Solange es Wunder gibt
Sie spürt die Küsse des Mannes, den sie liebt wie niemanden sonst auf der Welt. Ein Tag am Strand mit dem Liebsten - das vollkommene Glück. Allein ein Rettungshubschrauber stört die Stille. Und plötzlich fällt Alexandra auf:...
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Produktinformationen zu „Solange es Wunder gibt “
Sie spürt die Küsse des Mannes, den sie liebt wie niemanden sonst auf der Welt. Ein Tag am Strand mit dem Liebsten - das vollkommene Glück. Allein ein Rettungshubschrauber stört die Stille. Und plötzlich fällt Alexandra auf: Nur ihre eigenen Füße hinterlassen Spuren im Sand.
Lese-Probe zu „Solange es Wunder gibt “
Solange es Wunder gibt von Ben Bennett1
Es war noch früh am Morgen, und Alexandra stand gähnend in ihrem seidenen Nachthemd, das sie erst gestern in der Stadt bei Browley's gekauft hatte, auf der Veranda ihres Strandhauses. Sie beobachtete, wie ein Fischerboot durch das blaue, von einem vorbeiziehenden Frachter aufgewühlte Meer pflügte, ganz und gar eingehüllt von einer Wolke aus kreischenden Möwen.
Dass es zarte Fäden zwischen Himmel und Erde gab, die zu dünn waren, um sichtbar zu sein, hatte sie noch nicht gehört, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Um diese Zeit konnte es eigentlich nur einer sein. Auf einen Schlag war ihre Müdigkeit wie weggeblasen. Alexandra fühlte sich munter wie ein kleines Mädchen morgens um sechs auf dem Weg zum Schlafzimmer der Eltern, als sie barfuß über die breiten, weiß lackierten Holzdielen durch das Haus rannte, abnahm und sich mit einem Lächeln in der Stimme meldete.
»Hallo? Hier spricht die glücklichste Frau der Welt am schönsten Ort der Welt und wer sind Sie?« »Alexandra Olsen?« Es war eine andere Stimme als die, die sie erwartet hatte. Aber sie klang sympathisch. Tief und rauchig.
Sie erinnerte Alexandra an einen dicken braunen Brummbären. Und sie kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Ja, das bin ich«, sagte sie und lachte vergnügt. Sie nahm sich vor, ein wenig mit dem Bären zu spielen.
»Mein Name ist Johnson. Ich warte seit einer Stunde auf Ihren Mann er wollte mir das Haus der Jensens zeigen, das oben am Kliff.«
Es war fast zwei Stunden her, dass Morten kurz nach Sonnenaufgang aus dem Haus gegangen war. Gut gelaunt war er über die Tür auf der Fahrerseite hinweg in seinen offenen moosgrünen Mercedes Pagode gesprungen, dessen milchkaffeebraune Ledersitze schon manche romantische Szene miterlebt
... mehr
hatten. Alexandra konnte noch seinen Abschiedskuss auf ihren Lippen spüren kein anderer Mann berührte sie so, wie er es tat.
»Er ... Er müsste längst da sein.« Sie geriet ein wenig ins Stottern auf dieses Spiel war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie merkte, dass ihre Stimmung kippte und sich hinterrücks ein zweites Gefühl in ihr Herz schlich, das noch einen Wimpernschlag zuvor mit Glückseligkeit gefüllt gewesen war.
Die Angst klopfte an, leise, aber energisch.
»Haben Sie es auf dem Handy versucht?« Sie konnte selbst hören, wie ihre Stimmbänder vor Aufregung zu flattern begannen.
»Mehrmals, aber er geht nicht ran. Alexandra, ich sag Ihnen was, und das auch nur, weil ich schon einmal ein gutes Haus über Ihren Mann gekauft habe: Ich warte noch zehn Minuten«, brummte Johnson in den Hörer, »dann gehe ich zu einem anderen Makler.«
»Es gibt sicher eine Erklärung«, entgegnete Alexandra, »Morten kommt sonst nie zu spät.«
»Zehn Minuten«, sagte Johnson am anderen Ende der Leitung und legte auf. Von der Veranda her wehte ein frischer Sommerwind ins Wohnzimmer.
Zu dieser Jahreszeit schien das Haus aus Düften gebaut zu sein. Wilder Thymian, Lavendel und Kiefernnadeln strömten aus den Dünen in die ins Inselinnere weisenden Räume. Die Meeresbrise blies von der anderen Seite auf das Haus.
Bald würde die Hochsaison beginnen und ein weiterer Duft durch die weit geöffneten Fenster wehen, der von Sonnenmilch, die jeweils gängige Sorte, Kokos üblicherweise.
»Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wo er steckt?«, flüsterte Alexandra der dicken Pearl ins Ohr, als sie aus dem Bad kam, wo sie sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht geklatscht und ihr Nachthemd gegen ein leichtes Sommerkleid getauscht hatte.
Doch Pearl, ihre Bobtail-Hündin, lag schnarchend wie ein im Hochbetrieb laufendes Sägewerk auf den warmen Holzbohlen, die überzogen waren von einer hauchdünnen Schicht Sand, den der Wind im Laufe der Nacht herangeweht hatte. Pearls ganzer Körper schien vor Wohligkeit zu vibrieren. Kein Wunder: Sie hatte keine Termine und konnte seelenruhig weiterschlafen und sich vom Vorabend erholen, an dem die kleine Familie ein wenig über die Stränge geschlagen hatte.
Gestern hatten Morten und sie gefeiert. Einen Augenblick, der sich bis heute in ihren Herzen eingenistet hatte, unberührt von den Regentagen des Lebens den Tag, an dem seine Lippen zum ersten Mal ihre berührt hatten.
Oh Gott, wie lange das her war und wie nah zugleich! Aber sie hatten es übertrieben, weil sie nicht genug hatten kriegen können vom Licht der Sterne und der unzähligen Kerzen unter dem leuchtenden Nachthimmel. Wie jedes Jahr hatten sie am Nachmittag sämtliche Läden auf der Insel, die Wachswaren im Bestand hatten, geplündert und daraus ein Lichtermeer erschaffen, in dessen goldenem Glanz sie bis spät in die samtweiche Nacht hinein Arm in Arm geschwelgt hatten.
Sie waren alle drei ziemlich versumpft und deshalb ausnahmsweise nicht wie frisch geschlüpfte Kanarienvögel aus dem Nest geflattert. Doch die Schönheit und Unberührtheit eines erwachenden Tages, der mit einem tiefblauen Versprechen an den Strand brandete, hatte schon bald alle Müdigkeit weggespült und Energie in Alexandra gepumpt, die sich einen Tag ohne diese göttliche Kraft nicht mehr vorstellen konnte.
Ein Leben in der Stadt? Nein, danke! Wer einmal hier gelandet war, der wusste ein echtes Paradies von paradiesischen Verlockungen zu unterscheiden. Heute Morgen waren sie zusammen aufgestanden und hatten ihr kleines Frühstück im Bett eingenommen »kleines Frühstück« hieß bei ihnen eine Tasse Tee und ein geviertelter Apfel, den Alexandra Morten mit der einen Hand fürsorglich in den Mund schob, während sie sich an ihn gekuschelt hatte.
Ihre Haut war noch bettwarm gewesen, als sie den anderen Arm um seinen Hals und die Nase an seine stoppelige Wange gelegt hatte, wobei sie immer wieder kurz eingenickt war, begleitet vom Rauschen der Wellen, das durch das weit geöffnete Fenster in den Raum ebbte.
Anschließend hatte sie ihn noch zum Wagen gebracht, der in der Kiesauffahrt stand, eingehüllt in eine fein perlende Haut aus feucht glänzendem Morgentau. Morten hatte sie geküsst und war losgefahren. Was war dann geschehen? Sie ... Sie erinnerte sich nicht mehr.
Bis zu dem Augenblick, in dem sie aufgewacht war, auf dem Sofa, das vor der Glasfront im Wohnzimmer stand und von dem man direkt auf das offene Meer hinaussah. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Morten aufgehalten haben könnte. Es war noch Nebensaison, und auf ihrer kleinen Insel waren die Begriffe »Berufsverkehr« und »Stau« Fremdwörter.
