Sommer in Maine
Roman
Vier Frauen verbringen gemeinsam einen Sommer in einem Strandhaus in Maine: Alice, ihre Tochter Kathleen, ihre Enkelin Maggie und ihre Schwiegertochter Ann Marie.
Nichts verbindet die ungleichen Frauen, außer, dass Sie zur selben Familie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sommer in Maine “
Vier Frauen verbringen gemeinsam einen Sommer in einem Strandhaus in Maine: Alice, ihre Tochter Kathleen, ihre Enkelin Maggie und ihre Schwiegertochter Ann Marie.
Nichts verbindet die ungleichen Frauen, außer, dass Sie zur selben Familie gehören und dass jede ein dunkles Geheimnis hütet und sich panisch vor Enthüllung fürchtet.
Klappentext zu „Sommer in Maine “
Ein Sommer in Maine, vier Frauen und ihre Abgründe: Alice, die oft streng und unnahbar wirkt, würde alles dafür geben, eine einzige tragische Nacht in ihrem Leben ungeschehen zu machen, aber auch Tochter Kathleen, Enkelin Maggie und die scheinbar so perfekte Schwiegertochter Ann Marie, die am liebsten Puppenhäuser bastelt, haben panische Angst davor, dass ihre dunklen Geheimnisse ans Licht kommen könnten. Doch die Wogen gehen hoch zwischen den ungleichen Frauen, und die Fassaden bröckeln ... Eine meisterhaft erzählte Familiengeschichte in der Tradition der großen amerikanischen Romanciers.
Mit Lesebändchen
Lese-Probe zu „Sommer in Maine “
Sommer in Maine von J. Courtney SullivanAlice
Alice fand, dass es Zeit für eine Pause vom Packen war. Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich in einem der Korbsessel zurück, die von der Meeresluft immer ein wenig feucht waren. Dann blickte sie sich im Zimmer um und sah die vielen Kartons, in denen sie die Familienhabseligkeiten verstaut hatte. Gläser, Salzstreuer und Bilderrahmen - alles sorgfältig verpackt. In jedem Zimmer standen ein paar Kisten, die noch vor der Ankunft der Kinder zum Goodwill Sozialladen mussten. Sie hatten die Sommer von sechs Jahrzehnten hier verbracht, und Alice staunte, wie viel sich über die Jahre hinweg angesammelt hatte. Mit diesem Durcheinander wollte sie niemanden belasten, wenn sie einmal nicht mehr war.
Am Himmel hingen dicke Wolken. Bald würde es regnen. In Cape Neddick in Maine gewitterte es in diesem Mai fast jeden Nachmittag. Ihr war das egal. Sie ging sowieso nicht mehr zum Strand hinunter. Nach dem Mittagessen setzte sie sich normalerweise mit einem Glas Rotwein auf die Veranda, las stundenlang Romane, die ihr ihre Schwiegertochter Ann Marie im Winter geliehen hatte, und sah die Wellen gegen die Felsen schlagen, bis es Zeit war, das Abendessen vorzubereiten. Sie hatte nicht mehr das Bedürfnis, sich einen Badeanzug anzuziehen, ins Wasser zu springen und im Sand ihre Pediküre zu ruinieren. Stattdessen zog sie es vor, die Szenerie aus der Ferne zu beobachten und wie einen Geist durch sich hindurchziehen zu lassen.
... mehr
Ihr Alltag in Cape Neddick folgte einer bestimmten Routine. Spätestens um sechs Uhr stand sie auf, um die anstehenden Haus- und Gartenarbeiten zu verrichten. Dann machte sie sich einen Tee und legte den Beutel auf ein Schälchen im Kühlschrank, um sich damit vor dem Mittagessen eine zweite Tasse zu brühen. Um Punkt neun Uhr dreißig stieg sie in den Wagen und fuhr zur Zehn-Uhr-Messe in St. Michael.
Die Gegend hatte sich in den vielen Jahren seit ihrem ersten Sommer in Maine sehr verändert. An der Küste waren riesige Häuser aus dem Boden geschossen, und in den Ortschaften gab es an jeder Ecke elegante Restaurants, Souvenir- und Feinkostläden. Die Fischer waren noch da, aber in den siebziger Jahren hatten sich viele auf Tourismus umgestellt und boten jetzt Walbeobachtung, Vergnügungsfahrten mit Frühstücksbuffet und dergleichen an.
Aber manches war beim Alten geblieben. In Rubys Gemischtwarenladen und in der Apotheke gingen noch immer um sechs Uhr die Lichter aus. Alice ließ nach wie vor den Autoschlüssel stecken, und auch das Haus schloss sie nicht ab - das tat hier niemand. Der Strand war noch unberührt, und die großen, den Weg zur Kirche säumenden Pinien, sahen aus, als stünden sie dort seit Jahrhunderten.
Auch die Kirche war eine Konstante. St. Michael war eine altmodische, steinerne Dorfkapelle mit rotsamtenen Kniebänken und Buntglasfenstern, deren Farben in der Morgensonne strahlten. Sie stand auf dem Hügel hinter der Shore Road Küstenstraße, damit die Seefahrer ihr Kirchturmkreuz vom Meer aus sehen konnten.
Alices Platz war in der dritten Reihe links. Sie versuchte, sich die besten Teile von Pfarrer Donnellys Predigten für diejenigen Kinder oder Enkel zu merken, die sie besonders nötig hatten. Leider hörten sie ihr meistens gar nicht zu. Alice folgte den Predigten aufmerksam, sang die vertrauten Kirchenlieder mit und sprach Gebete, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie schloss die Augen und bat Gott um Dinge, um die sie ihn schon als Kind gebeten hatte: Er möge ihr helfen, ein guter Mensch zu sein und ein besserer zu werden. Meistens glaubte sie, dass Er sie hörte.
Montags, mittwochs und freitags kam die Legion Mariens von St. Michael nach der Messe im Gemeinderaum der Kirche zusammen, um den Rosenkranz für erkrankte Gemeindemitglieder, die Hungrigen und Bedürftigen der Welt und für die Heiligkeit des Lebens in all seinen Phasen zu beten. Sie sprachen das Ave Maria, tranken Koffeinfreien und plauderten. Mary Fallon erinnerte daran, wer in der Folgewoche an der Reihe war, für Gebäck zu sorgen und wer Pfarrer Donnelly bei seinen wöchentlichen Hausbesuchen bei gebrechlichen Gemeindemitgliedern begleiten würde, wo er für eine baldige Genesung betete, die doch nie eintrat. Obwohl es ihr naheging, Männer und Frauen ihres Alters sterben zu sehen, schätzte Alice die Nachmittage mit dem Priester. Er brachte seinen Schützlingen so viel Trost. Pfarrer Donnelly war ein junger Mann, erst vierunddreißig, mit dunklem Haar und einem warmen Lächeln, das sie an Schlagersänger aus den Fünfzigern erinnerte. Der Beruf, den er gewählt hatte, gehörte vergangenen Zeiten an, und seine besondere Art der rücksichtsvollen Anteilnahme hatte sie einem jungen Menschen von heute gar nicht mehr zugetraut.
