Schwert und Harfe
Eine abenteuerliche Suche quer durch seine irische Heimat beginnt. Jedes Mal, wenn Ronan den Geschichtenerzähler endlich gefunden zu haben glaubt, entzieht sich ihm der Alte. Aber er weiß, dass Ronan ihn sucht, und hin und wieder lässt er ihm über Mittelsmänner eine neue Geschichte zukommen. In diesen Erzählungen, die die lange Historie Irlands zum Leben erwecken, begegnet Ronan Barden und Königen, Mönchen und Seefahrern, Dichtern und Rebellen, Druiden und Geistern. Zu guter Letzt spürt Ronan den lange Gesuchten endlich auf - und enträtselt dabei zu seiner Überraschung ein gut gehütetes Familiengeheimnis.
Schwert und Harfe von Frank Delaney
LESEPROBE
Wundersamerweise war es der Junge,der ihn zuerst sah. Er blickte zufällig aus dem Fenster seines Zimmers, schautenoch einmal genauer hin und begann zu hoffen. Nein, das Licht hatte ihn nichtgetäuscht; eine hochgewachsene Gestalt in einemzerlumpten schwarzen Mantel und einem eingedellten Hut war in der Dämmerung denHügel heruntergestiegen und kam auf das Haus zu.
Das Gesicht des Fremden warkreideweiß vor Erschöpfung, und er stolperte auf dem unebenen Boden, die Händevor sich ausgestreckt wie ein Schlafwandler. Er sah aus wie eine Vogelscheuche,die ihren Posten verlassen hatte. Das hohe Gras durchweichte seinezerschlissenen Stiefel und machte den Saum seines Mantels schwer vor Nässe. Einfeiner Nebel lag wie ein silberner Schleier über den Wiesen, teilte sich aufder Höhe seiner Knie und wallte hinter ihm wieder zusammen. In diesem dunstigenZwielicht tauchten seltsame Formen auf und zerflossen im nächsten Augenblick,so dass der bleiche Wanderer nie sicher war, ob er bloß die Äste eines Baumesgesehen hatte oder die Arme von mythischen Tänzern, die gekommen waren, ihn zubegrüßen. Aus der Nähe verzerrten sich die dunklen Schemen von Baumstämmen zustrengen, drohenden Gesichtern.
Weiter vorn, jenseits der Weide,entdeckte er den gelben Schein einer Lampe im Fenster eines Hauses, worauf erdie Augen in einer Art stummem Dank zum Himmel hob. Hoch oben gab es keinenNebel, und die ersten Sterne glitzerten wie Salzkristalle.
Er bemerkte einige Kühe in der Nähe,die in diesem milden Herbst noch nicht in den Stall gebracht worden waren.
Die meisten lagen zusammengekauertim Gras und käuten wieder. Als er vorbeiging, sprangen zwei oder dreierschrocken auf und trotteten davon.
In dem Haus vor ihm lief der Junge,neun Jahre alt und strohblond, schnell die Treppe hinunter und rief aufgeregtnach seinem Vater.
Dem Fremden tat jeder Knochen imLeib weh, und seine Lunge schmerzte, dass es kaum auszuhalten war. Der Hungermachte alles noch schlimmer, denn er hatte in drei Tagen bloß eine Mahlzeitgegessen. Das ruhige, stete Licht in dem Fenster dort vorn zog ihnhoffnungsvoll an. Wenn es ihm gelang, sie mit seiner Erzählung zu fesseln,konnte er vielleicht Unterkunft und Verpflegung für eine Woche bekommen -eventuell sogar länger.
In den Tagen des Hochkönigs von Tarablieb ein Geschichtenerzähler sieben Tage und sieben Nächte lang. Ob sie daswohl wussten? Heutzutage wusste niemand mehr irgendetwas. Doch mit etwas Glückwürde das Kind im Haus eine Hilfe sein. Kinder waren immer ganz wild aufGeschichten, und die Eltern würden ihre Gastfreundschaft vielleicht großzügigausdehnen, wenn sie das Entzücken im Gesicht des Jungen sahen.
Nicht wie bei dem Quartier vonletzter Nacht, als er bei Farmern hoch oben am Berghang auf dem Dachboden überden Kühen schlafen musste, wo der kalte Ostwind ihm in die Gebeine fuhr. Dieunwissenden Leute dort, die keinen Sinn für Geschichten hatten, hatten ihmnichts zu essen gegeben und ihn nicht an ihren Kamin gelassen. Das kam immeröfter vor.
