Schwarze Blumen
Ein kleines Mädchen taucht wie aus dem Nichts auf der Strandpromenade eines englischen Seebades auf. In der Hand hält sie eine schwarze Blume ...
... und die Geschichte, die sie erzählt, ist grauenerregend: Ihr Vater -...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Schwarze Blumen “
Ein kleines Mädchen taucht wie aus dem Nichts auf der Strandpromenade eines englischen Seebades auf. In der Hand hält sie eine schwarze Blume ...
... und die Geschichte, die sie erzählt, ist grauenerregend: Ihr Vater - so berichtet sie - entführt Frauen und quält sie auf einer abgelegenen Farm zu Tode! Die Polizei jedoch kann diese Farm nicht finden. Wenig später erscheint genau diese Geschichte als Kriminalroman mit dem Titel "Die schwarze Blume". Der Autor wurde ermordet, und er bleibt nicht der einzige, der sterben musste.
" ... eine atemberaubende Gratwanderung zwischen literarischer Erfindung und Realität."
BUCHJOURNAL
"Hoch spannend und mitreißend."
The Guardian
"Mosbys Plot ist ein Parcours der Höllen."
Tobias Gohlis, Sprecher der KrimiZEIT-Bestenliste
Lese-Probe zu „Schwarze Blumen “
Schwarze Blumen von Steve MosbySo laufen die Dinge nicht. Wenn Detective Sergeant Michael Sullivan in den zwölf Jahren bei der Polizei eines gelernt hat, dann das: Kleine Mädchen tauchen nicht einfach so auf. Nach seiner Erfahrung funktioniert die Welt nicht so. Nach allem, was er bisher gesehen hat, passiert in der Regel genau das Gegenteil: der langsame Verfall, der schleichende Niedergang von dem, was gut und richtig ist. Menschen - besonders Kinder - gehen verloren. Manchmal in einem gleitenden Übergang, bei dem die anständigen Seiten an ihnen, die Hoffnung machen, kaum merklich ausgehöhlt werden; in anderen Fällen gewaltsam und mit einem Schlag. Und gelegentlich kommt es vor, dass Menschen einfach ganz verschwinden. Doch egal, wie es passiert, diese Menschen kommen nicht zurück, schon gar nicht die Kinder. Jedenfalls nicht in einer wünschenswerten Verfassung. Nein, nach Michael Sullivans Erfahrung kennt die Welt nur das Nehmen. Es ist ein früher Nachmittag im September 1977. Faverton ist ein lang gestreckter Ferienort an der Ostküste. Das alte Dorf auf dem Hügel zieht sich mit seinen kopfsteingepflasterten Gassen bis zur Strandpromenade, den billigen Spielhallen und Cafés hinunter. Hier ist der Asphalt von den braunen Metallschienen der Straßenbahn durchzogen. Zwischen Straße und Meer liegt eine lange Holzbohlen-Promenade, in die verschnörkelte grüne Bänke, Abfallkörbe aus Drahtgeflecht und beige Eiswagen eingesprengt sind.
Gemächlich schlendern hier Familien entlang, die ab und zu an die halbhohe Steinbrüstung treten und auf den Strand hinunterblicken. Der Sand ist hart und fest; nur hier und da hat ein Kind beim Buddeln eine Stelle aufgewühlt. In der Ferne liegen die Knitterfalten der grauen See unter einem von Möwen gesäumten weißen Himmel. Es ist ein gewöhnlicher Tag ohne den leisesten Anflug von Magie. Und doch
... mehr
passiert diese Sache, Sullivans Erfahrung zum Trotz, einfach so. Es gibt dort ein leeres Stück Promenade. Eine Straßenbahn trudelt vorbei. Sie ist so alt, und die eisernen Triebwagen sind so ramponiert, dass man sich nicht wundern würde, wenn der Stromabnehmer, der die Oberleitungen entlangstreicht, knistern und Funken sprühen würde, doch tatsächlich beschränken sich die Geräusche auf das müde Mahlen der Metallscheiben, auf denen das Gefährt durch die Stadt schleift. Meistens ist die Bahn leer und erinnert an einen Butler, der wie gewohnt seinen täglichen Pflichten im Haushalt nachkommt, nachdem alle Kinder längst ausgezogen sind. Der Fahrer hinter der verschmierten Windschutzscheibe hält die Steuerung mit steifen, reglosen Armen, während an der offenen Ecke der Straßenbahn ein Schaffner mit einem Münzer steht, der ihm wie ein winziges Akkordeon an einem Riemen um den Hals hängt. Die Bahn hält nicht an. Niemand steigt ein oder aus. Doch als sie langsam weiterfährt, ist die Promenade nicht mehr menschenleer. Dort steht ein kleines Mädchen. Die Kleine hat langes, dunkelblondes Haar, das seitlich zu lockeren Zöpfen zusammengebunden ist und ihr auf die zarten Schultern fällt. Sie trägt ein blau weiß kariertes Kleid und zierliche Schuhe; beides sieht so aus, als passte es eher zu einer Puppe. Unter den Augen hat sie dunkle, traurige Ringe. Vor dem Bauch hält sie eine Handtasche fest. Sie ist hellbraun, aus Leder und für sie viel zu groß - eine Tasche für Erwachsene -, doch sie hält sie umkrallt, als wäre sie schon sehr lange in ihrem Besitz und ihr ungeheuer wichtig. Das kleine Mädchen steht da. Und wartet. Und so fängt es an. Sie taucht wie aus dem Nichts auf der Promenade auf: so als drehte sich die Welt im Schlaf auf die andere Seite und erwachte plötzlich mit einer Idee, die so wichtig ist, so dringend mitgeteilt werden muss, dass sie reale Gestalt annimmt. Und jetzt steht diese Idee da und wartet darauf, entdeckt zu werden. Wartet darauf, dass sich jemand ihrer annimmt. Sullivan hockt sich vor das kleine Mädchen hin. Sein steif gebügeltes Hosenbein bildet vom Knie herauf und über dem Oberschenkel einen scharfen Kniff. Ihr Blick folgt seiner Bewegung. Sie sind jetzt auf Augenhöhe, und er lächelt sie an, um ihr die Angst zu nehmen. »Hallo. Wie heißt du?« Das kleine Mädchen antwortet nicht. Ihr Gesichtsausdruck ist wie ein Panzer. Für ein Kind in ihrem Alter ist sie viel zu ernst, und Sullivan weiß sofort, dass hier etwas nicht stimmt. Für einen Moment wendet er den Blick ab. Die Frau, der das kleine Mädchen aufgefallen war und die ihn benachrichtigt hat, steht zögernd in einigem Abstand. Sie ist in mittlerem Alter und hält ihre eigene Handtasche fast genauso wie das Mädchen. Sullivan nickt ihr zum Dank noch einmal zu - das wird schon, ich kümmere mich darum - und wendet sich, als die Frau geht, wieder dem Kind zu.
