So fern wie der Himmel
Milizen verraten. Für seine Familie beginnt ein tödlicher Spießrutenlauf: Begleitet von Tod und Hunger gelingt den Trofimows die Flucht in das russisch-chinesische Grenzgebiet....
Milizen verraten. Für seine Familie beginnt ein tödlicher Spießrutenlauf: Begleitet von Tod und Hunger gelingt den Trofimows die Flucht in das russisch-chinesische Grenzgebiet. Doch auch hier ist die Familie nicht in Sicherheit... Eine opulente Schicksalssaga von der Russischen Revolution bis zu den Dreißigerjahren im brodelnden Schanghai. Julian Lees ist ein bewegender Roman gelungen, der auf der dramatischen Lebensgeschichte seiner
eigenen Großeltern beruht.
Von der Russischen Revolution bis zu den Dreißigerjahren im brodelnden Shanghai - dem jungen englischen Autor Julian Lees ist eine mitreißend dramatische Schicksalssaga gelungen, die auf der Geschichte seiner eigenen Familie beruht! Ein bewegender, kraftvoll erzählter Roman voller Sehnsucht, Hoffnung und großer Gefühle.
Manchmal bedarf es nur eines einzigen, geflüsterten Satzes - und das Schicksal einer ganzen Familie scheint für immer besiegelt ... Als der zarentreue Vassya zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die Milizen verraten wird, beginnt für die Trofimows jäh ein tödlicher Spießrutenlauf: Begleitet von nichts als Tod und Hunger, gelingt ihnen die Flucht in das russisch-chinesische Grenzgebiet bei Harbin. Doch auch hier ist die Familie noch längst nicht sicher vor den Häschern der Revolution ...
Und so fliehen die Trofimows immer weiter, bis zum Delta des Yangtse - in die schillernde Handelsmetropole Shanghai. Aber auch an diesem überwältigend fremdartigen Ort kämpfen die verzweifelten Russen ums nackte Überleben inmitten von Armut und politischem Terror. Bis Vassyas Tochter Agrapina eines Tages dem jungen Eurasier George Talbot begegnet - der ebenso wie sie den bitteren Geschmack der Verzweiflung kennt. Georges Erbe ist sein unbeugsamer Wille zur Gerechtigkeit. Und ein Herz, das die Erfüllung seiner Liebe gegen alle Widerstände sucht ...
"So unglaublich die Geschichte erscheint, so realistisch, spannend, tragisch und bilderreich weiß er [Lees] sie darzustellen ...Da das Ende offen bleibt, darf man sich mit Sicherheit auf eine Fortsetzung freuen." - sandammeer.at
"Das Erstlingswerk des Autors ist nicht nur eine atemberaubend bewegende Geschichte Vertriebener auf der Suche nach Ankommen und Glück. Es ist das Debüt eines 'geborenen Erzählers'." - FREIES WORT
"Opulente Familiensage, große Liebesgeschichte und rauschendes Fest für die Sinne" - Neues Deutschland
So fern wie der Himmel von Julian Lees
LESEPROBE
Ein kleiner Ort an der Landstraße
Wenn es sodonnerte wie im Sommer des Jahres 1915, durfte Agrapinanicht allein in den Wald gehen. Ihre Mamaschka hatte esihr verboten. Also saß Agrapina stattdessen auf dergefliesten Veranda vor dem Haus und lauschte dem Prasseln des Regens. Sie saßstundenlang einfach nur da und sah zu, wie die Feuchtigkeit die Farbe von derMauer abwusch, oder beobachtete eine der Eidechsen oder eine Schnecke.
Das Zuhauseder Trofimows lag im Ural, etwa tausend Kilometer östlichvon Moskau. Sein Wasser bezog es aus dem Chanev-Kanal,einer labyrinthischen Wasserstraße, die sich durch das Land wand, bis sie sichmehrere hundert Kilometer weiter südlich ins Kaspische Meer ergoss. Das weißgestrichene Haus mit den blauen Fensterläden hatte sechs Zimmer, alle mit hoherDecke und einem Holzboden, der an einigen Stellen schon etwas durchhing. ImGarten hinter dem Haus befand sich ein Hühnerstall, vor dem Haus wuchs eineschmale Reihe Beerensträucher. Das Haus selbst hatte Ähnlichkeit mit einerschlafenden Schildkröte, was jedoch nur auffiel, wenn man es aus der Fernebetrachtete. Agrapinas Vater, Wassya,hatte den Dachstuhl selbst gezimmert und das Dach so gedeckt, dass es sich inder Mitte wölbte. Es sah aus wie ein brauner Buckel, aus dessen Mitte ein Schornsteinragte. Agrapina fand, dass ihr Vater seine Sache gut gemachthatte, denn es regnete niemals herein, auch nicht beim schlimmsten Unwetter.Jenseits der Schildkröte, ganz am Ende des Gartens, hinter dem Hühnerstall unddem Abort, befand sich ein Obstgarten mit vielen Pflaumenbäumen. Daneben stand eingroßer Ahornbaum, dessen Blätter sich Ende September immer feuerrot färbten.
