnis zu signalisieren. »Gehen Sie den Aufsatz noch einmal durch. Es wäre doch gelacht, wenn Sie ihm nicht doch etwas Positives abgewinnen könnten. Das war ein Imperativ, nur für den Fall, dass Sie es nicht gemerkt haben.«
»Da hat sich wohl ein Fehler im Sprachgebrauch eingeschlichen, Diane. Man geht doch nichts durch, das man gelesen hat. Man geht vielleicht, sagen wir, durch einen Wald, aber wenn es sich um ein Buch oder ein anderes Schriftstück handelt, dann liest man es durch, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Streichen Sie die Note durch, und schreiben Sie eine andere drunter«, knurrt Diane und lässt den Aufsatz auf den Schreibtisch fallen.
Bevor er Isabel kennenlernte, arbeitete Alex, mit einem Bachelor in Anthropologie und einem Master in Archäologie bewaffnet, als Experte für Rettungsgrabungen bei der archäologischen Abteilung des Staates Iowa. Zu seinem großen Stolz hatte man ihm die Aufsicht über ein Team übertragen, und sie reisten herum, um – bevor die Bagger anrollten – sicherzustellen, dass dort, wo zukünftig Straßen und Autobahnen entstehen sollten, wo Felder umgegraben wurden oder verlassene Grundstücke neu bebaut werden sollten, keine schützenswerten historischen Kulturschätze im Boden lagerten, Überreste prähistorischer Siedlungen beispielsweise, die ansonsten unweigerlich zerstört würden.
Alex machte die Arbeit Spaß, er genoss es, auf Knien unter freiem Himmel auf der harten, trockenen Erde herumzurutschen, die Gürteltasche mit seinem Werkzeug (Suppenkelle, Teelöffel, Zahnarztsonde) umgeschnallt, während seine ganze Sorge dem einen Quadratmeter Erde vor seiner Nase galt. Er mochte auch die Einsamkeit – sein Quadratmeter, sein Territorium – und das sichere Netz der Kameradschaft, die anderen Ausgräber in seiner Nähe, die auf ihrem jeweils eigenen Quadratmeter knieten. Sie alle respektierten, dass man sich konzentrieren musste, und doch waren sie alle immer für ein Schwätzchen zu haben, wenn sich die Gelegenheit ergab. Mit Isabel erlebte er eine ähnliche Mischung aus stiller, in sich gekehrter Einsamkeit und ungezwungener Kommunikationsbereitschaft. Wenn er mit ihr zusammen in einem Zimmer saß und las oder arbeitete, dann hatte er stets genug Ruhe und Luft, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, und doch fühlte er sich nie allein oder ausgeschlossen: Isabel war stets ganz in seiner Nähe, hing ihrerseits eigenen Gedanken nach, die sie, wie es ihm schien, in einem großmütigen Akt der Liebe, Großmut und des Vertrauens, unentwirrbar mit seinem Seelenleben verbunden hatte. Und wenn einer von ihnen merkte, dass der andere reden wollte oder musste, fingen sie einfach an zu plaudern und füllten die Geisteswelt des anderen mit Gedanken, Ideen, Theorien, Verbindungen. Sie teilten ein lebhaftes Interesse an der Wissenschaft – Isabel arbeitete auf ihren Doktor in Pflanzenbiologie hin –, und wenn sie mal ein paar Tage getrennt waren, weil Alex an irgendeinem abgelegenen Ort in der Erde herumwühlte, dann dachte er gerne daran, wie Isabel vermutlich gerade zu Hause durch ein Mikroskop eine Spore betrachtete oder auf einer Wiese Pollenproben sammelte – er stellte sich gerne vor, dass sie sozusagen immer zusammen an einem Projekt arbeiteten, an der gemeinsamen Erforschung der physischen Welt.