Wenn sie ihn beim Gebet für ein Gemeindemitglied beobachtete, spürte Alice seine tiefe Hingabe. Heutzutage nahmen sich die meisten Priester keine Zeit für Hausbesuche. Wenn sie fertig waren, lud Pfarrer Donnelly Alice zum Mittagessen ein. Das machte er, das wusste sie genau, mit keiner der anderen Damen der Legion. Er hatte so viel für sie getan. Ab und zu half er ihr sogar im Haus, wechselte die Glühbirne auf der Veranda oder beseitigte nach einem Sturm abgefallene Äste. Vielleicht war diese besondere Aufmerksamkeit eine Folge ihrer kleinen Abmachung, aber was kümmerte sie das.
Pfarrer Donnelly und die sieben Mitglieder der Legion Mariens (von denen tatsächlich fünf Mary hießen) waren zu dieser Jahreszeit die einzigen Personen, mit denen Alice regelmäßig verkehrte. Sie war der einsame Sommerzugang der Legion, die Austauschschülerin, wie sie sich scherzhaft nannte. Die Einheimischen waren Fremden gegenüber misstrauisch. Aber nachdem St. Agnes zwei Jahre zuvor von der Erzdiözese geschlossen worden war, hatten sie sich einverstanden erklärt, Alice für die Sommermonate aufzunehmen.
St. Agnes war ihre Gemeinde in Canton gewesen. Hier waren ihre Kinder getauft und ihr Mann Daniel beerdigt worden. Hier war sie sechs Jahrzehnte lang jeden Tag zur Messe gegangen. Hier hatte sie, als die Kinder noch klein waren, die Sonntagsschule und später die hiesige Legion Mariens geleitet. Gemeinsam mit Abigail Curley, einer jungen Mutter von vier Kindern, die eine fast durchsichtige Haut hatte und eine sanfte, kindliche Stimme, hatte sie die Kampagne zur Rettung der Kirche ins Leben gerufen. Sie hatten fünfhundert Unterschriften gesammelt und mehrere Dutzend Briefe geschrieben. Sogar an den Kardinal.
Bei der letzten Messe hatte Alice leise in ihr Taschentuch geweint. Schließungen wie diese waren an der Tagesordnung, man hörte davon überall. Aber dass es sie treffen könnte, damit hatten sie nicht gerechnet. Abigail Curley und andere Gemeindemitglieder hatten sich geweigert, das Gebäude zu verlassen. Zweieinhalb Jahre später war die Kirche immer noch Tag und Nacht besetzt. Sie blieben, obwohl der Priester längst gegangen war, obwohl es weder Licht noch Heizung gab. Alice versuchte es mit einer Gemeinde in Milton, aber es verband sie nichts mit dem Ort und seinen Menschen. Ihre Sommergemeinde war nun ihre wichtigste Verbindung zum Glauben und zu ihrer Vergangenheit. Die Mitglieder der Legion schienen das zu wissen.
Die Gruppe bestand zum größten Teil aus Witwen, die sich gehen ließen. Sie trugen Jogginganzüge mit klobigen, weißen Turnschuhen und ihre Frisuren waren durchweg katastrophal. Alice war die einzige, die ihre Figur gehalten hatte. Nur die verflixten Falten deuteten auf die erschreckende Tatsache hin, dass sie dreiundachtzig Jahre alt war. Wie die anderen war auch sie allein. Vielleicht war ihnen die Morgenandacht deshalb so wichtig, weil sie Zeugen dafür brauchten, dass sie noch nicht gestorben waren. Sonst könnte es passieren, dass eine von ihnen am Küchentisch einen Hirnschlag erlitt und es keiner bemerkte.
Ihr Mann Daniel hatte das Grundstück kurz nach Kriegsende 1945 in einer dummen Wette mit seinem ehemaligen Schiffskameraden Ned Barell gewonnen. Ned war ein Trinker, selbst nach den Maßstäben der Marinesoldaten. Er kam aus einem Fischerdorf in Maine, verbrachte nun aber seine Zeit damit, in den edelsten Bars und Casinos Bostons seinen Lohn durchzubringen. Bei irgendeinem Basketballspiel wettete er mit Daniel um fünfzig Dollar. Alice war empört. Sie waren im zweiten Ehejahr, und sie war mit Kathleen schwanger. Aber Daniel beteuerte, dass es eine sichere Sache sei und er die Wette sonst auch nie eingegangen wäre. Dann gewann er.
Aber Ned hatte das Geld nicht.
»Was für eine Überraschung«, sagte Alice, als Daniel es ihr abends erzählte.
Daniel grinste sie nur groß an: »Aber du errätst nie, was er mir stattdessen gegeben hat.«
»Ein Auto?«, schlug Alice mit sarkastischem Unterton vor. Ihr zwölf Jahre alter Ford Coupé soff regelmäßig ab. Mittlerweile hatten sie sich an die Kraftstoffrationierung gewöhnt und gingen sowieso zu Fuß oder nahmen die Straßenbahn. Aber jetzt war der Krieg vorbei, und es stand ihnen ein harter neuenglischer Winter bevor. Alice hatte nicht vor, eine jener Mütter zu werden, die ihr brüllendes Neugeborenes zu beruhigen versuchten, während die anderen Fahrgäste ihr vorwurfsvolle Blicke zuwarfen.
»Besser«, sagte Daniel.
»Besser als ein Auto?«, fragte Alice.
»Ein Grundstück«, sagte Daniel verschmitzt, »ein ordentliches Stück Land in Maine, direkt am Wasser.«
So einfach konnte sie das nicht glauben: »Daniel Kelleher, wenn das ein Witz sein soll ...«
»Das würde ich mir nie erlauben, verehrte Dame«, sagte er, indem er auf sie zuging und ein Ohr an ihren Bauch legte.
»Hörst du, Gummibärchen?«, sprach er zu ihrem Gürtel.
»Daniel!«, rief sie und versuchte, ihn von sich zu drücken. Sie mochte es nicht, wenn er mit dem Baby sprach, als wäre es schon
Teil seines Lebens.
Daniel ignorierte sie.