An diesem Punkt weiß er nicht, dass er noch einmal mit der Frau sprechen muss, um sich über die genauen Umstände, unter denen das Mädchen hier gefunden wurde, Klarheit zu verschaffen. Auch wenn er begreift, dass etwas nicht stimmt, ist ihm die Erkenntnis noch nicht ganz ins Bewusstsein gedrungen. Im Moment denkt er immer noch: Sie hat sich verlaufen und sucht ihre Eltern. Weiter nichts. »Ich heiße Mike«, sagt er. »Und du?« Auch diesmal antwortet das Mädchen nicht, doch nachdem sie ihn ihrerseits eine Weile angestarrt hat, wendet sie den Blick zur Seite. Und sie sagt auch etwas, doch er versteht nicht, was. Es ist, als spräche sie mit einem Geist oder bäte einen imaginären Freund um Rat. Kann ich mit ihm reden? Ist es sicher? »Was hast du gesagt?«, fragt er. Sie sieht immer noch weg. Hört jetzt zu. Gott, denkt Sullivan - weil ihm gerade etwas anderes dämmert: Die Kleine hier sieht wahrhaftig wie sie aus. Anna Hanson, das Mädchen, das letztes Jahr ermordet wurde. Sie sind beide etwa im selben Alter, ungefähr sechs, und Anna hatte dasselbe buschige dunkelblonde Haar. Irritiert durch die Ähnlichkeit und das befremdliche Verhalten des kleinen Mädchens, läuft Sullivan ein Schauder den Rücken herunter. Er hat das seltsame Gefühl, dass sie es vielleicht tatsächlich ist und zu ihren verzweifelten, trauernden Eltern zurückkehrt. Natürlich ist das unmöglich, nicht zuletzt, weil Anna Hanson bereits zurückgekehrt ist - als Leiche an den Strand gespült: winzig zart, grau und leer. Die Ähnlichkeit ist allerdings frappierend, und er hat plötzlich das dringende Bedürfnis, sich um dieses kleine Mädchen zu kümmern und es zu beschützen.
Sie sieht ihn wieder an. In seiner ganzen zwölfjährigen Dienstzeit hat er noch nie eine solche Verzweifl ung gesehen. »Das wird schon«, sagt er. »Ich bin Polizist. Hast du deine Mummy oder deinen Daddy verloren?« »Meinen Daddy.« Ihre Stimme ist unglaublich zart. »Also, wir können ihn bestimmt schnell fi nden ...« Doch er hält inne. Der Schrecken, der dem kleinen Mädchen ins Gesicht geschrieben steht, zeigt, dass dies die letzte Antwort ist, die sie hören will. Ihr kleiner Körper zittert ein wenig. Instinktiv, ohne sich zu überlegen, wie sie reagieren wird, legt ihr Sullivan die Hand auf die Schulter und spürt den rauhen Stoff des Kleides unter den Fingern. Das kleine Mädchen zuckt nur ein wenig zusammen, rührt sich jedoch nicht vom Fleck. Das instinktive, verzweifelte Bedürfnis, getröstet zu werden, siegt über die Angst. Es scheint, als habe sie schon eine ganze Weile keine Zuwendung oder Freundlichkeit erfahren, wenn überhaupt jemals, und als koste es sie Mut - einen ungeheuren Vertrauensvorschuss -, auch nur an die Möglichkeit zu glauben. »Das wird schon, Schätzchen«, sagt Sullivan. Wieder sieht er sich um. Ein paar Passanten beobachten die Szene, doch die meisten gehen einfach weiter und nehmen von ihnen entweder keine Notiz oder sind davon überzeugt, dass alles seine Ordnung hat. Ein Polizist ist schließlich Herr der Lage. Nach allgemeiner Übereinkunft hat er die Aufgabe, sich um Leute zu kümmern. Sullivan ist im Begriff, sich wieder dem kleinen Mädchen zuzuwenden, um genau das zu tun, als er den Mann sieht und innehält. Clark Poole.
Der Greis läuft schwerfällig auf der anderen Straßenseite jenseits der Straßenbahnschienen den Bürgersteig entlang. Er hat einen leichten Buckel, und über seiner Rückgratverkrümmung ist seine Jacke speckig, als ob das Alter nach und nach seinen ganzen Rücken in ein Geschwür verwandelt hätte, das in der Mitte weich ist und nässt. Sein bleicher Kopf ist bis auf einen weißen Haarkranz, der ihm an den Schläfen klebt, kahl und sein jetzt abgewandtes Gesicht mürrisch und breit. Poole geht an einem Rohrstock, den er, wie Sullivan vermutet - ohne es beweisen zu können -, eigentlich nicht braucht. Tapp, tapp. Zuerst glaubt Sullivan, Poole hätte ihn nicht gesehen. Doch vor dem Café bleibt der Alte stehen, dreht sich um und erwidert seinen Blick. Poole lächelt und nickt - wie so oft - Sullivan genüsslich zu, bevor er sich abwendet und weiter seines Weges geht. Tapp, tapp. Die Leute machen, eher instinktiv als aus Rücksicht, Platz für ihn, und Sullivan bezähmt das sattsam vertraute Bedürfnis, hinüberzusprinten und ihn zu packen. Bekäme er den alten Mann erst in die Finger, so viel ist gewiss, wäre kein Halten mehr. Also blickt er ihm hinterher. Steckt Poole in dieser Sache hier irgendwie mit drin? Eher unwahrscheinlich. Schließlich hat er die kleinen Mädchen nie zurückgebracht. Er hat sie vorsätzlich und nach sorgfältiger Planung entführt, sodass man es zwar wissen, aber ihm nicht beweisen konnte. Wie dem auch sei, Sullivan kennt Pooles Adresse. Nach Annas Verschwinden hat er seine Wohnung durchsucht. Doch seitdem hat es Zeiten gegeben, in denen er früh morgens in der Nähe seines Wohnblocks geparkt und sich ausgemalt hat, was er mit dem alten Mann am liebsten machen würde.
