Ohne Fehl und Makel
Ein Junge im Lebensborn-Heim. Mit Glossar und Nachwort
"Dass Theisen dieses vielschichtige und heikle Thema so gekonnt und packend gerade für junge Menschen aufbereitet, ist ihm hoch anzurechnen." -- titel-magazin.de
"Wer Klischees erwartet, wird überrascht: Theisen macht es sich und dem Leser...
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Buch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ohne Fehl und Makel “
"Dass Theisen dieses vielschichtige und heikle Thema so gekonnt und packend gerade für junge Menschen aufbereitet, ist ihm hoch anzurechnen." -- titel-magazin.de
"Wer Klischees erwartet, wird überrascht: Theisen macht es sich und dem Leser nicht leicht." -- WAZ über "Amok"
"Unberührt bleibt niemand, der das Buch einmal in die Hand genommen hat." -- Frankfurter Rundschau über "Checkpoint Jerusalem"
"Wer Klischees erwartet, wird überrascht: Theisen macht es sich und dem Leser nicht leicht." -- WAZ über "Amok"
"Unberührt bleibt niemand, der das Buch einmal in die Hand genommen hat." -- Frankfurter Rundschau über "Checkpoint Jerusalem"
Klappentext zu „Ohne Fehl und Makel “
Lebensborn. Ein erschütterndes Thema. Bewegend erzählt.Fritz verbringt die Sommerferien im Lebensborn, wo sein Vater leitender Arzt ist. Durch ihn weiß Fritz Bescheid: dass die Juden schlecht sind und die arische Rasse schnell vermehrt werden muss. Doch dann kommen ihm allmählich Zweifel, schließlich ist seine große Liebe Maria ganz anderer Meinung. Als Aniela, Marias ältere Schwester, ihr behindertes Kind nach der Geburt abgeben soll, muss Fritz eine folgenschwere Entscheidung treffen ...
Lese-Probe zu „Ohne Fehl und Makel “
Ohne Fehl und Makel von Manfred TheisenErstes Kapitel
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Ich sitze auf der Wiese und ziehe den Dolch, ramme ihn neben mir ins Gras. In kantigen Buchstaben steht Blut und Ehre auf dem Schaft. Die Luft, die mich umfängt, ist mild. Wenn der Sommer in Gang kommt, liebe ich den Platz neben der Wäscherei. Das Gras ist hier dichter als an irgendeinem anderen Flecken auf dem Grundstück - und es riecht erfrischend nach seifi gem Dampf. Selbst wenn du schmutzig bist, fühlst du dich hier richtig sauber.
Heute Abend werde ich endlich wieder vorlesen. Ich übe also noch einmal den Text, lese leise im Buch, bewege meine Lippen lautlos dazu: Im ewigen Kampfe ist die Menschheit groß geworden - im ewigen Frieden geht sie zugrunde, steht dort in exakter Handschrift. Ich kann nicht so sauber die Buchstaben aufs Papier schreiben wie mein Vater - egal, wie sehr ich mich auch bemühe. Es gelingt mir nicht, denn ich bin nicht gesund.
Ein Schrei von Helene weht zu mir herüber vom Herrenhaus. Das erdfarbene Gebäude sieht mit seinen Türmchen und Vorsprüngen wie ein verwunschenes Märchenschloss aus. Keine der Tauben, die über der Eingangstür hockten, zuckt zusammen. Sie sind die verzweifelten Schreie der Mädchen gewohnt. Ich habe keine Lust zu lesen, starre aber unbeirrt ins Buch. Gleich wird Vater kommen, da er Helenes Schreie sicher auch gehört hat.
Seine Schritte nähern sich knirschend auf dem Kies. »Na, bist du fleißig? Bereitest du dich auf heute Abend vor?«
Ich sehe ihn an, als hätte ich ihn nicht erwartet. »Ja«, sage ich ruhig. »Wohin läufst du, Papa?«
Ein heller Schrei aus dem Herrenhaus ist die Antwort.
