Nur wer Liebe lebt
"Dramatische Liebesgeschichte."
LOVELETTER
Bruce ist als Lebemann verschrien. Das kommt bei seinem Vater, einem Pfarrer, nicht besonders gut an. Und dann gerät Bruce in ein großes Dilemma. Er verliebt sich in Jenny. Doch...
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Bruce ist als Lebemann verschrien. Das kommt bei seinem Vater, einem Pfarrer, nicht besonders gut an. Und dann gerät Bruce in ein großes Dilemma. Er verliebt sich in Jenny. Doch...
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Produktinformationen zu „Nur wer Liebe lebt “
"Dramatische Liebesgeschichte."
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Bruce ist als Lebemann verschrien. Das kommt bei seinem Vater, einem Pfarrer, nicht besonders gut an. Und dann gerät Bruce in ein großes Dilemma. Er verliebt sich in Jenny. Doch Jenny soll seinen jüngeren Bruder Hal heiraten. Aber wie kann Bruce es nur schaffen, an sie heranzukommen, ohne ihr Misstrauen zu schüren und seine Familie zu verärgern?
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Bruce ist als Lebemann verschrien. Das kommt bei seinem Vater, einem Pfarrer, nicht besonders gut an. Und dann gerät Bruce in ein großes Dilemma. Er verliebt sich in Jenny. Doch Jenny soll seinen jüngeren Bruder Hal heiraten. Aber wie kann Bruce es nur schaffen, an sie heranzukommen, ohne ihr Misstrauen zu schüren und seine Familie zu verärgern?
Lese-Probe zu „Nur wer Liebe lebt “
Nur wer Liebe lebt von Sandra Brown1. KAPITEL
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Während des gesamten Dinners drehte sich das Tischgespräch nur um ein einziges Thema. Es war eine Art Festmahl, wie es gewöhnlich nur für Sonntage vorbehalten blieb, so als gäbe es Anlass zu feiern statt zu trauern.
Sarah hatte sich in der Zubereitung des Essens selbst übertroffen. Es gab Schmorbraten und sogar herrlich lockere Hefebrötchen, frisch aus dem Backofen, um damit den sämigen, würzigen Bratensaft aufzusaugen, und der Mandelpudding zum Nachtisch war sündhaft kalorienreich.
Doch Jenny fand keinen Geschmack an dem köstlichen Mahl, und sie brachte nur mit Mühe ein paar Bissen hinunter.
Beim Kaffee, den Sarah in die zarten Tassen mit dem gelben Schlüsselblümchenmuster schenkte, sprachen sie immer noch über die bevorstehende Reise von Hal nach Mittelamerika. Eine Reise von unbestimmter Dauer, die ihn praktisch zum Gesetzesbrecher werden lassen und vermutlich sein Leben gefährden würde.
Doch alle waren sehr angetan von dieser Reise, insbesondere Hal, dessen Wangen vor Aufregung glühten. „Es ist ein gewaltiges Unterfangen", verkündete er stolz. „Doch ohne den Mut der armen
Seelen in Monterico wäre alles vergebens, was wir getan haben und tun werden. Ihnen gebührt die Ehre."
Sarah berührte liebevoll die Wange ihres jüngeren Sohnes, während sie sich nach dem Einschenken des Kaffees wieder an ihren Platz setzte. „Aber du hast diese unterirdische Eisenbahnlinie initiiert, um ihnen zur Flucht zu verhelfen. Das finde ich wundervoll. Einfach wundervoll. Nur gib auf dich Acht, ja?" Ihre Unterlippe zitterte. „Du wirst dich doch nicht in ernste Gefahr begeben, oder?"
Hal tätschelte ihre zarte Hand, die seinen Arm ängstlich umklammert hielt. „Mutter, ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, dass die politischen Flüchtlinge an der Grenze von Monterico auf uns warten. Wir nehmen sie dort nur in Empfang, führen sie durch Mexiko und dann ..."
„Und dann schmuggelt ihr sie illegal in die Vereinigten Staaten", warf Bruce trocken ein.
Sarah warf ihm einen verärgerten Blick zu.
Bruce störte sich jedoch nicht daran. Er war an missbilligende Blicke von seiner Mutter gewöhnt. Er streckte die langen, jeansbekleideten Beine weit von sich und lümmelte sich in einer Art auf seinen Stuhl, die Sarah stets irritierte. Während seiner Kindheit hatte sie unaufhaltsam an seinen Tischmanieren herumgemäkelt, doch ihre Strafpredigten waren erfolglos geblieben.
Er legte einen gestiefelten Fuß über den anderen und schaute seinen Bruder eindringlich an. „Ich frage mich nur, ob du immer noch mit solchem Feuereifer bei der Sache bist, wenn der Grenzschutz dir einen Tritt in den Hintern gibt und dich in den Knast befördert."
„Wenn du dich nicht gewählter ausdrücken kannst, dann verlass bitte den Tisch", fauchte Reverend Bob Hendren.
„Entschuldige, Dad." Ungerührt nippte Bruce an seinem Kaffee.
„Wenn Hal ins Gefängnis kommt", fuhr der Pastor fort, „dann geschieht es um einer guten Sache willen, an die er glaubt."
„Das hast du damals nicht gesagt, als du für mich die Kaution gestellt hast", wandte Bruce ein.
„Du wurdest wegen Trunkenheit festgenommen."
Bruce grinste. „Ich halte es für eine gute Sache, sich gelegentlich zu betrinken. Ich glaube daran.«
„Bruce, bitte." Sarah stieß einen langen, leidvollen Seufzer aus. „Versuche bitte, dich ausnahmsweise zu benehmen."
Jenny starrte hinab auf ihre Hände. Sie hasste diese Familienszenen. Bruce konnte sehr provozierend sein, doch sie hielt es für angebracht, dass er unverblümt die Risiken aufzeigte, die Hals Vorhaben beinhaltete. Außerdem wusste sie, dass sein Spott nur eine Reaktion auf das Verhalten seiner Eltern war, die Hal eindeutig bevorzugten.
Bruce gehorchte, indem er das Grinsen von seinem markanten Gesicht verschwinden ließ, aber er argumentierte weiterhin. „Dieser Liebesdienst ... diese Mission scheint mir nur ein geeigneter Weg zu sein, um sich umbringen zu lassen. Warum riskiert er seinen Kopf in einer Bananenrepublik, in der sie zuerst schießen und dann Fragen stellen?"
„Du kannst die Motive deines Bruders natürlich nicht verstehen", meinte Bob mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Bruce richtete sich auf, stützte die Arme auf den Tisch und beugte sich eindringlich vor. „Ich kann schon verstehen, dass er diese Leute befreien will, die auf der schwarzen Liste stehen. Ich halte nur den Weg nicht für richtig." Ungehalten strich er sich mit einer Hand über das dunkelblonde Haar. „Und wie sollen sie überleben, wenn sie erst einmal in Texas sind? Wovon werden sie leben? Was werden sie anfangen? Hast du an Arbeit gedacht, an Unterkünfte, Verpflegung, Medizin, Kleidung? Glaub nur nicht, dass jedermann sie mit offenen Armen willkommen heißen wird, nur weil sie aus einem kriegserschütterten Land stammen. Man wird sie für Abschaum halten, wie alle anderen illegalen Einwanderer. Und sie auch so behandeln."
„All das legen wir in Gottes Hand", sagte Hal ein wenig unsicher. Seine Standfestigkeit geriet durch Bruce' Sachlichkeit stets ins Wanken. Immer, wenn er eine seiner Überzeugungen für unerschütterlich hielt, erschütterte Bruce sie mit seinen Argumenten in den Grundfesten wie ein Erdbeben. Manchmal glaubte er, dass das Schicksal Bruce dazu benutzte, um ihn zu prüfen. Oder war Bruce ein Werkzeug des Teufels, um ihn in Versuchung zu führen? Seine Eltern waren zweifellos von der zweiten Theorie überzeugt.
„Tja, dann hoffe ich nur, dass Gott mehr Verstand besitzt als du", meinte Bruce.
