Rasmussens letzte Reise
Roman
Spannende Weitererzählung einzelner Schicksale aus »Wir Ertrunkenen«
Der geachtete Marinemaler Carl Rasmussen aus Marstal bricht 1893 nach Grönland auf. Er will noch einmal die Kraft spüren, die ihn vor vielen Jahren in der...
Der geachtete Marinemaler Carl Rasmussen aus Marstal bricht 1893 nach Grönland auf. Er will noch einmal die Kraft spüren, die ihn vor vielen Jahren in der...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Rasmussens letzte Reise “
Spannende Weitererzählung einzelner Schicksale aus »Wir Ertrunkenen«
Der geachtete Marinemaler Carl Rasmussen aus Marstal bricht 1893 nach Grönland auf. Er will noch einmal die Kraft spüren, die ihn vor vielen Jahren in der Eiswüste durchströmte und ihn die Seele seiner Malerei erkennen ließ. Doch im Licht des Nordens begreift er, dass er seine Unschuld längst verloren und seinen Erfolg auf Lebenslügen gebaut hat. Mitte des 19. Jahrhunderts bricht der junge Carl Rasmussen zu einer Studienreise nach Grönland auf. Er ist der erste dänische Maler, der sich in die Eiswüste wagt und das Leben der Eskimos in seinen Bildern festhält. Hoch oben im Norden fasst er den Entschluss, gegen alle Hässlichkeit fortan nur noch »Schönes« zu malen, denn mit seinen Bildern will er Menschen zusammenführen. Nach seiner Rückkehr lässt er sich auf der Insel Æro nieder und heiratet. Nur - glücklich wird er nicht. Je mehr Freunde seine Malerei findet, desto größer werden seine Selbstzweifel. Hat er sich ans Idyllische verkauft? Ist er ein harmloser Freilichtmaler geworden? Als alternder Mann reist Carl Rasmussen noch einmal nach Grönland, auf der Suche nach dem verlorenen Leben.
Der geachtete Marinemaler Carl Rasmussen aus Marstal bricht 1893 nach Grönland auf. Er will noch einmal die Kraft spüren, die ihn vor vielen Jahren in der Eiswüste durchströmte und ihn die Seele seiner Malerei erkennen ließ. Doch im Licht des Nordens begreift er, dass er seine Unschuld längst verloren und seinen Erfolg auf Lebenslügen gebaut hat. Mitte des 19. Jahrhunderts bricht der junge Carl Rasmussen zu einer Studienreise nach Grönland auf. Er ist der erste dänische Maler, der sich in die Eiswüste wagt und das Leben der Eskimos in seinen Bildern festhält. Hoch oben im Norden fasst er den Entschluss, gegen alle Hässlichkeit fortan nur noch »Schönes« zu malen, denn mit seinen Bildern will er Menschen zusammenführen. Nach seiner Rückkehr lässt er sich auf der Insel Æro nieder und heiratet. Nur - glücklich wird er nicht. Je mehr Freunde seine Malerei findet, desto größer werden seine Selbstzweifel. Hat er sich ans Idyllische verkauft? Ist er ein harmloser Freilichtmaler geworden? Als alternder Mann reist Carl Rasmussen noch einmal nach Grönland, auf der Suche nach dem verlorenen Leben.
Klappentext zu „Rasmussens letzte Reise “
Der geachtete Marinemaler Carl Rasmussen aus Marstal bricht 1893 nach Grönland auf. Er will noch einmal die Kraft spüren, die ihn vor vielen Jahren in der Eiswüste durchströmte und ihn die Seele seiner Malerei erkennen ließ. Doch im Licht des Nordens begreift er, dass er seine Unschuld längst verloren und seinen Erfolg auf Lebenslügen gebaut hat. Mitte des 19. Jahrhunderts bricht der junge Carl Rasmussen zu einer Studienreise nach Grönland auf. Er ist der erste dänische Maler, der sich in die Eiswüste wagt und das Leben der Eskimos in seinen Bildern festhält. Hoch oben im Norden fasst er den Entschluss, gegen alle Hässlichkeit fortan nur noch "Schönes" zu malen, denn mit seinen Bildern will er Menschen zusammenführen. Nach seiner Rückkehr lässt er sich auf der Insel Æro nieder und heiratet. Nur glücklich wird er nicht. Je mehr Freunde seine Malerei findet, desto größer werden seine Selbstzweifel. Hat er sich ans Idyllische verkauft? Ist er ein harmloser Freilichtmaler geworden? Als alternder Mann reist Carl Rasmussen noch einmal nach Grönland, auf der Suche nach dem verlorenen Leben.
