Satans Speisekammer
Ein literarisches Festmahl
Ein weiteres Meisterwerk aus der Feder des preisgekrönten britischen Autors. In seinen Miniaturen über Eros und Tod, über Rituale und Grenzüberschreitungen nimmt Jim Crace den Leser mit auf eine sinnliche, heitere und...
Ein weiteres Meisterwerk aus der Feder des preisgekrönten britischen Autors. In seinen Miniaturen über Eros und Tod, über Rituale und Grenzüberschreitungen nimmt Jim Crace den Leser mit auf eine sinnliche, heitere und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Satans Speisekammer “
Ein literarisches Festmahl
Ein weiteres Meisterwerk aus der Feder des preisgekrönten britischen Autors. In seinen Miniaturen über Eros und Tod, über Rituale und Grenzüberschreitungen nimmt Jim Crace den Leser mit auf eine sinnliche, heitere und nachdenkliche Reise durch die Metaphysik des Essens.
Flitterwochen: Ein Musiklehrer und seine junge Frau beschließen, den Vollzug ihrer Ehe noch eine Weile hinauszuzögern: Sie ziehen sich in eine Hütte zurück und leben nur von dem, was sie sammeln und jagen können - bis sie ein Kraut finden, das ein starkes Aphrodisiakum enthält ... In einer anderen Geschichte entwickelt sich eine Einladung zum Käsefondue zum regelrechten Strip-Abend, mit geschmolzenem Käse auf der Haut ... Die sinnlich-appetitlichen Episoden von Jim Graces neuestem Werk nehmen oft überraschende Wendungen hin zum Bizarren und Provokanten. Ein Erlebnis der besonderen Art. Ein überirdischer Genuss eben, wie er sich zum Beispiel in Geschichte 64 manifestiert: "Ach, Süße!"
Ein weiteres Meisterwerk aus der Feder des preisgekrönten britischen Autors. In seinen Miniaturen über Eros und Tod, über Rituale und Grenzüberschreitungen nimmt Jim Crace den Leser mit auf eine sinnliche, heitere und nachdenkliche Reise durch die Metaphysik des Essens.
Flitterwochen: Ein Musiklehrer und seine junge Frau beschließen, den Vollzug ihrer Ehe noch eine Weile hinauszuzögern: Sie ziehen sich in eine Hütte zurück und leben nur von dem, was sie sammeln und jagen können - bis sie ein Kraut finden, das ein starkes Aphrodisiakum enthält ... In einer anderen Geschichte entwickelt sich eine Einladung zum Käsefondue zum regelrechten Strip-Abend, mit geschmolzenem Käse auf der Haut ... Die sinnlich-appetitlichen Episoden von Jim Graces neuestem Werk nehmen oft überraschende Wendungen hin zum Bizarren und Provokanten. Ein Erlebnis der besonderen Art. Ein überirdischer Genuss eben, wie er sich zum Beispiel in Geschichte 64 manifestiert: "Ach, Süße!"
Klappentext zu „Satans Speisekammer “
Flitterwochen: Ein Musiklehrer und seine junge Frau beschließen, den Vollzug ihrer Ehe noch eine Weile hinauszuzögern: Sie ziehen sich in eine Hütte zurück und leben nur von dem, was sie sammeln und jagen können - bis sie ein Kraut finden, das ein starkes Aphrodisiakum enthält ... In einer anderen Geschichte entwickelt sich eine Einladung zum Käsefondue zum regelrechten Strip-Abend, mit geschmolzenem Käse auf der Haut ... Die sinnlich-appetitlichen Episoden von Jim Graces neuestem Werk nehmen oft überraschende Wendungen hin zum Bizarren und Provokanten. Ein Erlebnis der besonderen Art. Ein überirdischer Genuss eben, wie er sich zum Beispiel in Geschichte 64 manifestiert: "Ach, Süße!"
Lese-Probe zu „Satans Speisekammer “
1Jemand hat das Etikett von der Konservendose gelöst - und verloren. Nur zwei glasige Streifen Leim und ein Rest abgerissenes Papier sind davon noch zu sehen. Die Typennummer der Dose - RG2JD 19547 - ist in den Deckel graviert. Oder ist es der Boden? Niemand weiß, wo oben und wo unten ist. Das Blech ist nicht sehr alt.
