Schattenspieler
Eine untergehende Welt. Ein verschollener Schatz. Ein Gegner ohne Gesicht
Berlin, 1945: Als die Rote Armee heranrückt, liegt die Hauptstadt bereits in Schutt und Asche. Zwischen den Trümmern kreuzen sich zufällig die Wege von Friedrich und dem jüdischen Jungen Leo. Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel: Irgendwo in Berlin wird ein...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schattenspieler “
Berlin, 1945: Als die Rote Armee heranrückt, liegt die Hauptstadt bereits in Schutt und Asche. Zwischen den Trümmern kreuzen sich zufällig die Wege von Friedrich und dem jüdischen Jungen Leo. Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel: Irgendwo in Berlin wird ein unvorstellbar wertvoller Kunstschatz versteckt. Ein hoher SS-Offizier möchte ihn noch vor Kriegsende beiseiteschaffen. Leo und Friedrich merken schon bald: Ihr Gegner schreckt vor nichts zurück... Brilliant recherchiert und fesselnd erzählt! Ab 14 J.
Klappentext zu „Schattenspieler “
April 1945: Berlin liegt in Schutt und Asche, und die Rote Armee steht bereits vor den Toren der Hauptstadt. In den Wirren der letzten Kriegstage kreuzen sich die Wege von Friedrich und dem jüdischen Jungen Leo, der die Nazizeit in dunklen Kellern überleben konnte. Beide sind auf der Jagd nach einem großen Geheimnis: Irgendwo in Berlin liegt ein unsagbar wertvoller Schatz verborgen, den ein hochrangiger SS-Offizier vor Kriegsende noch schnell beiseiteschaffen will. Bald finden die Freunde eine heiße Spur. Doch die Zeit wird knapp, denn Friedrich und Leo sitzt ein mächtiger Gegner im Nacken, der vor nichts zurückschreckt.
Lese-Probe zu „Schattenspieler “
Schattenspieler von Michael Römling1. Kapitel
»Er soll uns bleiben, was er uns ist und immer war«, schnarrte die Stimme aus dem Radio.
Wilhelm verdrehte die Augen. »Unser Hitler«, äffte er den Minister durch zusammengepresste Lippen nach.
»Unser Hitler«, echote Goebbels. Die ersten Klänge der Nationalhymne quollen aus dem Apparat, eingebettet in eine Geräuschkulisse aus Knacken und Rauschen.
Leo und er standen am Fenster in Wilhelms riesigem Wohnzimmer und blickten hinaus auf die Kurfürstenstraße. Hinter ihnen tickte die Standuhr. Von der Höhe des fünften Stockwerks aus konnte man durch die ausgebrannten Dächer der gegenüberliegenden Häuserzeile in die gähnende Leere dahinter blicken. Der ganze Straßenzug war bis auf wenige Ausnahmen ein seelenloses Gerippe aus Ruinen, das von Brandschutz-mauern und Fassaden mehr schlecht als recht zusammengehalten wurde. Die Brände hatten schwarze Schleier über den klaffenden Fenstern hinterlassen und die Sprengbomben alle Zwischendecken herausgerissen. An einigen Stellen waren ganze Häuser regelrecht pulverisiert worden. Die Schutthaufen lagen wie die Ausläufer von Schneelawinen zwischen den noch stehenden Häusern auf dem Bürgersteig. Verbogene Heizungsrohre und Balken ragten in den Himmel. Es war fast niemand auf der Straße unterwegs.
»Unser Hitler«, wiederholte Wilhelm verächtlich. »Dürfte sein letzter Geburtstag gewesen sein. Glückwunsch auch von uns.«
»Warum hörst du dir das überhaupt an?«, fragte Leo. »Weil ich neugierig bin, wie groß der Abstand zwischen Wahn und Wirklichkeit noch werden kann.«
»Wahn und Wirklichkeit«, murmelte Leo.
»Ja.« Wilhelm kam in Fahrt. »Der Wahn ist ein Ballon, die Wirklichkeit der Boden. Verstehst
... mehr
du?«
»Natürlich.«
»Der Ballon steigt immer höher, weil sie immer mehr heiße Luft reinpusten. Und je höher der Ballon steigt, desto stärker spannt er sich, weil die Luft außen immer dünner wird. Und desto lauter wird der Knall, wenn der Ballon platzt. Sie wissen, dass das passieren wird. Und trotzdem pusten sie immer weiter heiße Luft rein.«
»Warum? Damit es lauter knallt?«
»Ja. Und damit sie den Absturz auf den Boden der Wirklichkeit auch bloß nicht überleben.«
»Das glaub ich nicht. Jeder will doch überleben.«
»Sicher. Die meisten warten auch nur auf den richtigen Moment, um mit dem Fallschirm auszusteigen. Den Letzten vernebelt die dünne Luft da oben offenbar den Verstand. Aber
wer noch ein Fünkchen davon hat, der springt und rettet sich. Unser Reichsmarschall zum Beispiel. Der hat sich heute nach Bayern abgesetzt.«
Leo schaute seinen dreißig Jahre älteren Freund an. »Woher weißt du so was immer?«
Wilhelm lächelte dünn, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. »Glaub es mir. Göring ist auf dem Weg nach Berchtesgaden.«
Unwillkürlich stellte Leo sich Görings aufgedunsene Gestalt vor, die schnaufend aus dem Korb eines Fesselballons kletterte.