"Carsten Jensen ist für mich ein wirklich einzigartiger Geschichtenerzähler." -- Henning Mankell
"Das ist ganz große Erzählkunst!" -- Håkan Nesser über "Wir Ertrunkenen"
"Das ist ganz große Erzählkunst!" -- Håkan Nesser über "Wir Ertrunkenen"
Lese-Probe zu „Rasmussens letzte Reise “
Das große, kräftige Pferd, das hoch über der geöffneten Luke von einer Seite zur anderen pendelte, trat ins Leere. Die Flanken des Schimmels zuckten wie nach einem ermüdenden Lauf. Als er in die Lukenöffnung blickte, um den sicheren Boden wiederzufinden, zeichneten sich dicke Adern ab, die an der schweißglänzenden Haut des Halses pochten. Vor dem entblößten Gebiss stand Schaum. Die schweren Hufe stampften in Panik durch die Luft. Dann verdrehte das Tier die Augen, bis das Weiß sichtbar wurde, und ein Schwall von flüssigem Kot entlud sich, während sich aus dem gewaltigen, herunterhängenden Glied Urin ergoss.Der Lademeister, der von Deck aus das Dampfspill dirigierte, brach in lautes Fluchen aus und befahl, den Ladebaum über die Reling zu ziehen, damit das zu Tode erschrockene Tier sich in das trübe Hafenwasser entleeren konnte.
Das Pferd wieherte nicht, als es das Wasser unter sich sah. Der Laut, der aus dem zitternden Maul kam, klang wie von einem Menschen, der aus tiefster Verzweiflung aufschreit.
Der Schrei rollte durch den Hafen, bevor er von den Speicherhäusern am Asiatisk Plads zurückgeworfen wurde. Ein Schwarm Spatzen, die sich in der Havnegade um einen Kuhfladen versammelt hatten, flog erschrocken auf.
Carl Rasmussen wandte das Gesicht ab.
Abschied Die Besatzung der Peru kam am frühen Morgen mit rotgesprenkelten Gesichtern an Bord. Bei einem großen, gebückt gehenden Mann, der einen tief in die Stirn gedrückten Bowlerhut trug, sammelte sich Schweiß in den schweren Augenbrauen, von dort aus lief er weiter über die Wangen, bis er sich schließlich in den einen Tag alten Bartstoppeln verfing. Die Seeleute trugen Seesäcke über den Schultern; sie gingen in die Knie und schwankten, als einer nach dem anderen an Deck sprang. Als müssten sie sich an ein unruhig schaukelndes Schiff erst gewöhnen. Doch die Peru lag noch immer vertäut am Kai. Es würden einige Stunden vergehen, bevor der Bugsierdampfer auftauchte und sie auf Reede schleppte. Es war die
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nächtliche Sauftour, die den Männern in den Knochen steckte.
Von Nyhavn aus hatte man sie auf die gegenüberliegende Seite der Hafeneinfahrt übergesetzt, und bei dem einen oder anderen lugte noch der Hals einer Bierflasche aus den tiefen Taschen der Moleskinhosen. Ihre Seetauglichkeit hatten sie sich beim Arzt bereits bescheinigen lassen. Auf der Reede erwartete sie ein weiterer Arztbesuch, bevor die Peru Kurs nach Norden nahm. Der Arzt sollte die Besatzung nun auf ansteckende Krankheiten untersuchen, die sie möglicherweise auf die Reise mitnahmen.