Vor demErsten Weltkrieg hatten die Trofimows noch einen Dienergehabt - einen ruhigen, kahlköpfigen Mann namens Vladimir -, aber diese Tagewaren längst vorbei. Jetzt waren es Agrapina und Stepan, ihr älterer Bruder, die im Haus für Ordnung sorgten,wenn ihre Mutter sich um die kleine Galia kümmerte, dieständig schrie. Stepans Aufgabe war es dabei vorallem, das Hühnerhaus sauber zu halten und den schwarzen, harten Boden um denObstgarten herum zu pflügen, während Agrapina alles schrubbte,was eine Reinigung mit der Bürste vertrug - Böden, Töpfe, Türen und Wände. Siehasste die Hühner. Sie hasste ihren Gestank und ihre stechenden Augen, wenn siemit ruckendem Kopf ihr Futter vom Boden pickten. Und so blieb sie im Haus, wannimmer Stepan im Hühnerstall zu tun hatte.
Wassya Trofimow hatte das Haus 1908, zusammen mit seinem Vater,gebaut. Sie waren beide Kosaken, polkowniks,Regimentskommandeure, gute Reiter mit flinken, geschickten Händen. Sie hattenden Mörtel gemischt, Steine und Sand geschleppt, das Holz gedrechselt und warendann in der Abenddämmerung im »Kosakenstil« durch den Wald geritten, wobei siedie Unterschenkel zurückgenommen und den Rumpf stolz ein Stück über den Sattelerhoben hatten. Agrapina lernte ihren Großvater nie kennen,er starb, bevor sie geboren wurde. Was ihren Vater betraf, nun, Agrapina hatte ihn das letzte Mal 1913 gesehen, als sie zweiJahre gewesen war, kurz bevor er in den Kampf zog. Das war jetzt fast einganzes Leben her, vor allem, wenn man berücksichtigte, dass sie im Juni schonviereinhalb Jahre alt wurde.
Nun, wiedem auch sei, sie fanden drei yurts Landund bauten dieses Haus auf einem Hügel, von dem aus man auf das Dorf Klara hinabsehen konnte. Es war ein guter Platz, denn im Sommer wares dort kühl, und im Winter boten die Bäume genügend Schutz. Über den Hügelblies beständig ein frischer Wind. Er rüttelte nachts an den Fensterläden undriss die Bewohner des Hauses aus dem Schlaf. In diesen erzwungenen Wachstunden mussteAgrapina oft über ihren Vater nachdenken, auch wenn siesich kaum an ihn erinnern konnte. Aber wenigstens machte der Wind die heißenJulinächte etwas erträglicher.
Wenn eswährend des Tages regnete, saß Stepan gern imSchaukelstuhl seines Vaters, und Agrapina quetschtesich zwischen ihn und ihre Mamaschka, die Galia in den Armen wiegte. An Nachmittagen wie diesenkonnte sie den Stechginster riechen und den schweren Duft der Blumen, die imnahen Wald wuchsen, beinahe körperlich spüren. Dann nahm ihre Mutter oft einFoto ihres Paapas zur Hand, das von einer klarenHülle aus Zelluloid geschützt war. Sie bewahrte es in einem braunen Umschlag nebenihrem Bett auf, und wenn sie es herausnahm, so ging sie damit stets überausvorsichtig um - es war alles, was ihr von ihm geblieben war. Auf der Rückseitestand mit schwarzer Tinte geschrieben: »Du bist der Sonnenschein meinerTagträume.«Ihre Mamaschka kannte die Worte auswendig.
»Erzähl unsdoch noch einmal, wie du Paapa kennen gelernt hast«,bat Stepan.
»Er hat mirbeim Schlittschuhlaufen zugesehen. In seiner Uniform hat er so unglaublich gutausgesehen. Zuerst habe ich versucht, nicht zu ihm hinzusehen, aber dann hat ermir etwas Warmes zu trinken gebracht, und wir haben uns unterhalten. Euer Paapa hatte die Angewohnheit, ein Taschentuch auf dieParkbank zu legen, damit ich mich daraufsetzenkonnte es war aus dünner Baumwolle und wärmte nicht besonders, aber es war eineso romantische Geste.« Ihre Stimme verlor sich.
»Wie ist Paapa?«, fragte Agrapina. »Ist er lustig?«
Ihre Mutterlächelte. »Sehr sogar.« Sie nahm ihre Kinder in die Arme. »Wenn er jetzt hierwäre, würden wir gar nicht mehr aufhören können zu lachen. Euer Paapa weiß Geschichten zu erzählen, bei denen man die Augenschließt und ins Träumen gerät, Geschichten, die einen ganz schwindelig machen.«
»Was fürGeschichten, Mamaschka.«
»Vonmerkwürdigen Leuten und unbekannten Orten. Orte, an denen es Drachen und bunteVögel gibt und wo das Wasser die Farbe von Silber hat.«
»Ist erstark?«, wollte Stepanwissen.