Er hatte schon früher gerne im Dreck gespielt. Als Kind hatten es ihm die grobe Konsistenz und der Geruch angetan, das Gefühl der Erde an seinen Händen, unter den Fingernägeln, die Spannung, weil man nie wusste, was man finden würde, wenn man sich auch nur ein paar Zentimeter in sie hineinwühlte: eine blaue Parfumflasche, so groß wie sein Daumen, ein Kupfergeschoss, eine Pfeilspitze. Zwanzig Jahre später buddelte er immer noch im Dreck, so empfand er es zumindest, bloß etwas systematischer. Es stand ihm natürlich viel mehr Technik zur Verfügung, und er hatte eine bessere Vorstellung davon, was er da fand und wonach er eigentlich suchte. Jede Erdschicht war eine fliegenfängerdünne Seite, die ihm – in der Sprache von Farbe und Struktur, von Steinen und Fliesen, Knochen, Samen, von Glas oder mineralischen Ablagerungen – Einblicke in das Leben von Tieren, Pflanzen und Mikroben gewährte, und auch in die turbulente geophysikalische Geschichte der Erde. Frost und Eis hatten im Laufe von Millionen von Jahren freiliegende Oberflächen zertrümmert, Regen und Wind trugen Schlamm und Erde in die entstehenden Hohlräume, Würmer schlängelten sich durch das Erdreich, das dabei zu Millionen Tonnen durch ihre Körper wanderte. Es war ein seltsam erhebendes Gefühl für Alex, auf alldem zu knien – auf all dieser Arbeit. Einen Moment lang fühlte er sich wie ein Teil der unbeirrbar fortschreitenden Jahrhunderte. Er schwebte nicht durch ein kaltes, dunkles Universum: Dort vor ihm im Dreck lag eine Schweißperle, die ihm gerade von der Nase getropft war.
Vor zwei Jahren waren dann in der Bundeshauptstadt Des Moines die Mittel gekürzt worden, und in der Archäologischen Abteilung des Staates wurden Leute entlassen. Alex’ Versuche, eine neue Stelle zu finden – in einer Firma für Kulturressourcen-Management, einer bürgernahen Umweltschutzorganisation –, blieben erfolglos. Dadurch sah er sich schließlich gezwungen, als Kellner zu arbeiten, um die laufenden Kosten zu decken. Ein Umzug war für sie eigentlich undenkbar. Er und Isabel waren inzwischen verheiratet, und Isabel steckte mitten in ihrem Doktorandenprogramm. Das gemeinsame Leben, das sie sich aufgebaut hatten, schien beinahe untrennbar verbunden mit der alten, herrschaftlichen Backstein-Uni und dem kunterbunten Kulturbazar darum herum, den vertrauten Cafés und Buchläden, den Restaurants und Kneipen, der von Bäumen gesäumten Einkaufsmeile, den stillen Straßen, die nur auf ziellos dahinschlendernde Spaziergänger zu warten schienen – all das, was sich damals auf so schicksalhafte Weise verschworen hatte, um sie beide zusammenzubringen.
Nach Isabels Tod hatte Alex die nötige Hoffnung und Zuversicht verloren, die es brauchte, um sich eine »richtige« Arbeit zu suchen, und ein ständiger schwerer Druck lastete auf ihm. Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, einst eins seiner größten Talente, war ihm abhandengekommen: Wenn er ein Formular ausfüllte oder eine Stellenausschreibung las, dann war sein Kopf oft urplötzlich völlig leer, sein Gehirn klinkte sich aus, als seien alle zuständigen Neuronen abgeklemmt oder weggeätzt worden.
Er fing an, sich Boulevardzeitschriften wie People zu kaufen. Die Stars heirateten andere Stars, die Stars besiegten den Krebs, die Stars waren glücklich wie nie. Ganze Tage verbrachte Alex damit, mitten im Wohnzimmer auf dem Rücken zu liegen, alle viere von sich gestreckt, mit einem Gefühl der Übelkeit in der Magengrube und der unumstößlichen Gewissheit, dass ohnehin alles umsonst war.
Am Abend lief er oft eine Meile bis zum Einkaufszentrum und spielte dort in einem Videospiel-Center voller Teenager am Flipperautomaten. Bei seinem Lieblingsspiel, Tentaclon, bestand die Aufgabe für den Spieler darin, den Planeten vor einer Invasionsarmee gigantischer mutierter Kraken zu verteidigen. Es gab Klingeln und Summer, blinkende Lichter – rot, weiß, blau –, und es gab Rutschen und Röhren, durch die die glänzende Silberkugel mit unglaublicher Geschwindigkeit hindurchschoss, Löcher, die sich plötzlich auftaten, bewegliche Rampen, eine pulsierende Anzeigetafel, die in riesigen orangefarbenen Lettern verkündete: KRAKE ZERSTÖRT! und EXTRAKUGEL!