Sullivan dreht sich wieder zu dem kleinen Mädchen um. Sein Blick fällt erneut auf die Tasche. Sie ist für sie viel zu erwachsen. Sie sieht schmutzig aus, als hätte sie irgendwo draußen herumgelegen, doch er hat den vagen Eindruck, als wäre sie einmal teuer gewesen. »Erlaubst du mir bitte, einen Blick da reinzuwerfen?« Sie zögert. »Ich bin vorsichtig«, sagt er. »Versprochen. Und dann bekommst du sie wieder.« Immer noch unentschlossen. Doch sie hält sie ihm hin. »Danke.« Der Reißverschluss klemmt: Wie vermutet, haben sich Erdkrumen in den Metallzinken festgesetzt. Als er sie endlich geöffnet hat und hineinsieht, rechnet er damit, ein kleines Portemonnaie, Taschentücher - vielleicht Schlüssel - darin zu fi nden, doch die Handtasche ist fast gänzlich leer. Außer ... einer Blume. Sullivan fasst behutsam hinein und zieht sie heraus. Der Stengel ist geknickt und halb zerfasert; die Blütenblätter, die jemand irgendwann einmal gepresst hat, sind grauschwarz. Er spürt ein Kribbeln in den Fingern. Und wieder ist da dieses Gefühl, nur jetzt viel stärker als vorhin. Irgendetwas stimmt hier nicht. Sullivan sieht sich das schmutzige Haar, das seltsame Kleid des Mädchens an. Zum ersten Mal bemerkt er einen leichten Bluterguss an ihrer Wange. Das kleine Mädchen sagt: »Jane.« »Heißt du so?« Sie schüttelt den Kopf und deutet leicht auf die Blume.
»Das ist Jane. Sie spricht nicht mehr mit mir.« Sullivan starrt sie an. Er versteht nicht, was sie meint - natürlich nicht, noch nicht, trotzdem läuft es ihm bei dieser eigenartigen Antwort kalt den Rücken herunter. Die nächste Bahn rattert über die Straße; er hört, wie sie lauter wird. Vor seinen Augen bröckelt die mühsam aufrechterhaltene Tapferkeit des Mädchens, und sie weint. Sie sagt: »Bitte hilf mir.«
Erster Teil
1
Mein Vater war Schriftsteller. Ich wollte in seine Fußstapfen treten, und so hätte ich an diesem Tag sowieso an ihn gedacht, auch ohne das, was später passierte. Doch den größten Teil des Vormittags hatte ich mich mit Kobolden und Wechselbalgen befasst. Na ja - natürlich auch mit Studenten. Es war schon fast Mittag. Ich ging um meinen Schreibtisch herum und hob eine Lamelle in der Jalousie hoch. Draußen fiel die Mittagssonne schräg über die Steinplatten unter meinem Büro. Eine Schar neuer Studenten strömte vorbei. Die Jungen schienen in Shorts und T-Shirts alle für den Strand gerüstet. Die Mädchen trugen fließende Sommerkleider, riesige Sonnenbrillen und Flipflops, die auf dem Pflaster klatschten. Es war Orientierungswoche zu Erstsemesterbeginn 2010, und so glich der ganze Campus einer einzigen Party. Den größten Teil des Morgens war von der Union Hall aus, dem Gebäude der Studentenvertretung, Musik herübergedröhnt, die eher nach einem monotonen Herzschlag klang. Ich ließ die Lamelle wieder los und kehrte zu meinem Schreibtisch zurück. Im Vergleich zur strahlenden Karnevalsatmosphäre dort draußen war mein Büro klein, trist und grau. Hier drinnen roch es nach staubigen Aktenkästen und dem rostigen Heizkörper, der das Fenster unterstrich. Ich hatte die Tür einen Spaltbreit offen gelassen. Ros - meine Chefin - war unten in der Sporthalle und kümmerte sich um die Zulassungen; das Dozentenzimmer war verwaist. Abgesehen vom Stampfen der Musik und einem gelegentlichen gedämpften Schlag irgendwo im Flur war das einzige echte Geräusch hier drinnen das elektrische Surren meines alten Monitors. Im Moment hatte ich zwei Dateien geöffnet. Bei der ersten handelte es sich um die Datenbank der Studenten, mit der ich schon seit Wochen nicht vorankam. Ich schob vor, sie sei viel schwieriger zu erstellen, als es tatsächlich der Fall war. Bei der zweiten handelte es sich um die Kurzgeschichte, an der ich stattdessen den ganzen Morgen gearbeitet hatte. Ich überfl og sie ein letztes Mal. Für meine Verhältnisse war sie recht bizarr ausgefallen. Am Anfang fi ndet ein junger Mann heraus, dass seine Freundin schwanger ist. Es war ein Unfall - sie haben sich hinreißen lassen und danach gegrinst. »Ganz schön dämlich, oder?«, sagen sie. »Aber uns wird schon nichts weiter passieren.« Es passiert ihnen doch. Die Freundin kommt zu dem Schluss, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch nicht über sich bringt, und der Junge akzeptiert das, auch wenn es nicht seinen Wünschen entspricht. Er versucht sein Bestes, doch während die Zeit vergeht, sträubt er sich immer mehr gegen ihre Entscheidung - bis er auf einmal diese Kapuzen-Gangs entdeckt, die an den Straßenecken lungern. Sie beobachten, verfolgen ihn. Nach und nach stellt er sich vor, dass eine Art Mafiaboss, so etwas wie ein Kobold, ein Zwerg, ein Goblinkönig dahintersteckt, der seine Hände nach ihm ausstreckt. Wie die bösen Zwerge im Märchen werden diese städtischen Neuauflagen mit Kusshand sein Kind mitnehmen; der Mann braucht nichts weiter zu tun, als es sich zu wünschen. Irgendwann tut er egoistischerweise genau das. Danach passiert zwei Tage lang nichts - genügend Zeit, um sich einzureden, dass er sich alles nur eingebildet hat. Und dann verschwindet auf wundersame Weise die Schwangerschaft. Die Geschichte endet Jahre später damit, wie die männliche Hauptfi gur ein Mitglied der Kapuzen-Gang an einer Straßenecke entdeckt und im Gesicht des Jungen hinreichend vertraute Züge erkennt, um zu wissen, dass es sein Sohn ist. Reichlich bizarr, Neil. War es auch, aber irgendwie gefiel mir die Geschichte. Außerdem frönte ich gerade zu sehr der Aufschieberitis. Bizarr oder nicht, erfolgreich oder nicht, war sie so fertig, wie sie nur sein konnte. Also speicherte ich die Word-Datei und schrieb eine kurze E-Mail an meinen Vater. Hi Dad, hoffe, Dir geht es gut - ich weiß, wir haben ein paar Wochen nichts mehr voneinander gehört, ich vermute also mal, alles geht seinen Gang? Hatte vor, mich zu melden. Bin mal wieder kläglich gescheitert. Hätte ein paar Neuigkeiten, aber vorerst wollte ich Dich bitten, einmal einen Blick auf das hier zu werfen. Ich hab keine Ahnung, ob es was taugt oder nicht, aber falls Du einen Moment Zeit hast, könntest Du es vielleicht mal lesen. Ich ruf Dich in Bälde an, und wir