„Das reicht!", sagte Bob scharf.
Bruce stützte die Ellbogen auf den Tisch und führte seine Kaffeetasse an die Lippen. Er benutzte dabei nicht den zierlichen Henkel, sondern umfasste sie mit beiden Händen.
Irgendwie wirkte er fehl am Platze in der Pfarrhausküche mit der zarten Rüschengardine, dem blassgelben, karierten Linoleumboden und dem gläsernen Schrank, der zerbrechliches Geschirr enthielt, das gut behütet und nur an Feiertagen benutzt wurde.
Seine Anwesenheit ließ die behagliche Küche überladen erscheinen. Und dabei war er gar nicht außergewöhnlich groß oder muskulös. Körperlich unterschieden Bruce und Hal sich kaum. Von weitem und von hinten waren sie sich sogar zum Verwechseln ähnlich.
Doch da hörte die Gemeinsamkeit auch schon auf. Vor allem in ihren Ansichten und Charakteren unterschieden sie sich wie Tag und Nacht.
Bruce besaß eine überwältigende Persönlichkeit, ein undefinierbares gewisses Etwas, eine Ausstrahlung, die jeden Raum kleiner erscheinen ließ, sobald er eintrat. Drinnen wirkte er wie ein übergroßer Junge, dem die Kleidung zu klein geworden war, der weites Land und unendlichen Himmel brauchte. Und er schien den Wind in den Haaren und Kleidern hineinzubringen.
Jenny war ihm nie nahe genug gekommen, um es herauszufinden, aber sie glaubte, dass seine Haut nach Sonnenschein riechen musste. Die Spuren langer Stunden in der Sonne zeigten sich auf seinem Gesicht, besonders um die bernsteinfarbenen Augen. Die feinen Fältchen ließen ihn älter aussehen, als er war. Doch er hatte seine zweiunddreißig Jahre auch bis zur Neige ausgekostet.
Und an diesem Abend - wie immer, wenn Bruce irgendwo zugegen war -, lag Uneinigkeit, wenn nicht sogar Streit in der Luft. Unfriede und Missvergnügen folgten ihm wie ein Schatten. Er war wie ein Raubtier, das durch den Dschungel zieht, die friedlichen Bewohner in Aufruhr versetzt und die Stille durchbricht, selbst wenn er es nicht darauf anlegte.
Sarah war sehr bekümmert, weil Bruce ihr köstliches Abschiedsessen für Hal verdarb, aber sie bemühte sich eisern, ihren aufsässigen Sohn zu ignorieren und den Frieden wieder herzustellen. „Bist du sicher, dass du all die Treffpunkte im Kopf hast?", fragte sie Hal.
Während er mindestens zum hundertsten Male seine Reiseroute aufsagte, begann Jenny, den Tisch abzuräumen. Als sie sich über seine Schulter beugte, um seinen Teller zu entfernen, nahm er ihre Hand, drückte sie und führte sie an die Lippen, ohne jedoch seinen eifrigen Monolog zu unterbrechen.
Sie verspürte den Drang, sich hinabzubeugen, sein blondes Haar zu küssen, seinen Kopf an ihre Brust zu betten und ihn zu bitten, nicht zu gehen. Doch natürlich tat sie es nicht. Ein solches Verhalten wäre ungeheuerlich, und jeder am Tisch hätte sie für verrückt gehalten.
Sie unterdrückte ihre Gefühle und trug das restliche Geschirr zum Spülstein. Niemand bot ihr Hilfe an. Niemand achtete auf sie. Seit sie im Pfarrhaus wohnte, war es ihre Aufgabe, den Abwasch zu erledigen.
Eine Viertelstunde später, als Jenny sich die Hände abtrocknete, drehte sich das Gespräch immer noch um dasselbe Thema. Sie schlüpfte zur Hintertür hinaus, stieg die Verandastufen hinunter, durchquerte den Garten und stützte die Arme auf den weißen Zaun.
Es war eine herrliche Nacht, beinahe windstill, wie es im Westen von Texas höchst selten vorkam. Nur ein Hauch von Staub lag in der Luft. Der riesige Vollmond sah aus wie ein leuchtender Aufkleber, den jemand an den samtenen Himmel geheftet hatte. Die Sterne wirkten groß und zum Greifen nahe.
Es war eine Nacht für Liebende, für innige Umarmungen, für törichtes, romantisches Geflüster. Es war keine Nacht für einen Abschied. Oder wenn Lebewohl gesagt werden musste, dann sollte es voller Leidenschaft und Bedauern geschehen, versüßt durch Koseworte statt geprägt von den Einzelheiten einer Reiseroute. Jenny fühlte sich rastlos.
Die Hintertür quietschte in den Angeln und schloss sich dann mit dem sanften, weichen Knall von altem Holz auf altem Holz. Jenny drehte sich um und sah Bruce die Stufen hinunterschlendern. Sie wandte sich wieder ab, als er zu ihr trat und sich neben sie an den Zaun stellte.
Ohne zu sprechen, angelte er eine Zigarettenschachtel aus seiner Brusttasche, schüttelte sie, schloss die Lippen um einen Stängel und zog ihn aus der Packung. Ein Feuerzeug flammte kurz vor seinem Gesicht auf. Er steckte es zusammen mit der Schachtel zurück in die Hemdtasche, während er den Rauch tief in die Lungen einsog.
„Diese Dinger sind Sargnägel", bemerkte Jenny und starrte weiterhin geradeaus.
Einen Augenblick lang betrachtete er sie schweigend. Dann drehte er sich um und lehnte sich mit dem Rücken an den Zaun. „Ich bin noch nicht tot, und ich habe zu rauchen angefangen, als ich etwa elf war."
Sie blickte zu ihm auf, lächelte, schüttelte aber den Kopf. „Welche Schande! Denk doch nur einmal, was du deinen Lungen angetan hast. Du solltest aufhören."
„Ach ja?", entgegnete er mit diesem schiefen, lässigen Grinsen, das die Herzen aller Frauen höher schlagen ließ - ob jung oder alt, ob ledig oder verheiratet. Es gab nicht ein einziges weibliches Wesen in La Bota, auf das Bruce Hendrens Lächeln die Wirkung verfehlte.
„Ja, du solltest aufhören. Aber du wirst es ja doch nicht tun. Ich weiß, dass Sarah dich schon seit Jahren darum bittet."
„Aber nur, weil sie sich an schmutzigen Aschenbechern und dem Geruch von Zigarettenrauch
stört. Sie hat mich nie gebeten aufzuhören, weil sie sich um meine Gesundheit sorgt." Ein Anflug von Bitterkeit lag in seinen Augen, den ein weniger empfindsamer Mensch als Jenny nicht bemerkt hätte.
„Nun, ich sorge mich um deine Gesundheit." „Wirklich?"
„Ja."
„Bittest du mich aus diesem Grund, das Rauchen einzustellen?"
Sie wusste, dass er sie nur neckte, doch sie ging darauf ein. Sie reckte das Kinn ein wenig vor und erwiderte nachdrücklich: „Ja."
Er warf die Zigarette auf die Erde und drückte sie mit einer Stiefelspitze aus. „Da. Es ist vollbracht. Ich habe aufgehört."
Jenny lachte. Sie wusste nicht, wie auffallend hübsch sie war, wenn sie den Kopf zurückwarf und lachte. Ihr Hals bog sich graziös, hob ihre honigfarbene Haut hervor. Ihr weiches, rotbraunes Haar schwang locker und seidig um ihre Schultern. Ihre grünen Augen funkelten. Ihre freche Nase rümpfte sich schelmisch. Sie hatte ein rauchiges Lachen, das eindeutig verführerisch wirkte, ohne dass sie sich dessen bewusst war.
Doch Bruce spürte es. Sein Körper reagierte auf den temperamentvollen Klang, und er konnte sich nicht dagegen wehren. Sein Blick fiel auf ihre blütenzarten Lippen und glänzenden Zähne. „Das ist das erste Mal, dass ich dich heute Abend lachen sehe."
