Seines Bruders Hüter
KURZTEXT
Eine mitreißende Wissenschaftsreportage: Pulitzer-Preisträger Jonathan Weiner erzählt die bewegende Geschichte der Heywood-Brüder. Als bei Stephen eine unheilbare Nervenkrankheit ausbricht, gibt sein Bruder Jamie alles auf, um seinen Bruder zu retten. Er setzt ein abenteuerliches gentherapeutisches Experiment in Gang , das an die Grenzen der heutigen Medizin führt.
ZU DIESEM BUCH
Im Zentrum dieser "überragenden Reportage" (New York Times) von der vordersten Front des medizinischen Fortschritts steht eine einfache Frage: "Was würdest du tun, um das Leben deines Bruders zu retten?" Als bei Stephen Heywood im Alter von 29 Jahren ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) diagnostiziert wird, eine neuromuskuläre Erkrankung, die in der Regel innerhalb von fünf Jahren zum Tod führt, stellt sich sein älterer Bruder Jamie die schier unlösbare Aufgabe, ein Heilmittel gegen das Unheilbare zu finden.
Jamie wandelt sich gleichsam über Nacht vom Ingenieur zum Gentechniker. Innerhalb kürzester Zeit stellt er eine ALS-Gesellschaft auf die Beine, kann führende ALS-Forscher der Harvard und Johns Hopkins University für seinen Plan gewinnen und nimmt einen wahnwitzigen Wettlauf gegen die Zeit auf. Jonathan Weiner begleitet die Familie auf ihrer verzweifelten Suche nach einem Wunder. Diese fällt in eine Zeit großer Durchbrüche in der genetischen Forschung und grenzenloser Hoffnungen in neue Therapien.
"Seines Bruders Hüter" ist eine fulminante Darstellung der Höhen und Tiefen biomedizinischer Forschung und zugleich eine Geschichte über die brennende Frage, in welchem Maße menschliches Leben manipulierbar ist. Und nicht zuletzt ist es die aufwühlende Geschichte einer Familie in der Konfrontation mit Krankheit und Tod. Sechs Jahre nach der ALS-Diagnose ist Stephen Heywood noch am Leben.
"Der Wissenschaftsjournalist Jonathan Weiner hat eine herausragende Reportage geschrieben, die die Möglichkeiten und Grenzen der heutigen Medizin präzise aufzeigt. Ein faszinierendes Buch." - Frankfurter Rundschau
"Seines Bruders Hüter ist eine Geschichte aus dem Alltag einer Familie. Einfühlsam beschreibt Jonathan Weiner Menschen in einer Extremsituation. Eher nebenbei erhält jeder, der sich auf diese Geschichte einlässt, Einblicke in das Innenleben der Wissenschaft." - WDR Wissenschaftssendung Leonardo
"... Das Gute daran ist, dass Weiner ganz nah an seiner Geschichte dran ist und sie daher spannend und einfühlsam erzählen kann".Berliner Zeitung
Seines Bruders Hüter von Jonathan Weiner
LESEPROBE
Die Grenzen des Möglichen
Als Kinder maßen sich Jamie undStephen Heywood gern im
Armdrücken. Sie machten daraus einRitual: zuerst der rechte
Arm, dann der linke, und wenn nochZeit blieb, trugen sie einen
Ringkampf auf dem Teppich aus. IhreSpielregeln waren so kompliziert
und schon so langeselbstverständlich, dass kein anderes
Kind sie je erlernte, nicht einmalJamies bester Freund Duncan
Moss. Ahnungslos übertrat er eineunausgesprochene Grenze auf
dem Teppich, und Jamie zog eineGrimasse.
Was ist los? Was habe ich falschgemacht?
Er kannte die Spielregeln nicht.
Die Heywoodswohnten in einem alten Haus in der Mill Street
in Newtonville,einem Vorort von Boston. Alle drei Söhne - Jamie,
Stephen und der jüngste, Ben -entwickelten sich zu begeisterten
Sportlern. Sie waren keinemAbenteuer abgeneigt und liebten die
Rituale, die sie sich als Kindergemeinsam ausdachten. Das Haus
in der MillStreet liegt nur einen Steinwurf von einem Waldstück
mit einem Teich entfernt. Dortspielten die Brüder oft Fußball auf
einem Feld, das einer Nachbaringehörte, die sie Tante Betsy nannten.