Wilhelm hatte den gleichen Gedanken. »Damit wäre der letzte nennenswerte Ballast von Bord. Und jetzt überleg mal, wie schnell der Ballon erst ohne den Dicken steigt!«
Eine Weile lachten beide leise vor sich hin. Unten fuhren zwei Möbelwagen vor. Spedition Knauer stand in verblichenen Lettern auf den Planen. Die Fahrer rangierten eine Weile, bis die Laster quer auf der Straße standen. Auf eine Hauswand dahinter hatte jemand in weißen Druckbuchstaben »Siegen oder Sterben!« gepinselt. Der Schriftzug wurde zum Ende hin immer kleiner, weil der Abstand zum Hauseingang rechts davon offenbar falsch eingeschätzt worden war.
»Und während sie oben in ihrem Ballon auf den großen Knall warten, treffen Wahn und Wirklichkeit hier unten schon aufeinander. Verstehst du, was ich meine?«
Wilhelm zeigte auf den aufgemalten Schriftzug. »Früher standen Hunderttausend Leute wie mit dem Lineal gezogen im Karree und schrien: >Führer befiehl, wir folgen!< Es war zum Kotzen. Aber man hat ihnen sofort geglaubt, dass sie die ganze Welt in Brand setzen.«
»Und heute können sie keine drei Wörter mehr ordentlich an eine Wand pinseln. Und trotzdem soll man ihnen glauben, dass sie den Krieg gewinnen werden«, sagte Leo.
»Genau. Und jetzt frage ich mich: Glaubt so einer wirklich, was er da schreibt?«
»Vielleicht hat ihn jemand dazu gezwungen. Schreib das, sonst erschieß ich dich!«
Wilhelm lachte spöttisch auf. »Genau das wird der mit dem Pinsel hinterher auch sagen: Ich hab doch nur geschrieben, was man mir befohlen hat! Aber weißt du, was? Es wäre nicht so weit gekommen, wenn nicht jede Menge Leute viel mehr getan hätten, als sie mussten.«
Wilhelm verstummte, und wieder wusste Leo, dass sein Freund das Gleiche dachte wie er. Wilhelm sprach leise weiter. »Das sind die Leute, die deine Eltern an die Gestapo verpfiffen haben, Leo. Die laufen jetzt durch die Straßen und pinseln solche Sätze an die Wände.«
Wilhelm starrte auf die Mauer mit dem Satz. Er schien jetzt richtig wütend zu sein. »Siegen oder Sterben. Das ganze hirnlose Pathos. Die ganze lächerliche Unzulänglichkeit und die Großmäuligkeit, mit der alles übertüncht wird. Diese ganzen Ignoranten, die früher Schnoddrigkeit mit Schneid verwechselt haben und heute Halsstarrigkeit mit Entschlossenheit und jederzeit Arschkriecherei mit Disziplin. Siegen oder Sterben. Ist alles in diesem Satz enthalten, so wie er da steht.«
Auf der Straße war inzwischen ein Trupp älterer Männer er-
schienen, die eine Kette bildeten und einen der Möbelwagen mit Schutt zu beladen begannen. Die Straße hallte wider vom hohlen Poltern der Brocken auf dem Holzboden der Ladefläche. Es dröhnte, als zwei Mann einen Heizkörper hineinwarfen. Eine Panzersperre auf Rädern, die keinen Panzer länger als eine Minute aufhalten würde.
Sie schwiegen eine Weile. Leo dachte an seine Eltern und hatte einen Kloß im Hals.
Wilhelm blickte ihn an. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen.
»Es stehen aber auch noch andere Sachen an der Wand«, sagte er. »Ich hab's gesehen, gestern in der Kantstraße. Sie waren gerade dabei, es in aller Hast zu übertünchen.«
»Was stand da?«
»Nein.«
»Wie, nein?«
»Nein. Nur das eine Wort. Und weißt du, was das Grandiose dabei ist?«
Leo ahnte, worauf Wilhelm hinauswollte, aber er ließ ihn weiterreden. Wilhelm konnte die Dinge besser auf den Punkt bringen.
»Dieses Nein ist für sie viel schlimmer als >Nieder mit Hitler!< oder >Die Kommune lebt!<. Das sind Parolen. Dieses Nein ist eine Haltung.«
Leo verstand. »Und eine Einladung zum Selberdenken«, sagte er.
Wilhelm nickte. »Falls dazu noch jemand fähig ist hierzulande.«
»Vielleicht lernen sie's wieder.«
»Ich glaube eher, sie konnten es noch nie.«
»Dann wird es jetzt Zeit dafür.«
Wilhelm blickte ihn mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Rührung an. »Unglaublich, dass so etwas ausgerechnet von dir kommt.« Er machte eine Pause und schluckte. Unten dröhnten die Trümmer im Sekundentakt auf der Ladefläche des Möbelwagens.
Wilhelm holte Luft. »Wenn du das kannst, dann muss ich es wohl auch glauben.«
»Werd nicht pathetisch.«
»Im Ernst. Ich würde dich ja sonst beleidigen.«
Leo wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment jaulte die erste Sirene los. Eine zweite fiel ein, dann eine dritte.
Wilhelm seufzte auf. »Unsere Befreier kommen. Ab in den Keller.«
Ohne übermäßige Eile packten sie ein paar Sachen in einen bereitstehenden Koffer. Der ständige Wechsel zwischen Luftschutzkeller und Wohnung - wenn man noch eine hatte - war den Berlinern vertraut wie ein religiöses Ritual, das man als Kind gelernt hat und von dem man als Erwachsener nicht lassen kann. Die Sirenen waren die Glocken, der Keller war die Kirche. Wenn es losging, wurde gebetet, und wenn es vorbei war, ging man zurück.