Sie wurde sofort ernst. „Mir ist auch nicht nach Lachen zumute."
„Weil Hal abreist?"
„Natürlich."
„Weil ihr die Hochzeit wieder verschieben musstet?"
Jenny senkte den Kopf und kratzte mit dem Daumennagel über den Zaunpfahl. „Das auch, obwohl das nicht so wichtig ist."
„Warum nicht, zum Teufel?", entgegnete Bruce schroff. „Ich dachte, die Hochzeit sei der wichtigste Tag im Leben einer Frau. Zumindest einer Frau wie dir."
„Das ist es auch, aber verglichen mit der Mission, zu der Hal auf bricht ..."
Er stieß einen obszönen Fluch aus, der sie verstummen ließ. „Und was ist mit den anderen Malen?", hakte er brüsk nach.
„Du meinst die anderen Aufschübe?"
„Ja."
„Hal musste seinen Doktor machen. Es war wichtig für ihn, seine Dissertation zu beenden, bevor wir heiraten und ... und eine Familie gründen."
Wie immer brachte Bruce sie dazu, wie ein Dummkopf zu stammeln. Sie verspürte den Drang, ein Stück zurückzuweichen, doch so nahe stand er gar nicht neben ihr. Es schien nur so. Er übte immer diese Wirkung auf sie aus. Er raubte ihr den Atem, erweckte in ihr das Bedürfnis, die Hände fest miteinander zu verschlingen, so als würde sie dahinschmelzen, wenn sie es nicht täte. Er wühlte sie auf. Sie hatte nie den Grund dafür herausgefunden, aber es war so. Besonders an diesem Abend, als ihre Nerven bereits gespannt waren und ihre sorgsam gehütete Beherrschung ins Wanken zu geraten drohte, fiel es ihr schwer, seinem eindringlichen Blick zu begegnen. Er sah zu viel.
„Wann habt ihr eigentlich angefangen, miteinander zu gehen?", fragte Bruce unvermittelt.
„Miteinander gehen?" Ihr Ton deutete an, dass dieser Ausdruck nicht zu ihrem Wortschatz gehörte.
„Ja, du weißt schon, zusammen ausgehen, Händchen halten, schmusen im Kino. Eben miteinander gehen. Es muss passiert sein, während ich an der Uni war, denn ich kann mich nicht daran erinnern."
„Na ja, wir haben eigentlich nie angefangen, miteinander zu gehen. Es hat sich einfach so ergeben, könnte man sagen. Wir waren ständig zusammen. Wir wurden als Paar angesehen."
„Jenny Fletcher", sagte Bruce, kreuzte die Arme vor der Brust und starrte sie ungläubig an. „Willst du damit etwa sagen, dass du nie eine Verabredung mit einem anderen Burschen hattest?"
„Nicht, weil ich nicht darum gebeten wurde", verteidigte sie sich.
Er warf resignierend die Hände hoch. „Mensch, Mädchen! Das wollte ich auch nicht andeuten. Du hättest sämtliche jungen Böcke in der Stadt dazu bringen können, nach dir zu lechzen."
„Ich wollte aber nicht, dass sie nach mir lechzen. Das klingt sehr unwürdig."
Bruce konnte nicht widerstehen, mit dem Handrücken über ihre Wange zu streichen, als sie äußerst reizvoll errötete. Sie wandte den Kopf ab, und er ließ die Hand sinken. „Ich glaube, ein Mann könnte durchaus deinetwegen seine Würde verlieren, Jenny", murmelte er tiefsinnig. Dann fuhr er in unbeschwertem Ton fort: „Aber du bist mit keinem anderen Jungen ausgegangen, weil du es als Untreue gegenüber Hal empfunden hättest."
„Das stimmt."
„Selbst als ihr noch auf der Uni wart?" „Ja."
„Hm." Automatisch holte er die Zigarettenschachtel hervor. Dann erinnerte er sich und steckte sie zurück in die Tasche. „Wann hat Hal denn um deine Hand angehalten?"
„Vor ein paar Jahren. Ich glaube, wir waren im letzten Semester."
„Du glaubst? Du kannst dich nicht erinnern, wann das war? Wie kannst du einen so weltbewegenden Augenblick vergessen?"
„Mach dich nicht über mich lustig, Bruce." „Hat die Welt sich etwa nicht bewegt?"
„Es ist nicht wie im Kino."
„Dann hast du die falschen Filme gesehen."
„Ich weiß, welche Filme du dir ansiehst", sagte Jenny mit vorwurfsvollem Blick. „Die Art, die Sammy Mac Higgins nach der Polizeistunde im Hinterzimmer seiner Spielhalle zeigt."
Bruce bemühte sich, trotz ihres hochmütigen Tones eine ernste Miene beizubehalten, gab dann den Versuch auf und ließ das blendende Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen. „Ladys sind willkommen. Willst du mich nicht irgendwann einmal begleiten?"
„Nein!"
„Warum nicht?"
„Solche Filme würde ich mir nie im Leben ansehen. Sie sind abstoßend."
Er beugte sich zu ihr vor. „Woher willst du das wissen, wenn du noch nie einen gesehen hast?" Sie stieß mit einer Hand an seine Schulter, und er wich zurück, aber nicht ohne vorher ihren frischen, blumigen Duft einzuatmen. Sein Lächeln schwand, und er forschte ernst in ihrem Gesicht. „Jenny, wann hat Hal dich gebeten, ihn zu heiraten?"
„Ich habe dir doch gesagt, es ..."
„Wo wart ihr? Beschreibe die Umgebung. Was ist passiert? Hat er sich vor dir niedergekniet? War es auf dem Rücksitz seines Wagens? War es am Tage? Bei Nacht? Im Bett? Wann?"
„Hör auf! Ich habe doch gesagt, dass ich mich nicht erinnere."
„Hat er es überhaupt getan?" Seine Stimme klang so leise, dass sie aufhorchte.
„Wie meinst du das?"
„Hat er je die Worte laut ausgesprochen? Jenny, willst du mich heiraten?' Hat er das je gefragt?"
Sie senkte den Blick. „Wir wussten schon immer, dass wir einmal heiraten würden."
„Wer wusste es schon immer? Du? Hal? Mom und Dad?"
„Ja. Alle." Sie drehte ihm den Rücken zu und setzte sich in Bewegung. „Ich muss ins Haus und ...CC
Seine warme, harte Hand schloss sich um ihr Handgelenk und brachte sie zum Stehen. „Sag Hal, dass er nicht auf diese törichte Reise gehen soll."
Sie wirbelte herum. „Wie bitte?"
„Du hast es gehört. Sag ihm, dass er zu Hause bleiben soll, bei uns, wo er hingehört."
„Das kann ich nicht."
„Du bist die Einzige, auf die er vielleicht hört. Du willst doch nicht, dass er geht, oder? Oder?", wiederholte er mit mehr Nachdruck, als sie nicht antwortete.
„Nein!", rief Jenny und entriss ihm ihr Handgelenk. „Aber ich kann mich nicht zwischen Hal und eine Mission stellen, zu der er sich aus religiösen Gründen berufen fühlt."
„Liebt er dich?"
„Ja."
„Und du liebst ihn?"
„Ja."
„Und du willst ihn heiraten und ein Haus und Kinder und all das haben, ja?"
„Das ist meine Sache. Und die von Hal."
„Verdammt, ich will mich nicht in dein Privatleben einmischen. Ich versuche meinen kleinen Bruder davon abzuhalten, sich erschießen zu lassen. Ob es nun irgendjemandem gefällt oder nicht, ich bin immer noch ein Mitglied dieser Familie, und du wirst mir antworten."
Sie schreckte vor seinem Zorn zurück, doch sie fühlte sich auch beschämt, weil sie ihn aus Familienangelegenheiten ausschloss, wie seine Eltern es so oft taten. Im Grunde genommen war sie die Außenstehende, nicht er. Sie begegnete seinem Blick. „Natürlich will ich das, Bruce. Ich warte bereits seit Jahren darauf, ihn zu heiraten."