Wenn die Männer das nächste Mal ihre Füße an Land setzten, würde dieses mit Eis bedeckt sein und hoch über ihnen würde eine gnadenlose Sonne hängen, die ihnen weder bei Tag noch in der Nacht Ruhe gönnte - als wäre sie an der Himmelswölbung festgenagelt. Sie hatten lange und ausdauernd von der Dunkelheit getrunken, bevor sie das Deck der Peru betraten.
Der Steuermann war ein kleiner drahtiger Mann, der, mit in den Nacken geschobener Mütze, an der Achterluke stand. Jedes Mal, wenn er eine Flasche erspähte, sprang er mit einem Wutanfall auf den Neuankömmling zu.
"Du verfluchter Trunkenbold, glaubst du etwa, du hättest in einem Wirtshaus angeheuert?", brüllte er mit einer Stimme, die aus einem Paar riesiger Lungen zu kommen schien, die nicht recht zur Größe seines Brustkastens passen wollten.
Sein Gesicht, über dessen Wangen und die vorspringende Nase sich kreuz und quer Narben spannten, verzog sich zu unerwarteten Mustern.
"Wenn du das nächste Mal auch nur daran denkst, an einer Bierfasche zu nuckeln, setz ich dich auf dem nächsten Eisberg ab."
Er riss die Flasche aus der Tasche des Sünders, der den Kopf einzog, als erwartete er einen Schlag, und schleuderte sie mit einer geübten Handbewegung über die Reling. Mit einem Plumps landete die Flasche im dreckigen Hafenwasser, wo sie einen Augenblick vor sich hin dümpelte und dann Kurs auf die Mitte der Hafeneinfahrt nahm.
An der Landetreppe hakte der Zahlmeister mit lauter Stimme den Proviant ab, der an Bord gebracht wurde. Geräuchertes, gesalzenes und gekochtes Fleisch, Butter, Stockfisch, Grieß, Schiffszwieback und Dosenbrot, Roggen- und Weizenmehl. Als der Kaffee kam, rief er zwei Sorten aus, brasilianischen und javanischen. Mit einer Spur Bosheit in der Stimme fügte er hinzu, der zweite wäre der Kajütenkaffee, was den Eingeweihten signalisierte, dass der javanische den Offizieren und Passagieren vorbehalten blieb. Dann setzte er seine Aufzählung fort: Tee, Dörrpflaumen, Rosinen und Weinessig, rohe und getrocknete Kartoffeln, Suppenkräuter und Zwiebeln, Weißkohl in rohem und gekochtem Zustand, getrocknete Erbsen und Bohnen, Salz, Reisgrütze, Sago, Melis und Puderzucker.
Der Zahlmeister machte eine Pause, als beabsichtigte er, sich erneut zu einer Unannehmlichkeit zu äußern. Doch diesmal war es der Steuermann, den er herauszufordern gedachte, ja, vielleicht versuchte er geradezu, dessen Autorität zu untergraben. Mit lauter Stimme verkündete der Zahlmeister, dass sich unter dem an Bord gebrachten Proviant auch einhundertzwanzig Liter Branntwein und zehn Tonnen Schiffsbier befänden. Die Männer richteten sich auf, als hätten man ihnen Satisfaktion erteilt.
"Ihr glaubt doch wohl nicht", schrie der Steuermann, als er den Blick der Mannschaft bemerkte, "dass dieser Branntwein für euch ist, ihr Hunde!"
Er riss sich die Mütze vom Kopf und warf sie vor sich auf die Luke, dann begann er, darauf herumzutrampeln, als wäre das in diesem Moment ein Ersatz für eine Schlägerei mit der gesamten Besatzung.
Am Bug des Schiffes stand eine einsame Gestalt mit dem Rücken zu dem Tumult. Carl Rasmussen war nicht viel größer als der Steuermann, aber er schien schwerer zu sein, was möglicherweise an den vielen Schichten von Kleidung lag, die er übereinander trug - als wollte er sich bereits jetzt gegen die arktische Kälte schützen. Auch er reagierte auf die Aufzählung des Zahlmeisters, aber auf eine andere Weise als der Steuermann und die Mannschaft. Er fasste sich an den Bauch, als verursachte ihm die bloße Erwähnung der Speisenfolge, auf die er von nun an viele Monate angewiesen sein würde, bereits Magendrücken.