Gerade deswegen hatte sie ein ungutes Gefühl es kam direkt aus ihrem Bauch, der sie nur selten täuschte. Sie wollte gerade Mortens Handynummer wählen, als sie Geräusche aus der Küche hörte. Es klang so, als hantiere dort jemand ungeschickt mit Geschirr. Eine Haushälterin gab es nicht, denn diese hätte verhindert, dass Morten und sie sich zu jeder Zeit im Haus frei bewegen konnten, wie sie es gewohnt waren, nicht für die Augen Dritter gedachte Zärtlichkeiten auf dem Küchentisch eingeschlossen.
Abgesehen davon hatte sie sowieso genügend Zeit und es störte sie nicht, sich ein wenig um die kleinen Arbeiten in Haus und Garten zu kümmern. Alexandras Blick fiel auf eine halb volle Wasserflasche auf dem Tischchen vor dem Sofa dem einzigen Gegenstand in greifbarer Nähe, den man notfalls gegen einen Einbrecher zum Einsatz bringen konnte.
Vorsichtig, die Flasche verkehrt herum in der Hand haltend wie einen Baseballschläger, tastete sie sich an der Wand entlang zur Küche. Mit einem entschlossenen Schritt trat sie in den Türrahmen, begleitet von Pearl, die mittlerweile aufgewacht und ihr neugierig gefolgt war.
»Himmel, hast du mich erschreckt was machst du denn hier?« Vor dem Kühlschrank stand Morten und öffnete eine Flasche Champagner, die schon seit Monaten unberührt dort gelegen hatte. Etwas an ihm erschreckte sie noch mehr als sein unerwartetes Auftauchen. Es war sein Blick. Er stach ihr mitten ins Herz. Sie kannte diesen Mann länger, als sie lesen und schreiben konnte, sie kannte ihn in- und auswendig, ihren Sonnenaufgang, ihren verrückten Vogel, der sie so oft zum Lachen brachte und kein Dunkel, keine Nacht zu kennen schien.
Nun aber lächelte er sie an aus feuchten Augen und war ganz still und ernst. »Ich möchte mit dir anstoßen«, sagte er nach einem Augenblick, in dem sie sich gegenüberstanden wie zwei scheue Rehe auf einer von Jägern belauerten Lichtung, während er zwei Gläser aus dem Küchenschrank nahm und einschenkte.
Pearl drückte sich begeistert hechelnd gegen seine Beine ein Ritual, das sie sich angewöhnt hatte, um ihr Wohlwollen auszudrücken, wenn einer von ihnen beiden nach Hause kam.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie und ließ die Wasserflasche sinken, die ihre Hand noch immer umklammerte wie ein Schraubstock. »Dieser Johnson hat mich angerufen er sagt, er wartet seit einer Stunde am Kliff auf dich.«
»Es hat einen schweren Autounfall auf der Strecke gegeben. Ich ... Ich konnte nicht weiterfahren«, sagte Morten. Er trug eine nachtblaue Jeans und ein weißes Hemd und sah hinreißend aus. Ein Mann wie der Sommerwind, der sich im weißen Tuch eines Segelbootes einen schönen Tag macht. Alexandra schlang die Arme um seinen Hals, küsste seine Wangen, sein Gesicht, rieb sich an den kurzen, scharfen Bartstoppeln, die aus der sonnengebräunten Haut sprossen, weil er es in der Frühe nicht mehr geschafft hatte, sich zu rasieren.
»O Gott! Zum Glück ist dir nichts passiert!« Sie konnte seine Hand spüren, die fest auf ihrem Hinterkopf lag und sie hielt, als wäre sie ein kleines Mädchen, das man vor der Wahrheit schützen muss.
»Worauf trinken wir?«, flüsterte sie.
»Auf uns«, entgegnete er leise. »Auf dich und dass ich dich kennen durfte.«
Sie nahm den Kopf zurück und sah ihn an. Der Unfall hatte ihm offenbar einen ganz schönen Schock versetzt. »Dass du mich kennst, meinst du.«
»Ja ... natürlich«, sagte Morten, und seine Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen, als wäre er ein Gespenst oder ein Nebel, so abwesend war er. Erst als er ihr das Glas mit dem eiskalten, perlenden Getränk reichte, schien sein Blick für einen Moment lang klar zu werden und durch den leicht silbernen Schimmer, der auf seinen Pupillen lag, zu dringen.
»Cheers!«, sagten beide zeitgleich wie immer und lauschten einen Augenblick lang der Melodie des
Kristalls, die wie der Auftakt eines feinen Glockenspiels klang.
»Du willst mich betrunken machen, stimmt's?« Alexandra versuchte Morten, der so still war, dass es ihr Angst machte, ein wenig aufzumuntern.
Er war ein echter Mädchenschwarm, daran bestand kein Zweifel auch jetzt noch, nach so vielen Jahren. Es war ganz gewiss nicht das sanft schimmernde goldene Licht einer bereits ewig währenden glücklichen Beziehung, das sie zu dieser Einschätzung veranlasste. Von Kindesbeinen an hatte sie das Gefühl gehabt, auf ihn aufpassen, ihn sich sichern zu müssen wie ein Juwel, das man am liebsten den ganzen Tag über mit allen fünf Fingern fest umschlossen hält und nachts in einer kleinen Box unter dem Kopfkissen versteckt.
Diese kleine Box war ihr Herz. Erfreulicherweise waren sie in einer einsamen Gegend aufgewachsen, ohne wirkliche Konkurrenz. Alexandra wurde mulmig zumute bei dem Gedanken, sie wären sich mitten in New York begegnet.
Ob dieser unvergleichliche Mann sich auch dort für mich entschieden hätte? Alexandra schob die Frage beiseite, die sie sich schon tausendmal gestellt hatte, und kehrte in die Gegenwart zurück. Seine Augen waren von der Farbe des Meeres an einem klaren Sommertag, die Lippen aus zartrotem Samt. Sie liebte seine kleinen Grübchen um die Augen, wenn er lachte, das zedernholzfarbene Haar, durch das sie so gern mit den Händen strich, um nach ersten Anzeichen einer Graufärbung zu forschen, die ihn natürlich nur noch sexyer machen würde; doch noch war es nicht so weit, Morten hatte seine achtunddreißig Jahre erstaunlich gut weggesteckt. Alles an ihm hatte Kontur, nichts war schwammig oder undefiniert.
Er sah aus wie ein junger antiker Gott, wie eine altgriechische Statue. »Morten, ich hab mir überlegt, ich würde gern eine Statue von deinem Abbild fertigen lassen. Wie findest du die Idee?«
Jetzt musste er lächeln. Aber irgendetwas war anders als sonst. Normalerweise hätte er wahrscheinlich losgeprustet bei einem solchen »Kompliment« und im Telefonbuch nachgeschaut, welcher Betrieb auf der Insel Gips und Künstlerbedarf liefert.
Hatte sie etwas falsch gemacht heute Morgen oder war es tatsächlich nur der Unfall, der ihn so mitgenommen hatte?
Morten war niemand, der aus Mäusen Elefanten machte. Nicht einmal über um zwei Größen eingelaufene, zerknitterte Oberhemden regte er sich auf. Er schmunzelte nur, wenn ihr solche Missgeschicke passierten.
Jetzt hingegen machte er ein gequältes Gesicht. Alexandras Herz klopfte schneller. Wenn er so schaute wie jetzt, musste etwas Schlimmes passiert sein. Über dem Haus konnte man einen Helikopter hören. Vielleicht war er unterwegs zum Unfallort, denn normalerweise flogen keine Hubschrauber auf der Insel höchstens hin und wieder ein kleines Propellerflugzeug mit Touristen, die das Eiland aus der Vogelperspektive erleben wollten.
Davon abgesehen war der Luftraum den großen weißen Möwen vorbehalten, die mit ihren breiten Schwingen durch die Luft schossen, als wären sie keine Vögel, sondern kleine Jagdflugzeuge im Manöver, die Codes und Signale über ihre orange glänzenden Schnäbel austauschten.
Der Helikopter wurde leiser, aber solange er über ihrer Seite der Insel kreiste, würde man ihn hören können, denn hier gab es nichts außer dem Wind, dem Wasser und dem Bergmassiv, von dem jedes Geräusch zurückgeworfen wurde.