„Also gut", sagte er ruhiger, „dann sprich ein Machtwort. Stell ihm ein Ultimatum. Sag ihm, dass du nicht mehr hier sein wirst, wenn er zurückkommt. Lass ihn wissen, wie du dazu stehst."
Sie schüttelte den Kopf. „Er fühlt sich von einer höheren Macht gelenkt."
„Dann führe du ihn von diesem vermeintlich rechten Weg ab, Jenny. Ich denke genauso an Hal wie an dich. Herrje, wenn Präsidenten und Diplomaten und Söldner und der Himmel weiß wer dieses Chaos in Mittelamerika nicht beseitigen können, wie zum Teufel will Hal es dann anstellen? Er lässt sich da auf etwas ein, von dem er keine Ahnung hat."
„Der Himmel wird ihn beschützen."
„Du plapperst nur nach, was du von ihm gehört hast. Ich kenne die Bibel auch, Jenny. Sie ist mir eingebläut worden. Ich habe sogar eine Zeit lang die hebräischen Generäle studiert. Ja, sie haben ein paar wundervolle Schlachten gewonnen, aber Hal hat keine Armee hinter sich. Er hat nicht einmal die Unterstützung der U.S.-Regierung. Wir haben alle ein Gehirn, um vernünftig zu denken, und was Hal vorhat, ist unvernünftig."
Insgeheim stimmte Jenny ihm uneingeschränkt zu. Aber Bruce verstand es meisterhaft, Worte und Wahrheiten zu verdrehen, wie es ihm in den Kram passte. Sich seiner Denkweise anzuschließen, hieße sich dem Teufel auszuliefern. Außerdem musste ihre Loyalität Hal und der Mission gehören, der er sich verschrieben hatte. „Gute Nacht, Bruce."
„Wie lange lebst du jetzt schon bei uns, Jenny?" Sie blieb erneut stehen. „Seit ich vierzehn war. Fast zwölf Jahre."
Die Hendrens hatten sie aufgenommen, als ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Eines Tages, während des Schulunterrichts, war ein Gasofen in ihrem Haus explodiert, und es war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Später erinnerte sie sich, dass sie in der Algebrastunde die Sirenen der Feuerwehr und des Krankenwagens gehört hatte. Damals hatte sie nicht gewusst, dass es für ihre Eltern und für ihre kleine Schwester, die wegen Halsschmerzen zu Hause geblieben war, bereits zu spät gewesen war. Ihr Daddy war in der Mittagspause nach Hause gefahren, um nach der kranken Tochter zu sehen.
Jenny war ganz allein auf der Welt zurückgeblieben und hatte nichts besessen außer den Kleidern, die sie an jenem Tag in der Schule getragen hatte. Die Fletchers waren mit ihrem Pastor und dessen Frau, Bob und Sarah Hendren, befreundet gewesen. Da Jenny keine lebenden Verwandten hatte, war nicht weiter über ihre Zukunft diskutiert worden.
„Ich erinnere mich, dass ich in den Herbstferien vom College nach Hause gekommen bin und dich hier vorgefunden habe", sagte Bruce. „Mom hatte ihr Nähzimmer in ein Schlafzimmer verwandelt, das einer Prinzessin würdig wäre. Sie hatte endlich die Tochter, die sie immer wollte. Mir wurde aufgetragen, dich wie eine von uns zu behandeln."
„Deine Eltern waren sehr gut zu mir", gab Jenny leise zu.
„Hast du dich deswegen nie gegen sie aufgelehnt?"
Seine Frage empörte sie, und sie zeigte es. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst!"
„Oh doch, das weißt du. Es ist zwölf Jahre her, seit du eine eigene Entscheidung getroffen hast. Fürchtest du, dass sie dich rauswerfen, wenn du ihnen widersprichst?"
„Das ist doch albern", rief Jenny verblüfft.
„Nein, es ist nicht albern, es ist traurig." Bruce reckte sein hartes, eckiges Kinn vor. „Sie haben entschieden, wer deine Freunde sein dürfen und wer nicht, welche Kleider du trägst, welche Universität du besucht hast, sogar wen du heiraten wirst. Und jetzt sieht es ganz so aus, als würden
sie entscheiden, wann die Hochzeit stattfindet. Wirst du sie auch deine Kinder planen lassen?"
„Hör auf, Bruce. Nichts davon ist wahr, und ich weigere mich, mir das länger anzuhören. Hast du etwa zu viel getrunken?"
„Leider nein. Aber ich wünschte, ich hätte es getan." Er trat zu ihr und ergriff ihren Arm. „Jenny, wach auf. Sie erdrücken dich. Du bist eine Frau, eine verdammt gut aussehende Frau. Was wäre schon, wenn du etwas tätest, das ihnen missfällt? Du bist keine vierzehn mehr. Sie können dich nicht bestrafen. Und wenn sie dich raus werfen - was sie niemals tun würden -, na und? Du kannst woanders hingehen."
„Eine unabhängige Frau sein, meinst du?" „Ja, das trifft wohl den Kern."
„Du meinst, ich sollte mich in der Stadt herumtreiben, so wie du es tust?"
„Nein. Aber ich halte es auch nicht für gesund, dass du neunzig Prozent deiner Freizeit mit Bibelstunden verbringst."
„Mir gefällt die Kirchenarbeit."
„Unter Ausschluss von allem anderen?" Aufgeregt strich er sich mit den Fingern durch das Haar. „All die Arbeit, die du für die Kirche leistest, ist bewundernswert. Ich will deinen Verdienst nicht schmälern. Aber ich mag nicht mit ansehen, dass du vorzeitig verschrumpelst wie eine alte Jungfer.
Du vergeudest dein Leben."
„Das stimmt doch überhaupt nicht. Ich werde ein Leben mit Hal führen."
„Nicht, wenn er nach Mittelamerika geht und sich umbringen lässt!" Er sah, dass sie erblasste, und fügte in sanftem Ton hinzu: „Es tut mir leid.
Ich wollte mich nicht in all das einmischen." „Eigentlich geht es dir um Hal, stimmt's?"
„Ja." Er ergriff ihre Hände. „Rede mit ihm." „Ich kann ihn nicht umstimmen."
„Er muss auf dich hören. Du bist die Frau, die er heiraten will."
„Setz nicht zu viel Vertrauen in mich."
„Ich werde dich nicht für seine Entscheidung verantwortlich machen, wenn du das meinst. Versprich mir nur, dass du versuchen wirst, ihn von seinem Vorhaben abzubringen."
Jenny blickte zur Küche. Durch das Fenster sah sie, dass Hal immer noch mit seinen Eltern am Tisch saß, ins Gespräch vertieft. „Gut, ich verspreche es dir. Ich werde es versuchen."
„Gut." Bruce drückte ihre Hände und ließ sie dann los.
„Sarah hat gesagt, dass du über Nacht bleibst." Sie verschwieg ihm, dass sie selbst sein Zimmer für ihn vorbereitet hatte, dass sie es gelüftet und das Bett frisch bezogen hatte. Sie wollte ihn in dem Glauben lassen, dass seine Mutter sich die Mühe gemacht hatte.
„Ja. Ich habe ihr versprochen, zu dem großen Abschied morgen früh hier zu sein. Ich hoffe, dass es nie dazu kommt."
„Na ja, jedenfalls gefällt es Sarah, wenn du hin und wieder hier zu Hause schläfst."
Er lächelte wehmütig und berührte sanft ihre Wange. „Ach, Jenny, du bist ja so diplomatisch. Meine Mutter hat mich eingeladen und mir gleichzeitig aufgetragen, all die Trophäen vom Fußball und Basketball aus meinem Zimmer zu entfernen, während ich hier bin. Sie ist es leid, das Zeug abzustauben."
Mitgefühl stieg in Jenny auf. Sie schluckte schwer. Erst vor ein paar Wochen hatten Sarah und sie die Sporttrophäen von Hal sorgfältig in saubere Tücher gewickelt und in Kartons auf dem Dachboden verstaut. Schon seit zwölf Jahren wusste sie, wer der Lieblingssohn war. Doch Bruce hatte selbst schuld. Er hatte eine Lebensweise gewählt, die seine Eltern nicht gutheißen konnte.