Wenn es richtig heftig regnete,stahlen sich Jamie und Stephen
spätabends mit ihren Surfbretternaus dem Haus, kletterten über
einen Zaun und gelangten an einenBach, der bei einem Sturm
stark anschwoll. Dann ließen siesich durch Dunkelheit und Regen
über die Stromschnellen bis zum Bolough s Pond treiben.
Ihre Eltern, Peggy und John Heywood, sind in Newtonville
keine Unbekannten. Sie legen Wertauf Traditionen. Beide waren
eine Zeit lang Kirchenvorsteher inder Grace-Church-Gemeinde
in Newton Corners. Als ihre Söhnenoch klein waren, verbrachten
sie jeden Sommer auf der Milchfarmin South Dakota, auf der
Peggy aufgewachsen war. Peggy hattemit einem Stipendium am
Radcliffe College in Cambridge studiert, wosie auch John kennen
lernte. Später eröffnete sie einePraxis als Therapeutin, hielt sie
aber klein, um sich noch ihrerFamilie widmen zu können.
Alle sieben Jahre verbrachten sieein Jahr in England, wo John
geboren und aufgewachsen ist. John Heywood ist Professor für
Maschinenbau am MassachusettsInstitute of Technology (MIT)
und eine internationale Kapazitätfür Verbrennungsmotoren. Sein
Vater war ein englischerBergbauingenieur, der sich schon früh mit
den Möglichkeiten der Solarenergiebeschäftigte. Damals interessierten
sich nur Sonderlinge für seineIdeen. Ein Einzelgänger, der
qualmende Schlote, Kohlenstaub undRuß verteufelte und stattdessen
auf die Kraft der Sonne setzenwollte, erschien den Leuten
wie ein Phantom aus der Zukunft.John Heywood berät Unternehmen
wie Ford in Detroit, Ferrari inItalien und Toyota in Japan zu
Fragen der Energieeffizienz. Wenn ernicht gerade auf Reisen ist,
leitet er das SloanAutomotive Laboratory, das dem MIT angegliedert
ist. Den Weg dorthin legt er mit demFahrrad zurück.
In den Sommerferien kam Peggys weitverstreute Verwandtschaft
gern in Duck zusammen, einemKüstenörtchen in der Nähe
von Kitty Hawkauf den Outer Banks, einer Halbinsel an der Küste
von North Carolina. Es gab immereinige Kinder am Strand, die zu
Heywoods ernannt wurden, natürlich»ehrenhalber«, so wie Tante
Betsy eine Tante »ehrenhalber« war.John und Peggy, Jamie, Stephen
und Ben, alle brachten ihre Freundemit. Wenn sie nicht
schwammen, segelten oder surften dieKinder auf den kalten,
glitzernden Wellen. Jeden Sommer veranstalteten sie an einem der
letzten Tage in Duck ein Basketballturniermit ihren Verwandten
und so vielen fremden Urlaubsgästen,wie sie am Strand
zusammentrommeln konnten. Die Spiele wurden mit so fanatischem
Eifer ausgetragen, dass regelmäßigein paar Heywoods im Krankenhaus
landeten.
Als Jamie und Stephen älter wurden,setzten sie ihre Wettkämpfe
im Armdrücken fort, aus alterGewohnheit. Mit Anfang
zwanzig, als die zweieinhalb JahreAltersunterschied keine Rolle
mehr spielten, waren sie sichebenbürtig. Jamie wurde Maschinenbauingenieur,
wie schon sein Vater und seinGroßvater aus Eng-
land. Er war intelligent undehrgeizig und verbrachte Tag und
Nacht am Schreibtisch. Stephen,praktisch veranlagt wie sein
Großvater und sein Onkelmütterlicherseits aus South Dakota,
wurde Zimmermann. Er war zwarebenfalls intelligent, besaß aber
ein fundamentales Misstrauengegenüber Schreibtisch und Karriere.