»Morten, ist alles in Ordnung? Geht's dir nicht gut?«
»Nein, ich ... Mir ist ein bisschen schwindelig. Es ist nur ... der Schock.«
Alexandra drückte ihm einen Kuss auf die Lippen aus Samt und zog ihn fürsorglich zu einem der Korbstühle an dem uralten Küchentisch aus weiß lasiertem Holz. Pearl ließ sich mit einem kräftigen Seufzer unter den Tisch plumpsen.
»Wieso erzählst du mir nicht einfach, was passiert ist?« Alexandra nahm gegenüber von Morten Platz, entschlossen, in die Offensive zu gehen anders hielt sie es nicht mehr aus.
»Ich kann nicht. Noch nicht«, erwiderte Morten. »Hör zu: Gib mir noch ein wenig Zeit, ja? Ich muss das Ganze erst verarbeiten.«
»Muss ich mir Sorgen machen?« Morten sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, der nur »Ja« bedeuten konnte.
»Nein«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen! Lass uns einfach nur den Augenblick genießen die Chance, dass wir hier zusammen sitzen können.«
»Das kann ich aber nicht, wenn du mir solche Angst machst.«
»Ich weiß«, sagte Morten, »es tut mir leid. Ich ... wollte dir keine Angst machen.«
Alexandra wünschte sich nichts sehnlicher als ein Zeichen der Entwarnung. Doch seine Augen blieben ernst, auch wenn sein Mund sich bemühte zu lächeln. Alexandra lenkte den Blick auf die Tischplatte, um Morten nicht ansehen zu müssen.
»Es ... Es war schön gestern Abend«, sagte er nach einer Weile und blickte versonnen in sein Glas. Alexandra ließ die Hand über die Tischfläche gleiten, um seine Fingerspitzen zu berühren. Vielleicht war es wirklich besser, behutsam vorzugehen, ihn nicht zu bedrängen.
»Ja, das war es. Es ist schon merkwürdig. Findest du nicht, dass wir wie ein altes Ehepaar sind? Und gleichzeitig kommt es mir vor, als hätten wir uns erst gestern kennengelernt. Jeder Tag ist vertraut und überraschend zugleich ...«
»Du hast recht«, flüsterte Morten und ließ seinen Zeigefinger auf ihrem Handrücken kreisen. »Es könnte ewig so weitergehen. Ich meine, es ... ist einfach zu schön ...«
»... um wahr zu sein?« Alexandra erschrak Himmel, wie komme ich nur auf so etwas?, fragte sie sich.
Ist es das, was er mir sagen will weshalb er heute so bedrückt ist? Vielleicht geht es gar nicht um den Autounfall, sondern um etwas viel Schlimmeres etwas, was uns beide betrifft.
Vielleicht um eine ... andere Frau? Nein, das war unmöglich! Morten und sie waren wie ein und dieselbe Person, zwei Seelen, die sich gefunden und vereint haben. Niemand konnte dieses Band zerschneiden. Der Augenblick stiller Panik wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen.
»Das wird ...«
»Wir gehen nicht ran, okay?« Verschwörerisch legte Morten den Zeigefinger auf die Lippen, als gelte es, ein Geheimnis zu bewahren. Er zwinkerte ihr zu, aber sie hatte das Gefühl, dass er es nur machte, um sie nicht noch weiter zu beunruhigen. Ihr Morten.
Wie er ihr gegenübersaß, das Champagnerglas nahezu unberührt vor sich auf der Tischplatte, als wäre er ein kleiner Junge, der etwas Fürchterliches ausgefressen hat und dem seine Brause nicht schmeckt, bevor er nicht alles gestanden hat. Sie betete, dass alles gut sei. Alles ist gut. Nichts ist passiert. Jedenfalls nichts, was mit ihnen beiden zu tun hat.
Während das schrille Läuten des Telefons die Stille in kurze, gleichmäßige Abschnitte zerhackte, dachte Alexandra daran, wie sie sich kennengelernt hatten. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihre erste Begegnung, genauso wenig wie sie sich noch vorstellen konnte, jemals ohne Morten gewesen zu sein.
Eines war sicher: In dem Maße, wie ihre Väter sich gehasst hatten, waren sie und Morten voneinander angezogen gewesen und zwar vom ersten Tag an. Es war, als wären sie füreinander geschaffen. Ihre Väter, die beiden mächtigsten Pferdezüchter im Umkreis von einhundert Meilen und zu ihrem tiefsten gegenseitigen Bedauern darüber hinaus Nachbarn, hatten einander bekämpft wie die verfeindeten Familien in Romeo und Julia, die Montagues und die Capulets.
Sie waren Streithähne, wie man sie sonst nur in Dramen findet. Vielleicht hatte dieser rohe, unnachgiebige Hass ihrer Väter Alexandra und Morten dazu gebracht, sich als Julia und Romeo zu fühlen, obwohl sie zu jenem Zeitpunkt noch nicht von Shakespeares Liebespaar gehört hatten. Denn genau das waren sie Liebende, die sich dem vorgezeichneten Lebensweg widersetzten, um eine eigene Richtung einzuschlagen. Und dabei folgten sie nur einem Kompass: ihren Herzen. Irgendwo auf dem satten, saftig grünen Gras einer Koppel im gerade erwachten Frühling oder zwischen den trockenen Heuballen in einem unerträglich heißen Stall im Sommer, neugierig unter den staksigen Beinen eines frisch geborenen Fohlens hervorlinsend, irgendwo dort hatten sie zum ersten Mal von der Existenz des anderen erfahren.
Es war eindeutig zu lange her, um noch Jahr und Tag benennen zu können. Sie und Morten waren Einzelkinder, deren Väter, um das Übel komplett zu machen, beide den Namen Jack trugen.
»Dieser Jack ist ein fürchterlicher Halsabschneider«, pflegte Alexandras Vater beim Abendessen über seinen Konkurrenten zu schimpfen während die Kleine einen Teller weiter über ihren Kartoffeln und dem verhassten Rosenkohl saß, der drüben bei Morten nur »Kugelkotze« hieß, und einfach nicht verstehen konnte, wieso ihr lieber Vater von sich in der dritten Person sprach und in einem derartigen Selbsthass versinken konnte.
Später, als sie lesen und schreiben gelernt hatte, verstand sie allmählich den wahren Sachverhalt und verlor Tag für Tag ein wenig mehr Respekt vor den sogenannten Erwachsenen. Bei Morten zu Hause lief es offenbar nicht anders ab. Da sie nur ein Jahr voneinander trennte, war es ihren Vätern nahezu unmöglich, sie voneinander zu trennen sie trafen sich wochentags in der Schule und an Sonn- und Feiertagen auch in der Kirche, in der Morten einige Jahre später auf Wunsch seiner Eltern als Messdiener wirkte.
Von seinem Platz auf dem Podest genoss er an diesem Ort der stillen Einkehr und des gemeinsamen Betens für beinahe eine volle Stunde einen ausgezeichneten Blick auf Alexandra, die abwechselnd in weißen und dunkelblauen Sonntagskleidern ihm direkt gegenüber in der ersten Reihe der Familienbank saß und verschmitzt lächelnd seine Tätigkeit verfolgte, immer auf eine kleine Frechheit seinerseits spähend. Denn sie war zu wohlerzogen, um selbst unangenehm aufzufallen, obschon sie schon immer eine Schwäche dafür gehabt hatte. Das alles war so lange gut gegangen, bis eines Tages sie waren mittlerweile in dem Alter angelangt, in dem die Mädchen sich in geistreiche junge Frauen und die Jungs sich in unreife junge Männer verwandeln ihrem sonntäglichen Blickkontakt ein jähes Ende bereitet wurde.
Morten, für gewöhnlich ein Meister der von allen außer Alexandra unbemerkten Geste, hatte dem Pfarrer den Satz »Wir beten für den Halsabschneider Jack« in seine Fürbitten geschmuggelt, wohl wissend, dass dieser sie grundsätzlich mit glasigem Blick vom Blatt ablas und hinterher nicht wusste, wovon er gesprochen hatte. An jenem Sonntag kam es in der Kirche und insbesondere in der ersten Reihe ganz links und ganz rechts, wo die beiden Jacks mit ihren Familien saßen, zu erheblichen Tumulten.