»Da hörst du es! Das Leben hat keine Zeit mehr.« Vater rennt die Freitreppe hinauf, trägt Uniformhose und frisch gebügeltes Hemd. Obwohl seit Jahren Krieg ist, sitzen die Bügelfalten und seine Bewegungen wirken trotz der Eile ruhig. Nichts kann ihn aus der Fassung bringen, höchstens mein Ungehorsam.
Blut und Ehre, sagt mir der Dolch, den ich kurz aus dem Boden ziehe und wieder kraftvoll hineinramme, ehe ich erneut ins Buch schaue. Vor zwei Jahren - es war ebenfalls Frühsommer - sind wir hierhergekommen. Und wir werden hierbleiben.
Ich blättere weiter. Das Buch, in dem ich lese, kann man nicht kaufen, in keinem Laden. Denn Vater schreibt es selbst. Immer ein neues Bündel Blätter fügt er jedes Jahr hinzu wie Jahresringe an einem Baum. Jetzt haben wir 1944. Das Büchlein ist bislang doppelt so dick wie mein Daumen. Wie dick wird es sein, wenn wir den Krieg gewonnen haben? In dem Buch hat er die wichtigsten Sätze des Führers und seiner Getreuen versammelt, Sätze, die einem zu Herzen gehen; Gedanken, die Hitler, Goebbels* oder Himmler* in ihren Schriften und Reden geäußert haben. Wenn ich die Worte Hitlers lese, so soll ich mir den Führer dabei vorstellen, wie er sie spricht, und bewege lautlos meine Lippen, höre innerlich eine heiser geschriene Stimme, fasse den Dolch und drehe ihn in der Erde wie in einem Körper. Irgendwann werde ich auch in den Krieg ziehen.
Ein Schrei dringt aus dem Herrenhaus. Ich will nicht wissen, was die Leute hinter der Mauer denken, die unseren Lebensborn* umgibt. Nun folgt ein Schrei Helenes auf den nächsten, dann herrscht Stille.
Helene ist jetzt Mutter.
Ich klappe das Buch zu, stecke den Dolch wieder weg und nehme einen Kiesel vom Pfad, werfe ihn, um die Tauben aufzuscheuchen. Sie fliegen über mich hinweg - zur Wäscherei, wo immer gearbeitet wird. Wir haben hier vierundzwanzig Säuglinge, da gibt es stets schmutzige Wäsche.
Selbst das einstöckige Gebäude der Wäscherei hat Verzierungen. Ein Männchen aus Stein lugt vom Giebel hinab auf den Eingang, aus dem es herausdampft, als würden dort die Wolken gemacht.
Ob Maria ihrer Mutter beim Waschen hilft? Wenn Maria lächelt, strahlt ein Engel. Ich gehe hinüber zur Wäscherei. Die Scheiben sind beschlagen. Ich horche an der Scheibe.
»Wieder auf der Lauer?«, fragt mich unerwartet Theodor Michels. Ich habe ihn nicht kommen hören. Trotz oder gerade wegen seiner Krücke, geht er leise wie ein Fuchs. Ein Granatsplitter hat ihm das rechte Bein zerfetzt. Wir haben Frankreich im Handumdrehen überrannt, aber Michels hat es blöd erwischt.
»Dein Vater mag es nicht, wenn du Maria nachspionierst«, sagt er.
»Wie kommen Sie darauf? Sie ist doch gar nicht da.«
»Und woher weißt du dann, dass Maria nicht in der Wäscherei ist?«
Michels´ Logik ist gnadenlos wie sein Gesichtsausdruck - hager und dunkel ist der SS*-Offizier, der immer Uniform trägt. Seine Tränensäcke liegen dick und violett unter seinen Augen. Er wird sich nie wieder gesund schlafen können. Ich fürchte mich vor ihm. Sicher hat er den finsteren Blick von der Front mitgebracht. Früher müssen seine Augen strahlend blau gewesen sein, aber unsere Feinde haben ihm den Glanz genommen. Mancher Jude hat auch blaue Augen, aber ihnen fehlt der Glanz. Am Glanze erkennst du die nordische Rasse*. Das weiß jeder.