Sie wollen sie nicht fortwerfen. Es könnte Lachs sein - nicht billig. Oder Thunfischfilets. Oder Ananasringe in Sirup. Wäre doch schade. Guavahälften. Lychees. Lauchsuppe. Geschälte italienische Eiertomaten. Eigentlich sollten sie die Dose öffnen, nachsehen, den Inhalt an Ort und Stelle verspeisen. Oder sich eine Mahlzeit daraus kochen. Es muss etwas sein, das sie mögen oder gemocht haben. Sie steht bei ihnen in der Speisekammer. Sie hatte einmal ein Etikett. Sie haben sie sich ausgesucht.
Sie schütteln die Dose am Ohr. Sie riechen daran. Sie vergleichen sie mit anderen Dosen in der Speisekammer, ob in Form und Größe eine zu ihr passt. Aber so lässt sich auch nicht feststellen, ob sie Bohnen oder Früchte oder Fische enthält. Sie sind wie Kinder vor ihren eingepackten Geburtstagsgeschenken. Werden sie enttäuscht sein? Oder kommt das zum Vorschein, was sie sich gewünscht haben? Ihr Humor ist manchmal recht makaber: Unsägliches ist in der Dose - Babyfleisch, Fingerragout, Hundedreck, Würmer, das Gift von tausend Mambas -, und deshalb klebt kein Etikett drauf.
Eines Abends, sie haben Gäste, und aller Wein ist getrunken, stellen sie die Dose in das Kerzenlicht zwischen die Überreste ihres Mahls und spielen ihr Ratespiel: Vielleicht ist es ein Aphrodisiakum. "Ausprobieren, ausprobieren!" Oder eine Seuche. Soll man die Dose öffnen und sie auslöffeln? Eine Musikkonserve, nie Gehörtes, das plötzlich aus der Dose aufsteigt, verfliegt und nie wieder erklingt? Ein Jungbrunnen? Die menschliche DNS in einer Suppendose? Ein Teufel oder ein Gott?
Welch eine Verlockung, mit dem Messer hineinzustechen. Sie zu verwunden. Sie bluten zu sehen. Welche Farbe
... mehr
hat ihr Blut? Wie mag es schmecken?
Wir alle sollten eine solche Dose haben. Sie rosten lassen. Bis die Ränder rau und braun sind. Sie zur Hand nehmen und schütteln, wenn uns danach ist. Ihre Süße oder Bitterkeit durchschütteln. Die schwappende Schwere hin und her bewegen. Die soßige Schwere. Die Salzlake, die Suppe, das Öl, den Bratensaft. Die Schwere. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten - sie mit Messern verwunden oder sie nie wieder anrühren. 2
Und das ist für den Engel", hat Großmama immer gesagt und einen Streifen Teig herausgerissen, damit ich ihn in den Hof bringen konnte. "Leg ihn so hin, dass er ihn sieht." Manchmal legte ich den Streifen auf die Mauer zur Straße. Manchmal hängte ich ihn über die Wäscheleine. Oder ich legte ihn außen auf die Fensterbank und versteckte mich hinter den Perlen des Küchenvorhangs, um den Engel kommen zu sehen.
Großmutter sagte, beim Teigessen würde ich ihn bestimmt nicht ertappen. "Das sind bloß die gierigen Vögel", erklärte sie. "Der Engel kommt nur, um ihn zu küssen, weil mein Brot sonst nicht aufgeht." Und tatsächlich sah ich jede Menge Vögel angeflogen kommen und an unserem Streifen Teig herumpicken. Und tatsächlich ging Großmamas Brotteig fast jedes Mal auf. Und wenn er einmal nicht aufging, sagte sie, die Vögel hätten dem Engel den ganzen Teig weggepickt, bevor er ihm seinen Kuss aufdrücken konnte.
Aber ich habe nie einen Engel auf der Fensterbank gesehen. Nicht einen einzigen.
Meinen Mädchen war die Vorstellung von Engeln im Garten unheimlich, deshalb sagte ich jedes Mal, wenn wir Brot backten - noch immer im selben Haus, doch dreißig Jahre später, Großmama war lange tot und küsste nun ihrerseits die Engel: "Damit mein Brot gelingt, brauche ich einen Engel in der Küche. Wer küsst mir heute den Teig?" Meine Mädchen rannten um die Wette, um den Teig zu küssen. Ich sehe noch die mehligen Flecken auf ihren Lippen. Und wenn ich die vernarbten kippeligen Laibe aus dem Ofen zog, wollten sie ein Stück Rinde haben, um es in das Honigglas zu tunken oder die Ecken des Pastetentopfes damit auszuwischen. Das war ihr Engelssold. Der Lohn für ihre Küsse.