Der Automat hatte so viele Teile und Komponenten, dass Alex sich nach dreißig Minuten am Flipper wie ein wesentlich weniger komplexes Wesen vorkam, als er tatsächlich war: mehr wie ein rückgratloser Polyp, der sich von Licht und Klang ernährte. Oft spielte er stundenlang. In dem Spiel gab es keine Zweifel, keine Ungewissheit, was als Nächstes zu tun war. Die Kugel kam in die Nähe der Flipperhebel, und man flipperte. Zack. Und noch mal: Zack. Wenn man drei Kugeln verloren hatte, beendete der Automat das Spiel, aber mit ein paar Vierteldollarmünzen konnte man ihn zu neuem Leben erwecken, und er erwachte – auf wundersame Weise, wie Alex fand – mit klingelnden Glocken und einem Blitzlichtgewitter.
Übersetzung: Stefanie Retterbush
Copyright © 2009 by Stephen Lovely
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. kg, Bergisch Gladbach
Gleichzeitig war sie aber auch ziemlich aufgeregt, richtiggehend aufgekratzt sogar. Es war dieses Gefühl, gegen den Wind anzukämpfen, gegen diesen aufziehenden Sturm, sich der Gefahr zu stellen.
Mit halsbrecherischem Tempo raste sie einen steilen Hügel hinunter wie durch einen Schacht rauschender Luft, Körper und Rad zu einem dahinschießenden Projektil verschmolzen. Es war ein Gefühl unglaublicher Geschwindigkeit, wie im freien Fall, als sei sie vollkommen losgelöst von aller sie umgebenden Materie.
Sie flog förmlich über eine lange, schnurgerade Straße, vorbei an Feldern, auf denen noch die Stoppeln der Maispflanzen vom letzten Jahr standen, an einem Farmhaus, an weit entfernten Wiesen, schemenhaften Kühen, die in Grüppchen zusammenstanden, einem kleinen Eichenwäldchen.
Bei der Anfahrt auf die nächste Steigung trat sie wieder fest in die Pedale, schaltete herunter und preschte den Hügel hinauf. Sie hatte sich ganz flach über den Lenker gebeugt, die Stange mit den Handflächen nach unten umklammert, sodass sie mit der Nasenspitze fast ihre Unterarme berührte. Nun verlagerte sie ihr Gewicht nach hinten und strampelte unverdrossen weiter. Ihre Trittfrequenz wollte sie unbedingt beibehalten, in ihrem Rhythmus bleiben, und so kämpfte sie sich immer weiter nach oben. Auf den ersten zwanzig Metern kam sie sich noch vor wie ein Motor, ein schnittiger, leistungsstarker, perfekt eingestellter Apparat, den man auf ein Fahrrad montiert hatte, um die Pedale ohne Pause herumzukurbeln. Doch irgendwann ging ihr die Puste aus. Es war ein langer, steiler Hügel, und sie war noch nicht wieder richtig in Form – es war erst ihre dritte Tour in dieser Saison. Ihre Lungen brannten, die Oberschenkel wurden schwer wie Blei. Das Rad kippelte leicht unter ihr.
Dann schaute sie auf und sah den Scheitelpunkt des Hügels vor sich auftauchen, nicht einmal zehn Meter entfernt. Da war ein Feld mit Sojabohnen, das zu einem Farmgebäude hin abfiel, und ein paar Ziegen, die sich im Eingang zu einer Scheune zusammendrängten.
Mühsam kämpfte sie sich nach oben, wo der Wind sich ein Spiel daraus machte, sie hin und her zu werfen. Das Heulen steigerte sich zeitweise zu einem durchdringenden Pfeifen.
Urplötzlich hörte sie hinter sich das Dröhnen eines Motors, und der Schreck fuhr ihr durch den ganzen Körper: Im Bruchteil einer Sekunde direkt vor dem Aufprall wurde ihr klar, dass sie zu weit in die Mitte der Straße geraten war.
