Schöne junge Welt
Die heute tonangebende Generation bewegt sich auf die Vierzig zu oder hat sie vor kurzem überschritten. Aber anders als zu Zeiten ihrer Eltern, als es klare Vorstellungen vom Weg ins Erwachsensein gab, wissen die...
Die heute tonangebende Generation bewegt sich auf die Vierzig zu oder hat sie vor kurzem überschritten. Aber anders als zu Zeiten ihrer Eltern, als es klare Vorstellungen vom Weg ins Erwachsensein gab, wissen die wenigsten heute so recht: Ist man schon alt, oder fühlt man sich noch jung? Die meisten ahnen: beides zugleich. Denn innerhalb von nur einer Generation hat sich die Gesellschaft revolutioniert. Wir werden immer später erwachsen, aber wir wissen bis heute nicht, was das bedeutet: Schieben diejenigen, die heute zwischen 30 und 50 sind, den Moment, da sie die Dinge endlich in die Hand nehmen, immer noch vor sich her? Was sind ihre Vorstellungen vom Glück, von der Liebe, von einer Karriere? Und sind all jene, die ihre Jugend so weit verlängert haben, überhaupt in der Lage, in Würde zu altern? Werden sie nicht, weil sie Jugend für einen Charakterzug und nicht einen Lebensabschnitt halten, verzweifeln an den ersten echten Alterserscheinungen?
Claudius Seidl zeigt, wo die Ursachen dieser Entwicklung liegen und was ihre Folgen sind. Und er beschreibt voller Esprit, was es für uns bedeutet, immer jünger zu werden. Innerhalb von nur einer Generation hat sich die Gesellschaft revolutioniert: Wir werden immer jünger, werden immer später erwachsen.
Claudius Seidl zeigt, warum das eine gute Nachricht ist.
Claudius Seidl zeigt, warum das eine gute Nachricht ist.
Schöne junge Welt von Claudius Seidl
LESEPROBE
I.
An dem Tag, an dem ich vierzigwurde, wachte ich, weil ich
hineingefeiert hatte, mit einemKater auf, trank, als Gegengift,
eine halbe Flasche Wasser und vierTassen starken,
schwarzen Kaffees, zog einen grauenSommeranzug, aber
keine Strümpfe an, krempelte dieHosen hoch, fuhr mit dem
Rad zur Arbeit, beschimpfteunterwegs ein paar Autofahrer,
die den Radweg blockierten, fing aufder ersten Konferenz
des Tages einen Streit mit meinemVorgesetzten an, machte
später, als der Personalchef miteiner Flasche Champagner
kam, die ich, so sein Vorschlag,abends trinken sollte, ein paar
Scherze auf seine Kosten und öffneteden Champagner gleich,
ging mittags essen mit Kollegen, dieich Jungs nannte, lachte
über ihre Scherze, die auf meineKosten gingen, schaute auf
dem Rückweg, weil es Sommer war, denkurzen Sommerkleidern
hinterher, legte meine Füße auf denSchreibtisch und
blieb, weil es soviel zu tun gab unddie Arbeit eigentlich ein
Vergnügen war, viel zu lange imBüro, legte mich abends aufs
Sofa und hörte sehr laute Soulmusik,sagte allen, die anriefen
und mir gratulierten, es gehe mirgut, trank einen kleinen
Whisky und küßtemeine Frau und sagte zu ihr: Ich habe
ein gutes Leben. Warum macht es michtrotzdem traurig?
Warum werde ich das Gefühl nichtlos, daß ich zehn Jahre zu
alt für dieses Leben bin?
Du bist fünfzehn Jahre zu alt, sagtesie, aber jedes andere
Leben würde dich noch traurigermachen.
Als sie schlief, lag ich noch sehrlange wach und nahm
mir vor, demnächst einmalkonzentriert über mein Alter und
das angemessene Verhaltennachzudenken. Morgen, übermorgen,
an einem Tag, an dem ich endlich malausgeschlafen
haben würde.
II.
Durch einen Nebel vonZigarettenrauch, Alkohol und Müdigkeit
sah ich, als ich mir die Augen rieb,daß es draußen hell
geworden war. Vom Balkon her roch esnach Kaffee, und ich
stellte mein Glas weg, drehte dieStereoanlage, die zum siebten
Mal hintereinander dieselbeQuincy-Jones-Platte spielte,
ganz leise, und mit unsicherenSchritten ging ich in die Richtung,
aus der das Licht und derKaffeegeruch kamen.
N. hatte seinen dreißigstenGeburtstag gefeiert, auf eine
Art, die diesem Datum angemessenwar. Er hatte so viele
Leute eingeladen, daß man zwischen elf Uhr nachts und ein
Uhr morgens in der Wohnung nur hattestehen können. Gegen
halb zwei, als die ersten gegangenwaren, hatten ein paar
Mädchen im Arbeitszimmer zu tanzenangefangen, gegen
halb drei schauten zwei freundlichePolizisten vorbei, baten
um Ruhe und mehr Rücksicht denNachbarn gegenüber. Um
vier lagen zwei Jungs, die eingeschlafenwaren, auf dem großen
Sofa, und im Flur führte ein sehrjunger Mann mit einer
sehr hübschen Frau ein äußersternstes Flirtgespräch; in den
dunkleren Ecken der Wohnung war manschon weiter, hier
wurde intensiv geknutscht. Und jetztwar es halb sechs, ein
freundlicher Sonntag im spätenSommer, und als ich hinaus-
trat auf den Balkon, sah ich, wasenorm erleichternd auf mich
wirkte, daßaußer dem Geburtstagskind, seiner Freundin und
ein paar anderen Dreißigjährigen,auch mein Freund M. so
lange ausgehalten hatte, M., der soalt wie ich war: zehn Jahre
zu alt, wie ich an diesem Morgenfürchtete.