„Gute Nacht", sagte sie und wandte sich widerstrebend ab. Plötzlich wünschte sie, ihn in die Arme nehmen zu können. Er sah oft so aus, als ob er es brauchte, umarmt zu werden ... eine lächerliche Vorstellung in Anbetracht seines Rufes als größter Sexprotz der Stadt. Doch reichte jene Art von Liebe? Wahrscheinlich nicht einmal für einen Draufgänger wie Bruce.
...
Übersetzung: Tatjána Lénárt-Seidnitzer
Genehmigte Sonderausgabe 2011
für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Während des gesamten Dinners drehte sich das Tischgespräch nur um ein einziges Thema. Es war eine Art Festmahl, wie es gewöhnlich nur für Sonntage vorbehalten blieb, so als gäbe es Anlass zu feiern statt zu trauern.
Sarah hatte sich in der Zubereitung des Essens selbst übertroffen. Es gab Schmorbraten und sogar herrlich lockere Hefebrötchen, frisch aus dem Backofen, um damit den sämigen, würzigen Bratensaft aufzusaugen, und der Mandelpudding zum Nachtisch war sündhaft kalorienreich.
Doch Jenny fand keinen Geschmack an dem köstlichen Mahl, und sie brachte nur mit Mühe ein paar Bissen hinunter.
Beim Kaffee, den Sarah in die zarten Tassen mit dem gelben Schlüsselblümchenmuster schenkte, sprachen sie immer noch über die bevorstehende Reise von Hal nach Mittelamerika. Eine Reise von unbestimmter Dauer, die ihn praktisch zum Gesetzesbrecher werden lassen und vermutlich sein Leben gefährden würde.
Doch alle waren sehr angetan von dieser Reise, insbesondere Hal, dessen Wangen vor Aufregung glühten. „Es ist ein gewaltiges Unterfangen", verkündete er stolz. „Doch ohne den Mut der armen
Seelen in Monterico wäre alles vergebens, was wir getan haben und tun werden. Ihnen gebührt die Ehre."
Sarah berührte liebevoll die Wange ihres jüngeren Sohnes, während sie sich nach dem Einschenken des Kaffees wieder an ihren Platz setzte. „Aber du hast diese unterirdische Eisenbahnlinie initiiert, um ihnen zur Flucht zu verhelfen. Das finde ich wundervoll. Einfach wundervoll. Nur gib auf dich Acht, ja?" Ihre Unterlippe zitterte. „Du wirst dich doch nicht in ernste Gefahr begeben, oder?"
Hal tätschelte ihre zarte Hand, die seinen Arm ängstlich umklammert hielt. „Mutter, ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, dass die politischen Flüchtlinge an der Grenze von Monterico auf uns warten. Wir nehmen sie dort nur in Empfang, führen sie durch Mexiko und dann ..."
„Und dann schmuggelt ihr sie illegal in die Vereinigten Staaten", warf Bruce trocken ein.
Sarah warf ihm einen verärgerten Blick zu.
Bruce störte sich jedoch nicht daran. Er war an missbilligende Blicke von seiner Mutter gewöhnt. Er streckte die langen, jeansbekleideten Beine weit von sich und lümmelte sich in einer Art auf seinen Stuhl, die Sarah stets irritierte. Während seiner Kindheit hatte sie unaufhaltsam an seinen Tischmanieren herumgemäkelt, doch ihre Strafpredigten waren erfolglos geblieben.
Er legte einen gestiefelten Fuß über den anderen und schaute seinen Bruder eindringlich an. „Ich frage mich nur, ob du immer noch mit solchem Feuereifer bei der Sache bist, wenn der Grenzschutz dir einen Tritt in den Hintern gibt und dich in den Knast befördert."
„Wenn du dich nicht gewählter ausdrücken kannst, dann verlass bitte den Tisch", fauchte Reverend Bob Hendren.
„Entschuldige, Dad." Ungerührt nippte Bruce an seinem Kaffee.
„Wenn Hal ins Gefängnis kommt", fuhr der Pastor fort, „dann geschieht es um einer guten Sache willen, an die er glaubt."
„Das hast du damals nicht gesagt, als du für mich die Kaution gestellt hast", wandte Bruce ein.
„Du wurdest wegen Trunkenheit festgenommen."
Bruce grinste. „Ich halte es für eine gute Sache, sich gelegentlich zu betrinken. Ich glaube daran.«
„Bruce, bitte." Sarah stieß einen langen, leidvollen Seufzer aus. „Versuche bitte, dich ausnahmsweise zu benehmen."
Jenny starrte hinab auf ihre Hände. Sie hasste diese Familienszenen. Bruce konnte sehr provozierend sein, doch sie hielt es für angebracht, dass er unverblümt die Risiken aufzeigte, die Hals Vorhaben beinhaltete. Außerdem wusste sie, dass sein Spott nur eine Reaktion auf das Verhalten seiner Eltern war, die Hal eindeutig bevorzugten.
Bruce gehorchte, indem er das Grinsen von seinem markanten Gesicht verschwinden ließ, aber er argumentierte weiterhin. „Dieser Liebesdienst ... diese Mission scheint mir nur ein geeigneter Weg zu sein, um sich umbringen zu lassen. Warum riskiert er seinen Kopf in einer Bananenrepublik, in der sie zuerst schießen und dann Fragen stellen?"
„Du kannst die Motive deines Bruders natürlich nicht verstehen", meinte Bob mit einer wegwerfenden Handbewegung.
Bruce richtete sich auf, stützte die Arme auf den Tisch und beugte sich eindringlich vor. „Ich kann schon verstehen, dass er diese Leute befreien will, die auf der schwarzen Liste stehen. Ich halte nur den Weg nicht für richtig." Ungehalten strich er sich mit einer Hand über das dunkelblonde Haar. „Und wie sollen sie überleben, wenn sie erst einmal in Texas sind? Wovon werden sie leben? Was werden sie anfangen? Hast du an Arbeit gedacht, an Unterkünfte, Verpflegung, Medizin, Kleidung? Glaub nur nicht, dass jedermann sie mit offenen Armen willkommen heißen wird, nur weil sie aus einem kriegserschütterten Land stammen. Man wird sie für Abschaum halten, wie alle anderen illegalen Einwanderer. Und sie auch so behandeln."
„All das legen wir in Gottes Hand", sagte Hal ein wenig unsicher. Seine Standfestigkeit geriet durch Bruce' Sachlichkeit stets ins Wanken. Immer, wenn er eine seiner Überzeugungen für unerschütterlich hielt, erschütterte Bruce sie mit seinen Argumenten in den Grundfesten wie ein Erdbeben. Manchmal glaubte er, dass das Schicksal Bruce dazu benutzte, um ihn zu prüfen. Oder war Bruce ein Werkzeug des Teufels, um ihn in Versuchung zu führen? Seine Eltern waren zweifellos von der zweiten Theorie überzeugt.
„Tja, dann hoffe ich nur, dass Gott mehr Verstand besitzt als du", meinte Bruce.
„Das reicht!", sagte Bob scharf.
Bruce stützte die Ellbogen auf den Tisch und führte seine Kaffeetasse an die Lippen. Er benutzte dabei nicht den zierlichen Henkel, sondern umfasste sie mit beiden Händen.
Irgendwie wirkte er fehl am Platze in der Pfarrhausküche mit der zarten Rüschengardine, dem blassgelben, karierten Linoleumboden und dem gläsernen Schrank, der zerbrechliches Geschirr enthielt, das gut behütet und nur an Feiertagen benutzt wurde.
Seine Anwesenheit ließ die behagliche Küche überladen erscheinen. Und dabei war er gar nicht außergewöhnlich groß oder muskulös. Körperlich unterschieden Bruce und Hal sich kaum. Von weitem und von hinten waren sie sich sogar zum Verwechseln ähnlich.
Doch da hörte die Gemeinsamkeit auch schon auf. Vor allem in ihren Ansichten und Charakteren unterschieden sie sich wie Tag und Nacht.