Dennoch war es bei Wilhelm etwas anders. Im Keller war fast nie jemand. Das Haus war schwer zerstört, aber während Bomben und Brandsätze sich üblicherweise von oben durch die Stockwerke fraßen, waren hier das Dach und Wilhelms Wohnung völlig unversehrt, während der untere Teil des Hauses ausgebrannt war, nachdem ein paar Bomben das Dach über der Nachbarwohnung durchschlagen hatten und weiter unten im Haus explodiert waren. Das anschließende Feuer hatte die ersten vier Stockwerke verwüstet, aber dann hatte die Feuerwehr die Brände unter Kontrolle bekommen und Wilhelms Wohnung war, abgesehen von den zerborstenen Scheiben, den versengten Tapeten und den vom Löschwasser ruinierten Teppichen, wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben. Seitdem lebte Wilhelm praktisch allein in dem großen Haus und kurz darauf hatte er Leo zu sich geholt.
Es war Leo ein Rätsel, warum Wilhelm die riesige Etage bewohnen konnte, ohne dass man ihm eine oder zwei ausgebombte Familien einquartierte. Mindestens genauso merkwürdig war, dass man Wilhelm noch nicht eingezogen hatte. Überhaupt war vieles an Wilhelm rätselhaft. Und so gern er auch schwadronierte: Über diese Dinge sprach Wilhelm nie. Wenn Leo ihn fragte, lächelte er nur das dünne, amüsierte Lächeln, mit dem ein Schauspieler die Affäre mit seiner zauberhaften Filmpartnerin nicht bestätigt und nicht dementiert.
Wilhelm schnallte den Koffer zu und gab Leo einen Klaps auf die Schulter. Sie verließen die Wohnung und traten ins Treppenhaus.
Auf dem Treppenabsatz im vierten Stock blieb Wilhelm plötzlich stehen, drehte sich zu Leo um und hielt sich einen Finger vor den Mund. Leo erstarrte und blieb wie angewachsen stehen, während Wilhelm zum dritten und dann zum zweiten Stock hinunterschlich. Zwischen den Metallstäben sah Leo, wie sein Freund über das Geländer nach unten spähte. Irgendwo hallten Schritte, aber Leo war der Blick durch die Treppe versperrt. Wilhelm schien dagegen umso mehr zu sehen. Er schaute nach oben, als hätte er Leos Blick im Nacken gespürt, und machte ein wedelndes Zeichen mit der Hand. Leo schlug das Herz bis zum Hals, dann begriff er und schlich zurück in den fünften Stock. In diesem Augenblick setzte die Sirene wieder ein und schluckte seine Schritte.
Ein paar Augenblicke später war Wilhelm bei ihm.
»Was ist los?«, flüsterte Leo trotz der Sirene. »Der Luftschutzwart?«
»Von wegen«, gab Wilhelm leise zurück. »Zwei von der SS. General Heldenklau braucht noch Leute. Die durchkämmen das Haus.«
»Zum Dachboden?«
»Was sonst? Beeil dich, sie sind noch im Keller.«
Der Dachboden war die letzte Zuflucht. Vom obersten Absatz aus hatte eine Holztreppe nach oben geführt, die Wilhelm entfernt und durch eine Strickleiter ersetzt hatte, nachdem Leo zu ihm gekommen war. Wenn die Strickleiter oben und die Luke geschlossen war, sah es fast so aus, als gäbe es keinen Aufgang. Natürlich konnte man die Luke erkennen, wenn man genau hinsah, und sicherlich mussten ungebetene Besucher irgendwann darauf kommen, dass der Weg zum Dachboden nur über diesen Treppenabsatz führen konnte. Aber man gewann Zeit, um die Strickleiter verschwinden zu lassen und die Rückwand von der großen Kiste abzuziehen, die ganz hinten in der Ecke unter der Dachschräge stand. Die Kiste hatte einen doppelten Boden. Der obere Teil war mit Löschsand gefüllt, der untere Teil barg einen Hohlraum, in den man von hinten hineinkriechen konnte. Wenn man dann von innen die Rückwand wieder davorzog, war man praktisch unsichtbar, denn wer den Deckel der Kiste öffnete, sah nichts als Sand.
Leo folgte Wilhelm nach oben. Sie zogen die Leiter ein und warteten, bis die Sirene wieder aussetzte. Unten im Haus war Türenschlagen zu hören, eine Stimme rief etwas wie zur Bestätigung, dann folgten wieder Schritte auf der Treppe.
»Klappe zu und zum Unterstand. Das ist sicherer«, sagte Wilhelm knapp und schloss die Luke. Leo sah, dass er angespannt war, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte.
Sie gingen zu dem Unterstand für den Luftschutzwart, der wie ein winziges Häuschen mit einem Dach aus Stahlplatten unter den Dachfirst gezimmert war. Ein schwacher Schutz, aber besser als gar keiner.
Wilhelm hockte sich hinter Leo auf einen Balken und blickte durch die schmale Öffnung im First nach draußen. »Keine Sorge«, sagte er direkt neben Leos Ohr. »Sie kommen schon nicht hierher.«
Leo fragte sich, ob Wilhelm die meinte, die das Haus bombardieren wollten, oder die, die es gerade durchsuchten.
Die Sirene verstummte.
Und dann kamen die Flugzeuge.
Kapitel 2
Einen Augenblick war alles still. Dann kroch das Brummen der viermotorigen Maschinen heran, unterbrochen vom erneuten Aufjaulen der Sirenen. Es waren viele, vielleicht fünfzig oder noch mehr. Ab und zu blitzte etwas in der schon tief stehenden Sonne auf. Kurz darauf begann in der Ferne die Flak verhalten zu donnern. Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann blubberten die explodierenden Flakgranaten lautlos und in schneller Folge als winzige Wölkchen unterhalb der Flotte auf wie hastig und gedankenlos hingetupft.