Jetzt gibt es keine Engel mehr in meiner Küche. Jetzt bin ich die Großmama, und meine Mädchen wohnen zu weit weg, um mich öfter als ein-, zweimal im Jahr zu besuchen. Und ich bin zu steif und zu müde, um mich auf den Weg zu machen, es sei denn, jemand fährt mich mit dem Auto hin. Aber darum bitten mag ich nicht. Also bleibe ich in telefonischer Verbindung. Und ich mache mir Arbeit, so gut es geht. Ich putze das Haus, obwohl es viel zu groß für mich ist. Bei warmem, trockenem Wetter spaziere ich zum Hafen und zu den Läden hinunter und fahre mit dem Taxi wieder heim. Ich halte Topfpflanzen in meinem Garten und auf den Fensterbänken. Ich ernähre mich meist von Konserven, esse Tiefgefrorenes und Päckchensuppen.
Heute Nachmittag will ich mir die Zeit mit Brotbacken vertreiben. Die alten Handgelenke schmerzen, während ich den Teig für die Laibe knete, die wohl meine letzten sind. Für gutes Gelingen habe ich einen Streifen herausgerissen, ihn geküsst und auf die Fensterbank gelegt. Ich habe den Ofen angewärmt, die Formen gefettet und den Teig auf den obersten Rost gestellt. Jetzt stehe ich am Fenster, einen mehligen Flecken auf der Lippe, der warme Duft nach backendem Brot weht durch das Haus, und ich warte darauf, dass die Schatten und die Flügel den Hof füllen und verdunkeln. 3
Keiner weiß ganz genau, wo das Restaurant liegt, auch wenn alle sich einig sind, dass es ein heimlicher, zehrender und alles andere als schöner Marsch dort hinauf ist. Anstiege und tief fliegende Wolken und Schwefelgruben werden uns zusetzen. Eine Reihe kleiner Schwefelquellen werden ihren faulen Eierbrodem über unseren Weg rülpsen. Dann tränen uns die Augen. Die Brust wird uns schwer. Und wir stolpern niesend und halb blind vorwärts, ohne Orientierung, von vereinzelten blauen Wegmarkierungen abgesehen.
Trotzdem wollen wir es wagen. Allein der Ruf des Restaurants lockt uns bei Morgengrauen aus dem Bett. Wir müssen mittags dort sein, wenn wir bei Tageslicht zurück sein wollen. Wir sind zu fünft, fünf Männer, fünf Fremde, durch ein Gelüst vereint.
Das kleine Taxi bringt uns bis zu der Stelle, wo der Fluss dem steinigen Pfad ein Ende setzt, dann stapfen wir durch Wasser in den Wald hinein. Natürlich stapfen wir auch auf die dunkle Seite unseres Selbst, die hungrige Seite, die keine Grenzen kennt. Die Atmosphäre ist erotisch aufgeladen. Wie im Warteraum eines Bordells. Das Menü ist noch nicht aufgefahren. Wir sprechen nicht. Wir stapfen nur, marschieren, klettern. Wir sind erregt.
Es ist ein Restaurant wie tausend andere in diesem Teil der Welt: ein Blockhaus mit offener Veranda und Terrassen mit nebligem Ausblick über das Blätterdach auf die Küste. Ein Hund und Stimmen aus dem Radio begrüßen uns. An einem Stapel Holz lehnt eine Motocross-Maschine. Aber an keinem der zwanzig Tische mit den Bambusstühlen sitzt jemand. Wie es aussieht, sind wir die einzigen Gäste.
Wir stehen herum und warten, räuspern uns, stampfen auf die Bohlen der Veranda, aber es muss erst der Österreicher, erschöpft und ungeduldig, in die Hände klatschen, damit sich jemand blicken lässt. Eine Frau und ein Junge, der zu jung ist, um ihr Sohn zu sein. Die Frau ist gut gekleidet, trägt schweren Schmuck. Wir hätten einen Mann als Kellner vorgezogen.
Sie hat Buschfleisch, wie wir uns wohl gedacht haben, sagt sie. Kebab aus Schlangenfleisch, wenn uns danach sei, oder Gewildertes für Kenner, Kuguar und getrocknete Streifen jeglichen Fleisches, sämtlicher Drüsen, die wir beim Namen zu nennen wagen. Sie hat, sagt sie, nur hat es seinen Preis, Fleisch von einer so gut wie ausgestorbenen Papageienart.