Erster Teil
April 2006
1. Kapitel
In sich zusammengesunken hockt Alex Voormann auf einem Klappstuhl in einem Kellerraum des Büros von U.S. Exam, einer Prüfungsfirma, dafür zuständig, schriftliche Schulprüfungen aus dem ganzen Land auszuwerten, und wünscht sich, seine Frau anrufen zu können. Wie gerne würde er ein bisschen Dampf bei ihr ablassen, ihr eine lustige kleine Slapstick-Einlage mit dem Titel »Mein Scheißtag« bieten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein hirnverbrannter Schwachsinn hier abgeht, Iz. Wie gerne hat er Isabel immer im Labor angerufen, um ihr hinter ihrer ernsten Fassade ein Lachen zu entlocken. Sie hatte dann immer gekichert und halbherzig protestiert. Alex, ich habe unheimlich viel zu tun. Trotzdem hatte sie sich dabei jedes Mal köstlich amüsiert und sich gefreut, wenn er sie anrief.
Alex würde Isabel gerne anrufen, aber Isabel ist tot. Nun schon seit beinahe einem Jahr.
Diane Topor, Direktorin des Aufsatzbewertungsprojekts von U.S. Exam, erscheint in einem ihrer schnittigen zitrusfarbenen Hosenanzüge neben Alex’ Schreibtisch und hält ihm ein Blatt Papier unter die Nase. »Erinnern Sie sich an diesen Aufsatz? Dafür haben Sie null Punkte gegeben. Von unserem Gremium für Qualitätssicherung hat er einstimmig drei Punkte bekommen. Können Sie mir diese Diskrepanz irgendwie erklären?«
Alex ist schon daran gewöhnt, dass Diane ihm seine Arbeit zurückbringt, seine Benotung infrage stellt und unfähige kleine Essayisten verteidigt. Um dem Aufsatz die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück, auch, damit Diane sein zerknittertes Polohemd bemerkt, das ihm aus der Hose hängt, und die verwaschene Jeans mit dem ausgefransten Riss am Knie. Dann fährt er sich mit den Fingern durch die aschblonden, ungekämmten Haare und versucht krampfhaft, sich an den Aufsatz und seinen Verfasser zu erinnern. Natürlich. Tina Criswell. Dreizehn Jahre alt, aus Fort Collins, Colorado. Als Antwort auf die Fragestellung – Was ist deiner Meinung nach Amerikas größtes Problem, und was kann zu seiner Lösung getan werden? Verwende Beispiele und Erläuterungen, damit deine Argumentation für den Leser möglichst anschaulich wird! – hatte Tina geschrieben: Teenagerschwangerschaften. Enthaltsam bleiben bis zur Ehe. Sie hat eine ordentliche, kleine, verschnörkelte Schrift. Darunter hatte sie einen zwinkernden Smiley gemalt. Der Smiley wirkt provokativ und lässt sich nicht so recht deuten. Was soll das heißen? Sex ist ’ne heiße Sache, wenn’s dann schließlich zur Sache geht? Enthaltsamkeit ist ein Witz?
Dieser Aufsatz war Alex kurz vor der Mittagspause untergekommen, und ihm war gleich klar gewesen, dass er einen typischen Null-Punkte-Kandidaten vor sich hatte. Der Schüler zeigt keinerlei Bemühungen, auf die Fragestellung einzugehen, und / oder die Antwort des Schülers ist unleserlich und / oder in einer anderen Sprache als Englisch verfasst.
Verdutzt schaut er zu Diane auf, immer in der Hoffnung, diese möge seine Verblüffung persönlich nehmen. »Drei Punkte?«
Diane runzelt die Stirn und stellt damit ziemlich unverblümt seine Intelligenz infrage.
Alex kramt in seinen Unterlagen nach den Ganzheitlichen Benotungsrichtlinien und liest die für drei Punkte nötigen Anforderungen laut vor. »Schwerpunkt nicht auf dem eigentlichen Thema. Schwerpunkt? Wo soll der sein? Inhalt beschränkt auf die Auflistung einzelner Gedanken. Gedanken? Ich sehe keine Gedanken. Uneinheitliche Gliederung. Gliederung? Von was? Wiederkehrende Schwächen in Technik und Sprachgebrauch. Welche Technik? Welcher Sprachgebrauch? Diane, dieses Mädchen hat fast gar nichts geschrieben. Sie hat die Frage überhaupt nicht ernst genommen.«
Sanft legt Diane eine Hand auf das Blatt. Der Ärmel ihres Blazers rutscht dabei nach oben und gibt den Blick auf eine gestärkte weiße Manschette und eine goldene Uhr mit einem Zifferblatt in Schmetterlingsform frei. »Wir betrachten das als Versuch. Ein schwacher Versuch, aber trotzdem immer noch ein Versuch. Es gibt einen Schwerpunkt. Der Schwerpunkt liegt auf Teenagerschwangerschaften. Sie hat zwei Gedanken aufgezählt und gegliedert. Erstens, Teenagerschwangerschaften sind ein Problem, und zweitens, eine mögliche Lösung ist, sexuelle Handlungen bis zur Ehe zu unterlassen. Keinerlei Schwächen in Technik oder Sprachgebrauch. Ja, wir haben es hier sogar mit einem gekonnten Umgang mit dem Imperativ zu tun.«
Alex lässt den Blick über die schwefelgelben Wände und die beinahe urinfarbenen Fenster des Kellerraums mit der herrlichen Aussicht auf die Rückseite einer Hecke schweifen. Könnte es sein, dass das alles bloß ein böser Traum ist, aus dem er irgendwann erwachen wird?