Die Sonne stand tief. Das Rigg des Schiffs und die Lagerhäuser am Kai warfen lange Schatten in die Hafeneinfahrt. An den Liegeplätzen entlang der Havnegade wurden zwei englische Dampfer mit Butterfässern und Speckseiten beladen. Ein Vieh- hirte trieb eine Herde Kühe vorbei, die beim Anblick der hohen Bordwände in den Morgenhimmel muhte. Auf der anderen Seite des Kongens Nytorv erkannte Rasmussen undeutlich das Hauptkontor der Großen Nordischen Telegrafen-Gesellschaft, deren Gebäude nur noch eine Etage bis zur Fertigstellung fehlte. Die Bäume rund um das Reiterstandbild waren noch nicht ausgeschlagen, aber er wusste, dass den Waldboden im Dyrehave schon lange ein blühender Teppich aus Anemonen bedeckte, und in einigen Tagen würden auch die Buchen ergrünen. Er würde es nicht erleben. Obwohl die Peru noch ein paar Stunden am Kai vertäut liegen bleiben sollte, spürte er, dass er Dänemark bereits verlassen hatte und sich in einer fremden Welt befand.
Er blieb der einzige Passagier an Bord des Schiffs der Königlich Grönländischen Handelsgesellschaft, der Brigg Peru. Er hatte Bauchschmerzen, und es tröstete ihn nicht, dass es sich auf der Peru um ein den Passagieren und Offizieren vorbehaltenes Privileg handelte, Javakaffee trinken zu dürfen. Carl Rasmussen trank keinen Kaffee.
Gegen acht tauchte der Bugsierdampfer auf. Die Taue wurden losgeworfen und die Peru mitten in die viel befahrene Hafeneinfahrt geschleppt, wo sich Schlepper, Schuten, Prahme und Fährboote aus Nyhavn gegenseitig behinderten. Warnrufe waren zu hören, und kräftige Schiffsschrauben peitschten das dreckige Hafenwasser zu schlammigen Schaumkuchen auf. Überall erhoben sich große Speichergebäude, hinter denen die Kirchtürme der Stadt beinahe verschwanden. Weiter südlich hatte die Knippelsbro ihre eisernen Klappen geöffnet. Zu beiden Seiten der Brücke bildeten sich lange Schlangen von Pferdewagen und Fußgängern. Ein Dampfer steckte in der engen Öffnung fest. Er stieß ein Warnsignal aus, und Rauch quoll stoßweise aus dem hohen schlanken Schornstein, als wollte das Schiff mit Maschinenkraft allein versuchen, sich aus dem Griff des Mauerwerks zu befreien. Metall, das sich auf diese ungleiche Kraftprobe eingelassen hatte, scheuerte und kreischte.
Ein Baggerschiff arbeitete an der Vertiefung der Hafeneinfahrt. Das große Holzrad wälzte Schlamm und Schlick vom Meeresboden in einen verrotteten Prahm, der aussah, als könnte er jeden Moment unter dem Gewicht des stinkenden Morasts sinken. Dahinter reckte ein Kohlenkran seine schwarze Eisenkonstruktion in die Luft. Ein verbeultes Eisenfass, das gut und gern einen Mann aufnehmen konnte, wurde in die offene Luke einer vertäuten Schute gefiert. Eine Staubwolke stieg aus dem Laderaum auf, als die Kohlentrimmer zu schaufeln begannen. Vom Kai aus liefen schwarzgesichtige Männer mit vollen Schubkarren über schmale, schaukelnde Bretter, die als Gangway dienten. Erst hin, dann zurück, der gleiche Arbeitsablauf, den ganzen Tag lang.
"Schauen Sie nur, wie sie laufen. Verfluchtes Ameisenleben."