Was noch? Als Hors d'oeuvres empfiehlt sie uns zartgliedrige Spinnen, Mistkäfer und Waldkakerlaken, die (wie einer von uns Männern meint) nach "Pilzen mit einer Spur Gorgonzola" schmecken. Zu trinken? Sie bietet Säfte an, Dosenbier oder Wasser in ein paar überraschenden Geschmacksnoten.
Aber wir sind ja - wie sie sehr wohl weiß - nicht wegen dieser ausgefallenen Speisen gekommen, sondern wegen Curry Nr. 3, dem schärfsten Angebot auf der Speisekarte, dem Fetisch der Berge. Wenn unten in der Stadt das Curry Nr. 2 auf Speisekarten steht, dann weiß jeder gleich, Berghuhn ist im Angebot, sprich Froschschenkel in Currysoße. Aber uns gelüstet es nach Extremerem als Frosch, nach Prähistorischem, Drastischem, Gefährlichem, nach etwas, das bei uns da unten tabu ist. Wir dürfen endlich hoffen, die Grenzen des Geschmacks zu überschreiten.
Also wird sie uns, so rasch es geht, das Curry Nr. 3 servieren. Es ist nicht opportun zu fragen, welches Fleisch hineingeschnitten wird, auch wenn der Junge, der jetzt zu uns hersieht, mit ein paar Zigaretten überredet werden könnte, es uns zu verraten. Wir gehen das volle Risiko ein. Vielleicht sind Eidechsen im Topf oder Insekten, die in keinem Lexikon zu finden sind. Wir sind auf Affen, Ratten, Hunde eingestellt. Auch Innereien kommen in Betracht, der eine oder andere seltene und ausgefallene Körperteil, den wir noch nie gekostet haben, irgendein esoterisches Organ, gelb gefärbt von Kurkuma. Oder vielleicht Baumhai. Iguana-Eier. Fledermausfilet. Mutterkuchen. Hirn. Und wir sollten bedenken, dass seit dem Wochenende ein Kind vermisst wird, dass ein alter Mann verschwunden ist (und nicht vermisst wird), dass eine Touristin nicht in ihr Hotel zurückgekehrt ist; wir sollten die Geopferten, die Kadaver, die Totgeborenen bedenken, die, nach denen keiner mehr fragt.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, wie flüchtig das Gefühl der Erfüllung sein wird, gefolgt von übersättigtem Verdruss, der uns ohne Frage überkommen wird, wenn wir erst, gut gefüttert, den Abstieg zur Küste in Angriff nehmen, nicht als Gruppe, sondern verstreut, fünf müde reuevolle Sünder, belastet von Verderbtheit, bedrängt von Schwefelwolken, vorangetrieben von nicht viel mehr als stolpernder Gravitation.
Wie still der Wald jetzt ist, da volle Bäuche uns die Sinne trüben. Wie achtlos und hastig wir den Weg zurück zum Fluss und zur Straße hinter uns bringen. Wie müde und ausgelaugt. Leichte Beute für wildernde Hunde und Schlangen. Den Mücken und Wespen ein preiswerter Fraß. Kadaver könnten sich im Unterholz aufrichten und uns, wäre ihnen danach zumute, an den Beinen packen. Denn wir haben keinen Hunger mehr. Wir haben den Weg zum Restaurant gefunden, und er war zehrend. 4
Jetzt sage ich Ihnen, was nachts im Freien am besten schmeckt. Kalte Speisen können Sie getrost vergessen. Der Schlüssel zum Essen im Dunkeln ist Dampf. Und kaltes Essen dampft nicht, außer Eis. Nein, wärmen Sie die Nacht mit dampfender Suppe auf, einem Dutzend Speisen in einer. Sie können Möhren erst im Mund von Bohnen unterscheiden, und Lauch von Zwiebeln nicht einmal dann.
Die Schüssel darf nicht flach sein, sondern bauchig, mit einem breiten Rand, damit der Dampf sich ringeln muss und sich in der Mitte sammelt. Der Dampf enthält den Geruch. So wärmen Sie sich die Nase am Geruch und den Mund am Geschmack und die Hände an der Schüssel. Sie müssen natürlich im Stehen essen, mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Reden Sie nicht. Dafür ist keine Zeit. Alles muss aufgegessen sein, bevor der Dampf verflogen ist.