können uns ausgiebiger unterhalten. Alles Liebe, Neil Ich holte tief Luft und klickte auf »Senden«. Seltsamerweise war ich nervös. Mein Vater hatte über die Jahre zwanzig Romane veröffentlicht und war hinsichtlich der handwerklichen Qualität meiner Schriftstellerei immer ehrlich gewesen - deshalb schickte ich ihm meine Sachen ja überhaupt. Nein, das war es eigentlich nicht; ich konnte nicht sicher sagen, was es war. Nur dass ich nervös auf den kreisenden E-Mail-Anzeiger starrte und mir wünschte, die Mail zurückholen zu können. Dann verwandelte sich der Kreisel in ein Häkchen. Das war's also. Meine Geschichte war in die Welt hinausgegangen. Vergiss es. Als ich auf die Uhr sah, war es kurz vor zwölf. Also minimierte ich das E-Mail-Programm, schloss das Büro ab und verließ das Gebäude. Ally arbeitete am Erziehungswissenschaftlichen Institut, doch heute stand eine Konferenz in der Union Hall auf ihrem Terminkalender. Der Bau befand sich am anderen Ende des Campus, und so musste ich mich dem Strom der Studenten anschließen und mir mitten durch das Gewühl einen Weg bahnen. Die Verbindung von sonnigem Wetter und dieser Jahreszeit ließ Festival-Stimmung aufkommen. Vor dem Union-Gebäude schien die Sonne auf frisches grünes Gras, und alle saßen mit schäumendem Bier in Plastikbechern da. Der geteerte Platz rings um die Eingangstreppe glich einem Teppich aus weggeworfenen Flyern. Im Obergeschoss balancierten Lautsprecher auf einem Fenstersims und pumpten die Musik hinaus. Ein spindeldürrer Typ - Sonnenbrille und Krempenhut - stand dort oben mit einem Fuß auf dem Sims und brüllte etwas wie eine atmosphärische Störung in ein Megafon, das hier und da ein artikuliertes Wort enthielt und sich offenbar an die vorbeikommenden Studenten richtete. Auch wenn ich mit dem Zirkus nichts zu schaffen hatte, wusste ich, dass es wahrlich schlechtere Arbeitsplätze als meinen gab. Zum einen war er so entspannt, dass ich in Jeans und Joggingschuhen ins Büro kommen konnte, und zum anderen gab es - wie heute - häufi g Gelegenheit, einige Zeit fürs Schreiben abzuzwacken. Genau genommen wurde ich sogar dafür bezahlt. Andererseits wurde einem an einer Universität mehr als an jedem anderen Arbeitsplatz vor Augen geführt, wie alt man war, auch wenn sich das mit fünfundzwanzig Jahren in Grenzen hielt. Jeden September spitzte sich die Lage mit der Ankunft eines neuen Jahrgangs von Kindergesichtern zu. Man fühlt sich wie ein alter Blumenstrauß, der zwar das Verfallsdatum noch nicht überschritten hat, aber in seiner Ecke langsam vor sich hin welkt, ohne dass ihn jemand kauft. Ich hatte in meinem ganzen Leben nichts anderes tun wollen als schreiben. Mein Vater hatte mehr schlecht als recht davon gelebt - seine Bücher sprangen zwischen zu vielen Genres hin und her, und ihre Erscheinungsjahre lagen ein bisschen zu weit auseinander -, sodass mir in meiner Kindheit vage bewusst wurde, dass wir im Vergleich zu den Familien meiner Schulkameraden relativ arm waren. Aber das war nicht weiter von Belang. Ich wuchs mit der Liebe zu Büchern und Geschichten auf: Bücher besaßen wir reichlich, und solange mein Vater da war, gingen uns die Geschichten nie aus. Nie hatte ich mir irgendetwas anderes gewünscht, als ein bisschen wie er zu werden. Doch das war mir nicht vergönnt. Seit ich hier arbeitete, hatte ich vier Bücher bei Verlagen eingereicht, die ausnahmslos mit einem gut gezielten, kräftigen Baseballschlag abgeschmettert worden waren. Doch sooft man sich auch sagt, dass man sein Handwerk nicht von selbst beherrscht, sondern eine Lehrzeit in Kauf nehmen muss, setzen einem all die unausgeschlafenen frühen Morgen- und späten Abendstunden irgendwann zu. Man muss es ernst nehmen, und so läuft es darauf hinaus, zwei Berufe gleichzeitig auszuüben. Und mir fi el es zunehmend schwer, das alles auch noch mit einem echten Leben unter einen Hut zu bringen. Vielleicht wurde es eben gerade unmöglich. Vielleicht musste ich mich früher oder später den Tatsachen stellen. Ally zeigte natürlich Verständnis, aber dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, zu viele Eisen im Feuer zu haben. Etwas musste ich opfern. Gewiss nicht meine Beziehung zu ihr. Dafür liebte ich sie viel zu sehr. Vielleicht lief es also darauf hinaus, das Schreiben an den Nagel zu hängen. Ein deprimierender Gedanke. Doch für sie wäre ich dazu bereit. Ganz bestimmt. Sie wartete schon auf den Stufen der Union Hall. Es war nicht schwer, sie zwischen den Studenten zu entdecken - zunächst schon mal dank ihrem rot gefärbten Haar. Aber sie hatte sich auch eigens für die Konferenz in Schale geworfen und trug ein schickes schwarzes Kleid zu Stöckelschuhen. In ihrer Freizeit lief sie in schlaksigen Jeans, Sportschuhen und T-Shirt herum und erinnerte gewöhnlich an eine Mischung aus Punk und frecher Göre; man rechnete beinahe damit, dass sie ein Skateboard unter dem Arm hervorzog. Ein fl üchtiger Beobachter hätte jetzt vielleicht genickt und gesagt, sie hätte sich ordentlich herausgeputzt, doch jemand mit einem schärferen Blick sah, dass sie, egal, was sie trug, schön war. Beide hätten sich vielleicht gewundert, was sie an mir fand. »Hey, da bist du ja«, sagte ich. »Ah, endlich. Du lässt mich ganz schön warten, Dawson, was?«
»Du meinst, ich halte dich ganz schön auf Trab.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und legte mir die Hände auf die Schultern, um mir einen Kuss zu geben. Auf den ersten Blick sah Ally klein und zerbrechlich aus. In Wahrheit war sie schlank und muskulös, die Art Frau, die einen beim Armdrücken in Staunen versetzen konnte und das auf jeden Fall versuchen würde. Als wir das erste Mal - vor nunmehr einem Jahr, beide betrunken und beide höchst erstaunt - zusammen im Bett gelandet waren, wäre ich ihr, selbst wenn ich es gewollt hätte, kaum entronnen. »Worauf warten wir«, sagte sie. »Ich komm um vor Hunger.« »Das kann ich nicht zulassen.« Wir gingen in die Oyster Bar im Union. Sie hieß so, weil sie sich unten inmitten von glitzernden Spiegeln befand, während sich entlang der Wände in kreisrunden, treppenförmig ansteigenden Ringen weiße Sitze und Tische befanden. Wir erspähten einen freien Tisch und plauderten, während wir auf unser Essen warteten, vor dem Hintergrundrauschen anderer Gäste darüber, wie wir den Morgen verbracht hatten. Doch mit der Zeit wurde klar, dass sie nicht bei der Sache war und sich für den Small Talk nicht wirklich erwärmte. Sie stellte Fragen und wartete die Antworten nicht ab oder beantwortete meine Fragen, ohne viel mitzuteilen. Andererseits ist es natürlich nicht einfach, Belanglosigkeiten auszutauschen, wenn ein ernsthaftes Thema ansteht. »Also«, sagte ich schließlich. »Was geht dir durch den Kopf?« »Nichts.« »Du denkst die ganze Zeit über was nach.« »Na schön. Vielleicht stelle ich mich darauf ein.«