Um Diane direkt in die Augen sehen zu können, rückt er mit dem Stuhl ein wenig nach hinten. »Ich kann einfach nicht glauben, dass dieser Aufsatz vom Gremium drei Punkte bekommen hat. Haben die Richtlinien denn überhaupt keine Bedeutung mehr? Sind Sie ganz sicher, dass den Leuten von der Qualitätssicherung nicht die Richtlinien für Erst- und Zweitklässler vorlagen?« Seine Bestürzung ist gespielt, und natürlich maßlos übertrieben. Es ist ihm ohnehin alles ziemlich gleich, er rebelliert bloß gegen Diane, diese blöde Firma und das ganze zweifelhafte Unternehmen, Heranwachsende mit irgendwelchen willkürlichen Zahlen zu brandmarken. »Sie belohnen dieses Mädchen fürs Nichtstun. Wir wissen, dass sie was draufhat. Sie hat das Wort enthaltsam benutzt und es sogar richtig geschrieben. Sie hat den Test einfach in den Wind geblasen. Sie hat Ihnen gesagt, sie können sich Ihren Test sonst wohin stecken.«
Diane holt tief Luft, wohl um zu demonstrieren, was für einen langen Atem sie für ihre Antwort brauchen wird. »Wir finden es bedenklich, Alex, dass es Ihnen offenbar schwerfällt, das reine Bemühen der Kinder anzuerkennen. Sie geben durchweg niedrigere Punktzahlen als das Gremium für Qualitätssicherung, und das im Schnitt um zwei bis drei Punkte. Auf Dauer ist das ein unhaltbarer Zustand, aber fürs Erste sind wir bereit, es weiter mit Ihnen zu versuchen.«
Alex versucht sich zu beruhigen. Denn schließlich braucht er diesen Job. Also lässt er in seinem Tonfall einen Anflug von Reue mitschwingen. »Hören Sie, das ist Ermessenssache. Ich würde nicht behaupten, dass sie sich Mühe gegeben hat. Nicht für eine Siebtklässlerin. Sehen Sie dieses weiße Blatt?« Er zeigt mit der Hand auf den Fragebogen, das beinahe leere Antwortfeld unter der Frage. »Da sollten viele, viele Worte stehen. Ideen, Gedanken.«
Diane nickt, um der Form halber Verständnis zu signalisieren. »Gehen Sie den Aufsatz noch einmal durch. Es wäre doch gelacht, wenn Sie ihm nicht doch etwas Positives abgewinnen könnten. Das war ein Imperativ, nur für den Fall, dass Sie es nicht gemerkt haben.«
»Da hat sich wohl ein Fehler im Sprachgebrauch eingeschlichen, Diane. Man geht doch nichts durch, das man gelesen hat. Man geht vielleicht, sagen wir, durch einen Wald, aber wenn es sich um ein Buch oder ein anderes Schriftstück handelt, dann liest man es durch, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Streichen Sie die Note durch, und schreiben Sie eine andere drunter«, knurrt Diane und lässt den Aufsatz auf den Schreibtisch fallen.
Bevor er Isabel kennenlernte, arbeitete Alex, mit einem Bachelor in Anthropologie und einem Master in Archäologie bewaffnet, als Experte für Rettungsgrabungen bei der archäologischen Abteilung des Staates Iowa. Zu seinem großen Stolz hatte man ihm die Aufsicht über ein Team übertragen, und sie reisten herum, um – bevor die Bagger anrollten – sicherzustellen, dass dort, wo zukünftig Straßen und Autobahnen entstehen sollten, wo Felder umgegraben wurden oder verlassene Grundstücke neu bebaut werden sollten, keine schützenswerten historischen Kulturschätze im Boden lagerten, Überreste prähistorischer Siedlungen beispielsweise, die ansonsten unweigerlich zerstört würden.