In diesem Haus hier würde es ihmbestimmt besser ergehen. Außerdem war Halloween, diebeste Zeit des Jahres für Geschichten, die Nacht vor Allerseelen, wenn dieToten aus ihren Gräbern stiegen und übers Land schweifen durften. Auf denletzten paar hundert Metern löste sich der Nebel zu schmalen Streifen undFetzen auf. Vor dem Haus führte eine kleine weiße Pforte vom Weg aus in einenBauerngarten, der im Sommer vor Strauchrosen, Winden und Wickenzöpfen leuchtenwürde. Der große Mann in dem schwarzen Mantel klopfte zweimal mit demTürklopfer aus Messing an, worauf der Hausherr sofort öffnete.
»Aha! Wir haben schon mit Ihnengerechnet.«
Der Fremde und der Hausherrwechselten einen festen Händedruck und sahen sich ins Gesicht. In der Dielehinter seinem Vater wartete der Junge und tänzelte von einem Fuß auf den anderen.
»Gottes Segen mit euch allen«, sagteder Fremde und zog nervös die Schultern hoch.
Im Laufe der Jahre war seine Stimmetief und voll geworden. Sein ganzes Benehmen und seine Redeweise hatten etwas ungewöhnlichFörmliches und ließen Spuren eines würdevollen Englischs früherer Zeiten undAndeutungen von klassischer Bildung erkennen. Deshalb klang seine Spracheabwechslungsreicher und farbiger als die der Leute, denen er jeden Tagbegegnete. Der Hausherr lächelte und trat beiseite.
»Kommen Sie herein. Sie haben klarenHimmel mitgebracht.«
»Mit Ihrer Erlaubnis werde ich auchklare Gedanken bringen.«
»Ihr Mantel ist nass, geben Sie ihnher.«
Der Mann hielt seine kalte, knochigeHand dem Jungen hin, der hinter dem Rücken seines Vaters hervorspähte.
»Ein feiner Junge. Gottes Segen auchmit Ihnen, Ma am!«, rief derGeschichtenerzähler der Hausherrin zu.
Sie sah verdrossen aus, und ervermutete, dass er, dieser sehnige, ungewaschene Mann mit einer Haut wie grobeLeinwand, ihren gut geführten Haushalt durcheinander brachte. Trotzdem decktesie einen Platz am Tisch für ihn, während ihr Mann dem Besucher aufgeräumteinen Schnaps einschenkte.
Der Junge sah zu, als der Fremdeüber das Essen herfiel wie ein müder Jagdhund. Er spürte, dass Hunger undAnstand in dem Mann miteinander rangen. Niemand sagte etwas, weil er zu ausgehungertschien, als dass man ihn unterbrechen wollte.
Der Junge betrachtete sein Gesicht,sah die lange, dünne Narbe und fragte sich, ob er in einen Messerkampfverwickelt gewesen war, vielleicht mit einem Matrosen in einem fernen Hafen.
Und die durchnässten Stiefel - inseiner Phantasie sah er den Fremden Flüsse durchwaten, aus tiefen Schluchten emporklettern und Hänge aus Kalksteinplatten überqueren aufseinen endlosen Reisen durch das Land. Hatte er einen Hund? Anscheinend nicht,und das war sehr schade, denn ein Hund hätte nachts am Feuer für ihn Wachehalten können. Ob der Mann je in Höhlen schlief? Man sagte, dass Bären undWölfe in Irland längst ausgestorben waren, aber stimmte das wirklich?
An diesem Abend, in dem weißen Hausinmitten der Wiesen, wurde der größte Traum eines kleinen Jungen wahr. Sein Vaterhatte schon oft von fahrenden Geschichtenerzählern gesprochen.
Er sagte, sie besäßen eine besondereMacht und könnten auch die ferne Vergangenheit aufs Schönste zum Leben erwecken,und zwar ohne die »Einmischung von Gelehrten«, wie er sich ausdrückte. »DieseProfessoren«, pflegte er zu schimpfen, »entziehen der Geschichte ihren Saft,damit sie sie zu Papier bringen können.« Nach Meinung seinesVaters war eine Geschichte, der man das Gefühl genommen hatte, eine blutleereGeschichte und nicht viel wert.
Die alten Legenden und Erzählungen,wie sie von den fahrenden Geschichtenerzählern an Winterabenden am Feuer zumBesten gegeben wurden, kamen durch die lange Verbindungsröhre der Traditiondurch die Jahrhunderte gesaust, und all die Helden voller Liebe, Hass undLeidenschaft »purzelten auf unseren Steinfußboden«. So erzählte sein Vater.»Sie ziehen immer noch durch die Lande. Es würde mich nicht wundern, wenn einervon ihnen eines Tages auch zu uns käme. Es wird wahrscheinlich ein großer,alter Mann mit Stiefeln und einem Hut sein, und er wird uns alle verzaubern.« Und nun war endlich ein solcher Geschichtenerzähler zuBesuch gekommen.
Er war der Letzte seiner Art.Persönlichkeiten wie er waren fünfundzwanzig Jahrhunderte lang durch die Gegendgewandert, und alle hatten sie in der einen oder anderen Form die GeschichteIrlands erzählt. In den alten Tagen waren sie sehr beliebt, und ihr Besuch stellteoft den Höhepunkt des Jahres für ein Dorf dar.