»Auf das Baby?«, riet ich. Doch unser Essen wurde gerade gebracht, und so lehnte ich mich zurück, damit die Kellnerin die Teller auf dem Tisch abstellen konnte. Ally strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und griff zum Besteck. »Ich habe mich entschieden«, sagte sie. »Dass du es behältst.« »Ja.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Bar. »Ich weiß, das hier ist nicht gerade die tollste Kulisse für so eine Unterhaltung, aber ich wollte es dir sagen, sobald ich mir sicher bin.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ich wusste es schon«, sagte ich. »Ich glaube einfach, es wäre mir völlig unmöglich, es nicht durchzuziehen.« Sie sah mich an, und hinter ihren Augen schien sich ein bewaffneter Konfl ikt abzuspielen. »Ich weiß«, sagte ich. »Ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch. Aber es wird alles verändern.« »Das wird schon irgendwie.« Ich gab mir redliche Mühe, überzeugend zu klingen. Auch wenn ich gewusst hatte, wie sie sich entscheiden würde, fühlte es sich, als sie es aussprach, so an, als täte sich die Erde unter mir auf. Verstand sich von selbst, dass ich ihr nichts davon sagte. »Das wird schon«, bekräftigte ich. »Wir schaffen das.« »Versprochen?« Wie kann man so etwas versprechen? Wir wussten es erst seit einer Woche, und ich hatte kaum Zeit gehabt, es zu begreifen. Der Gedanke hatte noch etwas Unwirkliches; es war unmöglich, sich vorzustellen, was es für mich, für sie, für uns bedeuten würde, wenn sich plötzlich alles änderte. Trotzdem beugte ich mich vor und streichelte ihre Hand. Rings um uns schien das Klirren und Scheppern in der Bar fast verstummt zu sein. Ich versprach es ihr. Zu Hause nahm ich später einen Schluck eiskalten Weißwein und starrte auf den Bildschirm meines Laptops. Unter meinem behelfsmäßigen Schreibtisch zwitscherte der Drucker. Stotternd kam aus der Öffnung vorne Papier heraus und landete mit der Schrift nach oben auf dem Boden. Die Geschichte, die ich verfasst hatte und die in umgekehrter Reihenfolge ausgedruckt wurde, sodass sich das Ende beharrlich zum Anfang voran arbeitete.
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
An diesem Punkt weiß er nicht, dass er noch einmal mit der Frau sprechen muss, um sich über die genauen Umstände, unter denen das Mädchen hier gefunden wurde, Klarheit zu verschaffen. Auch wenn er begreift, dass etwas nicht stimmt, ist ihm die Erkenntnis noch nicht ganz ins Bewusstsein gedrungen. Im Moment denkt er immer noch: Sie hat sich verlaufen und sucht ihre Eltern. Weiter nichts. »Ich heiße Mike«, sagt er. »Und du?« Auch diesmal antwortet das Mädchen nicht, doch nachdem sie ihn ihrerseits eine Weile angestarrt hat, wendet sie den Blick zur Seite. Und sie sagt auch etwas, doch er versteht nicht, was. Es ist, als spräche sie mit einem Geist oder bäte einen imaginären Freund um Rat. Kann ich mit ihm reden? Ist es sicher? »Was hast du gesagt?«, fragt er. Sie sieht immer noch weg. Hört jetzt zu. Gott, denkt Sullivan - weil ihm gerade etwas anderes dämmert: Die Kleine hier sieht wahrhaftig wie sie aus. Anna Hanson, das Mädchen, das letztes Jahr ermordet wurde. Sie sind beide etwa im selben Alter, ungefähr sechs, und Anna hatte dasselbe buschige dunkelblonde Haar. Irritiert durch die Ähnlichkeit und das befremdliche Verhalten des kleinen Mädchens, läuft Sullivan ein Schauder den Rücken herunter. Er hat das seltsame Gefühl, dass sie es vielleicht tatsächlich ist und zu ihren verzweifelten, trauernden Eltern zurückkehrt. Natürlich ist das unmöglich, nicht zuletzt, weil Anna Hanson bereits zurückgekehrt ist - als Leiche an den Strand gespült: winzig zart, grau und leer. Die Ähnlichkeit ist allerdings frappierend, und er hat plötzlich das dringende Bedürfnis, sich um dieses kleine Mädchen zu kümmern und es zu beschützen.
Sie sieht ihn wieder an. In seiner ganzen zwölfjährigen Dienstzeit hat er noch nie eine solche Verzweifl ung gesehen. »Das wird schon«, sagt er. »Ich bin Polizist. Hast du deine Mummy oder deinen Daddy verloren?« »Meinen Daddy.« Ihre Stimme ist unglaublich zart. »Also, wir können ihn bestimmt schnell fi nden ...« Doch er hält inne. Der Schrecken, der dem kleinen Mädchen ins Gesicht geschrieben steht, zeigt, dass dies die letzte Antwort ist, die sie hören will. Ihr kleiner Körper zittert ein wenig. Instinktiv, ohne sich zu überlegen, wie sie reagieren wird, legt ihr Sullivan die Hand auf die Schulter und spürt den rauhen Stoff des Kleides unter den Fingern. Das kleine Mädchen zuckt nur ein wenig zusammen, rührt sich jedoch nicht vom Fleck. Das instinktive, verzweifelte Bedürfnis, getröstet zu werden, siegt über die Angst. Es scheint, als habe sie schon eine ganze Weile keine Zuwendung oder Freundlichkeit erfahren, wenn überhaupt jemals, und als koste es sie Mut - einen ungeheuren Vertrauensvorschuss -, auch nur an die Möglichkeit zu glauben. »Das wird schon, Schätzchen«, sagt Sullivan. Wieder sieht er sich um. Ein paar Passanten beobachten die Szene, doch die meisten gehen einfach weiter und nehmen von ihnen entweder keine Notiz oder sind davon überzeugt, dass alles seine Ordnung hat. Ein Polizist ist schließlich Herr der Lage. Nach allgemeiner Übereinkunft hat er die Aufgabe, sich um Leute zu kümmern. Sullivan ist im Begriff, sich wieder dem kleinen Mädchen zuzuwenden, um genau das zu tun, als er den Mann sieht und innehält. Clark Poole.
