Porträt in Sepia
Wie bedeutsam für Aurora dieser einfach so dahin gesagte Satz sein wird, ahnt Severo nicht. Denn vor Albträumen kann...
Wie bedeutsam für Aurora dieser einfach so dahin gesagte Satz sein wird, ahnt Severo nicht. Denn vor Albträumen kann sich die Waise, die bei ihrer wohlhabenden, aber herrischen Großmutter aufwächst, kaum retten. Fast jede Nacht suchen sie Träume heim - meist von einem mysteriösen Geschehen, das in San Franciscos Chinatown spielt.
So ist die Kamera für Aurora nicht nur ein Spielzeug, sondern auch Mittel dazu, den Schleier zu lüften, der über ihrer Vergangenheit liegt: Wer waren ihre Eltern und woher kommen die Laute der fremden Sprache, an die sie sich zu erinnern glaubt?
Als erwachsene Frau wird sie dann auf einer Fotografie, die sie selbst gemacht hat, mit dem Verrat des Mannes konfrontiert, den sie liebt.
Eine Kamera, die sie als Kind geschenkt bekommt, wird ihr nach und nach zur Leidenschaft und zum Mittel der Suche nach ihrer persönlichen Wahrheit. Wer waren ihr Vater, ihre Mutter, und woher kommen die Laute einer fremden Sprache, an die sie sich zu erinnern glaubt? Als sie auf einer Photographie, die sie selbst gemacht hat, mit dem Verrat des Mannes konfrontiert wird, den sie liebt, entschließt sie sich, das Geheimnis ihrer Vergangenheit zu erforschen.
Aurora steht im Mittelpunkt dieses mit großem Atemerzählten, farbigen Romans. Doch tatsächlich ist es eine ganze Welt von Schicksalen, die Isabel Allende zu erzählen weiß. Mit Witz und Temperament greift sie ins pralle, ungeordnete Leben, schildert starke, eigenwillige Frauen und zeigt wieder ihren Sinn für das vitale Nebeneinander von Lebensernst und Komik. Nur einer so sicheren Erzählerin wie Isabel Allende konnte es gelingen, den großen Lebensbogen von Fortunas Tochter kraftvoll weiterzuspannen und zugleich die chilenische Vorgeschichte ihres unvergessenen Erstlings Das Geisterhaus durchschimmern zu lassen.
Porträt inSepia von Isabel Allende
LESEPROBE
Severo del Valle lernte Lynn Sommers 1872 kennen, als er mitseinem Vater von Chile nach Kalifornien reiste, um Paulina und Feliciano zubesuchen, die in den schönsten Klatschgeschichten der Familie immer dieHauptrolle spielten. Severo hatte seine Tante Paulina ein paarmal bei ihrengelegentlichen Auftritten in Valparaiso erlebt, aber bis er sie in ihrernordamerikanischen Umgebung kennenlernte, hatte er die Seufzer christlicherUnduldsamkeit seiner Familie nicht begriffen. Fern von dem religiösen,konservativen Umfeld in Chile, fern von dem in seinem Paralytikerlehnstuhleingeklemmten Großvater Agustin, von Großmutter Emilia mit ihren unheilvolldüsteren Spitzen und den Leinsamenklistieren, fern von ihren übrigen soneidischen wie furchtsamen Verwandten war Paulina erst zur eigentlichenAmazone, ja Walküre aufgeblüht. Auf seiner ersten Reise war Severo del Valle nochzu jung, um die Macht oder das Vermögen dieses berühmten Paares zu ermessen,aber ihm entgingen nicht die Unterschiede zwischen ihnen und dem Rest desStammes del Valle. Erst als er Jahre später wiederkam, sollte er begreifen,daß sie zu den reichsten Familien San Franciscos gehörten, auf gleicher Stufe wiedie Magnaten des Silbers, der Eisenbahn, der Banken und des Transports. Aufdieser ersten Reise saß der Fünfzehnjährige auf dem Fußende des vielfarbigenBettes seiner Tante Paulina, und während sie die Strategie ihrer nächstenHandelskriege plante, entschied Severo über seine eigene Zukunft.
»Du solltest Anwalt werden, damit du mir helfen kannst,meine Feinde nach allen Regeln des Gesetzes zu vernichten«, riet ihm an diesemTag Paulina zwischen zwei Happen Blätterteiggebäck mit Karamelfüllung.