Nach einigen Jahren, in denen er alsHandwerker auf Baustellen
gearbeitet hatte, war sein rechterArm unbezwingbar geworden.
Ende Juli , Jamie war und Stephen Jahre alt, maßen
sie sich wieder einmal imArmdrücken. Sie verbrachten ihre Ferien
in einem Strandhaus in Duck, dasihre Eltern gemietet hatten.
Jamie war genau ,Meter groß und wog Kilogramm, Stephen
war ,Meter groß und wog Kilogramm. Jamie hieltsich
zwar in Form, aber Stephen baute injenem Jahr sein erstes Haus
und hatte bestens trainierte Bizepsund Trizeps. Beim Armdrücken
gibt es immer einen Augenblick, indem der Sieger weiß,
dass er gewonnen hat, und derVerlierer erkennt, dass er verloren
hat. Die Brüder waren gleichermaßenüberrascht, als Jamie zum
ersten Mal seit fünf Jahren Stephensrechten Arm auf den Tisch
drücken konnte.
Jamie brach in Jubel aus. Ichhabe einen Zimmermann geschlagen.
Ich bin der Größte! Ich bin derGrößte!
Die nächste Runde, die sie wie immermit dem linken Arm
austrugen, entschied Stephen fürsich. Das ließ Jamie wieder verstummen.
Keiner der beiden argwöhnte, dassetwas nicht stimmte.
In jenem Jahr verkündete einschottisches Forscherteam die Geburt
eines seltsamen Geschöpfs: einesSchafs, das der identische
Zwilling seiner Mutter war. DieNachricht begleitete das Jahr wie
eine Kometenerscheinung.Weltweit wurde dieses Schaf als ein
Omen betrachtet, ähnlich wie einErdbeben, ein gewaltiges Feuer,
ein Vulkanausbruch oder einegewonnene oder verlorene Jahrtausendschlacht.
Die gewohnte Ordnung war aus denFugen geraten.
Sie musste entwederwiederhergestellt werden, falls das überhaupt
möglich war, oder die Forschung aufdiesem Gebiet, die eine be-
ängstigende Wendung genommen hatte,musste in eine Richtung
gelenkt werden, die dem Wohl derMenschheit diente. Optimisten
sahen schon Heilungsmöglichkeiten amHorizont auftauchen, die
ebenso neuartig waren wie dieSchöpfung des geklonten Schafs.
Im selben Jahr machte auch dieMeldung über den Tod von
Jeanne Louise Calmentaus dem französischen Arles Schlagzeilen.
Sie schürte die Hoffnungen derMenschen, im neuen Jahrtausend
so alt wie Methusalem werden zukönnen. Jeanne Louise Calment
starb am 4. August 1997 im Alter von 122Jahren. Sie erinnertesich
noch an Vincent van Gogh.
Wissenschaftsgläubige und Skeptikerbeschlich in jenem Jahr
ein fast unwirkliches Gefühl derHoffnung oder des Entsetzens, als
änderten sich die Grundlagen desmenschlichen Zusammenlebens
unwiderruflich. MancheWissenschaftler und Ärzte träumten von
einer neuen, regenerativen Medizin.Sie hofften, schon bald, vielleicht
schon bis zur Jahrtausendwende, dieMechanismen der Fortpflanzung
und der Regeneration zu beherrschen,denen wir unser
Leben und die ständige Erneuerungunserer Körperzellen verdanken
- Kräfte, die unsichtbar am Werksind, seit es Leben auf der
Erde gibt. Schon der römischeDichter Lukrez berief sich zu Beginn
seines Lehrgedichts Über dieNatur der Dinge auf diese Kräfte
und pries noch vor Anbruch desersten Jahrtausends das, was wir
heute die Naturwissenschaftennennen. »Mutter der Aeneaden, du
Wonne der Menschen und Götter, Lebenspendende Venus«, beginnt
Lukrez seine Lobpreisung jener Göttin, dieals oberste zeugende
Kraft gesehen wird. »Venus ... dubefruchtest die Keime zu
jedem beseelten Geschöpf ... Ja,alle Tiere folgen dir paarungsbereit,
wohin du sie lenkst, dein Liebreizbändigt sie alle: so erweckst
du ... zärtliche Liebeslust im Blutaller Geschöpfe, dass sie sich
leidenschaftlich mehren und Lebenweitergeben ... Wünsch ich,
o Göttliche, dich zur Gehülfin: zu schreiben die Verse«, bittet der
Dichter und beginnt somit dieGeschichte der Naturwissenschaften
mit einem Gebet.