Der Greis läuft schwerfällig auf der anderen Straßenseite jenseits der Straßenbahnschienen den Bürgersteig entlang. Er hat einen leichten Buckel, und über seiner Rückgratverkrümmung ist seine Jacke speckig, als ob das Alter nach und nach seinen ganzen Rücken in ein Geschwür verwandelt hätte, das in der Mitte weich ist und nässt. Sein bleicher Kopf ist bis auf einen weißen Haarkranz, der ihm an den Schläfen klebt, kahl und sein jetzt abgewandtes Gesicht mürrisch und breit. Poole geht an einem Rohrstock, den er, wie Sullivan vermutet - ohne es beweisen zu können -, eigentlich nicht braucht. Tapp, tapp. Zuerst glaubt Sullivan, Poole hätte ihn nicht gesehen. Doch vor dem Café bleibt der Alte stehen, dreht sich um und erwidert seinen Blick. Poole lächelt und nickt - wie so oft - Sullivan genüsslich zu, bevor er sich abwendet und weiter seines Weges geht. Tapp, tapp. Die Leute machen, eher instinktiv als aus Rücksicht, Platz für ihn, und Sullivan bezähmt das sattsam vertraute Bedürfnis, hinüberzusprinten und ihn zu packen. Bekäme er den alten Mann erst in die Finger, so viel ist gewiss, wäre kein Halten mehr. Also blickt er ihm hinterher. Steckt Poole in dieser Sache hier irgendwie mit drin? Eher unwahrscheinlich. Schließlich hat er die kleinen Mädchen nie zurückgebracht. Er hat sie vorsätzlich und nach sorgfältiger Planung entführt, sodass man es zwar wissen, aber ihm nicht beweisen konnte. Wie dem auch sei, Sullivan kennt Pooles Adresse. Nach Annas Verschwinden hat er seine Wohnung durchsucht. Doch seitdem hat es Zeiten gegeben, in denen er früh morgens in der Nähe seines Wohnblocks geparkt und sich ausgemalt hat, was er mit dem alten Mann am liebsten machen würde.
Sullivan dreht sich wieder zu dem kleinen Mädchen um. Sein Blick fällt erneut auf die Tasche. Sie ist für sie viel zu erwachsen. Sie sieht schmutzig aus, als hätte sie irgendwo draußen herumgelegen, doch er hat den vagen Eindruck, als wäre sie einmal teuer gewesen. »Erlaubst du mir bitte, einen Blick da reinzuwerfen?« Sie zögert. »Ich bin vorsichtig«, sagt er. »Versprochen. Und dann bekommst du sie wieder.« Immer noch unentschlossen. Doch sie hält sie ihm hin. »Danke.« Der Reißverschluss klemmt: Wie vermutet, haben sich Erdkrumen in den Metallzinken festgesetzt. Als er sie endlich geöffnet hat und hineinsieht, rechnet er damit, ein kleines Portemonnaie, Taschentücher - vielleicht Schlüssel - darin zu fi nden, doch die Handtasche ist fast gänzlich leer. Außer ... einer Blume. Sullivan fasst behutsam hinein und zieht sie heraus. Der Stengel ist geknickt und halb zerfasert; die Blütenblätter, die jemand irgendwann einmal gepresst hat, sind grauschwarz. Er spürt ein Kribbeln in den Fingern. Und wieder ist da dieses Gefühl, nur jetzt viel stärker als vorhin. Irgendetwas stimmt hier nicht. Sullivan sieht sich das schmutzige Haar, das seltsame Kleid des Mädchens an. Zum ersten Mal bemerkt er einen leichten Bluterguss an ihrer Wange. Das kleine Mädchen sagt: »Jane.« »Heißt du so?« Sie schüttelt den Kopf und deutet leicht auf die Blume.
»Das ist Jane. Sie spricht nicht mehr mit mir.« Sullivan starrt sie an. Er versteht nicht, was sie meint - natürlich nicht, noch nicht, trotzdem läuft es ihm bei dieser eigenartigen Antwort kalt den Rücken herunter. Die nächste Bahn rattert über die Straße; er hört, wie sie lauter wird. Vor seinen Augen bröckelt die mühsam aufrechterhaltene Tapferkeit des Mädchens, und sie weint. Sie sagt: »Bitte hilf mir.«
Erster Teil
1
Mein Vater war Schriftsteller. Ich wollte in seine Fußstapfen treten, und so hätte ich an diesem Tag sowieso an ihn gedacht, auch ohne das, was später passierte. Doch den größten Teil des Vormittags hatte ich mich mit Kobolden und Wechselbalgen befasst. Na ja - natürlich auch mit Studenten. Es war schon fast Mittag. Ich ging um meinen Schreibtisch herum und hob eine Lamelle in der Jalousie hoch. Draußen fiel die Mittagssonne schräg über die Steinplatten unter meinem Büro. Eine Schar neuer Studenten strömte vorbei. Die Jungen schienen in Shorts und T-Shirts alle für den Strand gerüstet. Die Mädchen trugen fließende Sommerkleider, riesige Sonnenbrillen und Flipflops, die auf dem Pflaster klatschten. Es war Orientierungswoche zu Erstsemesterbeginn 2010, und so glich der ganze Campus einer einzigen Party. Den größten Teil des Morgens war von der Union Hall aus, dem Gebäude der Studentenvertretung, Musik herübergedröhnt, die eher nach einem monotonen Herzschlag klang. Ich ließ die Lamelle wieder los und kehrte zu meinem Schreibtisch zurück. Im Vergleich zur strahlenden Karnevalsatmosphäre dort draußen war mein Büro klein, trist und grau. Hier drinnen roch es nach staubigen Aktenkästen und dem rostigen Heizkörper, der das Fenster unterstrich. Ich hatte die Tür einen Spaltbreit offen gelassen. Ros - meine Chefin - war unten in der Sporthalle und kümmerte sich um die Zulassungen; das Dozentenzimmer war verwaist. Abgesehen vom Stampfen der Musik und einem gelegentlichen gedämpften Schlag irgendwo im Flur war das einzige echte Geräusch hier drinnen das elektrische Surren meines alten Monitors. Im Moment hatte ich zwei Dateien geöffnet. Bei der ersten handelte es sich um die Datenbank der Studenten, mit der ich schon seit Wochen nicht vorankam. Ich schob vor, sie sei viel schwieriger zu erstellen, als es tatsächlich der Fall war. Bei der zweiten handelte es sich um die Kurzgeschichte, an der ich stattdessen den ganzen Morgen gearbeitet hatte. Ich überfl og sie ein letztes Mal. Für meine Verhältnisse war sie recht bizarr ausgefallen. Am Anfang fi ndet ein junger Mann heraus, dass seine Freundin schwanger ist. Es war ein Unfall - sie haben sich hinreißen lassen und danach gegrinst. »Ganz schön dämlich, oder?«, sagen sie. »Aber uns wird schon nichts weiter passieren.