Noch am selben Vormittag wurde die Angelegenheit geklärt, indem der Gottesdiener dem Sünder himmlische und höllische Qualen androhte, sollte er seine Schuld nicht öffentlich bekennen und sich bei den beiden Jacks entschuldigen. Dass Morten daraufhin fristlos und unehrenhaft aus dem Amt zu scheiden hatte und ein anderer Junge fortan seine Pflichten als Messdiener übernahm, gefiel Alexandra zunächst gar nicht.
Morten jedoch schien es nicht ungelegen zu kommen, gab es doch mittlerweile bessere Gelegenheiten, sich zu treffen und zu beschnuppern, frei vom Gängelband der Erzeuger. Bereits am selben Abend spürte er Alexandra auf. Er entdeckte sie auf einer Tanzveranstaltung der Pferdezüchter, der die beiden Jacks zu diesem Zeitpunkt nur noch sternhagelvoll von ihren Ehrenplätzen aus beiwohnten.
An jenem Abend hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, unter einem Mond aus Gold, und mit jedem weiteren Kuss glitzerte ein Dutzend mehr wunderbarer Sterne am Firmament.
»Wenn du willst, kannst du mich heiraten«, versicherte Morten ihr an jenem Abend zärtlich. Er war damals fünfzehn gewesen. »Und wenn du willst, kannst du eine Tracht Prügel beziehen, wie du sie noch nicht erlebt hast!«
Noch jetzt, wo sie, in Gedanken versunken, an ihrem Champagnerglas nippte, klangen die groben Worte von Mortens schlagartig nüchternem Vater in ihr nach, der auf einmal mit puterrotem Gesicht neben ihnen im Dunkel gestanden hatte, eben von einem Pinkelausflug zurück nur dass sie nun, mehr als zwei Jahrzehnte später, milde darüber lächeln konnte.
»Worüber lachst du?«, fragte Morten er hatte sie ertappt, wie so oft. »Sag es nicht, ich weiß es ... Warte ... Du lachst über ...«
»... einen Halsabschneider«, ergänzte sie und strich ihm zärtlich mit der Hand über die Wange. »Davon kenn ich zwei«, sagte er und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
»Morten ... meinst du nicht, dass du Johnson anrufen solltest?« Wie auf Verabredung klingelte genau in diesem Augenblick das Telefon im Wohnzimmer. Schon wieder.
»Das wird er sein.« Alexandra beschloss, sich vorerst keine weiteren Sorgen zu machen, nicht zu spekulieren, was Schlimmes passiert sein könnte. Vielleicht war es wirklich nur Johnson, der anrief, und es handelte sich lediglich um eine Sache zwischen den Männern, irgendeinen dämlichen Streit worüber auch immer.
»Geh du ran. Es ist besser, er macht dich zur Schnecke als mich. Ich hab mit alldem nichts zu tun«, sagte sie in ihrem besten Feine-Lady-Akzent, ein Spielchen, das sie hin und wieder mit ihm trieb, um ihn ein wenig zu foppen. Auch wenn es ihr dieses Mal nicht halb so viel Spaß machte wie sonst.
Morten lächelte sie an.
»Wir werden beide nicht rangehen, was hältst du davon?«
Alexandra stutzte. Wieso wollte er partout nicht ans Telefon gehen? So kannte sie Morten gar nicht normalerweise war er mehr als engagiert, was seinen Job betraf.
»Und was ... machen wir stattdessen?«, fragte sie, ein wenig verwirrt. »Wir ... Wir genießen den Tag. Hast du Lust auf einen Spaziergang am Strand?«
Sie hatten seit Monaten keinen Strandspaziergang mehr gemacht. Sie wohnten am Strand, da gewöhnte man es sich schnell ab, dort zu spazieren, und saß lieber auf der Terrasse, um der Musik der Wellen zu lauschen. Eigentlich schade, dachte sie.
Früher sind wir oft abends zum Sonnenuntergang irgendwo in den Dünen gewesen und haben dort gelegen, eng umschlungen und nicht immer bekleidet. Doch irgendwann erwischt einen die Bequemlichkeit, und man verlegt das Abenteuer auf die Ferien.
Sie waren seit Kindesbeinen ein Paar, eine lange Zeit, und der Fluss der Jahre hatte einiges an Leidenschaft weggespült. Dafür war das Vertrauen gewachsen mit jedem Jahr, das sie gemeinsam verbrachten, hatte sich ein neuer Ring des Vertrauens gebildet, so dass es nun so mächtig war wie der Stamm einer hundertjährigen Eiche, die jedem Sturm und jedem Hagelschauer trotzt. Ja, sie hatte Lust auf einen Spaziergang.
Und Pearl, der dicken Pearl, würde es auch guttun, sich ein wenig mehr zu bewegen als üblich.
»Ich weiß nicht, ob du dich noch erinnerst aber ganz früher hast du auf diesen Spaziergängen keine Unterwäsche getragen. Außer an Sonntagen.«
Der Satz kam so trocken aus seinem Mund, als wäre er eine Scheibe Knäckebrot. Auf einmal war er wieder da, der Morten, den sie kannte und den sie unter keinen Umständen verlieren durfte. Sie jubilierte innerlich das versprach ein netter Spaziergang zu werden! Jemand sprach auf den Anrufbeantworter, aber außer, dass es nicht Johnson war, verstand sie nichts.
Sie genoss es, wie Morten sie ansah irgendwann würde er sie noch allein mit Blicken ausziehen, ohne eine Hand zu rühren.
Langsam schob sie ihr Kleid ein wenig hoch und zog den Slip herunter, der unhörbar auf den anthrazitgrauen italienischen Mosaikfliesen landete.
»So, ich wäre dann fertig«, sagte sie und gab ihm eine kleine Backpfeife, wie es ein unanständiger Junge verdiente. Mittlerweile war der Tag zu einer Symphonie in Blau geworden. Das Meer, der Himmel, alles schien ineinander zu fließen, illuminiert von einer Sonne aus flirrendem Gold. Der Strand, der sich, noch unberührt von Spuren, vor ihrer Terrasse ausdehnte, war unendlich breit und lang. Jetzt, in der Vorsaison, war er nur wenigen Auserwählten vorbehalten, die in den Häusern in den Dünen lebten, unglaublich reichen Menschen und einem jungen Immobilienmakler mit seiner Gefährtin, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen waren und sich vor allen anderen Schlaubergern ein wunderschönes altes Holzhaus gesichert hatten.
Abgesehen davon, dass sie ebenfalls nicht gerade arm waren, wie Morten ergänzt hätte, hätte er Alexandras Gedanken in diesem Moment erraten. Aber das konnte er nicht, auch wenn er immer so tat. Er hatte fast noch nie einen Gedanken richtig erraten, denn eigentlich drehten sich ihre Gedanken fast immer nur um ihn und er war einfach nicht der Typ, der glaubte, dass eine Frau ernsthaft ständig an ihren Mann dachte, wenn es doch so viele interessantere Themen wie Pferde, Schuhe oder Unterwäsche gab.
Aber Alexandra war anders als die meisten Frauen und sie war sich sicher, dass ihr Glück genau darauf beruhte. Ihr Blick fiel auf das Gedicht des Dichters Hermann Hesse, das auf einem Zettel am Kühlschrank klebte: »Stufen« es war ihr gemeinsames Lebensmotto.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Erst in diesem Moment wurde ihr klar, was hier verlangt wurde: neue Bindungen. Am liebsten hätte sie den Zettel mit einem Ruck abgerissen, um ihn in den Papierkorb zu stopfen, was Morten sicher nicht gutgeheißen hätte. Ihr Leben war perfekt, sie brauchte weder Veränderungen noch neue Bindungen. Zumindest nicht, was sie beide betraf. Eine Veränderung von etwas Perfektem bedeutete schließlich nichts anderes als eine Verschlechterung. Da sich Mortens Stimmung offenbar gebessert zu haben schien, hoffte sie wenn auch nur einen Augenblick lang , dass sich das Problem einfach in Luft auflösen würde, so als wäre nichts geschehen. Was würde sie für einen zweiten Anlauf geben an diesem eben erst erwachten Sommertag! Sie würden ein Glas Wein trinken und dann vielleicht noch eins, um die Sache, die ihn so plagte, aus der Welt zu schaffen.