»Heute in einem Jahr bauen wir Sandburgen, du und ich. Papa hat einen ganzen Strand für dich.« Er richtete sich wieder auf. »Neds Großvater hat seinen Enkeln Land vererbt, aber Ned ist sein Anteil egal. Es gehört uns!«
»Für eine Fünfzigdollarwette?«, fragte Alice.
»Also sagen wir mal so: Es war die letzte in einer langen Reihe von Fünfzigdollarwetten, die er vielleicht nicht alle ganz abbezahlt hat.«
»Daniel!« Trotz der guten Nachricht war sie ein bisschen sauer.
»Liebling, mach dir doch keine Sorgen. Du bist mit einem Glückspilz verheiratet«, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Alice glaubte nicht an Glück. Und wenn es das gab, blieb es ihr fern. In zwei Ehejahren hatte sie drei Fehlgeburten gehabt. Bevor Alice und ihre Geschwister zur Welt kamen, hatte ihre Mutter zwei Babys verloren. Das wusste Alice, obwohl sie nicht danach zu fragen gewagt hatte. Ihre Mutter hatte dazu nie mehr gesagt, als dass Gott sie wohl prüfen wolle, indem er ihr das Liebste nahm. Alice fragte sich, ob die Kinder in ihrem Fall nicht deshalb wieder verschwanden, weil sie wussten, dass sie nicht willkommen waren. Oder, um genau zu sein, weil sie wussten, dass Alice keine Mutter war.
Sie kannte den Ablauf: Erst blieben die dunklen Flecken in der Unterwäsche aus, dann folgten ein paar Wochen Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerz, dann sah sie Blut in der weißen Toilettenschüssel. Und wieder war eine Seele dahingegangen.
Im Aufzug des Bürogebäudes, in dem sie arbeitete, hatte sie ein Gespräch zwischen zwei Mädchen mitgehört. Die eine hatte der anderen zugeflüstert, dass ihr ein Arzt in New York ein Diaphragma angepasst habe.
»Das ist eine Befreiung, sag ich dir!«, meinte sie. »Harry passt nämlich überhaupt nicht auf.«
»Wenn die Männer die Kinder rauspressen müssten, würden sie schon aufpassen«, sagte die Freundin. »Stell dir vor: Ronald beim Hecheln und Pressen.« Sie schloss den Mund und blies die Wangen auf, bis beide in verhaltenes Gelächter ausbrachen.
Alice hätte so gerne mit ihnen darüber gesprochen und mehr erfahren. Aber sie kannte die beiden nicht, und außerdem fand sie es vulgär, dass sie über derartige Dinge sprachen. Sie wusste nicht, wen sie fragen sollte, also fuhr sie eines Morgens vor der Arbeit zu einer entfernt gelegenen Gemeinde. Man sprach von der Anonymität der Beichte, dabei sah man den Priester ja, bevor er in den Beichtstuhl stieg, und auch er konnte einen sehen. Dieser war ein alter Mann mit schlohweißem Haar. Auf einem Schild las sie: PFARRER DELPONTE. Vermutlich Italiener, dachte Alice. Italienerinnen waren leicht zu haben, das war allgemein bekannt. Hoffentlich würde er sie nicht für eine halten. Sie war schließlich verheiratet.
Sie kniete im Halbdunkel des Beichtstuhls nieder, schloss die Augen und bekreuzigte sich.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen«, begann sie mit den wohlvertrauten Worten.
Als sie ihm von den Fehlgeburten berichtete, errötete sie tief.
»Ich frage mich, ob ich vielleicht noch nicht so weit bin«, sagte sie. »Ich frage mich, ob ich es nicht vielleicht etwas hinauszögern sollte. Vor ein paar Jahren ist meine Schwester gestorben, und ich bin noch nicht wieder ganz ich selbst. Ich fürchte mich davor, Mutter zu werden. Ich glaube, ich bin nicht bereit, einem neuen Menschen in meinem Leben genug Liebe zu geben, zumindest jetzt noch nicht.«
Sie hatte nicht zu Ende gesprochen, da fragte er: »Wie alt sind Sie?«
»Vierundzwanzig.«
Alice hätte schwören können, dass sie durch das Gitter einen erstaunten Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen hatte.
»Natürlich sind Sie alt genug, meine Tochter«, sagte er mit sanfter Stimme. »Unser Weg ist von Gott vorgezeichnet. Wir müssen an diesen Weg glauben und dürfen nichts tun, das uns von ihm abbringen könnte.«
Hatte er sie auch richtig verstanden? Vielleicht hatte sie sich undeutlich ausgedrückt.
»Ich habe von gewissen Mitteln und Wegen gehört, mit denen man es verzögern kann«, fing sie nach Worten suchend an. »Ich weiß, dass die Kirche das nicht gutheißt -«
»Die Kirche verbietet es«, sagte er, und das war sein letztes Wort.
Nachdem sie auf dem Parkplatz kurz geweint hatte, ging sie zur Arbeit. Daniel erfuhr nie davon.
Die jetzige Schwangerschaft dauerte schon sechs Monate an. Alice hatte panische Angst. Sie schlich umher und traute sich kaum, tief einzuatmen. Abends brauchte sie einen kleinen Whiskey, um einschlafen zu können. Sie rauchte doppelt so viel wie sonst und musste nachmittags um den Block gehen - dreimal schon hatte ihr Chef sie ermahnt, weil sie während der Arbeitszeit vom Schreibtisch verschwand. Mister Kristal war richtig gemein gewesen. Vermutlich hatte er ihren Zustand erraten und wusste aus Erfahrung, dass sie sowieso bald kündigen würde.
Am Samstag, nachdem Daniel das Grundstück gewonnen hatte, fuhren sie nach Cape Neddick. Alice wusste nicht, was sie erwartete. Sie war nur einmal als junges Mädchen auf einen Tagesausflug mit ihren Geschwistern in Maine gewesen. Zu sechst hatten sie sich in den Pontiac ihres Vaters gequetscht und waren mit offenen Fenstern über den Highway gedonnert. Mittags hielten sie an einer Fischbude und fuhren dann nach Osten, bis sie ein ruhiges Stück Strand entdeckten. Die Jungs ließen Steine springen, während Alice und Mary im Sand saßen und plauderten. Alice zeichnete die Dünen in ihr Tagebuch. Sie wussten nicht genau, wo sie waren, und blieben nicht lange. Eine Übernachtung konnten sie sich nicht leisten, nicht einmal in einem der billigen Motels am Autobahnrand.
Seitdem waren nur wenige Jahre vergangen, aber Alice kam es vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen.
