Sommerlicht
Sommerlicht von Adèle Geras
LESEPROBE
Was du nicht weißt, das kann dir nichts anhaben. Aber sie weiß es
doch, und sie muss vergessen, was sie weiß. Sie muss so tun, alswisse
sie nichts, als hätte sie nie etwas gewusst, sonst wird es kommen
und sie verletzen. Das Haus dort wohnt das Geheimnis, und siewill
am liebsten gar nichts wissen und ganz weit weg sein.
Sie steht am Fenster. Kein Windhauch bewegt die weißen Vorhänge,und
das Gras liegt trocken und braun unter den letzten Sonnenstrahlen.
Es ist Sommer, früher Abend, und sie ist noch nicht im Bett. Sieist
schon fast acht Jahre alt, und es ist noch viel zu früh zumSchlafen.
Alle machen irgendetwas, und niemand achtet auf sie. Die Bäumewerfen
schwarze Schatten auf den Rasen, und die späten Rosen sind voneinem
Goldschimmer überzogen. Durch das Laub der Trauerweide glitzertsilbrig
das Wasser; das ist der See. Schwäne schwimmen dort, und siekönnte
ans Ufer gehen, um den weißen Vögeln zuzuschauen. Niemand würde es
wissen, und was du nicht weißt, das kann dir nichts anhaben.
Sie muss über den Teppich mit dem Muster aus Blumen undverschlungenen
Bäumen laufen, und dann geht die Tür auf, und sie ist im Flur, und
dort ist es immer dunkel, selbst wenn draußen die Sonne scheint,und
alles ist in dichtes Schweigen gehüllt, das sich bis zur Treppeausbreitet,
und sie muss auf Zehenspitzen hinuntergehen, um die Ruhe nicht zu
stören. Die Gemälde an den Wänden starren sie an. Stilleben undLandschaften
ergießen seltsame Farben und ihr eigenes Licht in die Stille, und
die Porträts rufen hinter ihr her, aber sie kann sie nicht hören.
Der Marmorboden in der Halle ist wie ein schwarzweißesSchachbrettmuster,
und sie hüpft über die schwarzen Quadrate hinweg, weil sonstbestimmt
etwas Schlimmes passiert. Vielleicht hat sie ja auch auf dem Wegin
den Garten ein schwarzes Quadrat berührt, aber das zählt dochnicht,
oder?
Dann ist sie auf dem Rasen, und die Luft ist weich, und sie läuft,
so schnell sie kann, die Terrassenstufen hinunter, vorbei an allden
Blumen und an den zu Kegeln, Bällen und Spiralen gestutzten hohen
Hecken vorbei, bis sie den Wilden Garten erreicht, wo die Pflanzen
ihren Rock streifen, und sie läuft und läuft bis zu der Stelle, wo
immer die Schwäne waren, aber jetzt sind sie fort. Sie sind zumanderen
Ufer geschwommen. Sie kann sie sehen. Es ist nicht so weit, alsoläuft
sie dorthin.
Etwas erregt ihre Aufmerksamkeit. Im Schilf ist ein dunkler Fleckim
Wasser, und als sie genauer hinschaut, sieht es aus wie ein Laken
oder ein Tuch, unter Wasserpflanzen und graugrünen Weidenästen mit
ihren fingerdünnen Blättern halb verborgen. Wenn sie näher herankönnte,
dorthin, wo das Wasser ans Ufer schlägt, könnte sie danachgreifen,
es zu sich heranziehen und nachsehen, was es ist. Das Wasser istkühl
auf ihrer Hand, und aus dem Stoff ragt etwas hervor, das aussieht
wie ein Fuß. Ob da jemand schwimmt? Niemand schwimmt, ohne sich zu
bewegen.
Plötzlich ist ihr ganz kalt, und was sie nicht weiß, das kann ihrnichts
anhaben, aber sie weiß, dass hier etwas nicht stimmt. Das hier ist
schlimm. Sie sollte besser weglaufen und jemanden holen, aber sie
muss doch die Hand nach dem dunklen Tuch ausstrecken, das auf der
Oberfläche des Sees liegt. Sie zieht daran, und etwas Schweresgleitet
auf sie zu, und die Zeit wird zu einer Ewigkeit, und da ist einGesicht
mit glasigen, offenen Augen und blasser, grünlicher Haut, und die
Haare ganz lose, wie Tang schweben sie um den offenen Mund, undsie
spürt, dass sie anfängt zu schreien, aber es ist kein Laut zuhören,
und sie dreht sich um und rennt zurück zum Haus. Jemand musskommen.
Jemand muss ihr helfen, und sie rennt, um sie zu rufen, und sieschreit,
aber niemand kann sie hören. Nasse Finger steigen aus dem See auf
und strecken sich über das Gras bis zum Haus, um sie zu berühren.
Sie kann sie spüren, auch dann noch, als sie schon ganz alt ist;sie
kennt diese Finger, und sie kennt jede Falte des nassen Kleidesund
die blicklosen Augen, aus denen das Silberwasser strömt, und auch
das aufgelöste Haar.
Alles weiß sie jetzt, und sie kann nie mehr aufhören, davon zuwissen.
© Blanvalet Verlag
Übersetzung: Theda Krohm-Linke
Autoren-Porträtvon Adèle Geras
Adèle Geras, geboren 1944 in Jerusalem, wuchs unter anderemin Nigeria, Borneo und Gambia auf. Die Tochter eines britischen Kolonialbeamtenstudierte in Oxford Französisch und Spanisch und arbeitete danach als Lehrerin.1973 wurde ihr Schreibtalent im Rahmen eines Zeitungswettbewerbs entdeckt. IhrWerk umfasst über 80 Bücher, von denen viele preisgekrönt sind. Sie gehört zuden erfolgreichsten und renommiertesten Kinder- und JugendbuchautorinnenEnglands. Sommerlicht" ist ihr vielbeachtetes Debüt in der Belletristik fürErwachsene. Adèle Geras lebt mit ihrer Familie in Manchester.
- Autor: Adèle Geras
- 2004, 447 Seiten, Maße: 11,6 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Krohm-Linke, Theda
- Übersetzer: Theda Krohm-Linke
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442361621
- ISBN-13: 9783442361625
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