Alexandra nahm sich vor, großzügig zu sein und ihm beizustehen bei was auch immer. Möglicherweise ging es ja auch gar nicht um eine andere Frau oder um etwas, was ihre Beziehung betraf. Sie sehnte sich danach, mit Morten Hand in Hand schweigend durch den warmen Sand zu laufen, bis er schließlich den Mut finden würde, mit dem, was ihn so belastete, herauszurücken. Pearl wackelte freudig erregt mit ihrem nicht mehr als zierlich durchgehenden Hinterteil, als Morten die Leine in die Hand nahm.
Sie ließen den Hund am Strand eigentlich immer frei laufen, aber Pearl hatte sich in ihrer Kindheit so sehr an die Leine als Aufbruchssignal gewöhnt, dass man zumindest einmal damit herumhantieren musste, um ihr klar zu machen, was bevorstand. Sie hatten es auch schon ohne dieses Spielchen probiert, aber lediglich fragende Blicke geerntet und den Hund nicht aus dem Haus bewegen können. »Ich will noch schnell nachsehen, wer angerufen hat«, sagte Alexandra und flitzte ins Wohnzimmer, um den Anrufbeantworter abzuhören.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der Originalausgabe © 2008 by Bastei-Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
»Er ... Er müsste längst da sein.« Sie geriet ein wenig ins Stottern auf dieses Spiel war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie merkte, dass ihre Stimmung kippte und sich hinterrücks ein zweites Gefühl in ihr Herz schlich, das noch einen Wimpernschlag zuvor mit Glückseligkeit gefüllt gewesen war.
Die Angst klopfte an, leise, aber energisch.
»Haben Sie es auf dem Handy versucht?« Sie konnte selbst hören, wie ihre Stimmbänder vor Aufregung zu flattern begannen.
»Mehrmals, aber er geht nicht ran. Alexandra, ich sag Ihnen was, und das auch nur, weil ich schon einmal ein gutes Haus über Ihren Mann gekauft habe: Ich warte noch zehn Minuten«, brummte Johnson in den Hörer, »dann gehe ich zu einem anderen Makler.«
»Es gibt sicher eine Erklärung«, entgegnete Alexandra, »Morten kommt sonst nie zu spät.«
»Zehn Minuten«, sagte Johnson am anderen Ende der Leitung und legte auf. Von der Veranda her wehte ein frischer Sommerwind ins Wohnzimmer.
Zu dieser Jahreszeit schien das Haus aus Düften gebaut zu sein. Wilder Thymian, Lavendel und Kiefernnadeln strömten aus den Dünen in die ins Inselinnere weisenden Räume. Die Meeresbrise blies von der anderen Seite auf das Haus.
Bald würde die Hochsaison beginnen und ein weiterer Duft durch die weit geöffneten Fenster wehen, der von Sonnenmilch, die jeweils gängige Sorte, Kokos üblicherweise.
»Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wo er steckt?«, flüsterte Alexandra der dicken Pearl ins Ohr, als sie aus dem Bad kam, wo sie sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht geklatscht und ihr Nachthemd gegen ein leichtes Sommerkleid getauscht hatte.
Doch Pearl, ihre Bobtail-Hündin, lag schnarchend wie ein im Hochbetrieb laufendes Sägewerk auf den warmen Holzbohlen, die überzogen waren von einer hauchdünnen Schicht Sand, den der Wind im Laufe der Nacht herangeweht hatte. Pearls ganzer Körper schien vor Wohligkeit zu vibrieren. Kein Wunder: Sie hatte keine Termine und konnte seelenruhig weiterschlafen und sich vom Vorabend erholen, an dem die kleine Familie ein wenig über die Stränge geschlagen hatte.
Gestern hatten Morten und sie gefeiert. Einen Augenblick, der sich bis heute in ihren Herzen eingenistet hatte, unberührt von den Regentagen des Lebens den Tag, an dem seine Lippen zum ersten Mal ihre berührt hatten.
Oh Gott, wie lange das her war und wie nah zugleich! Aber sie hatten es übertrieben, weil sie nicht genug hatten kriegen können vom Licht der Sterne und der unzähligen Kerzen unter dem leuchtenden Nachthimmel. Wie jedes Jahr hatten sie am Nachmittag sämtliche Läden auf der Insel, die Wachswaren im Bestand hatten, geplündert und daraus ein Lichtermeer erschaffen, in dessen goldenem Glanz sie bis spät in die samtweiche Nacht hinein Arm in Arm geschwelgt hatten.
Sie waren alle drei ziemlich versumpft und deshalb ausnahmsweise nicht wie frisch geschlüpfte Kanarienvögel aus dem Nest geflattert. Doch die Schönheit und Unberührtheit eines erwachenden Tages, der mit einem tiefblauen Versprechen an den Strand brandete, hatte schon bald alle Müdigkeit weggespült und Energie in Alexandra gepumpt, die sich einen Tag ohne diese göttliche Kraft nicht mehr vorstellen konnte.
Ein Leben in der Stadt? Nein, danke! Wer einmal hier gelandet war, der wusste ein echtes Paradies von paradiesischen Verlockungen zu unterscheiden. Heute Morgen waren sie zusammen aufgestanden und hatten ihr kleines Frühstück im Bett eingenommen »kleines Frühstück« hieß bei ihnen eine Tasse Tee und ein geviertelter Apfel, den Alexandra Morten mit der einen Hand fürsorglich in den Mund schob, während sie sich an ihn gekuschelt hatte.
Ihre Haut war noch bettwarm gewesen, als sie den anderen Arm um seinen Hals und die Nase an seine stoppelige Wange gelegt hatte, wobei sie immer wieder kurz eingenickt war, begleitet vom Rauschen der Wellen, das durch das weit geöffnete Fenster in den Raum ebbte.
Anschließend hatte sie ihn noch zum Wagen gebracht, der in der Kiesauffahrt stand, eingehüllt in eine fein perlende Haut aus feucht glänzendem Morgentau. Morten hatte sie geküsst und war losgefahren. Was war dann geschehen? Sie ... Sie erinnerte sich nicht mehr.
Bis zu dem Augenblick, in dem sie aufgewacht war, auf dem Sofa, das vor der Glasfront im Wohnzimmer stand und von dem man direkt auf das offene Meer hinaussah. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Morten aufgehalten haben könnte. Es war noch Nebensaison, und auf ihrer kleinen Insel waren die Begriffe »Berufsverkehr« und »Stau« Fremdwörter.
Gerade deswegen hatte sie ein ungutes Gefühl es kam direkt aus ihrem Bauch, der sie nur selten täuschte. Sie wollte gerade Mortens Handynummer wählen, als sie Geräusche aus der Küche hörte. Es klang so, als hantiere dort jemand ungeschickt mit Geschirr. Eine Haushälterin gab es nicht, denn diese hätte verhindert, dass Morten und sie sich zu jeder Zeit im Haus frei bewegen konnten, wie sie es gewohnt waren, nicht für die Augen Dritter gedachte Zärtlichkeiten auf dem Küchentisch eingeschlossen.
Abgesehen davon hatte sie sowieso genügend Zeit und es störte sie nicht, sich ein wenig um die kleinen Arbeiten in Haus und Garten zu kümmern. Alexandras Blick fiel auf eine halb volle Wasserflasche auf dem Tischchen vor dem Sofa dem einzigen Gegenstand in greifbarer Nähe, den man notfalls gegen einen Einbrecher zum Einsatz bringen konnte.
Vorsichtig, die Flasche verkehrt herum in der Hand haltend wie einen Baseballschläger, tastete sie sich an der Wand entlang zur Küche. Mit einem entschlossenen Schritt trat sie in den Türrahmen, begleitet von Pearl, die mittlerweile aufgewacht und ihr neugierig gefolgt war.