Bruce besaß eine überwältigende Persönlichkeit, ein undefinierbares gewisses Etwas, eine Ausstrahlung, die jeden Raum kleiner erscheinen ließ, sobald er eintrat. Drinnen wirkte er wie ein übergroßer Junge, dem die Kleidung zu klein geworden war, der weites Land und unendlichen Himmel brauchte. Und er schien den Wind in den Haaren und Kleidern hineinzubringen.
Jenny war ihm nie nahe genug gekommen, um es herauszufinden, aber sie glaubte, dass seine Haut nach Sonnenschein riechen musste. Die Spuren langer Stunden in der Sonne zeigten sich auf seinem Gesicht, besonders um die bernsteinfarbenen Augen. Die feinen Fältchen ließen ihn älter aussehen, als er war. Doch er hatte seine zweiunddreißig Jahre auch bis zur Neige ausgekostet.
Und an diesem Abend - wie immer, wenn Bruce irgendwo zugegen war -, lag Uneinigkeit, wenn nicht sogar Streit in der Luft. Unfriede und Missvergnügen folgten ihm wie ein Schatten. Er war wie ein Raubtier, das durch den Dschungel zieht, die friedlichen Bewohner in Aufruhr versetzt und die Stille durchbricht, selbst wenn er es nicht darauf anlegte.
Sarah war sehr bekümmert, weil Bruce ihr köstliches Abschiedsessen für Hal verdarb, aber sie bemühte sich eisern, ihren aufsässigen Sohn zu ignorieren und den Frieden wieder herzustellen. „Bist du sicher, dass du all die Treffpunkte im Kopf hast?", fragte sie Hal.
Während er mindestens zum hundertsten Male seine Reiseroute aufsagte, begann Jenny, den Tisch abzuräumen. Als sie sich über seine Schulter beugte, um seinen Teller zu entfernen, nahm er ihre Hand, drückte sie und führte sie an die Lippen, ohne jedoch seinen eifrigen Monolog zu unterbrechen.
Sie verspürte den Drang, sich hinabzubeugen, sein blondes Haar zu küssen, seinen Kopf an ihre Brust zu betten und ihn zu bitten, nicht zu gehen. Doch natürlich tat sie es nicht. Ein solches Verhalten wäre ungeheuerlich, und jeder am Tisch hätte sie für verrückt gehalten.
Sie unterdrückte ihre Gefühle und trug das restliche Geschirr zum Spülstein. Niemand bot ihr Hilfe an. Niemand achtete auf sie. Seit sie im Pfarrhaus wohnte, war es ihre Aufgabe, den Abwasch zu erledigen.
Eine Viertelstunde später, als Jenny sich die Hände abtrocknete, drehte sich das Gespräch immer noch um dasselbe Thema. Sie schlüpfte zur Hintertür hinaus, stieg die Verandastufen hinunter, durchquerte den Garten und stützte die Arme auf den weißen Zaun.
Es war eine herrliche Nacht, beinahe windstill, wie es im Westen von Texas höchst selten vorkam. Nur ein Hauch von Staub lag in der Luft. Der riesige Vollmond sah aus wie ein leuchtender Aufkleber, den jemand an den samtenen Himmel geheftet hatte. Die Sterne wirkten groß und zum Greifen nahe.
Es war eine Nacht für Liebende, für innige Umarmungen, für törichtes, romantisches Geflüster. Es war keine Nacht für einen Abschied. Oder wenn Lebewohl gesagt werden musste, dann sollte es voller Leidenschaft und Bedauern geschehen, versüßt durch Koseworte statt geprägt von den Einzelheiten einer Reiseroute. Jenny fühlte sich rastlos.
Die Hintertür quietschte in den Angeln und schloss sich dann mit dem sanften, weichen Knall von altem Holz auf altem Holz. Jenny drehte sich um und sah Bruce die Stufen hinunterschlendern. Sie wandte sich wieder ab, als er zu ihr trat und sich neben sie an den Zaun stellte.
Ohne zu sprechen, angelte er eine Zigarettenschachtel aus seiner Brusttasche, schüttelte sie, schloss die Lippen um einen Stängel und zog ihn aus der Packung. Ein Feuerzeug flammte kurz vor seinem Gesicht auf. Er steckte es zusammen mit der Schachtel zurück in die Hemdtasche, während er den Rauch tief in die Lungen einsog.
„Diese Dinger sind Sargnägel", bemerkte Jenny und starrte weiterhin geradeaus.
Einen Augenblick lang betrachtete er sie schweigend. Dann drehte er sich um und lehnte sich mit dem Rücken an den Zaun. „Ich bin noch nicht tot, und ich habe zu rauchen angefangen, als ich etwa elf war."
Sie blickte zu ihm auf, lächelte, schüttelte aber den Kopf. „Welche Schande! Denk doch nur einmal, was du deinen Lungen angetan hast. Du solltest aufhören."
„Ach ja?", entgegnete er mit diesem schiefen, lässigen Grinsen, das die Herzen aller Frauen höher schlagen ließ - ob jung oder alt, ob ledig oder verheiratet. Es gab nicht ein einziges weibliches Wesen in La Bota, auf das Bruce Hendrens Lächeln die Wirkung verfehlte.
„Ja, du solltest aufhören. Aber du wirst es ja doch nicht tun. Ich weiß, dass Sarah dich schon seit Jahren darum bittet."
„Aber nur, weil sie sich an schmutzigen Aschenbechern und dem Geruch von Zigarettenrauch
stört. Sie hat mich nie gebeten aufzuhören, weil sie sich um meine Gesundheit sorgt." Ein Anflug von Bitterkeit lag in seinen Augen, den ein weniger empfindsamer Mensch als Jenny nicht bemerkt hätte.
„Nun, ich sorge mich um deine Gesundheit." „Wirklich?"
„Ja."
„Bittest du mich aus diesem Grund, das Rauchen einzustellen?"
Sie wusste, dass er sie nur neckte, doch sie ging darauf ein. Sie reckte das Kinn ein wenig vor und erwiderte nachdrücklich: „Ja."
Er warf die Zigarette auf die Erde und drückte sie mit einer Stiefelspitze aus. „Da. Es ist vollbracht. Ich habe aufgehört."
Jenny lachte. Sie wusste nicht, wie auffallend hübsch sie war, wenn sie den Kopf zurückwarf und lachte. Ihr Hals bog sich graziös, hob ihre honigfarbene Haut hervor. Ihr weiches, rotbraunes Haar schwang locker und seidig um ihre Schultern. Ihre grünen Augen funkelten. Ihre freche Nase rümpfte sich schelmisch. Sie hatte ein rauchiges Lachen, das eindeutig verführerisch wirkte, ohne dass sie sich dessen bewusst war.
Doch Bruce spürte es. Sein Körper reagierte auf den temperamentvollen Klang, und er konnte sich nicht dagegen wehren. Sein Blick fiel auf ihre blütenzarten Lippen und glänzenden Zähne. „Das ist das erste Mal, dass ich dich heute Abend lachen sehe."
Sie wurde sofort ernst. „Mir ist auch nicht nach Lachen zumute."
„Weil Hal abreist?"
„Natürlich."
„Weil ihr die Hochzeit wieder verschieben musstet?"
Jenny senkte den Kopf und kratzte mit dem Daumennagel über den Zaunpfahl. „Das auch, obwohl das nicht so wichtig ist."
„Warum nicht, zum Teufel?", entgegnete Bruce schroff. „Ich dachte, die Hochzeit sei der wichtigste Tag im Leben einer Frau. Zumindest einer Frau wie dir."
„Das ist es auch, aber verglichen mit der Mission, zu der Hal auf bricht ..."
Er stieß einen obszönen Fluch aus, der sie verstummen ließ. „Und was ist mit den anderen Malen?", hakte er brüsk nach.
„Du meinst die anderen Aufschübe?"
„Ja."
„Hal musste seinen Doktor machen. Es war wichtig für ihn, seine Dissertation zu beenden, bevor wir heiraten und ... und eine Familie gründen."