Findest du angemessen, was wir hiertun, fragte ich. Oder
ist es nicht ein bißchenlächerlich, die Nächte durchzumachen
unter diesen jungen Menschen?
Jetzt ist es hell, sagte M. Jetztist daran sowieso nichts mehr
zu ändern.
Was hat es uns aber gebracht? Wirsind zu verheiratet,
um hier hinter den Mädchen herzusein, und zu vernünftig,
uns hemmungslos zu betrinken. Vonden anderen Drogen,
für die wir zu alt sind, will ichgar nicht erst anfangen. Und
der heutige Tag ist ja auch für jedesinnvolle Tätigkeit verloren.
Parties wie diese laufen letztlich daraufhinaus, daß wir
den Rausch den Jüngeren überlassen.Nur den Kater teilen
wir mit ihnen.
Ach was, sagte M. Wenn ich nachHause gehe, werde ich allerbeste
Laune haben. Ich werde zu mir selbersagen: Was für
eine schöne Party. Es gab Sex, esgab Drogen, es gab etwas zu
trinken. Nicht für mich natürlich,mit Ausnahme von ein paar
Gläsern Whisky. Aber immerhin: Eswar da. Darum geht es
doch. Um die Möglichkeit. Ich muß nicht mitmachen, um
mich daran zu freuen, daß es die Möglichkeit einer solchen
Party gibt. Ich werde wissen, daß ich alt bin, wenn mich keiner
mehr einlädt zu so einer Party. Oderwenn ich keine Lust
mehr habe hinzugehen.
Ich holte einen Becher aus der Kücheund goß mir heißen
schwarzen Kaffee ein. Vielleicht wares ja richtig, gute Laune
zu haben.
©Goldmann Verlag
Sieschreiben in Ihrem Buch „Schöne junge Welt“, dass wir immerjünger und immer später erwachsen werden. Warum ist das eine guteNachricht? Und warum nicht?
Eine guteNachricht ist es, weil fast jeder, der heute 30, 40 oder 50 ist, sehr vielgesünder, attraktiver, aktiver ist, als es seine Eltern oderGroßeltern im selben Alter waren. Und keine so gute Nachricht ist esdeshalb, weil Jugendlichkeit auch dadurch definiert wird, dass einer das Beste,das Eigentliche noch vor sich hat. Jugendlich sein heißt eben auch: diewesentlichen Entscheidungen vor sich her zu schieben. Sich nicht festlegen. Dieeigene Gegenwart ins Unendliche dehnen.
Woliegen die Ursachen der „schönen jungen Welt“?
Der wichtigste Grund istwohl der, dass der Marktwert von Jugendlichkeit gestiegen, der vonErwachsensein gefallen ist. Das heißt, mit all den jugendlichenEigenschaften, mit Neugier, Dynamik, Formbarkeit und Flexibilität kommtman sehr viel weiter als mit den erwachsenen Eigenschaften, also Erfahrung,Weisheit, Beständigkeit. In einer Welt die sich so schnell ändert wiedie unsere, ist Beständigkeit eher ein Nachteil als eine produktive Kraft.
Wiewürden Sie das Lebensgefühl der so genannten „GenerationGolf“, also der heute 30- bis 40-Jährigen, generell beschreiben?
In meinem Buch kommt das Wort Generation genau einmal vor – undda bezeichnet es nicht eine Alterskohorte, sondern die Zeitspanne vondreißig Jahren. Wir haben es also mit einem Generationenbuch zuallerletztzu tun. Aber ich glaube, das Grundgefühl lässt sich schon sobeschreiben: Ich bin ganz schön alt – aber so richtig erwachsen binich nicht.
Siehaben sowohl ganz normale Leute untersucht als auch Prominente, wie z.B.Madonna oder Frank Sinatra. Geht der Durchschnittsbürger anders mit demÄlterwerden um als der Promi?
Natürlich hat eineSchauspielerin, deren Popularität auf ihrer Attraktivität beruht undderen Tage mit Ayurveda beginnen und mit Mineralwasser enden, ganz andereSorgen als, zum Beispiel, eine Rechtsanwältin oder die Verkäuferin inder Apotheke nebenan. Aber das Phänomen, dass sie alle jüngerbleiben, das ist überall zu beobachten.
„Schönejunge Welt“ wird zuweilen mit Frank Schirrmachers „Methusalem-Komplott“verglichen. Haben Sie sich tatsächlich von Schirrmacher inspiriertgefühlt?
Natürlich hat er michinspiriert, mit seinem Buch genau so wie als kritischer Gegenleser. Eine Weilehaben wir parallel an unseren Büchern gearbeitet und dabei festgestellt,dass wir oft aus den gleichen geistigen Quellen schöpften.
Wiesollten die Menschen Ihrer Meinung nach mit dem Älterwerden idealerweiseumgehen?
Bloßkeine Angst davor. Als ich zwanzig war, konnte ich mir mich alsVierzigjährigen nur als alten Mann vorstellen. Vermutlich werden wir auchmit sechzig noch unverschämt jung sein.Die Fragen stellte Henriette Brockmann / lorenzspringer medien
- Autor: Claudius Seidl
- 2005, 190 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442310741
- ISBN-13: 9783442310746
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