»Himmel, hast du mich erschreckt was machst du denn hier?« Vor dem Kühlschrank stand Morten und öffnete eine Flasche Champagner, die schon seit Monaten unberührt dort gelegen hatte. Etwas an ihm erschreckte sie noch mehr als sein unerwartetes Auftauchen. Es war sein Blick. Er stach ihr mitten ins Herz. Sie kannte diesen Mann länger, als sie lesen und schreiben konnte, sie kannte ihn in- und auswendig, ihren Sonnenaufgang, ihren verrückten Vogel, der sie so oft zum Lachen brachte und kein Dunkel, keine Nacht zu kennen schien.
Nun aber lächelte er sie an aus feuchten Augen und war ganz still und ernst. »Ich möchte mit dir anstoßen«, sagte er nach einem Augenblick, in dem sie sich gegenüberstanden wie zwei scheue Rehe auf einer von Jägern belauerten Lichtung, während er zwei Gläser aus dem Küchenschrank nahm und einschenkte.
Pearl drückte sich begeistert hechelnd gegen seine Beine ein Ritual, das sie sich angewöhnt hatte, um ihr Wohlwollen auszudrücken, wenn einer von ihnen beiden nach Hause kam.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie und ließ die Wasserflasche sinken, die ihre Hand noch immer umklammerte wie ein Schraubstock. »Dieser Johnson hat mich angerufen er sagt, er wartet seit einer Stunde am Kliff auf dich.«
»Es hat einen schweren Autounfall auf der Strecke gegeben. Ich ... Ich konnte nicht weiterfahren«, sagte Morten. Er trug eine nachtblaue Jeans und ein weißes Hemd und sah hinreißend aus. Ein Mann wie der Sommerwind, der sich im weißen Tuch eines Segelbootes einen schönen Tag macht. Alexandra schlang die Arme um seinen Hals, küsste seine Wangen, sein Gesicht, rieb sich an den kurzen, scharfen Bartstoppeln, die aus der sonnengebräunten Haut sprossen, weil er es in der Frühe nicht mehr geschafft hatte, sich zu rasieren.
»O Gott! Zum Glück ist dir nichts passiert!« Sie konnte seine Hand spüren, die fest auf ihrem Hinterkopf lag und sie hielt, als wäre sie ein kleines Mädchen, das man vor der Wahrheit schützen muss.
»Worauf trinken wir?«, flüsterte sie.
»Auf uns«, entgegnete er leise. »Auf dich und dass ich dich kennen durfte.«
Sie nahm den Kopf zurück und sah ihn an. Der Unfall hatte ihm offenbar einen ganz schönen Schock versetzt. »Dass du mich kennst, meinst du.«
»Ja ... natürlich«, sagte Morten, und seine Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen, als wäre er ein Gespenst oder ein Nebel, so abwesend war er. Erst als er ihr das Glas mit dem eiskalten, perlenden Getränk reichte, schien sein Blick für einen Moment lang klar zu werden und durch den leicht silbernen Schimmer, der auf seinen Pupillen lag, zu dringen.
»Cheers!«, sagten beide zeitgleich wie immer und lauschten einen Augenblick lang der Melodie des
Kristalls, die wie der Auftakt eines feinen Glockenspiels klang.
»Du willst mich betrunken machen, stimmt's?« Alexandra versuchte Morten, der so still war, dass es ihr Angst machte, ein wenig aufzumuntern.
Er war ein echter Mädchenschwarm, daran bestand kein Zweifel auch jetzt noch, nach so vielen Jahren. Es war ganz gewiss nicht das sanft schimmernde goldene Licht einer bereits ewig währenden glücklichen Beziehung, das sie zu dieser Einschätzung veranlasste. Von Kindesbeinen an hatte sie das Gefühl gehabt, auf ihn aufpassen, ihn sich sichern zu müssen wie ein Juwel, das man am liebsten den ganzen Tag über mit allen fünf Fingern fest umschlossen hält und nachts in einer kleinen Box unter dem Kopfkissen versteckt.
Diese kleine Box war ihr Herz. Erfreulicherweise waren sie in einer einsamen Gegend aufgewachsen, ohne wirkliche Konkurrenz. Alexandra wurde mulmig zumute bei dem Gedanken, sie wären sich mitten in New York begegnet.
Ob dieser unvergleichliche Mann sich auch dort für mich entschieden hätte? Alexandra schob die Frage beiseite, die sie sich schon tausendmal gestellt hatte, und kehrte in die Gegenwart zurück. Seine Augen waren von der Farbe des Meeres an einem klaren Sommertag, die Lippen aus zartrotem Samt. Sie liebte seine kleinen Grübchen um die Augen, wenn er lachte, das zedernholzfarbene Haar, durch das sie so gern mit den Händen strich, um nach ersten Anzeichen einer Graufärbung zu forschen, die ihn natürlich nur noch sexyer machen würde; doch noch war es nicht so weit, Morten hatte seine achtunddreißig Jahre erstaunlich gut weggesteckt. Alles an ihm hatte Kontur, nichts war schwammig oder undefiniert.
Er sah aus wie ein junger antiker Gott, wie eine altgriechische Statue. »Morten, ich hab mir überlegt, ich würde gern eine Statue von deinem Abbild fertigen lassen. Wie findest du die Idee?«
Jetzt musste er lächeln. Aber irgendetwas war anders als sonst. Normalerweise hätte er wahrscheinlich losgeprustet bei einem solchen »Kompliment« und im Telefonbuch nachgeschaut, welcher Betrieb auf der Insel Gips und Künstlerbedarf liefert.
Hatte sie etwas falsch gemacht heute Morgen oder war es tatsächlich nur der Unfall, der ihn so mitgenommen hatte?
Morten war niemand, der aus Mäusen Elefanten machte. Nicht einmal über um zwei Größen eingelaufene, zerknitterte Oberhemden regte er sich auf. Er schmunzelte nur, wenn ihr solche Missgeschicke passierten.
Jetzt hingegen machte er ein gequältes Gesicht. Alexandras Herz klopfte schneller. Wenn er so schaute wie jetzt, musste etwas Schlimmes passiert sein. Über dem Haus konnte man einen Helikopter hören. Vielleicht war er unterwegs zum Unfallort, denn normalerweise flogen keine Hubschrauber auf der Insel höchstens hin und wieder ein kleines Propellerflugzeug mit Touristen, die das Eiland aus der Vogelperspektive erleben wollten.
Davon abgesehen war der Luftraum den großen weißen Möwen vorbehalten, die mit ihren breiten Schwingen durch die Luft schossen, als wären sie keine Vögel, sondern kleine Jagdflugzeuge im Manöver, die Codes und Signale über ihre orange glänzenden Schnäbel austauschten.
Der Helikopter wurde leiser, aber solange er über ihrer Seite der Insel kreiste, würde man ihn hören können, denn hier gab es nichts außer dem Wind, dem Wasser und dem Bergmassiv, von dem jedes Geräusch zurückgeworfen wurde.
»Morten, ist alles in Ordnung? Geht's dir nicht gut?«
»Nein, ich ... Mir ist ein bisschen schwindelig. Es ist nur ... der Schock.«
Alexandra drückte ihm einen Kuss auf die Lippen aus Samt und zog ihn fürsorglich zu einem der Korbstühle an dem uralten Küchentisch aus weiß lasiertem Holz. Pearl ließ sich mit einem kräftigen Seufzer unter den Tisch plumpsen.
»Wieso erzählst du mir nicht einfach, was passiert ist?« Alexandra nahm gegenüber von Morten Platz, entschlossen, in die Offensive zu gehen anders hielt sie es nicht mehr aus.
»Ich kann nicht. Noch nicht«, erwiderte Morten. »Hör zu: Gib mir noch ein wenig Zeit, ja? Ich muss das Ganze erst verarbeiten.«
»Muss ich mir Sorgen machen?« Morten sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, der nur »Ja« bedeuten konnte.
»Nein«, sagte er. »Mach dir keine Sorgen! Lass uns einfach nur den Augenblick genießen die Chance, dass wir hier zusammen sitzen können.«
»Das kann ich aber nicht, wenn du mir solche Angst machst.«
»Ich weiß«, sagte Morten, »es tut mir leid. Ich ... wollte dir keine Angst machen.«
Alexandra wünschte sich nichts sehnlicher als ein Zeichen der Entwarnung. Doch seine Augen blieben ernst, auch wenn sein Mund sich bemühte zu lächeln. Alexandra lenkte den Blick auf die Tischplatte, um Morten nicht ansehen zu müssen.