Daniel lenkte den Wagen durch das Zentrum von Ogunquit, vorbei an einem Motel, einem Tanzlokal, der Drogerie Perkins und dem Leavitt Lichtspielhaus, wo um zwei Uhr eine Vorstellung von Urlaub in Hollywood beginnen sollte. Sie fuhren immer geradeaus und kamen am steinernen Gebäude der Bibliothek, der Baptistenkirche und einer Reihe vornehmer Hotels vorbei, bis sie die Landspitze erreichten, wo Hummerfallen an Fischerhütten lehnten und Fischerboote auf dem Wasser schaukelten. Die Landzunge war auf drei Seiten vom Meer umgeben: Zu ihrer Linken und geradeaus sahen sie die felsige Atlantikküste, und rechts lag eine kleine Bucht mit einer Fußgängerbrücke, die zur anderen Seite hinüberführte. In einen Stein am Fuß der Brücke waren die Worte PERKINS BUCHT gemeißelt.
Alice zog die Augenbrauen hoch. »Heißen denn hier alle Perkins? «
»So ungefähr«, sagte Daniel und war sichtlich stolz, seine Ortskenntnisse unter Beweis stellen zu können. »Ned meint, dass den Perkins der halbe Landstrich gehört. Die sind auch Fischer, wie Neds Familie. Ned war zu Schulzeiten mit einer der Perkinscousinen zusammen.«
»Die Glückliche«, sagte Alice.
»Na, na«, sagte Daniel. »Ned hat mir sogar einen Reim aus der Gegend beigebracht. Bist du bereit?«
Bevor Alice protestieren konnte, sagte er ihn auch schon mit singender Stimme und in seiner besten James-Cagney-Imitation auf:
Ein Perkins hat den Supermarkt Ein Perkins hat die Bank Ein Perkins füllt Benzin in jeden Autotank. Ein Perkins hat die Zeitschriften Ein anderer den Gin, Egal, was du gerade brauchst, zu Perkins musst du hin.
Ein Perkins greift ins Portemonnaie Uns allen alle Tag Und wenn ich sterb, so denke ich, Lieg ich in 'nem Perkinssarg.
Alice verdrehte die Augen. »Danke, Schatz. Ich hab's begriffen.«
Sie wendeten und bogen auf die Shore Road ein. Daniel fuhr langsam und sah zu beiden Seiten aus dem Fenster. Linker Hand blitzte das Meer hinter einem Pinienwald. Hier und dort standen inmitten grüner Wiesen Schindelhäuser mit der amerikanischen Flagge im Vorgarten. Auf den Weiden grasten Kühe.
»An dieser Straße muss es irgendwo sein«, sagte Daniel.
Die neue Landkarte lag aufgefaltet auf Alices Schoß. Daniel war davon ausgegangen, dass seine Frau sie lesen konnte, aber Alice erinnerten die Flächen und Linien nur an das Gewirr aus Venen und Muskeln in ihrem alten Biologielehrbuch. Sie wartete darauf, dass er sie anfuhr und so etwas sagte wie: »Jetzt reicht's. Gibt mal her!« Aber das war nicht seine Art. Er lachte nur und sagte: »Sieht aus, als hätte ich mir eine Tagträumerin als Kopilotin ausgesucht. Na, dann müssen wir eben unserer Nase folgen.«
In diesem Augenblick sah Alice die kleine Gruppe von Männern und Frauen, die in Malerkitteln vor ihren Staffeleien auf einem Hügel saßen.
»Es gibt hier eine Künstlerkolonie«, sagte Daniel. »Ned hat erzählt, dass die Hütten der Hummerfischer eine nach der anderen von Künstlern übernommen werden. Ich dachte, das würde dir gefallen. Die bieten Sommerkurse an. Vielleicht ist was für dich dabei.«
Alice nickte nur, aber sie war plötzlich angespannt. Sie wehrte sich gegen düstere Gedanken, spürte aber schon, wie ihre Stimmung umschlug. Sie starrte aus dem Fenster.
Zu ihrer Rechten stand ein schlichtes Holzhaus mit einem Schild: RUBYS GEMISCHTWAREN. Zur Linken sah sie ein kleines grünes Gebäude, das man für ein Wohnhaus hätte halten können, hätte das Holzschild über der Veranda es nicht als Apotheke ausgewiesen.
Briarwood Road war nicht ausgeschildert. Ned hatte gesagt, sie sollten der Straße entlang der Küste folgen, bis sie nach etwa drei Kilometern auf eine Gabelung stießen. Da sollten sie links auf eine unbefestigte Straße einbiegen. Dann ginge es geradeaus bis ans Meer.
»Er hat gesagt, es sieht aus, als würde man direkt in den Wald fahren«, sagte Daniel.
Alice stöhnte und bereitete sich geistig auf ein undurchdringliches Dickicht vor, das Ned einfach als sein Eigentum erklärt hatte.
Sie mussten mehrfach wenden, weil sie den Eingang zweimal verpassten. Beim dritten Versuch bogen sie an einer Stelle ab, die man kaum als Weggabelung erkennen konnte. Alice war sprachlos. Was da vor ihnen lag, war wie aus einem Märchenbuch: Ein sandiger Weg schlängelte sich durch einen Tunnel aus üppigen Pinien, und als sie an seinem Ende ankamen, glitzerte vor ihnen das Meer in der Sonne. Es hob sich dunkelblau gegen einen kleinen Sandstrand ab, der die felsige Küste unterbrach.
»Willkommen zuhause«, sagte Daniel.
»Das gehört uns?«, fragte Alice.
»Tja, ein Hektar davon«, sagte er. »Und zwar der allerbeste - das ganze Uferstück.«
Alice war begeistert. Keiner ihrer Freunde und Bekannten zuhause hatte ein Haus am Strand. Sie stellte sich schon vor, was ihre beste Freundin Rita für ein Gesicht machte würde, wenn die das Grundstück sah.
Alice drückte Daniel einen Kuss auf den Mund.
Er grinste: »Es gefällt dir also.«
»Ich weiß schon, welche Vorhänge wir nehmen.«
»Wunderbar. Dann ist das Wichtigste ja erledigt. Jetzt brauchen wir nur noch ein Haus, in das wir sie hängen können.«
Auf dem Rückweg hielt er an der Weggabelung an, ritzte ein Kleeblatt und die Buchstaben A. H. in die weiche Borke einer
Birke und sagte: »Jetzt verpassen wir die Abzweigung nie wieder.« »A.H.?«, fragte sie. »Was soll das denn sein?« Wie ein Lehrer zeigte er langsam auf einen Buchstaben nach
dem anderen: »Alices. Haus.«
Copyright © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien
Ihr Alltag in Cape Neddick folgte einer bestimmten Routine. Spätestens um sechs Uhr stand sie auf, um die anstehenden Haus- und Gartenarbeiten zu verrichten. Dann machte sie sich einen Tee und legte den Beutel auf ein Schälchen im Kühlschrank, um sich damit vor dem Mittagessen eine zweite Tasse zu brühen. Um Punkt neun Uhr dreißig stieg sie in den Wagen und fuhr zur Zehn-Uhr-Messe in St. Michael.