Wie immer brachte Bruce sie dazu, wie ein Dummkopf zu stammeln. Sie verspürte den Drang, ein Stück zurückzuweichen, doch so nahe stand er gar nicht neben ihr. Es schien nur so. Er übte immer diese Wirkung auf sie aus. Er raubte ihr den Atem, erweckte in ihr das Bedürfnis, die Hände fest miteinander zu verschlingen, so als würde sie dahinschmelzen, wenn sie es nicht täte. Er wühlte sie auf. Sie hatte nie den Grund dafür herausgefunden, aber es war so. Besonders an diesem Abend, als ihre Nerven bereits gespannt waren und ihre sorgsam gehütete Beherrschung ins Wanken zu geraten drohte, fiel es ihr schwer, seinem eindringlichen Blick zu begegnen. Er sah zu viel.
„Wann habt ihr eigentlich angefangen, miteinander zu gehen?", fragte Bruce unvermittelt.
„Miteinander gehen?" Ihr Ton deutete an, dass dieser Ausdruck nicht zu ihrem Wortschatz gehörte.
„Ja, du weißt schon, zusammen ausgehen, Händchen halten, schmusen im Kino. Eben miteinander gehen. Es muss passiert sein, während ich an der Uni war, denn ich kann mich nicht daran erinnern."
„Na ja, wir haben eigentlich nie angefangen, miteinander zu gehen. Es hat sich einfach so ergeben, könnte man sagen. Wir waren ständig zusammen. Wir wurden als Paar angesehen."
„Jenny Fletcher", sagte Bruce, kreuzte die Arme vor der Brust und starrte sie ungläubig an. „Willst du damit etwa sagen, dass du nie eine Verabredung mit einem anderen Burschen hattest?"
„Nicht, weil ich nicht darum gebeten wurde", verteidigte sie sich.
Er warf resignierend die Hände hoch. „Mensch, Mädchen! Das wollte ich auch nicht andeuten. Du hättest sämtliche jungen Böcke in der Stadt dazu bringen können, nach dir zu lechzen."
„Ich wollte aber nicht, dass sie nach mir lechzen. Das klingt sehr unwürdig."
Bruce konnte nicht widerstehen, mit dem Handrücken über ihre Wange zu streichen, als sie äußerst reizvoll errötete. Sie wandte den Kopf ab, und er ließ die Hand sinken. „Ich glaube, ein Mann könnte durchaus deinetwegen seine Würde verlieren, Jenny", murmelte er tiefsinnig. Dann fuhr er in unbeschwertem Ton fort: „Aber du bist mit keinem anderen Jungen ausgegangen, weil du es als Untreue gegenüber Hal empfunden hättest."
„Das stimmt."
„Selbst als ihr noch auf der Uni wart?" „Ja."
„Hm." Automatisch holte er die Zigarettenschachtel hervor. Dann erinnerte er sich und steckte sie zurück in die Tasche. „Wann hat Hal denn um deine Hand angehalten?"
„Vor ein paar Jahren. Ich glaube, wir waren im letzten Semester."
„Du glaubst? Du kannst dich nicht erinnern, wann das war? Wie kannst du einen so weltbewegenden Augenblick vergessen?"
„Mach dich nicht über mich lustig, Bruce." „Hat die Welt sich etwa nicht bewegt?"
„Es ist nicht wie im Kino."
„Dann hast du die falschen Filme gesehen."
„Ich weiß, welche Filme du dir ansiehst", sagte Jenny mit vorwurfsvollem Blick. „Die Art, die Sammy Mac Higgins nach der Polizeistunde im Hinterzimmer seiner Spielhalle zeigt."
Bruce bemühte sich, trotz ihres hochmütigen Tones eine ernste Miene beizubehalten, gab dann den Versuch auf und ließ das blendende Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen. „Ladys sind willkommen. Willst du mich nicht irgendwann einmal begleiten?"
„Nein!"
„Warum nicht?"
„Solche Filme würde ich mir nie im Leben ansehen. Sie sind abstoßend."
Er beugte sich zu ihr vor. „Woher willst du das wissen, wenn du noch nie einen gesehen hast?" Sie stieß mit einer Hand an seine Schulter, und er wich zurück, aber nicht ohne vorher ihren frischen, blumigen Duft einzuatmen. Sein Lächeln schwand, und er forschte ernst in ihrem Gesicht. „Jenny, wann hat Hal dich gebeten, ihn zu heiraten?"
„Ich habe dir doch gesagt, es ..."
„Wo wart ihr? Beschreibe die Umgebung. Was ist passiert? Hat er sich vor dir niedergekniet? War es auf dem Rücksitz seines Wagens? War es am Tage? Bei Nacht? Im Bett? Wann?"
„Hör auf! Ich habe doch gesagt, dass ich mich nicht erinnere."
„Hat er es überhaupt getan?" Seine Stimme klang so leise, dass sie aufhorchte.
„Wie meinst du das?"
„Hat er je die Worte laut ausgesprochen? Jenny, willst du mich heiraten?' Hat er das je gefragt?"
Sie senkte den Blick. „Wir wussten schon immer, dass wir einmal heiraten würden."
„Wer wusste es schon immer? Du? Hal? Mom und Dad?"
„Ja. Alle." Sie drehte ihm den Rücken zu und setzte sich in Bewegung. „Ich muss ins Haus und ...CC
Seine warme, harte Hand schloss sich um ihr Handgelenk und brachte sie zum Stehen. „Sag Hal, dass er nicht auf diese törichte Reise gehen soll."
Sie wirbelte herum. „Wie bitte?"
„Du hast es gehört. Sag ihm, dass er zu Hause bleiben soll, bei uns, wo er hingehört."
„Das kann ich nicht."
„Du bist die Einzige, auf die er vielleicht hört. Du willst doch nicht, dass er geht, oder? Oder?", wiederholte er mit mehr Nachdruck, als sie nicht antwortete.
„Nein!", rief Jenny und entriss ihm ihr Handgelenk. „Aber ich kann mich nicht zwischen Hal und eine Mission stellen, zu der er sich aus religiösen Gründen berufen fühlt."
„Liebt er dich?"
„Ja."
„Und du liebst ihn?"
„Ja."
„Und du willst ihn heiraten und ein Haus und Kinder und all das haben, ja?"
„Das ist meine Sache. Und die von Hal."
„Verdammt, ich will mich nicht in dein Privatleben einmischen. Ich versuche meinen kleinen Bruder davon abzuhalten, sich erschießen zu lassen. Ob es nun irgendjemandem gefällt oder nicht, ich bin immer noch ein Mitglied dieser Familie, und du wirst mir antworten."
Sie schreckte vor seinem Zorn zurück, doch sie fühlte sich auch beschämt, weil sie ihn aus Familienangelegenheiten ausschloss, wie seine Eltern es so oft taten. Im Grunde genommen war sie die Außenstehende, nicht er. Sie begegnete seinem Blick. „Natürlich will ich das, Bruce. Ich warte bereits seit Jahren darauf, ihn zu heiraten."
„Also gut", sagte er ruhiger, „dann sprich ein Machtwort. Stell ihm ein Ultimatum. Sag ihm, dass du nicht mehr hier sein wirst, wenn er zurückkommt. Lass ihn wissen, wie du dazu stehst."
Sie schüttelte den Kopf. „Er fühlt sich von einer höheren Macht gelenkt."
„Dann führe du ihn von diesem vermeintlich rechten Weg ab, Jenny. Ich denke genauso an Hal wie an dich. Herrje, wenn Präsidenten und Diplomaten und Söldner und der Himmel weiß wer dieses Chaos in Mittelamerika nicht beseitigen können, wie zum Teufel will Hal es dann anstellen? Er lässt sich da auf etwas ein, von dem er keine Ahnung hat."
„Der Himmel wird ihn beschützen."