Wenn Sie aufgegessen haben, bleibt ein abkühlender Rest Dampf zurück. Er kauert in der Schüssel. Er traut sich nicht hinaus in Kälte und Nacht. Und wenn Sie die Schüssel in der Hand behalten, und wenn Sie das Gesicht gegen den Schüsselrand pressen, und wenn Sie die Augen so fest schließen, dass die Dunkelheit vollkommen ist, dann küssen Dampf und Geruch Ihnen Lippen und Lider und machen Sie bereit für die sanften Enzyme der Nacht.
Wir alle sollten eine solche Dose haben. Sie rosten lassen. Bis die Ränder rau und braun sind. Sie zur Hand nehmen und schütteln, wenn uns danach ist. Ihre Süße oder Bitterkeit durchschütteln. Die schwappende Schwere hin und her bewegen. Die soßige Schwere. Die Salzlake, die Suppe, das Öl, den Bratensaft. Die Schwere. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten - sie mit Messern verwunden oder sie nie wieder anrühren. 2
Und das ist für den Engel", hat Großmama immer gesagt und einen Streifen Teig herausgerissen, damit ich ihn in den Hof bringen konnte. "Leg ihn so hin, dass er ihn sieht." Manchmal legte ich den Streifen auf die Mauer zur Straße. Manchmal hängte ich ihn über die Wäscheleine. Oder ich legte ihn außen auf die Fensterbank und versteckte mich hinter den Perlen des Küchenvorhangs, um den Engel kommen zu sehen.
Großmutter sagte, beim Teigessen würde ich ihn bestimmt nicht ertappen. "Das sind bloß die gierigen Vögel", erklärte sie. "Der Engel kommt nur, um ihn zu küssen, weil mein Brot sonst nicht aufgeht." Und tatsächlich sah ich jede Menge Vögel angeflogen kommen und an unserem Streifen Teig herumpicken. Und tatsächlich ging Großmamas Brotteig fast jedes Mal auf. Und wenn er einmal nicht aufging, sagte sie, die Vögel hätten dem Engel den ganzen Teig weggepickt, bevor er ihm seinen Kuss aufdrücken konnte.
Aber ich habe nie einen Engel auf der Fensterbank gesehen. Nicht einen einzigen.
Meinen Mädchen war die Vorstellung von Engeln im Garten unheimlich, deshalb sagte ich jedes Mal, wenn wir Brot backten - noch immer im selben Haus, doch dreißig Jahre später, Großmama war lange tot und küsste nun ihrerseits die Engel: "Damit mein Brot gelingt, brauche ich einen Engel in der Küche. Wer küsst mir heute den Teig?" Meine Mädchen rannten um die Wette, um den Teig zu küssen. Ich sehe noch die mehligen Flecken auf ihren Lippen. Und wenn ich die vernarbten kippeligen Laibe aus dem Ofen zog, wollten sie ein Stück Rinde haben, um es in das Honigglas zu tunken oder die Ecken des Pastetentopfes damit auszuwischen. Das war ihr Engelssold. Der Lohn für ihre Küsse.
Jetzt gibt es keine Engel mehr in meiner Küche. Jetzt bin ich die Großmama, und meine Mädchen wohnen zu weit weg, um mich öfter als ein-, zweimal im Jahr zu besuchen. Und ich bin zu steif und zu müde, um mich auf den Weg zu machen, es sei denn, jemand fährt mich mit dem Auto hin. Aber darum bitten mag ich nicht. Also bleibe ich in telefonischer Verbindung. Und ich mache mir Arbeit, so gut es geht. Ich putze das Haus, obwohl es viel zu groß für mich ist. Bei warmem, trockenem Wetter spaziere ich zum Hafen und zu den Läden hinunter und fahre mit dem Taxi wieder heim. Ich halte Topfpflanzen in meinem Garten und auf den Fensterbänken. Ich ernähre mich meist von Konserven, esse Tiefgefrorenes und Päckchensuppen.