Die Gegend hatte sich in den vielen Jahren seit ihrem ersten Sommer in Maine sehr verändert. An der Küste waren riesige Häuser aus dem Boden geschossen, und in den Ortschaften gab es an jeder Ecke elegante Restaurants, Souvenir- und Feinkostläden. Die Fischer waren noch da, aber in den siebziger Jahren hatten sich viele auf Tourismus umgestellt und boten jetzt Walbeobachtung, Vergnügungsfahrten mit Frühstücksbuffet und dergleichen an.
Aber manches war beim Alten geblieben. In Rubys Gemischtwarenladen und in der Apotheke gingen noch immer um sechs Uhr die Lichter aus. Alice ließ nach wie vor den Autoschlüssel stecken, und auch das Haus schloss sie nicht ab - das tat hier niemand. Der Strand war noch unberührt, und die großen, den Weg zur Kirche säumenden Pinien, sahen aus, als stünden sie dort seit Jahrhunderten.
Auch die Kirche war eine Konstante. St. Michael war eine altmodische, steinerne Dorfkapelle mit rotsamtenen Kniebänken und Buntglasfenstern, deren Farben in der Morgensonne strahlten. Sie stand auf dem Hügel hinter der Shore Road Küstenstraße, damit die Seefahrer ihr Kirchturmkreuz vom Meer aus sehen konnten.
Alices Platz war in der dritten Reihe links. Sie versuchte, sich die besten Teile von Pfarrer Donnellys Predigten für diejenigen Kinder oder Enkel zu merken, die sie besonders nötig hatten. Leider hörten sie ihr meistens gar nicht zu. Alice folgte den Predigten aufmerksam, sang die vertrauten Kirchenlieder mit und sprach Gebete, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Sie schloss die Augen und bat Gott um Dinge, um die sie ihn schon als Kind gebeten hatte: Er möge ihr helfen, ein guter Mensch zu sein und ein besserer zu werden. Meistens glaubte sie, dass Er sie hörte.
Montags, mittwochs und freitags kam die Legion Mariens von St. Michael nach der Messe im Gemeinderaum der Kirche zusammen, um den Rosenkranz für erkrankte Gemeindemitglieder, die Hungrigen und Bedürftigen der Welt und für die Heiligkeit des Lebens in all seinen Phasen zu beten. Sie sprachen das Ave Maria, tranken Koffeinfreien und plauderten. Mary Fallon erinnerte daran, wer in der Folgewoche an der Reihe war, für Gebäck zu sorgen und wer Pfarrer Donnelly bei seinen wöchentlichen Hausbesuchen bei gebrechlichen Gemeindemitgliedern begleiten würde, wo er für eine baldige Genesung betete, die doch nie eintrat. Obwohl es ihr naheging, Männer und Frauen ihres Alters sterben zu sehen, schätzte Alice die Nachmittage mit dem Priester. Er brachte seinen Schützlingen so viel Trost. Pfarrer Donnelly war ein junger Mann, erst vierunddreißig, mit dunklem Haar und einem warmen Lächeln, das sie an Schlagersänger aus den Fünfzigern erinnerte. Der Beruf, den er gewählt hatte, gehörte vergangenen Zeiten an, und seine besondere Art der rücksichtsvollen Anteilnahme hatte sie einem jungen Menschen von heute gar nicht mehr zugetraut.
Wenn sie ihn beim Gebet für ein Gemeindemitglied beobachtete, spürte Alice seine tiefe Hingabe. Heutzutage nahmen sich die meisten Priester keine Zeit für Hausbesuche. Wenn sie fertig waren, lud Pfarrer Donnelly Alice zum Mittagessen ein. Das machte er, das wusste sie genau, mit keiner der anderen Damen der Legion. Er hatte so viel für sie getan. Ab und zu half er ihr sogar im Haus, wechselte die Glühbirne auf der Veranda oder beseitigte nach einem Sturm abgefallene Äste. Vielleicht war diese besondere Aufmerksamkeit eine Folge ihrer kleinen Abmachung, aber was kümmerte sie das.
Pfarrer Donnelly und die sieben Mitglieder der Legion Mariens (von denen tatsächlich fünf Mary hießen) waren zu dieser Jahreszeit die einzigen Personen, mit denen Alice regelmäßig verkehrte. Sie war der einsame Sommerzugang der Legion, die Austauschschülerin, wie sie sich scherzhaft nannte. Die Einheimischen waren Fremden gegenüber misstrauisch. Aber nachdem St. Agnes zwei Jahre zuvor von der Erzdiözese geschlossen worden war, hatten sie sich einverstanden erklärt, Alice für die Sommermonate aufzunehmen.
St. Agnes war ihre Gemeinde in Canton gewesen. Hier waren ihre Kinder getauft und ihr Mann Daniel beerdigt worden. Hier war sie sechs Jahrzehnte lang jeden Tag zur Messe gegangen. Hier hatte sie, als die Kinder noch klein waren, die Sonntagsschule und später die hiesige Legion Mariens geleitet. Gemeinsam mit Abigail Curley, einer jungen Mutter von vier Kindern, die eine fast durchsichtige Haut hatte und eine sanfte, kindliche Stimme, hatte sie die Kampagne zur Rettung der Kirche ins Leben gerufen. Sie hatten fünfhundert Unterschriften gesammelt und mehrere Dutzend Briefe geschrieben. Sogar an den Kardinal.
Bei der letzten Messe hatte Alice leise in ihr Taschentuch geweint. Schließungen wie diese waren an der Tagesordnung, man hörte davon überall. Aber dass es sie treffen könnte, damit hatten sie nicht gerechnet. Abigail Curley und andere Gemeindemitglieder hatten sich geweigert, das Gebäude zu verlassen. Zweieinhalb Jahre später war die Kirche immer noch Tag und Nacht besetzt. Sie blieben, obwohl der Priester längst gegangen war, obwohl es weder Licht noch Heizung gab. Alice versuchte es mit einer Gemeinde in Milton, aber es verband sie nichts mit dem Ort und seinen Menschen. Ihre Sommergemeinde war nun ihre wichtigste Verbindung zum Glauben und zu ihrer Vergangenheit. Die Mitglieder der Legion schienen das zu wissen.