„Du plapperst nur nach, was du von ihm gehört hast. Ich kenne die Bibel auch, Jenny. Sie ist mir eingebläut worden. Ich habe sogar eine Zeit lang die hebräischen Generäle studiert. Ja, sie haben ein paar wundervolle Schlachten gewonnen, aber Hal hat keine Armee hinter sich. Er hat nicht einmal die Unterstützung der U.S.-Regierung. Wir haben alle ein Gehirn, um vernünftig zu denken, und was Hal vorhat, ist unvernünftig."
Insgeheim stimmte Jenny ihm uneingeschränkt zu. Aber Bruce verstand es meisterhaft, Worte und Wahrheiten zu verdrehen, wie es ihm in den Kram passte. Sich seiner Denkweise anzuschließen, hieße sich dem Teufel auszuliefern. Außerdem musste ihre Loyalität Hal und der Mission gehören, der er sich verschrieben hatte. „Gute Nacht, Bruce."
„Wie lange lebst du jetzt schon bei uns, Jenny?" Sie blieb erneut stehen. „Seit ich vierzehn war. Fast zwölf Jahre."
Die Hendrens hatten sie aufgenommen, als ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Eines Tages, während des Schulunterrichts, war ein Gasofen in ihrem Haus explodiert, und es war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Später erinnerte sie sich, dass sie in der Algebrastunde die Sirenen der Feuerwehr und des Krankenwagens gehört hatte. Damals hatte sie nicht gewusst, dass es für ihre Eltern und für ihre kleine Schwester, die wegen Halsschmerzen zu Hause geblieben war, bereits zu spät gewesen war. Ihr Daddy war in der Mittagspause nach Hause gefahren, um nach der kranken Tochter zu sehen.
Jenny war ganz allein auf der Welt zurückgeblieben und hatte nichts besessen außer den Kleidern, die sie an jenem Tag in der Schule getragen hatte. Die Fletchers waren mit ihrem Pastor und dessen Frau, Bob und Sarah Hendren, befreundet gewesen. Da Jenny keine lebenden Verwandten hatte, war nicht weiter über ihre Zukunft diskutiert worden.
„Ich erinnere mich, dass ich in den Herbstferien vom College nach Hause gekommen bin und dich hier vorgefunden habe", sagte Bruce. „Mom hatte ihr Nähzimmer in ein Schlafzimmer verwandelt, das einer Prinzessin würdig wäre. Sie hatte endlich die Tochter, die sie immer wollte. Mir wurde aufgetragen, dich wie eine von uns zu behandeln."
„Deine Eltern waren sehr gut zu mir", gab Jenny leise zu.
„Hast du dich deswegen nie gegen sie aufgelehnt?"
Seine Frage empörte sie, und sie zeigte es. „Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst!"
„Oh doch, das weißt du. Es ist zwölf Jahre her, seit du eine eigene Entscheidung getroffen hast. Fürchtest du, dass sie dich rauswerfen, wenn du ihnen widersprichst?"
„Das ist doch albern", rief Jenny verblüfft.
„Nein, es ist nicht albern, es ist traurig." Bruce reckte sein hartes, eckiges Kinn vor. „Sie haben entschieden, wer deine Freunde sein dürfen und wer nicht, welche Kleider du trägst, welche Universität du besucht hast, sogar wen du heiraten wirst. Und jetzt sieht es ganz so aus, als würden
sie entscheiden, wann die Hochzeit stattfindet. Wirst du sie auch deine Kinder planen lassen?"
„Hör auf, Bruce. Nichts davon ist wahr, und ich weigere mich, mir das länger anzuhören. Hast du etwa zu viel getrunken?"
„Leider nein. Aber ich wünschte, ich hätte es getan." Er trat zu ihr und ergriff ihren Arm. „Jenny, wach auf. Sie erdrücken dich. Du bist eine Frau, eine verdammt gut aussehende Frau. Was wäre schon, wenn du etwas tätest, das ihnen missfällt? Du bist keine vierzehn mehr. Sie können dich nicht bestrafen. Und wenn sie dich raus werfen - was sie niemals tun würden -, na und? Du kannst woanders hingehen."
„Eine unabhängige Frau sein, meinst du?" „Ja, das trifft wohl den Kern."
„Du meinst, ich sollte mich in der Stadt herumtreiben, so wie du es tust?"
„Nein. Aber ich halte es auch nicht für gesund, dass du neunzig Prozent deiner Freizeit mit Bibelstunden verbringst."
„Mir gefällt die Kirchenarbeit."
„Unter Ausschluss von allem anderen?" Aufgeregt strich er sich mit den Fingern durch das Haar. „All die Arbeit, die du für die Kirche leistest, ist bewundernswert. Ich will deinen Verdienst nicht schmälern. Aber ich mag nicht mit ansehen, dass du vorzeitig verschrumpelst wie eine alte Jungfer.
Du vergeudest dein Leben."
„Das stimmt doch überhaupt nicht. Ich werde ein Leben mit Hal führen."
„Nicht, wenn er nach Mittelamerika geht und sich umbringen lässt!" Er sah, dass sie erblasste, und fügte in sanftem Ton hinzu: „Es tut mir leid.
Ich wollte mich nicht in all das einmischen." „Eigentlich geht es dir um Hal, stimmt's?"
„Ja." Er ergriff ihre Hände. „Rede mit ihm." „Ich kann ihn nicht umstimmen."
„Er muss auf dich hören. Du bist die Frau, die er heiraten will."
„Setz nicht zu viel Vertrauen in mich."
„Ich werde dich nicht für seine Entscheidung verantwortlich machen, wenn du das meinst. Versprich mir nur, dass du versuchen wirst, ihn von seinem Vorhaben abzubringen."
Jenny blickte zur Küche. Durch das Fenster sah sie, dass Hal immer noch mit seinen Eltern am Tisch saß, ins Gespräch vertieft. „Gut, ich verspreche es dir. Ich werde es versuchen."
„Gut." Bruce drückte ihre Hände und ließ sie dann los.
„Sarah hat gesagt, dass du über Nacht bleibst." Sie verschwieg ihm, dass sie selbst sein Zimmer für ihn vorbereitet hatte, dass sie es gelüftet und das Bett frisch bezogen hatte. Sie wollte ihn in dem Glauben lassen, dass seine Mutter sich die Mühe gemacht hatte.
„Ja. Ich habe ihr versprochen, zu dem großen Abschied morgen früh hier zu sein. Ich hoffe, dass es nie dazu kommt."
„Na ja, jedenfalls gefällt es Sarah, wenn du hin und wieder hier zu Hause schläfst."
Er lächelte wehmütig und berührte sanft ihre Wange. „Ach, Jenny, du bist ja so diplomatisch. Meine Mutter hat mich eingeladen und mir gleichzeitig aufgetragen, all die Trophäen vom Fußball und Basketball aus meinem Zimmer zu entfernen, während ich hier bin. Sie ist es leid, das Zeug abzustauben."
Mitgefühl stieg in Jenny auf. Sie schluckte schwer. Erst vor ein paar Wochen hatten Sarah und sie die Sporttrophäen von Hal sorgfältig in saubere Tücher gewickelt und in Kartons auf dem Dachboden verstaut. Schon seit zwölf Jahren wusste sie, wer der Lieblingssohn war. Doch Bruce hatte selbst schuld. Er hatte eine Lebensweise gewählt, die seine Eltern nicht gutheißen konnte.
„Gute Nacht", sagte sie und wandte sich widerstrebend ab. Plötzlich wünschte sie, ihn in die Arme nehmen zu können. Er sah oft so aus, als ob er es brauchte, umarmt zu werden ... eine lächerliche Vorstellung in Anbetracht seines Rufes als größter Sexprotz der Stadt. Doch reichte jene Art von Liebe? Wahrscheinlich nicht einmal für einen Draufgänger wie Bruce.
...
Übersetzung: Tatjána Lénárt-Seidnitzer
Genehmigte Sonderausgabe 2011
für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Sandra Brown
Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem ersten Romanauf Anhieb einen großen Erfolg landete. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sandra Brown
- 304 Seiten, Maße: 12,4 x 18,6 cm, Taschenbuch
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3899419987
- ISBN-13: 9783899419986
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