Shanghai Tango
Shanghai Tango von Jin Xing
LESEPROBE
Dasweißhaarige Mädchen
Der Jeepparkt vor der Haustür meiner Mutter in Peking. Ich sitze hinten, auf dem Sitzneben mir ist die Filmausrüstung verstaut: Videokameras, Kabel, Mikros,Beleuchtungsutensilien. Li Xiaoming hat mit einerKamera in der Hand auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Er dreht sich zu mir,um mich zu filmen. Li Jian, der am Steuer sitzt, wirdungeduldig. Wir werden zu spät kommen. Li Xiaomingbittet ihn um ein wenig Geduld. Mama ist herausgekommen, um sich noch einletztes Mal von mir zu verabschieden, und er richtet die Kamera auf sie. Siehält sich an der Tür fest. Ich sehe Tränen über ihre Wangen fließen, obwohl siedoch sonst nie weint! Sie wischt sie nicht weg. Mein Herz krampft sich zusammenbei dem Anblick. Sie hat mir ihre ganze Liebe geschenkt, mir, ihrem einzigenSohn. In China ist es der Sohn, der die Familie fortleben lässt. Es ist derSohn, den man mit Liebesbeweisen überschüttet. Es ist der Sohn, der zählt. Undjetzt wird sie ihren Sohn verlieren und an seiner Stelle eine weitere Tochterbekommen. Li Jian tippt auf das Zifferblatt der Uhr. »Wirmüssen los.« Auf mein zustimmendes Zeichen hin drehter den Zündschlüssel. Der Jeep springt an. Ich drehe mich wieder zu meiner Mutter.Sie steht immer noch da, stocksteif und mit tränennassem Gesicht. Und plötzlichmuss auch ich weinen. Li Xiaoming filmt mich. Hintereinem Schleier aus Tränen zieht die Straße an mir vorbei. Ich rede mir ein,dass ich um meine Mutter weine. Aber das stimmt nur halb. Ich weine auch ummich. Ein Abschnitt meines Lebens geht zu Ende: Mein Leben an der Militärakademie,wo ich den Rang eines Obersts bekleide, mein gesamtes Leben als Junge und Mann,das einzige Leben, das ich kenne. In ein paar Stunden wird es zu Ende sein, undes wird kein Zurück mehr geben. Ich stürze mich kopfüber ins Unbekannte. Obwohlich gut vorgesorgt und immer wieder über die Gründe nachgedacht habe, die dafürund dagegen sprechen, mir über die Einzelheiten der Operation klar gewordenbin, mir sogar in den schicken Boutiquen von Las Vegas eine ganze Kollektionweiblicher Dessous gekauft habe, fehlt mir jedes sichere Wissen über das, wasdie Zukunft für mich bereithält. Eben erst haben wir das chinesischeNeujahrsfest gefeiert. Wir schreiben das Jahr 1995. Im August werde ichachtundzwanzig Jahre alt sein. Schon vor zwei Jahren bin ich aus Europazurückgekehrt, schon zwei Jahre warte ich auf diesen Augenblick. Aber inWahrheit sind es über zwanzig Jahre. Es ist kalt. Außerhalb der Stadt ist dieErde vom Winter ausgetrocknet, die Bäume sind kahl. Die sonst so lieblicheLandschaft sieht heute düster aus. Ob wir schnell fahren, ob wir am Rand vonPeking in Staus geraten - all das bemerke ich nicht. Im Krankenhaus in denDuftbergen zeigt uns Frau Dr. Yang ihre Sammlung von Silikonbrüsten. Es gibtBrüste in allen Größen: zweihundert Gramm schwer, zweihundertfünfzig, vonwinzig bis extrem schwer. Ich wiege sie in der Hand. Ich kann auswählen wie ineinem Laden. Es ist betörend. Die größte berühre ich mit einem Finger. Sie iststraff und glatt und bezaubernd gewölbt, ich will sie und keine andere. DochDr. Yang versucht mich davon abzubringen und preist die Eigenschaften derkleinsten, die ich lächerlich platt finde. Eine Brust für junge Mädchen vonkaum achtzehn Jahren. Kommt nicht in Frage! Ich brauche die Brüste einerrichtigen Frau. Li Xiaoming ist meiner Meinung. Vonseinem männlichen Standpunkt aus betrachtet sind ohne Zweifel dievoluminösesten Brüste die schönsten. Doch Dr. Yang hört nicht auf ihn. »SolcheBrüste werden Sie beim Tanzen stören«, sagt sie mit ihrer ganzen medizinischen Autorität.Ich glaube allerdings, dass sie die großen einfach unpassend findet, zu sehrins Auge fallend. Eine junge Chinesin soll diskrete