Wenn Michels nicht so grimmig gucken würde, könnte er einem leidtun. Wenn du zu lange in das Maul des Monsters schaust, wirst du irgendwann selbst ein Monster. Und dieser Krieg ist ein Monster. Nicht umsonst sagt der Führer: Ich weiß mir Besseres als Krieg! Allein wenn ich an den Verlust des deutschen Blutes denke - es fallen ja immer die Besten, die Tapfersten und Opferbereitesten, deren Aufgabe es wäre, die Nation zu verkörpern, zu führen. Warum haben uns die Polen* den Krieg aufgezwungen?, frage ich mich. Warum sind die Völker nicht eins mit uns? Sie sind wie unartige Kinder, an deren Hintern man sich die Hand wund schlagen muss.
»Na, ich kann dich ja verstehen«, meint Michels und unterbricht meine Gedanken. »Ist ja auch ein hübsches Mädchen und heute ist richtig schönes Hitlerwetter. Da erwacht der große Junge in dir.« Er sagt es mit einem Augenzwinkern, steckt seinen Finger in den Mund und schnellt ihn wieder hervor. Es macht plopp. Er findet es lustig und ich soll auch lachen. Hält er mich für ein Kleinkind oder einen Idioten? Vater sagt, dass meine Gedanken zu langsam sind und meine Knochen brüchig. Das weiß jeder im Lebensborn und jeder ist deshalb nachsichtig mit mir.
»Na, dann will ich mal weiter. Warte auf sie und nutze die Gunst der Stunde, denn dein Vater und die Storchentanten«, damit meint er die Hebammen, »sind noch mit Helene und ihrem Sohn beschäftigt. Aber lass dich nicht von deinem Vater erwischen. Er hat eine harte Hand. Ich bewundere ihn, wie er seine neue Aufgabe meistert. Hut ab!«
Bislang war Vater nur Stellvertreter von Theodor Felten gewesen, der unseren Lebensborn leitet.
Doch vorgestern ist Felten abtransportiert worden. »Er hat etwas an der Leber«, meinte Papa. »Das kann eine Weile dauern. Derweil muss ich mich nun auch noch um die geschäftliche Seite unseres Lebensborns kümmern.« Nun ist Papa also nicht nur Arzt, sondern auch Heimleiter.
Ich blicke kurz Michels nach, sehe auf seine gewichsten schwarzen Stiefel, in denen sich die Sonne spiegelt, und bleibe bei der Wäscherei - ich warte und hoffe, Marias Stimme zu hören. Aber es ist still, nur der seifige Geruch dringt zu mir nach draußen und ich atme ihn ein.
Später sehe ich Maria und ihre Mutter durch die beschlagenen Scheiben. Sie haben den weißen Überzug eines Kopfkissens in der Hand und ziehen an beiden Seiten daran wie Engel an den Wolken. Dann stützt Marias Mutter ihre Linke in die Hüfte und zieht das Tuch zwischen ihnen mit einem Ruck stramm. Maria lacht herzhaft und hält mit der Rechten dagegen und stützt ihre Linke in die Hüfte. Sie lächeln und beginnen, von einem aufs andere Bein im Kreis zu hüpfen. Es sieht witzig aus, und die Musik, der sie folgen, muss ein Marsch sein. Ich mag Märsche und sehe gern Soldaten marschieren. Zu zweit, zu dritt, zu viert ...
Das Gesicht von Marias Mutter ist mit einem Mal vor mir. Sie wischt von innen den Nebel von der Scheibe und schaut mich groß an. Ich habe taggeträumt. Ich lächele und entschuldige mich durch die Scheibe. Obwohl sie mich sicher nicht hören kann. Sie verscheucht mich mit einer Handbewegung und Maria wendet sich ab, verschwindet wieder in den Wolken.