»Ja, Tante. Großvater Agustin sagt immer, in jeder achtbarenFamilie muß man einen Anwalt, einen Arzt und einen Bischof haben«, erwiderteihr Neffe. »Man muß auch einen Kopf für Geschäfte haben.« »Großvater meint,Handel treiben ist nicht Sache des Adels.«
»Dann sag du ihm, vom Adel wird man nicht satt, er sollihn sich in den Arsch stecken.« Der Junge hatte dieses schmutzige Wort bishernur von dem Kutscher der Familie gehört, einem aus dem Gefängnis in Teneriffageflohenen Madrilenen, der aus unerfindlichen Gründen auch auf Gott und aufeine bestimmte Flüssigkeit zu scheißen pflegte. »Nun hab dich nicht sozimperlich, Jungchen, einen Arsch haben wir doch schließlich alle!« riefPaulina aus und wollte sich schier totlachen über den Gesichtsausdruck ihresNeffen. An diesem Nachmittag nahm sie ihn mit in die Konditorei von ElizaSommers. San Francisco hatte Severo schon vom Schiff aus auf den ersten Blickfasziniert: eine strahlende Stadt in einer grünen Landschaft von Hügeln, dieüber und über mit Bäumen bewachsen waren und sich in Wellen hinabsenkten biszum Ufer einer Bucht mit ruhigem Wasser. Von weitem wirkte sie streng mit ihremspanischen Grundriß von parallel und quer verlaufenden Straßen, aber von nahemhatte sie den Zauber des Unerwarteten. Der junge, gewöhnt an den schläfrigenAnblick des Hafens von Valparaiso, wo er aufgewachsen war, starrte verwirrt aufdas wahnwitzige Drunter und Drüber von kleinen Häusern und großen Bauten in denverschiedensten Stilarten, Luxus und Armut bunt durcheinander, als wäre es inaller Eile hochgezogen worden. Er sah ein totes, mit Fliegen übersätes Pferdvor der Tür eines eleganten Geschäfts liegen, das Geigen und Klaviere anbot. Durchden lärmenden Verkehr von Tieren und Kutschen bahnte sich eine kosmopolitischeMenge den Weg: Amerikaner, Spanier, Franzosen, Iren, Italiener, Deutsche,einige Indios und auch ehemalige Negersklaven, jetzt zwar frei, aber nochimmer arm und verachtet. Sie wendeten sich nach Chinatown, und augenblicklichfanden sie sich in einem fremden Land wieder, von »Söhnen des Himmels«bevölkert, wie die Chinesen genannt wurden, die nun der Kutscher mit Peitschenknallenscheuchte, während er den Fiaker auf den Union Square lenkte. Er hielt voreinem Haus in viktorianischem Stil, einem einfachen Bau im Vergleich zu denVerirrungen an Simsschnörkeln, Reliefs und Rosetten, die man hier überall sah. »Diesist der Teesalon der Sefiora Sommers, der einzige in dieser Gegend«, erklärtePaulina. »Kaffee kannst du trinken, wo du Lust hast, aber für eine Tasse Tee mußtdu schon hierherkommen. Die Yankees verabscheuen dieses edle Getränk seit demUnabhängigkeitskrieg, als die Rebellen den englischen Tee in Boston ins Meerschütteten.«
»Aber liegt das nicht schon hundert Jahre zurück?« »Dasiehst du's, Severo, wie dämlich Patriotismus sein kann.«
Nicht der Tee war der Grund für Paulinas häufige Besuche indiesem Salon, sondern Eliza Sommers' berühmte Konditorkunst, die das Inneremit dem köstlichen Duft von Vanille und karamelisiertem Zucker erfüllte. DasHaus - wie so viele andere in den ersten Jahren San Franciscos aus Englandherübergeschafft, versehen mit einem Handbuch voller Anweisungen, nach denen manes zusammenbauen konnte wie ein Spielzeug - hatte zwei Stockwerke, von einemTurm gekrönt, womit es aussah wie eine Dorfkirche. Im ersten Stock hatte manzwei Räume miteinander verbunden, um einen größeren Speisesaal zu erhalten, esgab mehrere Sessel mit geschwungenen Beinen und fünf runde, weiß gedeckteTischchen. Im zweiten Stock wurden aus bester belgischer Schokolade handgefertigtePralinen in Schachteln verkauft wie auch Marzipan und mehrere SortenSüßigkeiten nach chilenischer Art, die Paulina del Valle besonders liebte. DieBedienung versahen zwei Mexikanerinnen mit langen Zöpfen, schneeweißen Schürzenund gestärkten Häubchen, telepathisch gelenkt von der kleinen Senora Sommers,die kaum anwesend zu sein schien verglichen mit Paulinas gewichtiger Präsenz.Die Mode der schmalen Taillen und der bauschigen Röcke begünstigte erstere,vervielfältigte dagegen den Umfang der anderen; außerdem sparte Paulina delValle nicht am Stoff, an Troddeln, Pompons und Gefälteltem. An diesem Tag warsie als Bienenkönigin aufgeputzt, in Gelb und Schwarz vom Kopf bis zu denFüßen, dazu trug sie einen Hut mit Federbusch und ein Mieder mit Streifen. Mitviel Streifen. Als sie in den Salon einmarschierte, schien die Luft für alleandern dünner zu werden, und bei jedem Schritt, den sie tat, klirrten die Tassenund ächzten die dünnen Holzwände.