Die irischen Geschichtenerzählerhatten ihre Pendants auf der ganzen Welt - in Indien, Südamerika, China. DieseReisenden kamen in ein Dorf, breiteten eine Matte im Schatten eines Baumes ausund begannen eine Geschichte aus den alten Zeiten des Landes, die einen ganzenTag dauerte. Sie beschworen Drachen und Feuer, Berge und Jungfrauen und Götterherauf. Die misstrauischen Dörfler, die zuerst zögerlich herbeigekommen waren,blieben immer bis zum Ende. Egal, wovon die Geschichte handelte, das Publikumwusste, dass es mit Leidenschaft und Drama rechnen konnte, mit großenEreignissen, die in leuchtenden Farben und mit viel Schwung und Herzblutgeschildert wurden. Auf diese Weise formten die fahrenden Geschichtenerzähler undihre Tradition der mündlichen Überlieferung einen großen Teil unserer Welt undihrer Kulturen.
Der Geschichtenerzähler pulte dieletzten Essensreste mit der Zunge aus den Zähnen und ging dann zu einem Stuhlam Feuer, wo er seine Pfeife herausholte. Er bot dem Hausherrn aus einem gelbenWachstuchbeutel von seinem teerigen, schwarzen Tabakan, doch der lehnte dankend ab und sagte, dass er nicht rauche. Der Fremdestopfte seine Pfeife, nahm dann die Kaminzange und pickte ein kleines Stück Glutaus dem Feuer, das er auf die Pfeife drückte. Nach viel Saugen und Klopfen begannder Tabak zu glimmen, und blauer Rauch schwebte durchs Zimmer auf der Suchenach dem Abzug.
Er machte es sich auf seinem Stuhlbequem. Der Junge hatte sich ihm gegenüber niedergelassen, auf den Kissen einerHolzbank neben dem Kamin. Mit seinen langen, gelben Pferdezähnen lächelte derGeschichtenerzähler das Kind an, das ihn immer noch großäugig musterte wieeinen Hexenmeister.
»Weißt du, was ein Baumeister ist?«
Der Junge sah seinen Vater umZustimmung an, ehe er antwortete.
»Jemand, der Häuser baut?«
»Und weißt du auch, wo Newgrange ist?«
»Oben in CountyMeath.«
»Ganz recht. Darf ich fragen, anwelchem Fluss es liegt?«
Wieder huschte der Blick des Jungenzuerst zu seinem Vater.
»Ist das nicht der Boyne?«
Auf ein Geräusch von draußen drehteder Geschichtenerzähler sich hoffnungsvoll um. Die Tür ging knarrend auf, und einMann und eine Frau kamen mit ihren beiden Töchtern im Alter von etwa zwölf undacht Jahren herein. Eine war blond, die andere rothaarig, und beide trugen siegeblümte Kittelschürzen. Das jüngere Mädchen wurde zu dem Jungen auf die hoheBank am Feuer geschickt, wo es den Fremden mit wunderglänzendenAugen ansah.
Ein Stück Kohle knackte im Kamin.Der Geschichtenerzähler sog kräftig an seiner Pfeife, die leise schmauchendeGeräusche machte. Kurz darauf bekam das Publikum noch mehr Zuwachs, denn einweiteres Paar schlenderte von der anderen Seite des Wegs mit seiner kleinenTochter herbei.
Die Nachricht hatte sich offensichtlichherumgesprochen. Vielleicht hatte jemand auf den Farmen ringsum den großen Fremdenüber die nebligen Wiesen zu ihnen heruntersteigen sehen und erraten, wer oderwas er war. Er würde also eine ansehnliche Zuhörerschaft haben heute Abend. Ober auch am nächsten Abend eine haben würde, gar zu einem Ereignis würde, dashing von ihm ab.
»Was möchten Sie in Ihren Whiskey?«, fragte der Gastgeber.
Einer der Nachbarn rief: »Noch mehrWhiskey!«, und alle lachten.
Nach ein paar Minuten frohgelauntenSchwatzens kamen sie zur Ruhe. Es gab noch keinen elektrischen Strom damals in denHäusern, und die Öllampe am Fenster und eine andere Lampe mit einem Glasschirman der Wand warfen goldumrandete Schatten in den Raum. Der Widerschein desKaminfeuers spielte auf dem langen Gesicht des Geschichtenerzählers. Er wackeltemit seiner Pfeife, lehnte sich bequem zurück und begann. ( )
© Droemer/KnaurVerlag
Übersetzung: Karin Diemerling
- Autor: Frank Delaney
- 2006, 671 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Karin Diemerling
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426196476
- ISBN-13: 9783426196472
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