Der Bomberstrom fraß sich unbeirrbar durch den Himmel auf sie zu. Begleitjäger an den Flanken der vierstöckig gestaffelten Kolonne tauchten ab, stürzten sich in die Tiefe, fingen sich, flogen Schleifen und schlossen von hinten auf. Als die Sirenen wieder aussetzten, war das Brummen der Angreifer zu einem Dröhnen angeschwollen, das den ganzen Dachboden in Vibrationen versetzte. Die Konturen der Maschinen wuchsen langsam aus dem violetten Himmel. Die gläsernen Kanzeln der Bordschützen wurden zwischen dem Flirren der Rotoren erkennbar. Auch die Wolken der explodierenden Flakgranaten arbeiteten sich dichter heran. Hier und da zuckte es zwischen den Flugzeugen auf, aber getroffen wurde keins von ihnen. Hinter dem ersten Bomberschwarm tauchte ein zweiter auf.
Leo starrte gebannt auf die Flugzeuge. Er kannte solche Angriffe nur aus dem Keller als eine Abfolge von Jaulen, Dröhnen, Hämmern, Rauschen und Beben. Dort unten schien dieses Inferno aus der Erde selbst zu kommen, als Geräuschkulisse zum Aufflackern bleicher Gesichter und ineinander-gekrallter Hände. Und während ihn und alle anderen in den Katakomben immer das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins beherrscht hatte, stellte er nun verwundert fest, dass er Auge in Auge mit dem Hornissenschwarm der Bomber viel ruhiger war als jemals zuvor. Das Verstecken hatte ein Ende. Fast kam es ihm vor, als flöge er auf die Maschinen zu und nicht umgekehrt, als könnte er zum ersten Mal seit Jahren selbst bestimmen, wem er gegenübertreten durfte. Kein Wegducken mehr. Kein Misstrauen, das nach Papieren verlangte.
Als die Flak vom Zoobunker aus zu wummern anfing, begann Leo zu schreien. Das Dröhnen war noch lauter geworden, alles bebte. Der zweite Schwarm schwenkte jetzt ab. Eine Maschine nach der anderen kippte aus dem Zug, sackte nach rechts weg und ging nach wenigen Augenblicken wieder auf Kurs. Sofort fand die Formation wieder zusammen. Erneut blitzten Sonnenreflexe auf.
»Die ziehen an uns vorbei«, rief Wilhelm ihm ins Ohr und schüttelte Leos Schultern. »Die wollen zum Regierungsviertel!«
»Geburtstagsfeuerwerk für den Führer!«, schrie Leo zurück und lachte wie irre.
Wie auf ein Zeichen Hinkten die Bomber der ersten Welle vor ihnen die Ladung aus. Schwarze Punkte erschienen wie Kaulquappenschwärme hinter den Flugzeugen vor dem Abendhimmel, dann schwebten die Maschinen über sie hinweg und verschwanden aus dem Blickfeld. Das Dröhnen der Motoren war jetzt überall. Die Bomben fielen und fielen, lösten sich aus Knäueln, bildeten lose Ketten, Zugvögel im Landeanflug.
Leo krallte sich an dem Balken fest, auf dem er saß. Ein Splitter bohrte sich unter einen Fingernagel, er spürte es wie durch eine dicke Watteschicht. Etwas zischte mehrstimmig durch die Luft. Um sie herum begann es, ohrenbetäubend und scharf zu krachen. Plötzlich häckselte sich eine Kette von aufeinanderfolgenden Detonationen durch die ausgebrannten Nachbarhäuser, Schuttfontänen wurden in die Höhe gerissen und große und kleine Bruchstücke von Mauern spritzten in alle Richtungen. Die Explosionen fraßen sich unaufhaltsam auf sie zu, und dann schien die Zeit sich zu verlangsamen, ohne dass Leo mit seinen Gedanken folgen konnte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sägte eine zweite Bombenkette durch die Häuserzeile, weiter hinten sackte eine Fassade weg, fast zögerlich ging sie in die Knie. Dann rauschte es direkt vor ihnen, als würde eine Ladung Kies auf sie hinuntergekippt. Die folgende Detonation war so laut, dass Leo meinte, der Sprengsatz sei mitten in seinem Kopf gezündet worden. Der Rest lief ab wie ein Stummfilm, nur viel langsamer.
Von einem Augenblick auf den anderen war es totenstill, obwohl links und rechts immer noch die tannenzapfenartigen Schatten vor dem flimmernden Himmel ohne Eile zur Erde trudelten. Wieder rauschte etwas heran. Wilhelm zog von hinten seinen Kopf nach unten, und das Letzte, was Leo sah, war ein Balken aus dem zerstörten Dach des Nachbarhauses, der vor seiner Nase hochgewirbelt wurde und eine Drehung in der Luft vollführte, viel zu elegant für die brutale Kraft, die ihn herumschleuderte, wie die Fackel eines Jongleurs, den Leo irgendwann im Tiergarten gesehen hatte.
Der Balken sauste auf ihn zu, übermütig und kapriziös, eine Aufforderung, ihn zu fangen, eine Einladung zu einem Spiel, das man mit Jungen wie Leo eigentlich nicht spielte. Ein winziger Augenblick, in dem alle Demütigungen vergessen waren. Der Jongleur lächelte. Fang oder lass es. Der Stern auf deiner Jacke interessiert mich nicht.
Holz splitterte, Dachziegel flogen. Wilhelms Hände rissen Leo zu Boden. Und als die Fackel des Jongleurs ihn mitten im Gesicht traf, wusste Leo, dass er nicht gemeint war.