»Es ... Es war schön gestern Abend«, sagte er nach einer Weile und blickte versonnen in sein Glas. Alexandra ließ die Hand über die Tischfläche gleiten, um seine Fingerspitzen zu berühren. Vielleicht war es wirklich besser, behutsam vorzugehen, ihn nicht zu bedrängen.
»Ja, das war es. Es ist schon merkwürdig. Findest du nicht, dass wir wie ein altes Ehepaar sind? Und gleichzeitig kommt es mir vor, als hätten wir uns erst gestern kennengelernt. Jeder Tag ist vertraut und überraschend zugleich ...«
»Du hast recht«, flüsterte Morten und ließ seinen Zeigefinger auf ihrem Handrücken kreisen. »Es könnte ewig so weitergehen. Ich meine, es ... ist einfach zu schön ...«
»... um wahr zu sein?« Alexandra erschrak Himmel, wie komme ich nur auf so etwas?, fragte sie sich.
Ist es das, was er mir sagen will weshalb er heute so bedrückt ist? Vielleicht geht es gar nicht um den Autounfall, sondern um etwas viel Schlimmeres etwas, was uns beide betrifft.
Vielleicht um eine ... andere Frau? Nein, das war unmöglich! Morten und sie waren wie ein und dieselbe Person, zwei Seelen, die sich gefunden und vereint haben. Niemand konnte dieses Band zerschneiden. Der Augenblick stiller Panik wurde vom Klingeln des Telefons unterbrochen.
»Das wird ...«
»Wir gehen nicht ran, okay?« Verschwörerisch legte Morten den Zeigefinger auf die Lippen, als gelte es, ein Geheimnis zu bewahren. Er zwinkerte ihr zu, aber sie hatte das Gefühl, dass er es nur machte, um sie nicht noch weiter zu beunruhigen. Ihr Morten.
Wie er ihr gegenübersaß, das Champagnerglas nahezu unberührt vor sich auf der Tischplatte, als wäre er ein kleiner Junge, der etwas Fürchterliches ausgefressen hat und dem seine Brause nicht schmeckt, bevor er nicht alles gestanden hat. Sie betete, dass alles gut sei. Alles ist gut. Nichts ist passiert. Jedenfalls nichts, was mit ihnen beiden zu tun hat.
Während das schrille Läuten des Telefons die Stille in kurze, gleichmäßige Abschnitte zerhackte, dachte Alexandra daran, wie sie sich kennengelernt hatten. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihre erste Begegnung, genauso wenig wie sie sich noch vorstellen konnte, jemals ohne Morten gewesen zu sein.
Eines war sicher: In dem Maße, wie ihre Väter sich gehasst hatten, waren sie und Morten voneinander angezogen gewesen und zwar vom ersten Tag an. Es war, als wären sie füreinander geschaffen. Ihre Väter, die beiden mächtigsten Pferdezüchter im Umkreis von einhundert Meilen und zu ihrem tiefsten gegenseitigen Bedauern darüber hinaus Nachbarn, hatten einander bekämpft wie die verfeindeten Familien in Romeo und Julia, die Montagues und die Capulets.
Sie waren Streithähne, wie man sie sonst nur in Dramen findet. Vielleicht hatte dieser rohe, unnachgiebige Hass ihrer Väter Alexandra und Morten dazu gebracht, sich als Julia und Romeo zu fühlen, obwohl sie zu jenem Zeitpunkt noch nicht von Shakespeares Liebespaar gehört hatten. Denn genau das waren sie Liebende, die sich dem vorgezeichneten Lebensweg widersetzten, um eine eigene Richtung einzuschlagen. Und dabei folgten sie nur einem Kompass: ihren Herzen. Irgendwo auf dem satten, saftig grünen Gras einer Koppel im gerade erwachten Frühling oder zwischen den trockenen Heuballen in einem unerträglich heißen Stall im Sommer, neugierig unter den staksigen Beinen eines frisch geborenen Fohlens hervorlinsend, irgendwo dort hatten sie zum ersten Mal von der Existenz des anderen erfahren.
Es war eindeutig zu lange her, um noch Jahr und Tag benennen zu können. Sie und Morten waren Einzelkinder, deren Väter, um das Übel komplett zu machen, beide den Namen Jack trugen.
»Dieser Jack ist ein fürchterlicher Halsabschneider«, pflegte Alexandras Vater beim Abendessen über seinen Konkurrenten zu schimpfen während die Kleine einen Teller weiter über ihren Kartoffeln und dem verhassten Rosenkohl saß, der drüben bei Morten nur »Kugelkotze« hieß, und einfach nicht verstehen konnte, wieso ihr lieber Vater von sich in der dritten Person sprach und in einem derartigen Selbsthass versinken konnte.
Später, als sie lesen und schreiben gelernt hatte, verstand sie allmählich den wahren Sachverhalt und verlor Tag für Tag ein wenig mehr Respekt vor den sogenannten Erwachsenen. Bei Morten zu Hause lief es offenbar nicht anders ab. Da sie nur ein Jahr voneinander trennte, war es ihren Vätern nahezu unmöglich, sie voneinander zu trennen sie trafen sich wochentags in der Schule und an Sonn- und Feiertagen auch in der Kirche, in der Morten einige Jahre später auf Wunsch seiner Eltern als Messdiener wirkte.
Von seinem Platz auf dem Podest genoss er an diesem Ort der stillen Einkehr und des gemeinsamen Betens für beinahe eine volle Stunde einen ausgezeichneten Blick auf Alexandra, die abwechselnd in weißen und dunkelblauen Sonntagskleidern ihm direkt gegenüber in der ersten Reihe der Familienbank saß und verschmitzt lächelnd seine Tätigkeit verfolgte, immer auf eine kleine Frechheit seinerseits spähend. Denn sie war zu wohlerzogen, um selbst unangenehm aufzufallen, obschon sie schon immer eine Schwäche dafür gehabt hatte. Das alles war so lange gut gegangen, bis eines Tages sie waren mittlerweile in dem Alter angelangt, in dem die Mädchen sich in geistreiche junge Frauen und die Jungs sich in unreife junge Männer verwandeln ihrem sonntäglichen Blickkontakt ein jähes Ende bereitet wurde.
Morten, für gewöhnlich ein Meister der von allen außer Alexandra unbemerkten Geste, hatte dem Pfarrer den Satz »Wir beten für den Halsabschneider Jack« in seine Fürbitten geschmuggelt, wohl wissend, dass dieser sie grundsätzlich mit glasigem Blick vom Blatt ablas und hinterher nicht wusste, wovon er gesprochen hatte. An jenem Sonntag kam es in der Kirche und insbesondere in der ersten Reihe ganz links und ganz rechts, wo die beiden Jacks mit ihren Familien saßen, zu erheblichen Tumulten.
Noch am selben Vormittag wurde die Angelegenheit geklärt, indem der Gottesdiener dem Sünder himmlische und höllische Qualen androhte, sollte er seine Schuld nicht öffentlich bekennen und sich bei den beiden Jacks entschuldigen. Dass Morten daraufhin fristlos und unehrenhaft aus dem Amt zu scheiden hatte und ein anderer Junge fortan seine Pflichten als Messdiener übernahm, gefiel Alexandra zunächst gar nicht.
Morten jedoch schien es nicht ungelegen zu kommen, gab es doch mittlerweile bessere Gelegenheiten, sich zu treffen und zu beschnuppern, frei vom Gängelband der Erzeuger. Bereits am selben Abend spürte er Alexandra auf. Er entdeckte sie auf einer Tanzveranstaltung der Pferdezüchter, der die beiden Jacks zu diesem Zeitpunkt nur noch sternhagelvoll von ihren Ehrenplätzen aus beiwohnten.
An jenem Abend hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, unter einem Mond aus Gold, und mit jedem weiteren Kuss glitzerte ein Dutzend mehr wunderbarer Sterne am Firmament.