Alex machte die Arbeit Spaß, er genoss es, auf Knien unter freiem Himmel auf der harten, trockenen Erde herumzurutschen, die Gürteltasche mit seinem Werkzeug (Suppenkelle, Teelöffel, Zahnarztsonde) umgeschnallt, während seine ganze Sorge dem einen Quadratmeter Erde vor seiner Nase galt. Er mochte auch die Einsamkeit – sein Quadratmeter, sein Territorium – und das sichere Netz der Kameradschaft, die anderen Ausgräber in seiner Nähe, die auf ihrem jeweils eigenen Quadratmeter knieten. Sie alle respektierten, dass man sich konzentrieren musste, und doch waren sie alle immer für ein Schwätzchen zu haben, wenn sich die Gelegenheit ergab. Mit Isabel erlebte er eine ähnliche Mischung aus stiller, in sich gekehrter Einsamkeit und ungezwungener Kommunikationsbereitschaft. Wenn er mit ihr zusammen in einem Zimmer saß und las oder arbeitete, dann hatte er stets genug Ruhe und Luft, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, und doch fühlte er sich nie allein oder ausgeschlossen: Isabel war stets ganz in seiner Nähe, hing ihrerseits eigenen Gedanken nach, die sie, wie es ihm schien, in einem großmütigen Akt der Liebe, Großmut und des Vertrauens, unentwirrbar mit seinem Seelenleben verbunden hatte. Und wenn einer von ihnen merkte, dass der andere reden wollte oder musste, fingen sie einfach an zu plaudern und füllten die Geisteswelt des anderen mit Gedanken, Ideen, Theorien, Verbindungen. Sie teilten ein lebhaftes Interesse an der Wissenschaft – Isabel arbeitete auf ihren Doktor in Pflanzenbiologie hin –, und wenn sie mal ein paar Tage getrennt waren, weil Alex an irgendeinem abgelegenen Ort in der Erde herumwühlte, dann dachte er gerne daran, wie Isabel vermutlich gerade zu Hause durch ein Mikroskop eine Spore betrachtete oder auf einer Wiese Pollenproben sammelte – er stellte sich gerne vor, dass sie sozusagen immer zusammen an einem Projekt arbeiteten, an der gemeinsamen Erforschung der physischen Welt.
Er hatte schon früher gerne im Dreck gespielt. Als Kind hatten es ihm die grobe Konsistenz und der Geruch angetan, das Gefühl der Erde an seinen Händen, unter den Fingernägeln, die Spannung, weil man nie wusste, was man finden würde, wenn man sich auch nur ein paar Zentimeter in sie hineinwühlte: eine blaue Parfumflasche, so groß wie sein Daumen, ein Kupfergeschoss, eine Pfeilspitze. Zwanzig Jahre später buddelte er immer noch im Dreck, so empfand er es zumindest, bloß etwas systematischer. Es stand ihm natürlich viel mehr Technik zur Verfügung, und er hatte eine bessere Vorstellung davon, was er da fand und wonach er eigentlich suchte. Jede Erdschicht war eine fliegenfängerdünne Seite, die ihm – in der Sprache von Farbe und Struktur, von Steinen und Fliesen, Knochen, Samen, von Glas oder mineralischen Ablagerungen – Einblicke in das Leben von Tieren, Pflanzen und Mikroben gewährte, und auch in die turbulente geophysikalische Geschichte der Erde. Frost und Eis hatten im Laufe von Millionen von Jahren freiliegende Oberflächen zertrümmert, Regen und Wind trugen Schlamm und Erde in die entstehenden Hohlräume, Würmer schlängelten sich durch das Erdreich, das dabei zu Millionen Tonnen durch ihre Körper wanderte. Es war ein seltsam erhebendes Gefühl für Alex, auf alldem zu knien – auf all dieser Arbeit. Einen Moment lang fühlte er sich wie ein Teil der unbeirrbar fortschreitenden Jahrhunderte. Er schwebte nicht durch ein kaltes, dunkles Universum: Dort vor ihm im Dreck lag eine Schweißperle, die ihm gerade von der Nase getropft war.
