Samira & Samir
Als Samira heranwächst und erkennt, dass Frauen in ihrem Land kein eigenständiges Leben führen können, beschließt sie, sich weiter als Mann auszugeben - bis sie sich verliebt.
Als Samira heranwächst und erkennt, dass Frauen in ihrem Land kein eigenständiges Leben führen können, beschließt sie, sich weiter als Mann auszugeben - bis sie sich verliebt.
Samira &Samir vonSiba Shakib
LESEPROBE
Wenn du ein Geheimnis hast, nimm es,trag es zum Hindukusch und leg
es unter einen Stein.
Ein Mädchen
Ist er tot?
Sei unbesorgt. Er ist so lebendig wie du und ich.
Bist du sicher?
Großer Gott im Himmel. Aus welchem Grund soll er tot sein?
Wenn er nicht tot ist, warum sagt er nichts?
Daria will antworten, kann nicht, beißt die Zähne zusammen, krümmt
sich.
Der Kommandant sieht den Schmerz seiner schönen Frau nicht, erwill
eine Antwort von ihr.
Daria will nicht, dass die Leute in den anderen Zelten sie hören.Sie
erstickt den Schrei in ihrer Kehle. Der Geschmack von Blut kommtin
ihren Mund, macht ihr Angst. Sie verliert die Farbe aus ihremGesicht.
Antworte, sagt der Kommandant.
Lass mich in Ruhe. Daria zischt ihre Worte wie eine Schlange. Kaum
hat sie sie gesprochen, da bereut sie es auch schon. Obwohl erhinter
ihr auf dem Boden hockt, sieht Daria es, der Kommandant erschreckt
sich wie ein Kind, zuckt, zieht seinen Körper zusammen, schlingtdie
Arme um seine Knie, senkt den Blick, macht sich klein, schweigt.
Daria mag es nicht, wenn sie die Geduld verliert und mit ihremMann
schimpft. Sie dreht sich zu ihm herum, lächelt trotz ihresSchmerzes,
sagt, hab Geduld. Gott ist groß. Er wird alles richten. Siespricht
leise. Weil es wichtig ist, was sie zu sagen hat. Weil keinanderer
es hören soll. Nur ihr Kommandant.
Er hebt den Blick, senkt ihn wieder. Schluckt. Umarmt seine Knienicht
mehr, malt mit dem Finger Bilder auf den Boden aus Lehm.Unsichtbare
Bilder. Mein Sohn soll Samir heißen, sagt er und lächelt. Ein halb
trauriges, halb dankbares Lächeln, das nur Daria kennt. Und vorihr
die tote Mutter des Kommandanten. Es ist nicht das Lächeln einesMannes.
Es ist das eines kleinen Jungen. Der Kommandant hat es aus seiner
Kindheit, aus einer Zeit, die er als Damals kennt, in sein Lebenals
Mann mitgebracht.
Damals ist längst verloren. Der Kommandant ist ein Krieger, einBeschützer,
ein Unbesiegbarer, sagen die Leute, senken ihre Stimme, sehen sich
um, und wenn der Kommandant nicht in der Nähe ist, sagen sie, nur
einen Schmerz erträgt er nicht. Das ist der Schmerz, wenn seineFrau
Wut auf ihn hat und mit ihm schimpft.
Niemand weiß das besser als Daria selber. Es würde ihrenKommandanten
töten, würde sie ihm die Liebe, die er braucht, nicht schenken.Davor
hat Daria Angst. Vor seinem Tod und vor Schuld. Deshalb gibt Daria
ihm alles, was er braucht, damit er stark sein kann, damit er ein
ehrlicher und gottesfürchtiger Mann, ein kluger und gerechterKommandant
sein kann, damit er seine Männer führen und sein Volk beschützenkann,
damit er ein gütiger Vater für ihre Kinder werden kann. Daria gibt
ihm, was er braucht, damit sie seinen Schutz nicht verliert.
Samir ist ein schöner Name, sagt Daria, krümmt sich, richtet sichauf.
Ihr Rücken wird zur Wüste, ihre Muskeln werden zu Hügeln aus Sand,
die sich vom Wind hierhin und dorthin tragen lassen.
Der Kommandant hört jedes Wort seiner Daria. Die Gesprochenen unddie
Nichtgesprochenen.
Daria hockt auf dem Boden, sieht nichts, nur das Feuer im Brotofen
und den Topf darauf, in dem das Wasser kocht. Es spricht zu ihr,brodelt
und schimpft. Daria antwortet. Die Blasen sind frech und mutig,springen
aus dem Topf. Manche fängt Daria in der Luft. Manche springen ins
Feuer. Dumme Blasen, sagt Daria halb zu sich selber, halb zumWasser
im Topf. Dumme Blasen, die ins Feuer springen, nur um dort zusterben.
Mit einem Zisch. Dumm wie die Männer, wie die Krieger, dumm wiemein
eigener Mann, der Kommandant, der in den Krieg zieht, nur um zutöten
und, der Tag wird kommen, um selber getötet zu werden.
Am Anfang hat der Kommandant gedacht, seine Daria betrügt ihn.Nach
Tagen im Krieg ist er zurück in seine Hochebene gekommen, hat inseinem
Zelt Stimmen gehört, hat gedacht, seine Frau hat hinter seinemRücken
Leute in sein Zelt gelassen. Er ist vom Pferd gesprungen, hat sich
angeschlichen, hat seinen Dolch gezogen, ist ins Zelt und hat sich
gewundert, dass seine Frau allein ist. Ich wusste nicht, dass dudie
Sprache des Wassers sprichst, hat er gesagt, sich neben seineDaria
gehockt und abwechselnd das Wasser und seine Frau angesehen.
So viel er auch hinhört und es versucht, bis heute kann derKommandant
die Worte, die seine Daria brabbelt, nicht verstehen. Am Anfangwollte
er sie zu ihrem Vater zurückbringen, denn er hat gedacht, sie hat
keinen Verstand. Schließlich spricht kein Mensch, der Verstandhat,
mit dem Wasser. Dann hat er gedacht, besser sie spricht mit demWasser
als mit fremden Männern. (...)
© Goldmann Verlag
Autoren-Porträtvon Siba Shakib
Siba Shakib wurde im Iran geboren und wuchs in Teheran auf.Als Perserin sind ihr Religion, Tradition und Mentalität der Menschen inAfghanistan vertraut. Seit vielen Jahren arbeitet sie dort als Autorin undFilmemacherin. Ihre zum Teil preisgekrönten Dokumentationen, vor allem für dieARD, sind aufrüttelnde Belege für die verheerende Situation der Bevölkerung inAfghanistan. Ihr erstes Buch "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zumWeinen" wurde ein internationaler Bestseller und in 16 Länder verkauft.Die Verfilmung bereitet die Autorin derzeit vor. Sie machte Filme wie"Mahmoody gegen Mahmoody" oder "Eine Hand voll Gras" undbegleitete unter anderem die Skorpions auf ihrer Welttournee. Seit deutscheSoldaten mit dem Mandat der UN in Afghanistan stationiert sind, steht SibaShakib ihnen beratend zur Seite und arbeitet eng mit ISAF (InternationalSecurity Assistance Force) zusammen. Sie lebt abwechselnd in Deutschland, NewYork und Italien.
- Autor: Siba Shakib
- 2003, 1, 287 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570006840
- ISBN-13: 9783570006849
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