Heute Nachmittag will ich mir die Zeit mit Brotbacken vertreiben. Die alten Handgelenke schmerzen, während ich den Teig für die Laibe knete, die wohl meine letzten sind. Für gutes Gelingen habe ich einen Streifen herausgerissen, ihn geküsst und auf die Fensterbank gelegt. Ich habe den Ofen angewärmt, die Formen gefettet und den Teig auf den obersten Rost gestellt. Jetzt stehe ich am Fenster, einen mehligen Flecken auf der Lippe, der warme Duft nach backendem Brot weht durch das Haus, und ich warte darauf, dass die Schatten und die Flügel den Hof füllen und verdunkeln. 3
Keiner weiß ganz genau, wo das Restaurant liegt, auch wenn alle sich einig sind, dass es ein heimlicher, zehrender und alles andere als schöner Marsch dort hinauf ist. Anstiege und tief fliegende Wolken und Schwefelgruben werden uns zusetzen. Eine Reihe kleiner Schwefelquellen werden ihren faulen Eierbrodem über unseren Weg rülpsen. Dann tränen uns die Augen. Die Brust wird uns schwer. Und wir stolpern niesend und halb blind vorwärts, ohne Orientierung, von vereinzelten blauen Wegmarkierungen abgesehen.
Trotzdem wollen wir es wagen. Allein der Ruf des Restaurants lockt uns bei Morgengrauen aus dem Bett. Wir müssen mittags dort sein, wenn wir bei Tageslicht zurück sein wollen. Wir sind zu fünft, fünf Männer, fünf Fremde, durch ein Gelüst vereint.
Das kleine Taxi bringt uns bis zu der Stelle, wo der Fluss dem steinigen Pfad ein Ende setzt, dann stapfen wir durch Wasser in den Wald hinein. Natürlich stapfen wir auch auf die dunkle Seite unseres Selbst, die hungrige Seite, die keine Grenzen kennt. Die Atmosphäre ist erotisch aufgeladen. Wie im Warteraum eines Bordells. Das Menü ist noch nicht aufgefahren. Wir sprechen nicht. Wir stapfen nur, marschieren, klettern. Wir sind erregt.
Es ist ein Restaurant wie tausend andere in diesem Teil der Welt: ein Blockhaus mit offener Veranda und Terrassen mit nebligem Ausblick über das Blätterdach auf die Küste. Ein Hund und Stimmen aus dem Radio begrüßen uns. An einem Stapel Holz lehnt eine Motocross-Maschine. Aber an keinem der zwanzig Tische mit den Bambusstühlen sitzt jemand. Wie es aussieht, sind wir die einzigen Gäste.
Wir stehen herum und warten, räuspern uns, stampfen auf die Bohlen der Veranda, aber es muss erst der Österreicher, erschöpft und ungeduldig, in die Hände klatschen, damit sich jemand blicken lässt. Eine Frau und ein Junge, der zu jung ist, um ihr Sohn zu sein. Die Frau ist gut gekleidet, trägt schweren Schmuck. Wir hätten einen Mann als Kellner vorgezogen.
Sie hat Buschfleisch, wie wir uns wohl gedacht haben, sagt sie. Kebab aus Schlangenfleisch, wenn uns danach sei, oder Gewildertes für Kenner, Kuguar und getrocknete Streifen jeglichen Fleisches, sämtlicher Drüsen, die wir beim Namen zu nennen wagen. Sie hat, sagt sie, nur hat es seinen Preis, Fleisch von einer so gut wie ausgestorbenen Papageienart.
Was noch? Als Hors d'oeuvres empfiehlt sie uns zartgliedrige Spinnen, Mistkäfer und Waldkakerlaken, die (wie einer von uns Männern meint) nach "Pilzen mit einer Spur Gorgonzola" schmecken. Zu trinken? Sie bietet Säfte an, Dosenbier oder Wasser in ein paar überraschenden Geschmacksnoten.
Aber wir sind ja - wie sie sehr wohl weiß - nicht wegen dieser ausgefallenen Speisen gekommen, sondern wegen Curry Nr. 3, dem schärfsten Angebot auf der Speisekarte, dem Fetisch der Berge. Wenn unten in der Stadt das Curry Nr. 2 auf Speisekarten steht, dann weiß jeder gleich, Berghuhn ist im Angebot, sprich Froschschenkel in Currysoße. Aber uns gelüstet es nach Extremerem als Frosch, nach Prähistorischem, Drastischem, Gefährlichem, nach etwas, das bei uns da unten tabu ist. Wir dürfen endlich hoffen, die Grenzen des Geschmacks zu überschreiten.