Ich gehe fort.
Vermutlich ist mein Gesicht rot vor Peinlichkeit. Manchmal ist es gut, dass man sich nicht mit seinen eigenen Augen sehen kann.
Erstmals als cbj Taschenbuch Oktober 2010
© 2010 cbj Verlag, München
Ich sitze auf der Wiese und ziehe den Dolch, ramme ihn neben mir ins Gras. In kantigen Buchstaben steht Blut und Ehre auf dem Schaft. Die Luft, die mich umfängt, ist mild. Wenn der Sommer in Gang kommt, liebe ich den Platz neben der Wäscherei. Das Gras ist hier dichter als an irgendeinem anderen Flecken auf dem Grundstück - und es riecht erfrischend nach seifi gem Dampf. Selbst wenn du schmutzig bist, fühlst du dich hier richtig sauber.
Heute Abend werde ich endlich wieder vorlesen. Ich übe also noch einmal den Text, lese leise im Buch, bewege meine Lippen lautlos dazu: Im ewigen Kampfe ist die Menschheit groß geworden - im ewigen Frieden geht sie zugrunde, steht dort in exakter Handschrift. Ich kann nicht so sauber die Buchstaben aufs Papier schreiben wie mein Vater - egal, wie sehr ich mich auch bemühe. Es gelingt mir nicht, denn ich bin nicht gesund.
Ein Schrei von Helene weht zu mir herüber vom Herrenhaus. Das erdfarbene Gebäude sieht mit seinen Türmchen und Vorsprüngen wie ein verwunschenes Märchenschloss aus. Keine der Tauben, die über der Eingangstür hockten, zuckt zusammen. Sie sind die verzweifelten Schreie der Mädchen gewohnt. Ich habe keine Lust zu lesen, starre aber unbeirrt ins Buch. Gleich wird Vater kommen, da er Helenes Schreie sicher auch gehört hat.
Seine Schritte nähern sich knirschend auf dem Kies. »Na, bist du fleißig? Bereitest du dich auf heute Abend vor?«
Ich sehe ihn an, als hätte ich ihn nicht erwartet. »Ja«, sage ich ruhig. »Wohin läufst du, Papa?«
Ein heller Schrei aus dem Herrenhaus ist die Antwort.
»Da hörst du es! Das Leben hat keine Zeit mehr.« Vater rennt die Freitreppe hinauf, trägt Uniformhose und frisch gebügeltes Hemd. Obwohl seit Jahren Krieg ist, sitzen die Bügelfalten und seine Bewegungen wirken trotz der Eile ruhig. Nichts kann ihn aus der Fassung bringen, höchstens mein Ungehorsam.
Blut und Ehre, sagt mir der Dolch, den ich kurz aus dem Boden ziehe und wieder kraftvoll hineinramme, ehe ich erneut ins Buch schaue. Vor zwei Jahren - es war ebenfalls Frühsommer - sind wir hierhergekommen. Und wir werden hierbleiben.
Ich blättere weiter. Das Buch, in dem ich lese, kann man nicht kaufen, in keinem Laden. Denn Vater schreibt es selbst. Immer ein neues Bündel Blätter fügt er jedes Jahr hinzu wie Jahresringe an einem Baum. Jetzt haben wir 1944. Das Büchlein ist bislang doppelt so dick wie mein Daumen. Wie dick wird es sein, wenn wir den Krieg gewonnen haben? In dem Buch hat er die wichtigsten Sätze des Führers und seiner Getreuen versammelt, Sätze, die einem zu Herzen gehen; Gedanken, die Hitler, Goebbels* oder Himmler* in ihren Schriften und Reden geäußert haben. Wenn ich die Worte Hitlers lese, so soll ich mir den Führer dabei vorstellen, wie er sie spricht, und bewege lautlos meine Lippen, höre innerlich eine heiser geschriene Stimme, fasse den Dolch und drehe ihn in der Erde wie in einem Körper. Irgendwann werde ich auch in den Krieg ziehen.