« Es passiert ihnen doch. Die Freundin kommt zu dem Schluss, dass sie einen Schwangerschaftsabbruch nicht über sich bringt, und der Junge akzeptiert das, auch wenn es nicht seinen Wünschen entspricht. Er versucht sein Bestes, doch während die Zeit vergeht, sträubt er sich immer mehr gegen ihre Entscheidung - bis er auf einmal diese Kapuzen-Gangs entdeckt, die an den Straßenecken lungern. Sie beobachten, verfolgen ihn. Nach und nach stellt er sich vor, dass eine Art Mafiaboss, so etwas wie ein Kobold, ein Zwerg, ein Goblinkönig dahintersteckt, der seine Hände nach ihm ausstreckt. Wie die bösen Zwerge im Märchen werden diese städtischen Neuauflagen mit Kusshand sein Kind mitnehmen; der Mann braucht nichts weiter zu tun, als es sich zu wünschen. Irgendwann tut er egoistischerweise genau das. Danach passiert zwei Tage lang nichts - genügend Zeit, um sich einzureden, dass er sich alles nur eingebildet hat. Und dann verschwindet auf wundersame Weise die Schwangerschaft. Die Geschichte endet Jahre später damit, wie die männliche Hauptfi gur ein Mitglied der Kapuzen-Gang an einer Straßenecke entdeckt und im Gesicht des Jungen hinreichend vertraute Züge erkennt, um zu wissen, dass es sein Sohn ist. Reichlich bizarr, Neil. War es auch, aber irgendwie gefiel mir die Geschichte. Außerdem frönte ich gerade zu sehr der Aufschieberitis. Bizarr oder nicht, erfolgreich oder nicht, war sie so fertig, wie sie nur sein konnte. Also speicherte ich die Word-Datei und schrieb eine kurze E-Mail an meinen Vater. Hi Dad, hoffe, Dir geht es gut - ich weiß, wir haben ein paar Wochen nichts mehr voneinander gehört, ich vermute also mal, alles geht seinen Gang? Hatte vor, mich zu melden. Bin mal wieder kläglich gescheitert. Hätte ein paar Neuigkeiten, aber vorerst wollte ich Dich bitten, einmal einen Blick auf das hier zu werfen. Ich hab keine Ahnung, ob es was taugt oder nicht, aber falls Du einen Moment Zeit hast, könntest Du es vielleicht mal lesen. Ich ruf Dich in Bälde an, und wir können uns ausgiebiger unterhalten. Alles Liebe, Neil Ich holte tief Luft und klickte auf »Senden«. Seltsamerweise war ich nervös. Mein Vater hatte über die Jahre zwanzig Romane veröffentlicht und war hinsichtlich der handwerklichen Qualität meiner Schriftstellerei immer ehrlich gewesen - deshalb schickte ich ihm meine Sachen ja überhaupt. Nein, das war es eigentlich nicht; ich konnte nicht sicher sagen, was es war. Nur dass ich nervös auf den kreisenden E-Mail-Anzeiger starrte und mir wünschte, die Mail zurückholen zu können. Dann verwandelte sich der Kreisel in ein Häkchen. Das war's also. Meine Geschichte war in die Welt hinausgegangen. Vergiss es. Als ich auf die Uhr sah, war es kurz vor zwölf. Also minimierte ich das E-Mail-Programm, schloss das Büro ab und verließ das Gebäude. Ally arbeitete am Erziehungswissenschaftlichen Institut, doch heute stand eine Konferenz in der Union Hall auf ihrem Terminkalender. Der Bau befand sich am anderen Ende des Campus, und so musste ich mich dem Strom der Studenten anschließen und mir mitten durch das Gewühl einen Weg bahnen. Die Verbindung von sonnigem Wetter und dieser Jahreszeit ließ Festival-Stimmung aufkommen. Vor dem Union-Gebäude schien die Sonne auf frisches grünes Gras, und alle saßen mit schäumendem Bier in Plastikbechern da. Der geteerte Platz rings um die Eingangstreppe glich einem Teppich aus weggeworfenen Flyern. Im Obergeschoss balancierten Lautsprecher auf einem Fenstersims und pumpten die Musik hinaus. Ein spindeldürrer Typ - Sonnenbrille und Krempenhut - stand dort oben mit einem Fuß auf dem Sims und brüllte etwas wie eine atmosphärische Störung in ein Megafon, das hier und da ein artikuliertes Wort enthielt und sich offenbar an die vorbeikommenden Studenten richtete. Auch wenn ich mit dem Zirkus nichts zu schaffen hatte, wusste ich, dass es wahrlich schlechtere Arbeitsplätze als meinen gab. Zum einen war er so entspannt, dass ich in Jeans und Joggingschuhen ins Büro kommen konnte, und zum anderen gab es - wie heute - häufi g Gelegenheit, einige Zeit fürs Schreiben abzuzwacken. Genau genommen wurde ich sogar dafür bezahlt. Andererseits wurde einem an einer Universität mehr als an jedem anderen Arbeitsplatz vor Augen geführt, wie alt man war, auch wenn sich das mit fünfundzwanzig Jahren in Grenzen hielt. Jeden September spitzte sich die Lage mit der Ankunft eines neuen Jahrgangs von Kindergesichtern zu. Man fühlt sich wie ein alter Blumenstrauß, der zwar das Verfallsdatum noch nicht überschritten hat, aber in seiner Ecke langsam vor sich hin welkt, ohne dass ihn jemand kauft. Ich hatte in meinem ganzen Leben nichts anderes tun wollen als schreiben. Mein Vater hatte mehr schlecht als recht davon gelebt - seine Bücher sprangen zwischen zu vielen Genres hin und her, und ihre Erscheinungsjahre lagen ein bisschen zu weit auseinander -, sodass mir in meiner Kindheit vage bewusst wurde, dass wir im Vergleich zu den Familien meiner Schulkameraden relativ arm waren. Aber das war nicht weiter von Belang. Ich wuchs mit der Liebe zu Büchern und Geschichten auf: Bücher besaßen wir reichlich, und solange mein Vater da war, gingen uns die Geschichten nie aus. Nie hatte ich mir irgendetwas anderes gewünscht, als ein bisschen wie er zu werden. Doch das war mir nicht vergönnt. Seit ich hier arbeitete, hatte ich vier Bücher bei Verlagen eingereicht, die ausnahmslos mit einem gut gezielten, kräftigen Baseballschlag abgeschmettert worden waren. Doch sooft man sich auch sagt, dass man sein Handwerk nicht von selbst beherrscht, sondern eine Lehrzeit in Kauf nehmen muss, setzen einem all die unausgeschlafenen frühen Morgen- und späten Abendstunden irgendwann zu. Man muss es ernst nehmen, und so läuft es darauf hinaus, zwei Berufe gleichzeitig auszuüben. Und mir fi el es zunehmend schwer, das alles auch noch mit einem echten Leben unter