Die Gruppe bestand zum größten Teil aus Witwen, die sich gehen ließen. Sie trugen Jogginganzüge mit klobigen, weißen Turnschuhen und ihre Frisuren waren durchweg katastrophal. Alice war die einzige, die ihre Figur gehalten hatte. Nur die verflixten Falten deuteten auf die erschreckende Tatsache hin, dass sie dreiundachtzig Jahre alt war. Wie die anderen war auch sie allein. Vielleicht war ihnen die Morgenandacht deshalb so wichtig, weil sie Zeugen dafür brauchten, dass sie noch nicht gestorben waren. Sonst könnte es passieren, dass eine von ihnen am Küchentisch einen Hirnschlag erlitt und es keiner bemerkte.
Ihr Mann Daniel hatte das Grundstück kurz nach Kriegsende 1945 in einer dummen Wette mit seinem ehemaligen Schiffskameraden Ned Barell gewonnen. Ned war ein Trinker, selbst nach den Maßstäben der Marinesoldaten. Er kam aus einem Fischerdorf in Maine, verbrachte nun aber seine Zeit damit, in den edelsten Bars und Casinos Bostons seinen Lohn durchzubringen. Bei irgendeinem Basketballspiel wettete er mit Daniel um fünfzig Dollar. Alice war empört. Sie waren im zweiten Ehejahr, und sie war mit Kathleen schwanger. Aber Daniel beteuerte, dass es eine sichere Sache sei und er die Wette sonst auch nie eingegangen wäre. Dann gewann er.
Aber Ned hatte das Geld nicht.
»Was für eine Überraschung«, sagte Alice, als Daniel es ihr abends erzählte.
Daniel grinste sie nur groß an: »Aber du errätst nie, was er mir stattdessen gegeben hat.«
»Ein Auto?«, schlug Alice mit sarkastischem Unterton vor. Ihr zwölf Jahre alter Ford Coupé soff regelmäßig ab. Mittlerweile hatten sie sich an die Kraftstoffrationierung gewöhnt und gingen sowieso zu Fuß oder nahmen die Straßenbahn. Aber jetzt war der Krieg vorbei, und es stand ihnen ein harter neuenglischer Winter bevor. Alice hatte nicht vor, eine jener Mütter zu werden, die ihr brüllendes Neugeborenes zu beruhigen versuchten, während die anderen Fahrgäste ihr vorwurfsvolle Blicke zuwarfen.
»Besser«, sagte Daniel.
»Besser als ein Auto?«, fragte Alice.
»Ein Grundstück«, sagte Daniel verschmitzt, »ein ordentliches Stück Land in Maine, direkt am Wasser.«
So einfach konnte sie das nicht glauben: »Daniel Kelleher, wenn das ein Witz sein soll ...«
»Das würde ich mir nie erlauben, verehrte Dame«, sagte er, indem er auf sie zuging und ein Ohr an ihren Bauch legte.
»Hörst du, Gummibärchen?«, sprach er zu ihrem Gürtel.
»Daniel!«, rief sie und versuchte, ihn von sich zu drücken. Sie mochte es nicht, wenn er mit dem Baby sprach, als wäre es schon
Teil seines Lebens.
Daniel ignorierte sie.
»Heute in einem Jahr bauen wir Sandburgen, du und ich. Papa hat einen ganzen Strand für dich.« Er richtete sich wieder auf. »Neds Großvater hat seinen Enkeln Land vererbt, aber Ned ist sein Anteil egal. Es gehört uns!«
»Für eine Fünfzigdollarwette?«, fragte Alice.
»Also sagen wir mal so: Es war die letzte in einer langen Reihe von Fünfzigdollarwetten, die er vielleicht nicht alle ganz abbezahlt hat.«
»Daniel!« Trotz der guten Nachricht war sie ein bisschen sauer.
»Liebling, mach dir doch keine Sorgen. Du bist mit einem Glückspilz verheiratet«, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Alice glaubte nicht an Glück. Und wenn es das gab, blieb es ihr fern. In zwei Ehejahren hatte sie drei Fehlgeburten gehabt. Bevor Alice und ihre Geschwister zur Welt kamen, hatte ihre Mutter zwei Babys verloren. Das wusste Alice, obwohl sie nicht danach zu fragen gewagt hatte. Ihre Mutter hatte dazu nie mehr gesagt, als dass Gott sie wohl prüfen wolle, indem er ihr das Liebste nahm. Alice fragte sich, ob die Kinder in ihrem Fall nicht deshalb wieder verschwanden, weil sie wussten, dass sie nicht willkommen waren. Oder, um genau zu sein, weil sie wussten, dass Alice keine Mutter war.
Sie kannte den Ablauf: Erst blieben die dunklen Flecken in der Unterwäsche aus, dann folgten ein paar Wochen Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerz, dann sah sie Blut in der weißen Toilettenschüssel. Und wieder war eine Seele dahingegangen.
Im Aufzug des Bürogebäudes, in dem sie arbeitete, hatte sie ein Gespräch zwischen zwei Mädchen mitgehört. Die eine hatte der anderen zugeflüstert, dass ihr ein Arzt in New York ein Diaphragma angepasst habe.
»Das ist eine Befreiung, sag ich dir!«, meinte sie. »Harry passt nämlich überhaupt nicht auf.«
»Wenn die Männer die Kinder rauspressen müssten, würden sie schon aufpassen«, sagte die Freundin. »Stell dir vor: Ronald beim Hecheln und Pressen.« Sie schloss den Mund und blies die Wangen auf, bis beide in verhaltenes Gelächter ausbrachen.
Alice hätte so gerne mit ihnen darüber gesprochen und mehr erfahren. Aber sie kannte die beiden nicht, und außerdem fand sie es vulgär, dass sie über derartige Dinge sprachen. Sie wusste nicht, wen sie fragen sollte, also fuhr sie eines Morgens vor der Arbeit zu einer entfernt gelegenen Gemeinde. Man sprach von der Anonymität der Beichte, dabei sah man den Priester ja, bevor er in den Beichtstuhl stieg, und auch er konnte einen sehen. Dieser war ein alter Mann mit schlohweißem Haar. Auf einem Schild las sie: PFARRER DELPONTE. Vermutlich Italiener, dachte Alice. Italienerinnen waren leicht zu haben, das war allgemein bekannt. Hoffentlich würde er sie nicht für eine halten. Sie war schließlich verheiratet.
Sie kniete im Halbdunkel des Beichtstuhls nieder, schloss die Augen und bekreuzigte sich.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen«, begann sie mit den wohlvertrauten Worten.