»Stark?Euer Paapa kann tanzen und dabei noch das Tambu- rin spielen, während erdrei Männer auf dem Rücken trägt. Und ihr solltet einmal sehen, wie er imHandstand laufen kann.« Stepanund Agrapina lauschten den Worten ihrer Mutter mitvor Staunen weit aufgerissenem Mund.
Das Fotozeigte ihn kniend, wie er die Klinge seines Säbels schärfte. Er trug denschweren burkha-Pelz des Ural-Kosakenregiments.An der Brust blitzte der Orden des heiligen Georg. Er hatte den Rang einesObersts und war einer der jüngsten Männer, die jemals mit dem Kreuz desheiligen Georg ausgezeichnet worden waren. Man hatte ihm den Orden für seineTapferkeit vor dem Feind verliehen - nach der erfolgreichen Schlacht bei Gumbinnen, in der sein Regiment 1914 die ostpreußischen StädteGoldab und Lyck eroberthatte. Ihr Paapa war offensichtlich ein sehr tapfererMann, und ihre Mutter erzählte oft von seinem Heldenmut. Einmal, so berichtetesie ihren ehrfürchtig zuhörenden Kindern, hatte der selbst halb erfrorene Wassya Trofimow zwanzigverwundeten Kameraden das Leben gerettet, indem er ihre Maultiere fünfzigKilometer weit über Schnee und Eis gezerrt hatte.
Ihre Muttererwähnte jedoch nicht, dass mit seiner Kühnheit auch ein Hang zum Glücksspielverbunden war. Obwohl es erklärt hätte, warum die Familie am Rand von Klaralebte und nicht etwa im vornehmen Sankt Petersburg oder dem geschäftigen Kiew.Klara war ein ruhiges, beschauliches Dorf, das sich zwischen die mächtigenBerge des Urals auf der einen Seite und die reißende Wolga auf der anderenschmiegte. Es lag mitten im grünen, bewaldeten russischen Tiefland, ein kleinerOrt an der Landstraße, die von Moskau nach Permführte.
Wassyahatte stets behauptet, er habe alles verloren - das Geld sowie das Haus in dernahen Stadt Kasan -, in Wahrheit war esjedoch sein Vater gewesen, der das gesamte Vermögen verspielt hatte. Doch Wassya hielt es für eine Frage der Ehre, den guten Rufseines Vaters zu schützen.
Agrapinabetrachtete das Foto ihres Paapas oft, wenn esregnete. Er hatte tief liegende Augen, wässrig, aber intensiv, stolze, hoheWangenknochen und schönes, dichtes, dunkles Haar. Er sah ganz anders aus alssie oder Stepan oder die kleine Galia.Stepan hatte, genau wie Agrapina,blonde Haare und eine helle Haut. Und weil er schon sechs Jahre alt war,fehlten ihm gerade die Schneidezähne. GaliasGesichtszüge ähnelten denen ihrer Mutter, aber auf ihrem Kopf kringelten sichunzählige tizianrote Locken. Ihre Mutter sagte, das Rot stamme von ihrerFamilie, was Agrapina durchaus plausibel fand, wennman bedachte, wie oft ihre Mutter sich über ihre blasse, hohe Stirn beklagte,die so empfindlich auf jeden Sonnenstrahl reagierte. Das bedeutete, dass ihreMutter im Sommer ständig ein Tuch um den Kopf trug, was ihr ohnehin schonkräftiges Gesicht noch phlegmatischer erscheinen ließ. Die Familie ihrer Mutterlebte vom Heringsfang. Sie besaß in Kem, einerKüstenstadt am Weißen Meer in der Nähe der finnischen Grenze, eineFischfangflotte. Agrapinas Eltern, Wassya und Tanja, hatten sich kennen gelernt, als Wassya in Belomorsk stationiertgewesen war, nicht weit entfernt vom Geburtsort ihrer Mamaschka.Er war noch ein junger Leutnant gewesen und Tanja nicht älter als sechzehnJahre und gerade dabei, das Schlittschuhlaufen zu lernen.
Wenn Agrapina das Gesicht ihres Vaters betrachtete, fragte sie sichoft, ob seine Gesten genauso zurückhaltend waren wie die ihrer Mamaschka, die sich, so wie die meisten Leute vom Land, ohnejede Eile bewegte und oft lange brauchte, um einen Gedanken zu formulieren.Erst als Agrapina älter war, wurde ihr bewusst, dassihre Mutter nur deshalb immer so bedächtig wirkte, weil sie fast immer sehrtraurig war. ( )
© Blanvalet Verlag
Übersetzung:Gloria Ernst
- Autor: Julian Lees
- 2006, 447 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Ernst, Gloria
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764501871
- ISBN-13: 9783764501877
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