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»Natürlich.«
»Der Ballon steigt immer höher, weil sie immer mehr heiße Luft reinpusten. Und je höher der Ballon steigt, desto stärker spannt er sich, weil die Luft außen immer dünner wird. Und desto lauter wird der Knall, wenn der Ballon platzt. Sie wissen, dass das passieren wird. Und trotzdem pusten sie immer weiter heiße Luft rein.«
»Warum? Damit es lauter knallt?«
»Ja. Und damit sie den Absturz auf den Boden der Wirklichkeit auch bloß nicht überleben.«
»Das glaub ich nicht. Jeder will doch überleben.«
»Sicher. Die meisten warten auch nur auf den richtigen Moment, um mit dem Fallschirm auszusteigen. Den Letzten vernebelt die dünne Luft da oben offenbar den Verstand. Aber
wer noch ein Fünkchen davon hat, der springt und rettet sich. Unser Reichsmarschall zum Beispiel. Der hat sich heute nach Bayern abgesetzt.«
Leo schaute seinen dreißig Jahre älteren Freund an. »Woher weißt du so was immer?«
Wilhelm lächelte dünn, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. »Glaub es mir. Göring ist auf dem Weg nach Berchtesgaden.«
Unwillkürlich stellte Leo sich Görings aufgedunsene Gestalt vor, die schnaufend aus dem Korb eines Fesselballons kletterte.
Wilhelm hatte den gleichen Gedanken. »Damit wäre der letzte nennenswerte Ballast von Bord. Und jetzt überleg mal, wie schnell der Ballon erst ohne den Dicken steigt!«
Eine Weile lachten beide leise vor sich hin. Unten fuhren zwei Möbelwagen vor. Spedition Knauer stand in verblichenen Lettern auf den Planen. Die Fahrer rangierten eine Weile, bis die Laster quer auf der Straße standen. Auf eine Hauswand dahinter hatte jemand in weißen Druckbuchstaben »Siegen oder Sterben!« gepinselt. Der Schriftzug wurde zum Ende hin immer kleiner, weil der Abstand zum Hauseingang rechts davon offenbar falsch eingeschätzt worden war.
»Und während sie oben in ihrem Ballon auf den großen Knall warten, treffen Wahn und Wirklichkeit hier unten schon aufeinander. Verstehst du, was ich meine?«
Wilhelm zeigte auf den aufgemalten Schriftzug. »Früher standen Hunderttausend Leute wie mit dem Lineal gezogen im Karree und schrien: >Führer befiehl, wir folgen!< Es war zum Kotzen. Aber man hat ihnen sofort geglaubt, dass sie die ganze Welt in Brand setzen.«
»Und heute können sie keine drei Wörter mehr ordentlich an eine Wand pinseln. Und trotzdem soll man ihnen glauben, dass sie den Krieg gewinnen werden«, sagte Leo.
»Genau. Und jetzt frage ich mich: Glaubt so einer wirklich, was er da schreibt?«
»Vielleicht hat ihn jemand dazu gezwungen. Schreib das, sonst erschieß ich dich!«
Wilhelm lachte spöttisch auf. »Genau das wird der mit dem Pinsel hinterher auch sagen: Ich hab doch nur geschrieben, was man mir befohlen hat! Aber weißt du, was? Es wäre nicht so weit gekommen, wenn nicht jede Menge Leute viel mehr getan hätten, als sie mussten.«
Wilhelm verstummte, und wieder wusste Leo, dass sein Freund das Gleiche dachte wie er. Wilhelm sprach leise weiter. »Das sind die Leute, die deine Eltern an die Gestapo verpfiffen haben, Leo. Die laufen jetzt durch die Straßen und pinseln solche Sätze an die Wände.«
Wilhelm starrte auf die Mauer mit dem Satz. Er schien jetzt richtig wütend zu sein. »Siegen oder Sterben. Das ganze hirnlose Pathos. Die ganze lächerliche Unzulänglichkeit und die Großmäuligkeit, mit der alles übertüncht wird. Diese ganzen Ignoranten, die früher Schnoddrigkeit mit Schneid verwechselt haben und heute Halsstarrigkeit mit Entschlossenheit und jederzeit Arschkriecherei mit Disziplin. Siegen oder Sterben. Ist alles in diesem Satz enthalten, so wie er da steht.«
Auf der Straße war inzwischen ein Trupp älterer Männer er-
schienen, die eine Kette bildeten und einen der Möbelwagen mit Schutt zu beladen begannen. Die Straße hallte wider vom hohlen Poltern der Brocken auf dem Holzboden der Ladefläche. Es dröhnte, als zwei Mann einen Heizkörper hineinwarfen. Eine Panzersperre auf Rädern, die keinen Panzer länger als eine Minute aufhalten würde.
Sie schwiegen eine Weile. Leo dachte an seine Eltern und hatte einen Kloß im Hals.
Wilhelm blickte ihn an. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen.
»Es stehen aber auch noch andere Sachen an der Wand«, sagte er. »Ich hab's gesehen, gestern in der Kantstraße. Sie waren gerade dabei, es in aller Hast zu übertünchen.«
»Was stand da?«
»Nein.«
»Wie, nein?«
»Nein. Nur das eine Wort. Und weißt du, was das Grandiose dabei ist?«
Leo ahnte, worauf Wilhelm hinauswollte, aber er ließ ihn weiterreden. Wilhelm konnte die Dinge besser auf den Punkt bringen.
»Dieses Nein ist für sie viel schlimmer als >Nieder mit Hitler!< oder >Die Kommune lebt!<. Das sind Parolen. Dieses Nein ist eine Haltung.«
Leo verstand. »Und eine Einladung zum Selberdenken«, sagte er.