Brüste haben. Schließlich,nach langen Diskussionen, entscheiden wir uns für einen Kompromiss: einemittlere Größe. So fängt es an. Mit den Brüsten. Eine ganz einfache Sache, vonden drei Eingriffen, die ich durchzustehen habe, die am wenigsten schmerzhafteOperation. Zudem bin ich in guten Händen: Frau Dr. Yang Peiyingist Schönheitschirurgin und hat die Brustoperation in China eingeführt; ihreReputation auf diesem Gebiet ist unangefochten. Ich habe ein Zimmer für mich.Darauf musste ich lange warten, und es ging nicht ohne Warten und harteVerhandlung ab. Normalerweise liegen die Patienten zu fünft oder gar zu siebtin einem Zimmer. Die Einzelzimmer sind amtlichen Würdenträgern und höherenOffizieren vorbehalten. Die Verwaltung hatte mich gewarnt: Wenn Sie allein seinwollen, werden Sie teuer dafür bezahlen müssen. Das war mir egal. Wenn nötig,würde ich auch das Dreifache zahlen. In einem Zimmer mit nur einem Bett fühlt mansich wie im Hotel. Man hat seine Ruhe, sein privates Bad, eine eigeneSchwester, Fernsehen, Telefon, also den größtmöglichen Luxus. Ich will mich wiezu Hause fühlen. Li Xiaoming und das Fernsehteamhaben das Zimmer daneben gemietet und ihre Ausrüstung darin untergebracht (essind drei Kameras da und sechs Journalisten). Li Xiaomingkönnte auch in dem Zimmer übernachten: Das Krankenhaus lässt keine Möglichkeitder zusätzlichen Geldeinnahme ungenutzt, man sieht ein Zimmer nicht gernunbelegt. Kurz nach dem Neujahrsfest gibt es nicht allzu viele Patienten aufder Abteilung Schönheitschirurgie. Zunächst muss ich den psychologischen Testabsolvieren, der im Krankenhaus Nummer drei in Peking stattfindet. Eine For malität, verglichen mit den im Westen verlangten zweiJahren Psychotherapie, gefolgt von der Prüfung des »wirklichen Lebens«, bei derman als Frau gekleidet seinen Alltag bewältigen muss, um die Ärzte von derErnsthaftigkeit und Fundiertheit seines Anliegens zu überzeugen; erst dannnehmen sie das Skalpell in die Hand. Entschlossen widme ich mich der Liste mitden über tausend Fragen - denkbar trockenen Fragen, bei denen man nur Ja oderNein ankreuzen kann. Um den Probanden auszutricksen, kehren die gleichen Fragenin veränderter Form immer wieder. Ich gebe mir Mühe. Nur jetzt, so kurz vor demZiel, nicht noch Schiffbruch erleiden Bei nur 60 Prozent »weiblichen«Antworten gilt die Operation als nicht gerechtfertigt. Bei 75 Prozent wird eineBehandlung zur Stärkung der Männlichkeit des Patienten befürwortet, das wäre imakademischen Leben die Chance zur Wiederholungsprüfung für den Kandidaten. Beiüber 80 Prozent wird die Operation empfohlen. Ich peile also die 80 Prozent an.Das Ergebnis übertrifft meine Hoffnungen: 94 Prozent. Die medizinischenExperten geben mir grünes Licht. Im OP. Blendendes Licht. Überall laufen Männerin weißen Kitteln umher. Wozu all diese Ärzte? Aber nein! Es sind dieFilmleute, allesamt mit mir befreundet, denen man die hier angemesseneOP-Kleidung gegeben hat. Sie installieren ihre Lampen so, dass der Operationstischgut zu sehen ist. Frau Dr. Yang hat ihnen die Erlaubnis zum Drehen gegeben.Schon vor Monaten hat Li Xiaoming angefangen mitseinem Dokumentarfilm über mich, in dem meine Operation den Hauptteil bildenwird. Ich fühle mich besser, als ich sehe, mit welchem Eifer sie sich ins Zeuglegen - als würden sie die Bühne für eine Aufführung vorbereiten. Ich muss nurnoch mein Tanztrikot überziehen, und schon geht s los! Ich straffe mich. ( )
© Blanvalet Verlag
Übersetzung:Anne Spielmann
- Autor: Jin Xing
- 2006, 1, 222 Seiten, mit farbigen Abbildungen, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Mit Catherine Texier. Aus d. Französ. v. Anne Spielmann
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764502169
- ISBN-13: 9783764502164
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