Als sie ihm von den Fehlgeburten berichtete, errötete sie tief.
»Ich frage mich, ob ich vielleicht noch nicht so weit bin«, sagte sie. »Ich frage mich, ob ich es nicht vielleicht etwas hinauszögern sollte. Vor ein paar Jahren ist meine Schwester gestorben, und ich bin noch nicht wieder ganz ich selbst. Ich fürchte mich davor, Mutter zu werden. Ich glaube, ich bin nicht bereit, einem neuen Menschen in meinem Leben genug Liebe zu geben, zumindest jetzt noch nicht.«
Sie hatte nicht zu Ende gesprochen, da fragte er: »Wie alt sind Sie?«
»Vierundzwanzig.«
Alice hätte schwören können, dass sie durch das Gitter einen erstaunten Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen hatte.
»Natürlich sind Sie alt genug, meine Tochter«, sagte er mit sanfter Stimme. »Unser Weg ist von Gott vorgezeichnet. Wir müssen an diesen Weg glauben und dürfen nichts tun, das uns von ihm abbringen könnte.«
Hatte er sie auch richtig verstanden? Vielleicht hatte sie sich undeutlich ausgedrückt.
»Ich habe von gewissen Mitteln und Wegen gehört, mit denen man es verzögern kann«, fing sie nach Worten suchend an. »Ich weiß, dass die Kirche das nicht gutheißt -«
»Die Kirche verbietet es«, sagte er, und das war sein letztes Wort.
Nachdem sie auf dem Parkplatz kurz geweint hatte, ging sie zur Arbeit. Daniel erfuhr nie davon.
Die jetzige Schwangerschaft dauerte schon sechs Monate an. Alice hatte panische Angst. Sie schlich umher und traute sich kaum, tief einzuatmen. Abends brauchte sie einen kleinen Whiskey, um einschlafen zu können. Sie rauchte doppelt so viel wie sonst und musste nachmittags um den Block gehen - dreimal schon hatte ihr Chef sie ermahnt, weil sie während der Arbeitszeit vom Schreibtisch verschwand. Mister Kristal war richtig gemein gewesen. Vermutlich hatte er ihren Zustand erraten und wusste aus Erfahrung, dass sie sowieso bald kündigen würde.
Am Samstag, nachdem Daniel das Grundstück gewonnen hatte, fuhren sie nach Cape Neddick. Alice wusste nicht, was sie erwartete. Sie war nur einmal als junges Mädchen auf einen Tagesausflug mit ihren Geschwistern in Maine gewesen. Zu sechst hatten sie sich in den Pontiac ihres Vaters gequetscht und waren mit offenen Fenstern über den Highway gedonnert. Mittags hielten sie an einer Fischbude und fuhren dann nach Osten, bis sie ein ruhiges Stück Strand entdeckten. Die Jungs ließen Steine springen, während Alice und Mary im Sand saßen und plauderten. Alice zeichnete die Dünen in ihr Tagebuch. Sie wussten nicht genau, wo sie waren, und blieben nicht lange. Eine Übernachtung konnten sie sich nicht leisten, nicht einmal in einem der billigen Motels am Autobahnrand.
Seitdem waren nur wenige Jahre vergangen, aber Alice kam es vor, als sei es in einem anderen Leben gewesen.
Daniel lenkte den Wagen durch das Zentrum von Ogunquit, vorbei an einem Motel, einem Tanzlokal, der Drogerie Perkins und dem Leavitt Lichtspielhaus, wo um zwei Uhr eine Vorstellung von Urlaub in Hollywood beginnen sollte. Sie fuhren immer geradeaus und kamen am steinernen Gebäude der Bibliothek, der Baptistenkirche und einer Reihe vornehmer Hotels vorbei, bis sie die Landspitze erreichten, wo Hummerfallen an Fischerhütten lehnten und Fischerboote auf dem Wasser schaukelten. Die Landzunge war auf drei Seiten vom Meer umgeben: Zu ihrer Linken und geradeaus sahen sie die felsige Atlantikküste, und rechts lag eine kleine Bucht mit einer Fußgängerbrücke, die zur anderen Seite hinüberführte. In einen Stein am Fuß der Brücke waren die Worte PERKINS BUCHT gemeißelt.
Alice zog die Augenbrauen hoch. »Heißen denn hier alle Perkins? «
»So ungefähr«, sagte Daniel und war sichtlich stolz, seine Ortskenntnisse unter Beweis stellen zu können. »Ned meint, dass den Perkins der halbe Landstrich gehört. Die sind auch Fischer, wie Neds Familie. Ned war zu Schulzeiten mit einer der Perkinscousinen zusammen.«
»Die Glückliche«, sagte Alice.
»Na, na«, sagte Daniel. »Ned hat mir sogar einen Reim aus der Gegend beigebracht. Bist du bereit?«
Bevor Alice protestieren konnte, sagte er ihn auch schon mit singender Stimme und in seiner besten James-Cagney-Imitation auf:
Ein Perkins hat den Supermarkt Ein Perkins hat die Bank Ein Perkins füllt Benzin in jeden Autotank. Ein Perkins hat die Zeitschriften Ein anderer den Gin, Egal, was du gerade brauchst, zu Perkins musst du hin.
Ein Perkins greift ins Portemonnaie Uns allen alle Tag Und wenn ich sterb, so denke ich, Lieg ich in 'nem Perkinssarg.
Alice verdrehte die Augen. »Danke, Schatz. Ich hab's begriffen.«
Sie wendeten und bogen auf die Shore Road ein. Daniel fuhr langsam und sah zu beiden Seiten aus dem Fenster. Linker Hand blitzte das Meer hinter einem Pinienwald. Hier und dort standen inmitten grüner Wiesen Schindelhäuser mit der amerikanischen Flagge im Vorgarten. Auf den Weiden grasten Kühe.
»An dieser Straße muss es irgendwo sein«, sagte Daniel.
Die neue Landkarte lag aufgefaltet auf Alices Schoß. Daniel war davon ausgegangen, dass seine Frau sie lesen konnte, aber Alice erinnerten die Flächen und Linien nur an das Gewirr aus Venen und Muskeln in ihrem alten Biologielehrbuch. Sie wartete darauf, dass er sie anfuhr und so etwas sagte wie: »Jetzt reicht's. Gibt mal her!« Aber das war nicht seine Art. Er lachte nur und sagte: »Sieht aus, als hätte ich mir eine Tagträumerin als Kopilotin ausgesucht. Na, dann müssen wir eben unserer Nase folgen.«
In diesem Augenblick sah Alice die kleine Gruppe von Männern und Frauen, die in Malerkitteln vor ihren Staffeleien auf einem Hügel saßen.