Kapitän Thomsen hatte sich neben den einzigen Passagier des Schiffs an die Reling gestellt. Er zog die Tonpfeife aus dem Mund und spuckte ins Wasser. Die Regelmäßigkeit seines runden Kopfs wurde von einem grau melierten Backenbart unterstrichen, der exakt der Linie seines Kiefers folgte, den größten Teil der Wangen und der Mundpartie aber freiließ. Seine kleinen Augen saßen in eingesunkenen Augenhöhlen; ihr prüfender Blick erschien bisweilen stechend.
"Ich lag mal zum Laden auf dem Jangtse", ergänzte Thom- sen. "In China kannten sie noch keine Schubkarre. Sie trugen ein Joch mit zwei Körben über den Schultern. Aber abgesehen davon ist es das Gleiche."
Nachdenklich blickte er auf den Stadtteil Christiansholm.
"In China laufen sie auch. Die Last ist unmenschlich. Aber sie schleppen sich nicht dahin. Sie setzen nicht vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie rennen. Genau wie diese Halunken dort drüben. Ich hab mal versucht, mir so einen Sack auf den Nacken zu legen. Es ging um eine Wette mit einem Hafenarbeiter.
Ich konnte nicht mal die Füße bewegen. Hundertfünfzig Kilo! Dann zeigte er mir die Technik. >Laufen Sie, Kapitän!
Von Nyhavn aus hatte man sie auf die gegenüberliegende Seite der Hafeneinfahrt übergesetzt, und bei dem einen oder anderen lugte noch der Hals einer Bierflasche aus den tiefen Taschen der Moleskinhosen. Ihre Seetauglichkeit hatten sie sich beim Arzt bereits bescheinigen lassen. Auf der Reede erwartete sie ein weiterer Arztbesuch, bevor die Peru Kurs nach Norden nahm. Der Arzt sollte die Besatzung nun auf ansteckende Krankheiten untersuchen, die sie möglicherweise auf die Reise mitnahmen.
Wenn die Männer das nächste Mal ihre Füße an Land setzten, würde dieses mit Eis bedeckt sein und hoch über ihnen würde eine gnadenlose Sonne hängen, die ihnen weder bei Tag noch in der Nacht Ruhe gönnte - als wäre sie an der Himmelswölbung festgenagelt. Sie hatten lange und ausdauernd von der Dunkelheit getrunken, bevor sie das Deck der Peru betraten.
Der Steuermann war ein kleiner drahtiger Mann, der, mit in den Nacken geschobener Mütze, an der Achterluke stand. Jedes Mal, wenn er eine Flasche erspähte, sprang er mit einem Wutanfall auf den Neuankömmling zu.
"Du verfluchter Trunkenbold, glaubst du etwa, du hättest in einem Wirtshaus angeheuert?", brüllte er mit einer Stimme, die aus einem Paar riesiger Lungen zu kommen schien, die nicht recht zur Größe seines Brustkastens passen wollten.
Sein Gesicht, über dessen Wangen und die vorspringende Nase sich kreuz und quer Narben spannten, verzog sich zu unerwarteten Mustern.
"Wenn du das nächste Mal auch nur daran denkst, an einer Bierfasche zu nuckeln, setz ich dich auf dem nächsten Eisberg ab."
Er riss die Flasche aus der Tasche des Sünders, der den Kopf einzog, als erwartete er einen Schlag, und schleuderte sie mit einer geübten Handbewegung über die Reling. Mit einem Plumps landete die Flasche im dreckigen Hafenwasser, wo sie einen Augenblick vor sich hin dümpelte und dann Kurs auf die Mitte der Hafeneinfahrt nahm.
An der Landetreppe hakte der Zahlmeister mit lauter Stimme den Proviant ab, der an Bord gebracht wurde. Geräuchertes, gesalzenes und gekochtes Fleisch, Butter, Stockfisch, Grieß, Schiffszwieback und Dosenbrot, Roggen- und Weizenmehl. Als der Kaffee kam, rief er zwei Sorten aus, brasilianischen und javanischen. Mit einer Spur Bosheit in der Stimme fügte er hinzu, der zweite wäre der Kajütenkaffee, was den Eingeweihten signalisierte, dass der javanische den Offizieren und Passagieren vorbehalten blieb. Dann setzte er seine Aufzählung fort: Tee, Dörrpflaumen, Rosinen und Weinessig, rohe und getrocknete Kartoffeln, Suppenkräuter und Zwiebeln, Weißkohl in rohem und gekochtem Zustand, getrocknete Erbsen und Bohnen, Salz, Reisgrütze, Sago, Melis und Puderzucker.