einen Hut zu bringen. Vielleicht wurde es eben gerade unmöglich. Vielleicht musste ich mich früher oder später den Tatsachen stellen. Ally zeigte natürlich Verständnis, aber dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, zu viele Eisen im Feuer zu haben. Etwas musste ich opfern. Gewiss nicht meine Beziehung zu ihr. Dafür liebte ich sie viel zu sehr. Vielleicht lief es also darauf hinaus, das Schreiben an den Nagel zu hängen. Ein deprimierender Gedanke. Doch für sie wäre ich dazu bereit. Ganz bestimmt. Sie wartete schon auf den Stufen der Union Hall. Es war nicht schwer, sie zwischen den Studenten zu entdecken - zunächst schon mal dank ihrem rot gefärbten Haar. Aber sie hatte sich auch eigens für die Konferenz in Schale geworfen und trug ein schickes schwarzes Kleid zu Stöckelschuhen. In ihrer Freizeit lief sie in schlaksigen Jeans, Sportschuhen und T-Shirt herum und erinnerte gewöhnlich an eine Mischung aus Punk und frecher Göre; man rechnete beinahe damit, dass sie ein Skateboard unter dem Arm hervorzog. Ein fl üchtiger Beobachter hätte jetzt vielleicht genickt und gesagt, sie hätte sich ordentlich herausgeputzt, doch jemand mit einem schärferen Blick sah, dass sie, egal, was sie trug, schön war. Beide hätten sich vielleicht gewundert, was sie an mir fand. »Hey, da bist du ja«, sagte ich. »Ah, endlich. Du lässt mich ganz schön warten, Dawson, was?«
»Du meinst, ich halte dich ganz schön auf Trab.« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und legte mir die Hände auf die Schultern, um mir einen Kuss zu geben. Auf den ersten Blick sah Ally klein und zerbrechlich aus. In Wahrheit war sie schlank und muskulös, die Art Frau, die einen beim Armdrücken in Staunen versetzen konnte und das auf jeden Fall versuchen würde. Als wir das erste Mal - vor nunmehr einem Jahr, beide betrunken und beide höchst erstaunt - zusammen im Bett gelandet waren, wäre ich ihr, selbst wenn ich es gewollt hätte, kaum entronnen. »Worauf warten wir«, sagte sie. »Ich komm um vor Hunger.« »Das kann ich nicht zulassen.« Wir gingen in die Oyster Bar im Union. Sie hieß so, weil sie sich unten inmitten von glitzernden Spiegeln befand, während sich entlang der Wände in kreisrunden, treppenförmig ansteigenden Ringen weiße Sitze und Tische befanden. Wir erspähten einen freien Tisch und plauderten, während wir auf unser Essen warteten, vor dem Hintergrundrauschen anderer Gäste darüber, wie wir den Morgen verbracht hatten. Doch mit der Zeit wurde klar, dass sie nicht bei der Sache war und sich für den Small Talk nicht wirklich erwärmte. Sie stellte Fragen und wartete die Antworten nicht ab oder beantwortete meine Fragen, ohne viel mitzuteilen. Andererseits ist es natürlich nicht einfach, Belanglosigkeiten auszutauschen, wenn ein ernsthaftes Thema ansteht. »Also«, sagte ich schließlich. »Was geht dir durch den Kopf?« »Nichts.« »Du denkst die ganze Zeit über was nach.« »Na schön. Vielleicht stelle ich mich darauf ein.«
»Auf das Baby?«, riet ich. Doch unser Essen wurde gerade gebracht, und so lehnte ich mich zurück, damit die Kellnerin die Teller auf dem Tisch abstellen konnte. Ally strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und griff zum Besteck. »Ich habe mich entschieden«, sagte sie. »Dass du es behältst.« »Ja.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Bar. »Ich weiß, das hier ist nicht gerade die tollste Kulisse für so eine Unterhaltung, aber ich wollte es dir sagen, sobald ich mir sicher bin.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ich wusste es schon«, sagte ich. »Ich glaube einfach, es wäre mir völlig unmöglich, es nicht durchzuziehen.« Sie sah mich an, und hinter ihren Augen schien sich ein bewaffneter Konfl ikt abzuspielen. »Ich weiß«, sagte ich. »Ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch. Aber es wird alles verändern.« »Das wird schon irgendwie.« Ich gab mir redliche Mühe, überzeugend zu klingen. Auch wenn ich gewusst hatte, wie sie sich entscheiden würde, fühlte es sich, als sie es aussprach, so an, als täte sich die Erde unter mir auf. Verstand sich von selbst, dass ich ihr nichts davon sagte. »Das wird schon«, bekräftigte ich. »Wir schaffen das.« »Versprochen?« Wie kann man so etwas versprechen? Wir wussten es erst seit einer Woche, und ich hatte kaum Zeit gehabt, es zu begreifen. Der Gedanke hatte noch etwas Unwirkliches; es war unmöglich, sich vorzustellen, was es für mich, für sie, für uns bedeuten würde, wenn sich plötzlich alles änderte. Trotzdem beugte ich mich vor und streichelte ihre Hand. Rings um uns schien das Klirren und Scheppern in der Bar fast verstummt zu sein. Ich versprach es ihr. Zu Hause nahm ich später einen Schluck eiskalten Weißwein und starrte auf den Bildschirm meines Laptops. Unter meinem behelfsmäßigen Schreibtisch zwitscherte der Drucker. Stotternd kam aus der Öffnung vorne Papier heraus und landete mit der Schrift nach oben auf dem Boden. Die Geschichte, die ich verfasst hatte und die in umgekehrter Reihenfolge ausgedruckt wurde, sodass sich das Ende beharrlich zum Anfang voran arbeitete.
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
... weniger
Autoren-Porträt von Steve Mosby
Steve Mosby, geboren 1976 in Horsforth/Yorkshire, studierte Philosophie und lebt als freier Schriftsteller in Leeds. Seit seiner Kindheit ist Schreiben seine Leidenschaft.Mit Der 50/50-Killer gelang ihm der Durchbruch als hochklassiger Thrillerautor.
Weitere Infos über den Autor auf seiner Website: www.theleftroom.co.uk
Bibliographische Angaben
- Autor: Steve Mosby
- 2012, 1, 400 Seiten, Maße: 13,2 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007695
- ISBN-13: 9783868007695
Kommentare zu "Schwarze Blumen"
0 Gebrauchte Artikel zu „Schwarze Blumen“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Schwarze Blumen".
Kommentar verfassen