Also wird sie uns, so rasch es geht, das Curry Nr. 3 servieren. Es ist nicht opportun zu fragen, welches Fleisch hineingeschnitten wird, auch wenn der Junge, der jetzt zu uns hersieht, mit ein paar Zigaretten überredet werden könnte, es uns zu verraten. Wir gehen das volle Risiko ein. Vielleicht sind Eidechsen im Topf oder Insekten, die in keinem Lexikon zu finden sind. Wir sind auf Affen, Ratten, Hunde eingestellt. Auch Innereien kommen in Betracht, der eine oder andere seltene und ausgefallene Körperteil, den wir noch nie gekostet haben, irgendein esoterisches Organ, gelb gefärbt von Kurkuma. Oder vielleicht Baumhai. Iguana-Eier. Fledermausfilet. Mutterkuchen. Hirn. Und wir sollten bedenken, dass seit dem Wochenende ein Kind vermisst wird, dass ein alter Mann verschwunden ist (und nicht vermisst wird), dass eine Touristin nicht in ihr Hotel zurückgekehrt ist; wir sollten die Geopferten, die Kadaver, die Totgeborenen bedenken, die, nach denen keiner mehr fragt.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, wie flüchtig das Gefühl der Erfüllung sein wird, gefolgt von übersättigtem Verdruss, der uns ohne Frage überkommen wird, wenn wir erst, gut gefüttert, den Abstieg zur Küste in Angriff nehmen, nicht als Gruppe, sondern verstreut, fünf müde reuevolle Sünder, belastet von Verderbtheit, bedrängt von Schwefelwolken, vorangetrieben von nicht viel mehr als stolpernder Gravitation.
Wie still der Wald jetzt ist, da volle Bäuche uns die Sinne trüben. Wie achtlos und hastig wir den Weg zurück zum Fluss und zur Straße hinter uns bringen. Wie müde und ausgelaugt. Leichte Beute für wildernde Hunde und Schlangen. Den Mücken und Wespen ein preiswerter Fraß. Kadaver könnten sich im Unterholz aufrichten und uns, wäre ihnen danach zumute, an den Beinen packen. Denn wir haben keinen Hunger mehr. Wir haben den Weg zum Restaurant gefunden, und er war zehrend. 4
Jetzt sage ich Ihnen, was nachts im Freien am besten schmeckt. Kalte Speisen können Sie getrost vergessen. Der Schlüssel zum Essen im Dunkeln ist Dampf. Und kaltes Essen dampft nicht, außer Eis. Nein, wärmen Sie die Nacht mit dampfender Suppe auf, einem Dutzend Speisen in einer. Sie können Möhren erst im Mund von Bohnen unterscheiden, und Lauch von Zwiebeln nicht einmal dann.
Die Schüssel darf nicht flach sein, sondern bauchig, mit einem breiten Rand, damit der Dampf sich ringeln muss und sich in der Mitte sammelt. Der Dampf enthält den Geruch. So wärmen Sie sich die Nase am Geruch und den Mund am Geschmack und die Hände an der Schüssel. Sie müssen natürlich im Stehen essen, mit hochgeschlagenem Mantelkragen. Reden Sie nicht. Dafür ist keine Zeit. Alles muss aufgegessen sein, bevor der Dampf verflogen ist.
Wenn Sie aufgegessen haben, bleibt ein abkühlender Rest Dampf zurück. Er kauert in der Schüssel. Er traut sich nicht hinaus in Kälte und Nacht. Und wenn Sie die Schüssel in der Hand behalten, und wenn Sie das Gesicht gegen den Schüsselrand pressen, und wenn Sie die Augen so fest schließen, dass die Dunkelheit vollkommen ist, dann küssen Dampf und Geruch Ihnen Lippen und Lider und machen Sie bereit für die sanften Enzyme der Nacht.
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Autoren-Porträt von Jim Crace
Jim Crace, geb. 1946 in Hertfordshire, nach Studium Wegzug in den Sudan und nach Botswana. Zurück in Großbritannien, tätig als Journalist hauptsächlich für 'The Sunday Times' und 'The Daily Telegraph'. Heute freier Autor, er lebt mit seiner Familie in Birmingham. Zahlreiche Romanveröffentlichungen mit Übersetzungen in mehr als 15 Sprachen. Ausgezeichnet u. . mit dem Whitbread Novel of the Year, den E. M. Forster Award und Nominierung für den Booker Prize.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jim Crace
- 2002, 1, 207 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Walter Ahlers
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813502015
- ISBN-13: 9783813502015
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