Der Zahlmeister machte eine Pause, als beabsichtigte er, sich erneut zu einer Unannehmlichkeit zu äußern. Doch diesmal war es der Steuermann, den er herauszufordern gedachte, ja, vielleicht versuchte er geradezu, dessen Autorität zu untergraben. Mit lauter Stimme verkündete der Zahlmeister, dass sich unter dem an Bord gebrachten Proviant auch einhundertzwanzig Liter Branntwein und zehn Tonnen Schiffsbier befänden. Die Männer richteten sich auf, als hätten man ihnen Satisfaktion erteilt.
"Ihr glaubt doch wohl nicht", schrie der Steuermann, als er den Blick der Mannschaft bemerkte, "dass dieser Branntwein für euch ist, ihr Hunde!"
Er riss sich die Mütze vom Kopf und warf sie vor sich auf die Luke, dann begann er, darauf herumzutrampeln, als wäre das in diesem Moment ein Ersatz für eine Schlägerei mit der gesamten Besatzung.
Am Bug des Schiffes stand eine einsame Gestalt mit dem Rücken zu dem Tumult. Carl Rasmussen war nicht viel größer als der Steuermann, aber er schien schwerer zu sein, was möglicherweise an den vielen Schichten von Kleidung lag, die er übereinander trug - als wollte er sich bereits jetzt gegen die arktische Kälte schützen. Auch er reagierte auf die Aufzählung des Zahlmeisters, aber auf eine andere Weise als der Steuermann und die Mannschaft. Er fasste sich an den Bauch, als verursachte ihm die bloße Erwähnung der Speisenfolge, auf die er von nun an viele Monate angewiesen sein würde, bereits Magendrücken.
Die Sonne stand tief. Das Rigg des Schiffs und die Lagerhäuser am Kai warfen lange Schatten in die Hafeneinfahrt. An den Liegeplätzen entlang der Havnegade wurden zwei englische Dampfer mit Butterfässern und Speckseiten beladen. Ein Vieh- hirte trieb eine Herde Kühe vorbei, die beim Anblick der hohen Bordwände in den Morgenhimmel muhte. Auf der anderen Seite des Kongens Nytorv erkannte Rasmussen undeutlich das Hauptkontor der Großen Nordischen Telegrafen-Gesellschaft, deren Gebäude nur noch eine Etage bis zur Fertigstellung fehlte. Die Bäume rund um das Reiterstandbild waren noch nicht ausgeschlagen, aber er wusste, dass den Waldboden im Dyrehave schon lange ein blühender Teppich aus Anemonen bedeckte, und in einigen Tagen würden auch die Buchen ergrünen. Er würde es nicht erleben. Obwohl die Peru noch ein paar Stunden am Kai vertäut liegen bleiben sollte, spürte er, dass er Dänemark bereits verlassen hatte und sich in einer fremden Welt befand.
Er blieb der einzige Passagier an Bord des Schiffs der Königlich Grönländischen Handelsgesellschaft, der Brigg Peru. Er hatte Bauchschmerzen, und es tröstete ihn nicht, dass es sich auf der Peru um ein den Passagieren und Offizieren vorbehaltenes Privileg handelte, Javakaffee trinken zu dürfen. Carl Rasmussen trank keinen Kaffee.