»Es gibt hier eine Künstlerkolonie«, sagte Daniel. »Ned hat erzählt, dass die Hütten der Hummerfischer eine nach der anderen von Künstlern übernommen werden. Ich dachte, das würde dir gefallen. Die bieten Sommerkurse an. Vielleicht ist was für dich dabei.«
Alice nickte nur, aber sie war plötzlich angespannt. Sie wehrte sich gegen düstere Gedanken, spürte aber schon, wie ihre Stimmung umschlug. Sie starrte aus dem Fenster.
Zu ihrer Rechten stand ein schlichtes Holzhaus mit einem Schild: RUBYS GEMISCHTWAREN. Zur Linken sah sie ein kleines grünes Gebäude, das man für ein Wohnhaus hätte halten können, hätte das Holzschild über der Veranda es nicht als Apotheke ausgewiesen.
Briarwood Road war nicht ausgeschildert. Ned hatte gesagt, sie sollten der Straße entlang der Küste folgen, bis sie nach etwa drei Kilometern auf eine Gabelung stießen. Da sollten sie links auf eine unbefestigte Straße einbiegen. Dann ginge es geradeaus bis ans Meer.
»Er hat gesagt, es sieht aus, als würde man direkt in den Wald fahren«, sagte Daniel.
Alice stöhnte und bereitete sich geistig auf ein undurchdringliches Dickicht vor, das Ned einfach als sein Eigentum erklärt hatte.
Sie mussten mehrfach wenden, weil sie den Eingang zweimal verpassten. Beim dritten Versuch bogen sie an einer Stelle ab, die man kaum als Weggabelung erkennen konnte. Alice war sprachlos. Was da vor ihnen lag, war wie aus einem Märchenbuch: Ein sandiger Weg schlängelte sich durch einen Tunnel aus üppigen Pinien, und als sie an seinem Ende ankamen, glitzerte vor ihnen das Meer in der Sonne. Es hob sich dunkelblau gegen einen kleinen Sandstrand ab, der die felsige Küste unterbrach.
»Willkommen zuhause«, sagte Daniel.
»Das gehört uns?«, fragte Alice.
»Tja, ein Hektar davon«, sagte er. »Und zwar der allerbeste - das ganze Uferstück.«
Alice war begeistert. Keiner ihrer Freunde und Bekannten zuhause hatte ein Haus am Strand. Sie stellte sich schon vor, was ihre beste Freundin Rita für ein Gesicht machte würde, wenn die das Grundstück sah.
Alice drückte Daniel einen Kuss auf den Mund.
Er grinste: »Es gefällt dir also.«
»Ich weiß schon, welche Vorhänge wir nehmen.«
»Wunderbar. Dann ist das Wichtigste ja erledigt. Jetzt brauchen wir nur noch ein Haus, in das wir sie hängen können.«
Auf dem Rückweg hielt er an der Weggabelung an, ritzte ein Kleeblatt und die Buchstaben A. H. in die weiche Borke einer
Birke und sagte: »Jetzt verpassen wir die Abzweigung nie wieder.« »A.H.?«, fragte sie. »Was soll das denn sein?« Wie ein Lehrer zeigte er langsam auf einen Buchstaben nach
dem anderen: »Alices. Haus.«
Copyright © Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien
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Autoren-Porträt von J. Courtney Sullivan
J. Courtney Sullivan, Autorin und Journalistin, lebt in New York und schreibt u.a. für New York Times, Chicago Tribune, Elle und Men's Vogue. Ihr Roman Maine, der 2013 unter dem Titel Sommer in Maine bei Deuticke erschien, war in den TOP 10 der besten Bücher 2011 des Time Magazines. Außerdem bei Deuticke erschienen: die Romane Die Verlobungen (2014), All die Jahre (2018), Aller Anfang (2019) und Fremde Freundin (2021).
Bibliographische Angaben
- Autor: J. Courtney Sullivan
- 2013, 9. Aufl., 512 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Henriette Heise
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552062122
- ISBN-13: 9783552062122
- Erscheinungsdatum: 25.01.2013
Rezension zu „Sommer in Maine “
"Sullivans Roman fesselt mit einer behutsamen Darstellung dreier Frauengenerationen, die letztlich viel voneinander lernen können. Großartig erzählt!" Saskia Stöcker, Freundin, 13.02.13"Ein eindringliches Gesellschaftspanorama, sympathisch erzählt." Irene Prugger, Wiener Zeitung, 13.04.13
"J. Courtney Sullivan beherrscht das Handwerk des spannenden amerikanischen Gesellschafts- und Unterhaltungsromans in vorzüglicher Weise. (...) Jedes Kapitel ist abwechselnd aus der Sicht einer der vier Frauen erzählt, was dem Leser die Identifizierung mit den Figuren erleichtert und zu raffinierten Pointen führt, da die gleichen Erlebnisse von den Frauen ganz unterschiedlich dargestellt werden. (...) Ein intelligenter, leicht zu lesender Roman, wie er in jeden Urlaubskoffer und in jedes Ferienhaus gehört." Ursula März, Deutschlandradio, 03.06.13
"Wenn Sie nur ein einziges Buch in die Ferien mitnehmen wollen, dann sollten Sie dieses einpacken!" Angela Wittmann, Brigitte, 29.06.13
Pressezitat
"Sullivans Roman fesselt mit einer behutsamen Darstellung dreier Frauengenerationen, die letztlich viel voneinander lernen können. Großartig erzählt!" Saskia Stöcker, Freundin, 13.02.13"Ein eindringliches Gesellschaftspanorama, sympathisch erzählt." Irene Prugger, Wiener Zeitung, 13.04.13
"J. Courtney Sullivan beherrscht das Handwerk des spannenden amerikanischen Gesellschafts- und Unterhaltungsromans in vorzüglicher Weise. (...) Jedes Kapitel ist abwechselnd aus der Sicht einer der vier Frauen erzählt, was dem Leser die Identifizierung mit den Figuren erleichtert und zu raffinierten Pointen führt, da die gleichen Erlebnisse von den Frauen ganz unterschiedlich dargestellt werden. (...) Ein intelligenter, leicht zu lesender Roman, wie er in jeden Urlaubskoffer und in jedes Ferienhaus gehört." Ursula März, Deutschlandradio, 03.06.13
"Wenn Sie nur ein einziges Buch in die Ferien mitnehmen wollen, dann sollten Sie dieses einpacken!" Angela Wittmann, Brigitte, 29.06.13
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