Wilhelm nickte. »Falls dazu noch jemand fähig ist hierzulande.«
»Vielleicht lernen sie's wieder.«
»Ich glaube eher, sie konnten es noch nie.«
»Dann wird es jetzt Zeit dafür.«
Wilhelm blickte ihn mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Rührung an. »Unglaublich, dass so etwas ausgerechnet von dir kommt.« Er machte eine Pause und schluckte. Unten dröhnten die Trümmer im Sekundentakt auf der Ladefläche des Möbelwagens.
Wilhelm holte Luft. »Wenn du das kannst, dann muss ich es wohl auch glauben.«
»Werd nicht pathetisch.«
»Im Ernst. Ich würde dich ja sonst beleidigen.«
Leo wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment jaulte die erste Sirene los. Eine zweite fiel ein, dann eine dritte.
Wilhelm seufzte auf. »Unsere Befreier kommen. Ab in den Keller.«
Ohne übermäßige Eile packten sie ein paar Sachen in einen bereitstehenden Koffer. Der ständige Wechsel zwischen Luftschutzkeller und Wohnung - wenn man noch eine hatte - war den Berlinern vertraut wie ein religiöses Ritual, das man als Kind gelernt hat und von dem man als Erwachsener nicht lassen kann. Die Sirenen waren die Glocken, der Keller war die Kirche. Wenn es losging, wurde gebetet, und wenn es vorbei war, ging man zurück.
Dennoch war es bei Wilhelm etwas anders. Im Keller war fast nie jemand. Das Haus war schwer zerstört, aber während Bomben und Brandsätze sich üblicherweise von oben durch die Stockwerke fraßen, waren hier das Dach und Wilhelms Wohnung völlig unversehrt, während der untere Teil des Hauses ausgebrannt war, nachdem ein paar Bomben das Dach über der Nachbarwohnung durchschlagen hatten und weiter unten im Haus explodiert waren. Das anschließende Feuer hatte die ersten vier Stockwerke verwüstet, aber dann hatte die Feuerwehr die Brände unter Kontrolle bekommen und Wilhelms Wohnung war, abgesehen von den zerborstenen Scheiben, den versengten Tapeten und den vom Löschwasser ruinierten Teppichen, wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben. Seitdem lebte Wilhelm praktisch allein in dem großen Haus und kurz darauf hatte er Leo zu sich geholt.
Es war Leo ein Rätsel, warum Wilhelm die riesige Etage bewohnen konnte, ohne dass man ihm eine oder zwei ausgebombte Familien einquartierte. Mindestens genauso merkwürdig war, dass man Wilhelm noch nicht eingezogen hatte. Überhaupt war vieles an Wilhelm rätselhaft. Und so gern er auch schwadronierte: Über diese Dinge sprach Wilhelm nie. Wenn Leo ihn fragte, lächelte er nur das dünne, amüsierte Lächeln, mit dem ein Schauspieler die Affäre mit seiner zauberhaften Filmpartnerin nicht bestätigt und nicht dementiert.
Wilhelm schnallte den Koffer zu und gab Leo einen Klaps auf die Schulter. Sie verließen die Wohnung und traten ins Treppenhaus.
Auf dem Treppenabsatz im vierten Stock blieb Wilhelm plötzlich stehen, drehte sich zu Leo um und hielt sich einen Finger vor den Mund. Leo erstarrte und blieb wie angewachsen stehen, während Wilhelm zum dritten und dann zum zweiten Stock hinunterschlich. Zwischen den Metallstäben sah Leo, wie sein Freund über das Geländer nach unten spähte. Irgendwo hallten Schritte, aber Leo war der Blick durch die Treppe versperrt. Wilhelm schien dagegen umso mehr zu sehen. Er schaute nach oben, als hätte er Leos Blick im Nacken gespürt, und machte ein wedelndes Zeichen mit der Hand. Leo schlug das Herz bis zum Hals, dann begriff er und schlich zurück in den fünften Stock. In diesem Augenblick setzte die Sirene wieder ein und schluckte seine Schritte.
Ein paar Augenblicke später war Wilhelm bei ihm.
»Was ist los?«, flüsterte Leo trotz der Sirene. »Der Luftschutzwart?«
»Von wegen«, gab Wilhelm leise zurück. »Zwei von der SS. General Heldenklau braucht noch Leute. Die durchkämmen das Haus.«
»Zum Dachboden?«
»Was sonst? Beeil dich, sie sind noch im Keller.«
Der Dachboden war die letzte Zuflucht. Vom obersten Absatz aus hatte eine Holztreppe nach oben geführt, die Wilhelm entfernt und durch eine Strickleiter ersetzt hatte, nachdem Leo zu ihm gekommen war. Wenn die Strickleiter oben und die Luke geschlossen war, sah es fast so aus, als gäbe es keinen Aufgang. Natürlich konnte man die Luke erkennen, wenn man genau hinsah, und sicherlich mussten ungebetene Besucher irgendwann darauf kommen, dass der Weg zum Dachboden nur über diesen Treppenabsatz führen konnte. Aber man gewann Zeit, um die Strickleiter verschwinden zu lassen und die Rückwand von der großen Kiste abzuziehen, die ganz hinten in der Ecke unter der Dachschräge stand. Die Kiste hatte einen doppelten Boden. Der obere Teil war mit Löschsand gefüllt, der untere Teil barg einen Hohlraum, in den man von hinten hineinkriechen konnte. Wenn man dann von innen die Rückwand wieder davorzog, war man praktisch unsichtbar, denn wer den Deckel der Kiste öffnete, sah nichts als Sand.