© List Verlag
Übersetzung: Liselotte Kolanoske
Autoren-Porträt von Isabel Allende
IsabelAllende, 1942 in Lima/Peru geboren, arbeitete lange Zeit als Journalistin undverließ Chile nach dem Militärputsch 1973. Seit 1988 lebt sie mit ihrer Familiein Kalifornien. An den überwältigenden Erfolg ihres ersten Romans "DasGeisterhaus" konnte sie mit weiteren Bestsellern wie "Eva Luna","Fortunas Tochter" und "Paula" anknüpfen. Heute gilt IsabelAllende als die erfolgreichste Autorin der Welt. 2002 erschien ihr ersterJugendroman "Die Stadt der wilden Götter".
Interviewmit IsabelAllende
Siehaben bereits während Ihrer Kindheit und frühen Jugend an verschiedenen Ortengelebt. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit den jeweiligen Orten, und welcheZeit hat Sie am meisten geprägt?
Als Kind bin ich weit herumgekommen, denn mein Stiefvater war Diplomat.Auch als junge Frau bin ich viel gereist. Ich habe eine Fülle von Erinnerungenan die verschiedensten Orte. Ich erinnere mich an Farben, Gerüche, Geräusche,Landschaften, Menschen. Aber die Jahre, die mich am meisten geprägt haben, sinddie meiner frühen Kindheit. In dieser Zeit, im Alter von drei bis zehn Jahren,lebte ich in Santiago bei meinen Großeltern. Chile und meine große Familiehaben einen festen Platz in meinen Büchern.
Könnteman sagen, Kalifornien ist Ihre Wahlheimat und Chile Ihre Heimat? WelcheBedeutung hat der Begriff Heimat für Sie?
Es stimmt, Kalifornien ist zu meiner Wahlheimat geworden. Ich lebe seit17 Jahren hier. Und es würde mir mittlerweile schwer fallen, woanders zu leben.Denn hier ist mein Haus, und hier lebt meine Familie. Trotzdem ist es einfacherfür mich, über Chile zu schreiben. Chile wird immer meine "literarischeHeimat" sein. Wenn ich das Wort Heimat sage, dann ist das Erste, woran ichdenke, meine Familie in Kalifornien. Wie wir zusammen um den großen Esstischherumsitzen und essen, reden, lachen und uns Geschichten erzählen. Mindestenseinmal die Woche kommen alle zusammen: sieben Erwachsene und fünf Kinder. Oftkommen uns auch Freunde besuchen. Manchmal kochen wir dann für 30 oder mehrGäste. Das ist für mich Heimat.
Ihrenersten Roman "Das Geisterhaus" schrieben Sie nach dem Tod IhresGroßvaters. Grundlage und Ausgangspunkt war der Brief, den Sie ihm nach seinemTod widmeten. Welche Rolle hat Ihr Großvater in Ihrem Leben gespielt?
Mein Großvater war die wichtigste männliche Bezugsperson, als ich kleinwar. Er hat meinen Charakter in vielerlei Hinsicht geformt. Er war ein starkerMann. Er hat mich gelehrt, unabhängig zu sein, und gelassen. Er hat mirgezeigt, wie man hart arbeitet, und dass es wichtig ist, diszipliniert zu seinund hart wie Stein. Sich bei ihm zu beklagen oder zu jammern, das gab es nicht!Er hat die Encyclopedia Britannica von A bis Zdurchgelesen, um sich an der Schönheit der Worte zu erfreuen, und er hat dieBibel von Anfang bis Ende gelesen wegen der Schönheit der Geschichten. Vieleder Geschichten, die mir mein Großvater erzählt hat, tauchen in meinen Büchernwieder auf.
Siehaben für Ihr literarisches Schaffen national und international viele Auszeichnungenerhalten. Welche Anerkennung bedeutet Ihnen am meisten?
Die wichtigste Anerkennung sind die Briefe meiner Leser und die vielenanderen Formen, in denen sie ihren Enthusiasmus für mein literarisches Schaffenausdrücken.
Die Fragen stellte Mathias Voigt, literaturtest.de.
- Autor: Isabel Allende
- 2001, 1, 460 Seiten, Maße: 13,5 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Kolanoske, Lieselotte
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518412809
- ISBN-13: 9783518412800
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Porträt in Sepia".
Kommentar verfassen