Ein Schrei dringt aus dem Herrenhaus. Ich will nicht wissen, was die Leute hinter der Mauer denken, die unseren Lebensborn* umgibt. Nun folgt ein Schrei Helenes auf den nächsten, dann herrscht Stille.
Helene ist jetzt Mutter.
Ich klappe das Buch zu, stecke den Dolch wieder weg und nehme einen Kiesel vom Pfad, werfe ihn, um die Tauben aufzuscheuchen. Sie fliegen über mich hinweg - zur Wäscherei, wo immer gearbeitet wird. Wir haben hier vierundzwanzig Säuglinge, da gibt es stets schmutzige Wäsche.
Selbst das einstöckige Gebäude der Wäscherei hat Verzierungen. Ein Männchen aus Stein lugt vom Giebel hinab auf den Eingang, aus dem es herausdampft, als würden dort die Wolken gemacht.
Ob Maria ihrer Mutter beim Waschen hilft? Wenn Maria lächelt, strahlt ein Engel. Ich gehe hinüber zur Wäscherei. Die Scheiben sind beschlagen. Ich horche an der Scheibe.
»Wieder auf der Lauer?«, fragt mich unerwartet Theodor Michels. Ich habe ihn nicht kommen hören. Trotz oder gerade wegen seiner Krücke, geht er leise wie ein Fuchs. Ein Granatsplitter hat ihm das rechte Bein zerfetzt. Wir haben Frankreich im Handumdrehen überrannt, aber Michels hat es blöd erwischt.
»Dein Vater mag es nicht, wenn du Maria nachspionierst«, sagt er.
»Wie kommen Sie darauf? Sie ist doch gar nicht da.«
»Und woher weißt du dann, dass Maria nicht in der Wäscherei ist?«
Michels´ Logik ist gnadenlos wie sein Gesichtsausdruck - hager und dunkel ist der SS*-Offizier, der immer Uniform trägt. Seine Tränensäcke liegen dick und violett unter seinen Augen. Er wird sich nie wieder gesund schlafen können. Ich fürchte mich vor ihm. Sicher hat er den finsteren Blick von der Front mitgebracht. Früher müssen seine Augen strahlend blau gewesen sein, aber unsere Feinde haben ihm den Glanz genommen. Mancher Jude hat auch blaue Augen, aber ihnen fehlt der Glanz. Am Glanze erkennst du die nordische Rasse*. Das weiß jeder.
Wenn Michels nicht so grimmig gucken würde, könnte er einem leidtun. Wenn du zu lange in das Maul des Monsters schaust, wirst du irgendwann selbst ein Monster. Und dieser Krieg ist ein Monster. Nicht umsonst sagt der Führer: Ich weiß mir Besseres als Krieg! Allein wenn ich an den Verlust des deutschen Blutes denke - es fallen ja immer die Besten, die Tapfersten und Opferbereitesten, deren Aufgabe es wäre, die Nation zu verkörpern, zu führen. Warum haben uns die Polen* den Krieg aufgezwungen?, frage ich mich. Warum sind die Völker nicht eins mit uns? Sie sind wie unartige Kinder, an deren Hintern man sich die Hand wund schlagen muss.
»Na, ich kann dich ja verstehen«, meint Michels und unterbricht meine Gedanken. »Ist ja auch ein hübsches Mädchen und heute ist richtig schönes Hitlerwetter. Da erwacht der große Junge in dir.« Er sagt es mit einem Augenzwinkern, steckt seinen Finger in den Mund und schnellt ihn wieder hervor. Es macht plopp. Er findet es lustig und ich soll auch lachen. Hält er mich für ein Kleinkind oder einen Idioten? Vater sagt, dass meine Gedanken zu langsam sind und meine Knochen brüchig. Das weiß jeder im Lebensborn und jeder ist deshalb nachsichtig mit mir.