Gegen acht tauchte der Bugsierdampfer auf. Die Taue wurden losgeworfen und die Peru mitten in die viel befahrene Hafeneinfahrt geschleppt, wo sich Schlepper, Schuten, Prahme und Fährboote aus Nyhavn gegenseitig behinderten. Warnrufe waren zu hören, und kräftige Schiffsschrauben peitschten das dreckige Hafenwasser zu schlammigen Schaumkuchen auf. Überall erhoben sich große Speichergebäude, hinter denen die Kirchtürme der Stadt beinahe verschwanden. Weiter südlich hatte die Knippelsbro ihre eisernen Klappen geöffnet. Zu beiden Seiten der Brücke bildeten sich lange Schlangen von Pferdewagen und Fußgängern. Ein Dampfer steckte in der engen Öffnung fest. Er stieß ein Warnsignal aus, und Rauch quoll stoßweise aus dem hohen schlanken Schornstein, als wollte das Schiff mit Maschinenkraft allein versuchen, sich aus dem Griff des Mauerwerks zu befreien. Metall, das sich auf diese ungleiche Kraftprobe eingelassen hatte, scheuerte und kreischte.
Ein Baggerschiff arbeitete an der Vertiefung der Hafeneinfahrt. Das große Holzrad wälzte Schlamm und Schlick vom Meeresboden in einen verrotteten Prahm, der aussah, als könnte er jeden Moment unter dem Gewicht des stinkenden Morasts sinken. Dahinter reckte ein Kohlenkran seine schwarze Eisenkonstruktion in die Luft. Ein verbeultes Eisenfass, das gut und gern einen Mann aufnehmen konnte, wurde in die offene Luke einer vertäuten Schute gefiert. Eine Staubwolke stieg aus dem Laderaum auf, als die Kohlentrimmer zu schaufeln begannen. Vom Kai aus liefen schwarzgesichtige Männer mit vollen Schubkarren über schmale, schaukelnde Bretter, die als Gangway dienten. Erst hin, dann zurück, der gleiche Arbeitsablauf, den ganzen Tag lang.
"Schauen Sie nur, wie sie laufen. Verfluchtes Ameisenleben."
Kapitän Thomsen hatte sich neben den einzigen Passagier des Schiffs an die Reling gestellt. Er zog die Tonpfeife aus dem Mund und spuckte ins Wasser. Die Regelmäßigkeit seines runden Kopfs wurde von einem grau melierten Backenbart unterstrichen, der exakt der Linie seines Kiefers folgte, den größten Teil der Wangen und der Mundpartie aber freiließ. Seine kleinen Augen saßen in eingesunkenen Augenhöhlen; ihr prüfender Blick erschien bisweilen stechend.
"Ich lag mal zum Laden auf dem Jangtse", ergänzte Thom- sen. "In China kannten sie noch keine Schubkarre. Sie trugen ein Joch mit zwei Körben über den Schultern. Aber abgesehen davon ist es das Gleiche."
Nachdenklich blickte er auf den Stadtteil Christiansholm.
"In China laufen sie auch. Die Last ist unmenschlich. Aber sie schleppen sich nicht dahin. Sie setzen nicht vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie rennen. Genau wie diese Halunken dort drüben. Ich hab mal versucht, mir so einen Sack auf den Nacken zu legen. Es ging um eine Wette mit einem Hafenarbeiter.
Ich konnte nicht mal die Füße bewegen. Hundertfünfzig Kilo! Dann zeigte er mir die Technik. >Laufen Sie, Kapitän!
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Autoren-Porträt von Carsten Jensen
Carsten Jensen, geboren 1952, wuchs in Marstal auf. Er studierte in Kopenhagen Literaturwissenschaft und arbeitete als Journalist und Kritiker. Sein literarisches Arbeiten begann er Mitte der neunziger Jahre.Ulrich Sonnenberg, geb. 1955, arbeitete nach seiner Buchhändlerlehre mehrere Jahre in Kopenhagen und war bis Ende 2003 Verkaufsleiter der Verlage Suhrkamp und Insel in Frankfurt am Main. Seit Anfang 2004 lebt und arbeitet er als freier Übersetzer, Herausgeber und Publizist in Frankfurt am Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carsten Jensen
- 2010, 346 Seiten, Maße: 14,4 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Sonnenberg, Ulrich
- Übersetzer: Ulrich Sonnenberg
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813503313
- ISBN-13: 9783813503319
Rezension zu „Rasmussens letzte Reise “
»Das ist ganz große Erzählkunst!«
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