»Wenn du willst, kannst du mich heiraten«, versicherte Morten ihr an jenem Abend zärtlich. Er war damals fünfzehn gewesen. »Und wenn du willst, kannst du eine Tracht Prügel beziehen, wie du sie noch nicht erlebt hast!«
Noch jetzt, wo sie, in Gedanken versunken, an ihrem Champagnerglas nippte, klangen die groben Worte von Mortens schlagartig nüchternem Vater in ihr nach, der auf einmal mit puterrotem Gesicht neben ihnen im Dunkel gestanden hatte, eben von einem Pinkelausflug zurück nur dass sie nun, mehr als zwei Jahrzehnte später, milde darüber lächeln konnte.
»Worüber lachst du?«, fragte Morten er hatte sie ertappt, wie so oft. »Sag es nicht, ich weiß es ... Warte ... Du lachst über ...«
»... einen Halsabschneider«, ergänzte sie und strich ihm zärtlich mit der Hand über die Wange. »Davon kenn ich zwei«, sagte er und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
»Morten ... meinst du nicht, dass du Johnson anrufen solltest?« Wie auf Verabredung klingelte genau in diesem Augenblick das Telefon im Wohnzimmer. Schon wieder.
»Das wird er sein.« Alexandra beschloss, sich vorerst keine weiteren Sorgen zu machen, nicht zu spekulieren, was Schlimmes passiert sein könnte. Vielleicht war es wirklich nur Johnson, der anrief, und es handelte sich lediglich um eine Sache zwischen den Männern, irgendeinen dämlichen Streit worüber auch immer.
»Geh du ran. Es ist besser, er macht dich zur Schnecke als mich. Ich hab mit alldem nichts zu tun«, sagte sie in ihrem besten Feine-Lady-Akzent, ein Spielchen, das sie hin und wieder mit ihm trieb, um ihn ein wenig zu foppen. Auch wenn es ihr dieses Mal nicht halb so viel Spaß machte wie sonst.
Morten lächelte sie an.
»Wir werden beide nicht rangehen, was hältst du davon?«
Alexandra stutzte. Wieso wollte er partout nicht ans Telefon gehen? So kannte sie Morten gar nicht normalerweise war er mehr als engagiert, was seinen Job betraf.
»Und was ... machen wir stattdessen?«, fragte sie, ein wenig verwirrt. »Wir ... Wir genießen den Tag. Hast du Lust auf einen Spaziergang am Strand?«
Sie hatten seit Monaten keinen Strandspaziergang mehr gemacht. Sie wohnten am Strand, da gewöhnte man es sich schnell ab, dort zu spazieren, und saß lieber auf der Terrasse, um der Musik der Wellen zu lauschen. Eigentlich schade, dachte sie.
Früher sind wir oft abends zum Sonnenuntergang irgendwo in den Dünen gewesen und haben dort gelegen, eng umschlungen und nicht immer bekleidet. Doch irgendwann erwischt einen die Bequemlichkeit, und man verlegt das Abenteuer auf die Ferien.
Sie waren seit Kindesbeinen ein Paar, eine lange Zeit, und der Fluss der Jahre hatte einiges an Leidenschaft weggespült. Dafür war das Vertrauen gewachsen mit jedem Jahr, das sie gemeinsam verbrachten, hatte sich ein neuer Ring des Vertrauens gebildet, so dass es nun so mächtig war wie der Stamm einer hundertjährigen Eiche, die jedem Sturm und jedem Hagelschauer trotzt. Ja, sie hatte Lust auf einen Spaziergang.
Und Pearl, der dicken Pearl, würde es auch guttun, sich ein wenig mehr zu bewegen als üblich.
»Ich weiß nicht, ob du dich noch erinnerst aber ganz früher hast du auf diesen Spaziergängen keine Unterwäsche getragen. Außer an Sonntagen.«
Der Satz kam so trocken aus seinem Mund, als wäre er eine Scheibe Knäckebrot. Auf einmal war er wieder da, der Morten, den sie kannte und den sie unter keinen Umständen verlieren durfte. Sie jubilierte innerlich das versprach ein netter Spaziergang zu werden! Jemand sprach auf den Anrufbeantworter, aber außer, dass es nicht Johnson war, verstand sie nichts.
Sie genoss es, wie Morten sie ansah irgendwann würde er sie noch allein mit Blicken ausziehen, ohne eine Hand zu rühren.
Langsam schob sie ihr Kleid ein wenig hoch und zog den Slip herunter, der unhörbar auf den anthrazitgrauen italienischen Mosaikfliesen landete.
»So, ich wäre dann fertig«, sagte sie und gab ihm eine kleine Backpfeife, wie es ein unanständiger Junge verdiente. Mittlerweile war der Tag zu einer Symphonie in Blau geworden. Das Meer, der Himmel, alles schien ineinander zu fließen, illuminiert von einer Sonne aus flirrendem Gold. Der Strand, der sich, noch unberührt von Spuren, vor ihrer Terrasse ausdehnte, war unendlich breit und lang. Jetzt, in der Vorsaison, war er nur wenigen Auserwählten vorbehalten, die in den Häusern in den Dünen lebten, unglaublich reichen Menschen und einem jungen Immobilienmakler mit seiner Gefährtin, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen waren und sich vor allen anderen Schlaubergern ein wunderschönes altes Holzhaus gesichert hatten.
Abgesehen davon, dass sie ebenfalls nicht gerade arm waren, wie Morten ergänzt hätte, hätte er Alexandras Gedanken in diesem Moment erraten. Aber das konnte er nicht, auch wenn er immer so tat. Er hatte fast noch nie einen Gedanken richtig erraten, denn eigentlich drehten sich ihre Gedanken fast immer nur um ihn und er war einfach nicht der Typ, der glaubte, dass eine Frau ernsthaft ständig an ihren Mann dachte, wenn es doch so viele interessantere Themen wie Pferde, Schuhe oder Unterwäsche gab.
Aber Alexandra war anders als die meisten Frauen und sie war sich sicher, dass ihr Glück genau darauf beruhte. Ihr Blick fiel auf das Gedicht des Dichters Hermann Hesse, das auf einem Zettel am Kühlschrank klebte: »Stufen« es war ihr gemeinsames Lebensmotto.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Erst in diesem Moment wurde ihr klar, was hier verlangt wurde: neue Bindungen. Am liebsten hätte sie den Zettel mit einem Ruck abgerissen, um ihn in den Papierkorb zu stopfen, was Morten sicher nicht gutgeheißen hätte. Ihr Leben war perfekt, sie brauchte weder Veränderungen noch neue Bindungen. Zumindest nicht, was sie beide betraf. Eine Veränderung von etwas Perfektem bedeutete schließlich nichts anderes als eine Verschlechterung. Da sich Mortens Stimmung offenbar gebessert zu haben schien, hoffte sie wenn auch nur einen Augenblick lang , dass sich das Problem einfach in Luft auflösen würde, so als wäre nichts geschehen. Was würde sie für einen zweiten Anlauf geben an diesem eben erst erwachten Sommertag! Sie würden ein Glas Wein trinken und dann vielleicht noch eins, um die Sache, die ihn so plagte, aus der Welt zu schaffen.
Alexandra nahm sich vor, großzügig zu sein und ihm beizustehen bei was auch immer. Möglicherweise ging es ja auch gar nicht um eine andere Frau oder um etwas, was ihre Beziehung betraf. Sie sehnte sich danach, mit Morten Hand in Hand schweigend durch den warmen Sand zu laufen, bis er schließlich den Mut finden würde, mit dem, was ihn so belastete, herauszurücken. Pearl wackelte freudig erregt mit ihrem nicht mehr als zierlich durchgehenden Hinterteil, als Morten die Leine in die Hand nahm.
Sie ließen den Hund am Strand eigentlich immer frei laufen, aber Pearl hatte sich in ihrer Kindheit so sehr an die Leine als Aufbruchssignal gewöhnt, dass man zumindest einmal damit herumhantieren musste, um ihr klar zu machen, was bevorstand. Sie hatten es auch schon ohne dieses Spielchen probiert, aber lediglich fragende Blicke geerntet und den Hund nicht aus dem Haus bewegen können. »Ich will noch schnell nachsehen, wer angerufen hat«, sagte Alexandra und flitzte ins Wohnzimmer, um den Anrufbeantworter abzuhören.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ben Bennett
- 367 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828997023
- ISBN-13: 9783828997028
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