»Na, dann will ich mal weiter. Warte auf sie und nutze die Gunst der Stunde, denn dein Vater und die Storchentanten«, damit meint er die Hebammen, »sind noch mit Helene und ihrem Sohn beschäftigt. Aber lass dich nicht von deinem Vater erwischen. Er hat eine harte Hand. Ich bewundere ihn, wie er seine neue Aufgabe meistert. Hut ab!«
Bislang war Vater nur Stellvertreter von Theodor Felten gewesen, der unseren Lebensborn leitet.
Doch vorgestern ist Felten abtransportiert worden. »Er hat etwas an der Leber«, meinte Papa. »Das kann eine Weile dauern. Derweil muss ich mich nun auch noch um die geschäftliche Seite unseres Lebensborns kümmern.« Nun ist Papa also nicht nur Arzt, sondern auch Heimleiter.
Ich blicke kurz Michels nach, sehe auf seine gewichsten schwarzen Stiefel, in denen sich die Sonne spiegelt, und bleibe bei der Wäscherei - ich warte und hoffe, Marias Stimme zu hören. Aber es ist still, nur der seifige Geruch dringt zu mir nach draußen und ich atme ihn ein.
Später sehe ich Maria und ihre Mutter durch die beschlagenen Scheiben. Sie haben den weißen Überzug eines Kopfkissens in der Hand und ziehen an beiden Seiten daran wie Engel an den Wolken. Dann stützt Marias Mutter ihre Linke in die Hüfte und zieht das Tuch zwischen ihnen mit einem Ruck stramm. Maria lacht herzhaft und hält mit der Rechten dagegen und stützt ihre Linke in die Hüfte. Sie lächeln und beginnen, von einem aufs andere Bein im Kreis zu hüpfen. Es sieht witzig aus, und die Musik, der sie folgen, muss ein Marsch sein. Ich mag Märsche und sehe gern Soldaten marschieren. Zu zweit, zu dritt, zu viert ...
Das Gesicht von Marias Mutter ist mit einem Mal vor mir. Sie wischt von innen den Nebel von der Scheibe und schaut mich groß an. Ich habe taggeträumt. Ich lächele und entschuldige mich durch die Scheibe. Obwohl sie mich sicher nicht hören kann. Sie verscheucht mich mit einer Handbewegung und Maria wendet sich ab, verschwindet wieder in den Wolken.
Ich gehe fort.
Vermutlich ist mein Gesicht rot vor Peinlichkeit. Manchmal ist es gut, dass man sich nicht mit seinen eigenen Augen sehen kann.
Erstmals als cbj Taschenbuch Oktober 2010
© 2010 cbj Verlag, München
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Autoren-Porträt von Manfred Theisen
Manfred Theisen, geb. 1962 in Köln, studierte Germanistik, Anglistik, und Politik. Forschte zwei Jahre für das deutsche Innenministerium in der Sowjetunion, gründete einen Entwicklungshilfe-Verein in Äthiopien, arbeitete als Redakteur und leitete eine Kölner Zeitungsredaktion. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Auszeichnungen:1995 Auswahl zum "Peter-Härtling-Preis", Stipendium des 'Stuttgarter Schriftstellerhaus', 2000 Nominiert für den 'NRW-Literaturpreis' in der Sparte Jugendbuch 2002 Stipendium des Außenministeriums für Roman-Recherche über Kindheit und Jugend in Israel/Palästina.
Bibliographische Angaben
- Autor: Manfred Theisen
- Altersempfehlung: 13 - 16 Jahre
- 2010, 285 Seiten, Maße: 15,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570400298
- ISBN-13: 9783570400296
- Erscheinungsdatum: 20.09.2010
Rezension zu „Ohne Fehl und Makel “
"Theisen hat die Geschichte der perversen Lebensborn-Ideologie genau recherchiert und bietet darüber hinaus einen Blick in die jüngere Geschichte des kleinsten deutschen Nachbarlandes." Süddeutsche Zeitung
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