© Verlagsgruppe Random House
Übersetzung: Maria Bühler und DorisGerstner
Interview mit Jonathan Weiner
In Seines Bruders Hüter" erzählenSie die Geschichte von Stephen, der an ALS erkrankte, einer chronischenErkrankung des Nervensystems, und seinem Bruder Jamie, der ihn retten wollte.Wie haben Sie die Brüder kennen gelernt? Wie entstand die Idee, ein Buch überihr Schicksal zu schreiben?
EinFreund von mir, ein Biologe, rief mich eines Tages aus einem Forschungsinstitutin Kalifornien an und sagte: Ich habe eine gute Story für Dich." Er arbeitetemit Jamie zusammen und erzählte mir von Jamies Wettlauf um das Leben vonStephen. Ich habe Jamie noch am selben Tag angerufen und wusste sofort, dassich über ihn schreiben würde. Zuerst verfasste ich einen Artikel für den NewYorker. Dann arbeitete ich die Geschichte zu einem Buch aus.
Jamie setzte alles daran, seinem Bruder mittels neuesterMethoden zu helfen. Sie haben diese Zeit der Hoffnung und Enttäuschungmiterlebt. Was denken Sie heute darüber?
Ichdenke noch oft an die Güte, mit der Stephen diese Achterbahnfahrt der Gefühleertrug. Er machte sich Sorgen um mich, den Berichterstatter! Einmal sagte er zumir: Dir wird bei diesem ganzen Auf und Ab noch ganz übel werden."
Mit fortschreitenderKrankheit schien Stephen sein Schicksal immer mehr zu akzeptieren, Jamie jedochnicht. Täuscht der Eindruck, oder schwingt in Ihrem Buch immer auch die Fragenach Gott mit?
Nein,das stimmt. Ich las in der Bibel und studierte auch viele theologische Bücher,darunter Viktor E. Frankls Klassiker Der Mensch auf der Suchenach Sinn" und Paul Tillichs Der Mutzum Sein". Eines Tages fand ich mich sogar bei der Einweihung der neuenSynagoge in Dresden wieder.
An dieStammzellenforschung werden große Erwartungen geknüpft. Sie haben sich viel mitder Materie beschäftigt. Wie sehen Sie die derzeitige Lage?
Ichhabe einiges über die Geschwindigkeit medizinischer Forschung gelernt. Wundersollte man nicht erwarten, aber man kann neue Gebiete wie dieStammzellenforschung durchaus als wichtige Investitionen in die Zukunftbetrachten.
Sie haben sich in diesemBuch sehr intensiv mit der Krankheit ALS und der Geschichte von StephensFamilie beschäftigt. Wie ist es Ihnen nach der Veröffentlichung ergangen? Undwas sind Ihre aktuellen Projekte?
DieGeschichte der Heywoods bedeutete mir sehr viel. Ich hatte das Gefühl, dass sieetwas sehr Wichtiges und Allgemeingültiges über die Hoffnungen und Ängsteaussagt, die wir mit der Biologie verbinden. Im Moment schreibe ich weitereArtikel für den New Yorker und auch ein neues Buch. All diese Projekte undGeschichten bringen mich immer wieder zurück zu den Grenzen der Medizin".
Die Fragen stellte Ulrike Künnecke,Literaturtest.
- Autor: Jonathan Weiner
- 2005, 1, 415 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Siedler
- ISBN-10: 3886807495
- ISBN-13: 9783886807499
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
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