Vor zwei Jahren waren dann in der Bundeshauptstadt Des Moines die Mittel gekürzt worden, und in der Archäologischen Abteilung des Staates wurden Leute entlassen. Alex’ Versuche, eine neue Stelle zu finden – in einer Firma für Kulturressourcen-Management, einer bürgernahen Umweltschutzorganisation –, blieben erfolglos. Dadurch sah er sich schließlich gezwungen, als Kellner zu arbeiten, um die laufenden Kosten zu decken. Ein Umzug war für sie eigentlich undenkbar. Er und Isabel waren inzwischen verheiratet, und Isabel steckte mitten in ihrem Doktorandenprogramm. Das gemeinsame Leben, das sie sich aufgebaut hatten, schien beinahe untrennbar verbunden mit der alten, herrschaftlichen Backstein-Uni und dem kunterbunten Kulturbazar darum herum, den vertrauten Cafés und Buchläden, den Restaurants und Kneipen, der von Bäumen gesäumten Einkaufsmeile, den stillen Straßen, die nur auf ziellos dahinschlendernde Spaziergänger zu warten schienen – all das, was sich damals auf so schicksalhafte Weise verschworen hatte, um sie beide zusammenzubringen.
Nach Isabels Tod hatte Alex die nötige Hoffnung und Zuversicht verloren, die es brauchte, um sich eine »richtige« Arbeit zu suchen, und ein ständiger schwerer Druck lastete auf ihm. Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, einst eins seiner größten Talente, war ihm abhandengekommen: Wenn er ein Formular ausfüllte oder eine Stellenausschreibung las, dann war sein Kopf oft urplötzlich völlig leer, sein Gehirn klinkte sich aus, als seien alle zuständigen Neuronen abgeklemmt oder weggeätzt worden.
Er fing an, sich Boulevardzeitschriften wie People zu kaufen. Die Stars heirateten andere Stars, die Stars besiegten den Krebs, die Stars waren glücklich wie nie. Ganze Tage verbrachte Alex damit, mitten im Wohnzimmer auf dem Rücken zu liegen, alle viere von sich gestreckt, mit einem Gefühl der Übelkeit in der Magengrube und der unumstößlichen Gewissheit, dass ohnehin alles umsonst war.
Am Abend lief er oft eine Meile bis zum Einkaufszentrum und spielte dort in einem Videospiel-Center voller Teenager am Flipperautomaten. Bei seinem Lieblingsspiel, Tentaclon, bestand die Aufgabe für den Spieler darin, den Planeten vor einer Invasionsarmee gigantischer mutierter Kraken zu verteidigen. Es gab Klingeln und Summer, blinkende Lichter – rot, weiß, blau –, und es gab Rutschen und Röhren, durch die die glänzende Silberkugel mit unglaublicher Geschwindigkeit hindurchschoss, Löcher, die sich plötzlich auftaten, bewegliche Rampen, eine pulsierende Anzeigetafel, die in riesigen orangefarbenen Lettern verkündete: KRAKE ZERSTÖRT! und EXTRAKUGEL!
Der Automat hatte so viele Teile und Komponenten, dass Alex sich nach dreißig Minuten am Flipper wie ein wesentlich weniger komplexes Wesen vorkam, als er tatsächlich war: mehr wie ein rückgratloser Polyp, der sich von Licht und Klang ernährte. Oft spielte er stundenlang. In dem Spiel gab es keine Zweifel, keine Ungewissheit, was als Nächstes zu tun war. Die Kugel kam in die Nähe der Flipperhebel, und man flipperte. Zack. Und noch mal: Zack. Wenn man drei Kugeln verloren hatte, beendete der Automat das Spiel, aber mit ein paar Vierteldollarmünzen konnte man ihn zu neuem Leben erwecken, und er erwachte – auf wundersame Weise, wie Alex fand – mit klingelnden Glocken und einem Blitzlichtgewitter.
Übersetzung: Stefanie Retterbush
Copyright © 2009 by Stephen Lovely
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. kg, Bergisch Gladbach
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Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen Lovely
- 2009, 429 Seiten, Maße: 14,6 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: v. Stefanie Retterbush
- Übersetzer: Stefanie Retterbush
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785723598
- ISBN-13: 9783785723593
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