Leo folgte Wilhelm nach oben. Sie zogen die Leiter ein und warteten, bis die Sirene wieder aussetzte. Unten im Haus war Türenschlagen zu hören, eine Stimme rief etwas wie zur Bestätigung, dann folgten wieder Schritte auf der Treppe.
»Klappe zu und zum Unterstand. Das ist sicherer«, sagte Wilhelm knapp und schloss die Luke. Leo sah, dass er angespannt war, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte.
Sie gingen zu dem Unterstand für den Luftschutzwart, der wie ein winziges Häuschen mit einem Dach aus Stahlplatten unter den Dachfirst gezimmert war. Ein schwacher Schutz, aber besser als gar keiner.
Wilhelm hockte sich hinter Leo auf einen Balken und blickte durch die schmale Öffnung im First nach draußen. »Keine Sorge«, sagte er direkt neben Leos Ohr. »Sie kommen schon nicht hierher.«
Leo fragte sich, ob Wilhelm die meinte, die das Haus bombardieren wollten, oder die, die es gerade durchsuchten.
Die Sirene verstummte.
Und dann kamen die Flugzeuge.
Kapitel 2
Einen Augenblick war alles still. Dann kroch das Brummen der viermotorigen Maschinen heran, unterbrochen vom erneuten Aufjaulen der Sirenen. Es waren viele, vielleicht fünfzig oder noch mehr. Ab und zu blitzte etwas in der schon tief stehenden Sonne auf. Kurz darauf begann in der Ferne die Flak verhalten zu donnern. Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann blubberten die explodierenden Flakgranaten lautlos und in schneller Folge als winzige Wölkchen unterhalb der Flotte auf wie hastig und gedankenlos hingetupft.
Der Bomberstrom fraß sich unbeirrbar durch den Himmel auf sie zu. Begleitjäger an den Flanken der vierstöckig gestaffelten Kolonne tauchten ab, stürzten sich in die Tiefe, fingen sich, flogen Schleifen und schlossen von hinten auf. Als die Sirenen wieder aussetzten, war das Brummen der Angreifer zu einem Dröhnen angeschwollen, das den ganzen Dachboden in Vibrationen versetzte. Die Konturen der Maschinen wuchsen langsam aus dem violetten Himmel. Die gläsernen Kanzeln der Bordschützen wurden zwischen dem Flirren der Rotoren erkennbar. Auch die Wolken der explodierenden Flakgranaten arbeiteten sich dichter heran. Hier und da zuckte es zwischen den Flugzeugen auf, aber getroffen wurde keins von ihnen. Hinter dem ersten Bomberschwarm tauchte ein zweiter auf.
Leo starrte gebannt auf die Flugzeuge. Er kannte solche Angriffe nur aus dem Keller als eine Abfolge von Jaulen, Dröhnen, Hämmern, Rauschen und Beben. Dort unten schien dieses Inferno aus der Erde selbst zu kommen, als Geräuschkulisse zum Aufflackern bleicher Gesichter und ineinander-gekrallter Hände. Und während ihn und alle anderen in den Katakomben immer das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins beherrscht hatte, stellte er nun verwundert fest, dass er Auge in Auge mit dem Hornissenschwarm der Bomber viel ruhiger war als jemals zuvor. Das Verstecken hatte ein Ende. Fast kam es ihm vor, als flöge er auf die Maschinen zu und nicht umgekehrt, als könnte er zum ersten Mal seit Jahren selbst bestimmen, wem er gegenübertreten durfte. Kein Wegducken mehr. Kein Misstrauen, das nach Papieren verlangte.
Als die Flak vom Zoobunker aus zu wummern anfing, begann Leo zu schreien. Das Dröhnen war noch lauter geworden, alles bebte. Der zweite Schwarm schwenkte jetzt ab. Eine Maschine nach der anderen kippte aus dem Zug, sackte nach rechts weg und ging nach wenigen Augenblicken wieder auf Kurs. Sofort fand die Formation wieder zusammen. Erneut blitzten Sonnenreflexe auf.
»Die ziehen an uns vorbei«, rief Wilhelm ihm ins Ohr und schüttelte Leos Schultern. »Die wollen zum Regierungsviertel!«
»Geburtstagsfeuerwerk für den Führer!«, schrie Leo zurück und lachte wie irre.
Wie auf ein Zeichen Hinkten die Bomber der ersten Welle vor ihnen die Ladung aus. Schwarze Punkte erschienen wie Kaulquappenschwärme hinter den Flugzeugen vor dem Abendhimmel, dann schwebten die Maschinen über sie hinweg und verschwanden aus dem Blickfeld. Das Dröhnen der Motoren war jetzt überall. Die Bomben fielen und fielen, lösten sich aus Knäueln, bildeten lose Ketten, Zugvögel im Landeanflug.
Leo krallte sich an dem Balken fest, auf dem er saß. Ein Splitter bohrte sich unter einen Fingernagel, er spürte es wie durch eine dicke Watteschicht. Etwas zischte mehrstimmig durch die Luft. Um sie herum begann es, ohrenbetäubend und scharf zu krachen. Plötzlich häckselte sich eine Kette von aufeinanderfolgenden Detonationen durch die ausgebrannten Nachbarhäuser, Schuttfontänen wurden in die Höhe gerissen und große und kleine Bruchstücke von Mauern spritzten in alle Richtungen. Die Explosionen fraßen sich unaufhaltsam auf sie zu, und dann schien die Zeit sich zu verlangsamen, ohne dass Leo mit seinen Gedanken folgen konnte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sägte eine zweite Bombenkette durch die Häuserzeile, weiter hinten sackte eine Fassade weg, fast zögerlich ging sie in die Knie. Dann rauschte es direkt vor ihnen, als würde eine Ladung Kies auf sie hinuntergekippt. Die folgende Detonation war so laut, dass Leo meinte, der Sprengsatz sei mitten in seinem Kopf gezündet worden. Der Rest lief ab wie ein Stummfilm, nur viel langsamer.
Von einem Augenblick auf den anderen war es totenstill, obwohl links und rechts immer noch die tannenzapfenartigen Schatten vor dem flimmernden Himmel ohne Eile zur Erde trudelten. Wieder rauschte etwas heran. Wilhelm zog von hinten seinen Kopf nach unten, und das Letzte, was Leo sah, war ein Balken aus dem zerstörten Dach des Nachbarhauses, der vor seiner Nase hochgewirbelt wurde und eine Drehung in der Luft vollführte, viel zu elegant für die brutale Kraft, die ihn herumschleuderte, wie die Fackel eines Jongleurs, den Leo irgendwann im Tiergarten gesehen hatte.
Der Balken sauste auf ihn zu, übermütig und kapriziös, eine Aufforderung, ihn zu fangen, eine Einladung zu einem Spiel, das man mit Jungen wie Leo eigentlich nicht spielte. Ein winziger Augenblick, in dem alle Demütigungen vergessen waren. Der Jongleur lächelte. Fang oder lass es. Der Stern auf deiner Jacke interessiert mich nicht.
Holz splitterte, Dachziegel flogen. Wilhelms Hände rissen Leo zu Boden. Und als die Fackel des Jongleurs ihn mitten im Gesicht traf, wusste Leo, dass er nicht gemeint war.
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Autoren-Porträt von Michael Römling
Dr. Michael Römling, geboren 1973 in Soest, studierte Geschichte in Göttingen, Besançon und Rom. Nach einem Stipendium am dortigen Deutschen Historischen Institut promovierte er mit einer Arbeit über spanische Soldaten in Italien im 16. Jahrhundert. Er lebt inzwischen als freier Autor in Münster und schreibt unter anderem Stadtgeschichten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Römling
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2013, 2. Aufl., 352 Seiten, Maße: 15 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Coppenrath, Münster
- ISBN-10: 3815753074
- ISBN-13: 9783815753071
Rezension zu „Schattenspieler “
Der Autor ist professioneller Historiker und obwohl diese Geschichte erfunden ist, ist sie gespickt mit historischen Fakten, so dass es beim Lesen mitunter schwer fällt zwischen Fiktion und Wahrheit zu unterscheiden. In einem umfangreichen Nachwort des Autors kann man aber die tatsächlichen Ereignisse nachlesen, und ein Glossar mit wichtigen Begriffen und Personen sorgt für ein lückenloses Verständnis. Dass während und nach dem zweiten Weltkrieg viele bedeutende Kunstschätze wie beispielsweise des Bernsteinzimmers geraubt wurden, ist Grundlage für Spekulationen und verwegene Phantasien, ob sie überhaupt noch existieren, und wenn ja, wo sie versteckt sind. Diese Geschichte spielt in den letzten Kriegstagen des Jahres1945. Die Rote Armee steht kurz vor der Eroberung Berlins, das völlig zerstört in Schutt und Asche liegt. Leo, ein 14 jähriger jüdischer Junge hat den Krieg als "U-Boot" überlebt, indem er sich in Kellern und Hinterzimmern vor der Gestapo versteckt und zum Schluss bei Wilhelm, einem Freund seiner verschleppten Eltern Unterschlupf gefunden hat. Aber der Krieg ist noch immer nicht zu Ende, Fliegerangriffe sorgen dafür, dass Leo immer wieder seinen Unterschlupf verlegen muss und dabei entdeckt er, dass auch Andere mit Geheimnissen leben, wie sein Freund Friedrich, der zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester in einer alten Villa lebt, in einem Stadtteil, dessen Häuser weitgehend von der Zerstörung verschont geblieben sind. Die beiden Jungen, die durch Zufall einem der größten Kunstraube der Geschichte auf die Schliche kommen, stoßen bei ihren Nachforschungen auf den "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg", dessen Mitglieder sich persönlich an den Kunstschätzen, die nach nationalsozialistischer Weltanschauung als "entartet" galten", bereichern. Allerdings geraten sie dabei in höchste Gefahr, was dafür sorgt, dass die Leser sich gerne
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an der Aufklärung ihres Verdachts beteiligen. Das Buch ist von ungeheuerer Spannung, weil am Anfang jedes Kapitel zunächst aus der Sicht einer anderen Person erzählt wird und weil dieser Perspektivenwechsel automatisch für die Identifikation mit den unterschiedlichen Figuren, die sich nach und nach einfügen sorgt. Und weil diese einzelnen Episoden häufig genau auf dem Höhepunkt der Ereignisse abbrechen, werden die Leser wie im Sog immer weitergezogen...Schon der auf dem Cover aufgedruckte Stadtplan Berlins, der nur schemenhaft durch den transparenten Schutzumschlag sichtbar wird macht sehr neugierig darauf das Buch zu öffnen. Und wer möglicherweise gerade eine Reise ins heutige Berlin plant, kann diese Lektüre hervorragend in die Vorbereitungen einplanen, der Pergamonaltar ist ja zur Zeit wieder oder noch zu besichtigen - denn, auch in Friedenszeiten können Kunstwerke ihren Standort wechseln, mit diesem Roman kann man sich davon überzeugen, dass es sich lohnt, die Gelegenheit zu nutzen. Gabriele Hoffmann (Leanders Leseladen, Heidelberg)
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