Sonnengruß für Regentage
In New York treffen sich die Freundinnen Charlie, Bess, Sabine und Naomi nach Jahren wieder. Es wird eine besondere Begegnung für alle. Doch dann erhält Naomi eine schlimme Diagnose. Und ihre Freundschaft wird nun auf eine Bewährungsprobe gestellt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sonnengruß für Regentage “
In New York treffen sich die Freundinnen Charlie, Bess, Sabine und Naomi nach Jahren wieder. Es wird eine besondere Begegnung für alle. Doch dann erhält Naomi eine schlimme Diagnose. Und ihre Freundschaft wird nun auf eine Bewährungsprobe gestellt.
Klappentext zu „Sonnengruß für Regentage “
Ein heißer Sommer in New York. Nach Jahren treffen sich die Freundinnen Charlie, Bess, Sabine und Naomi beim Yoga wieder. Eine schicksalhafte Begegnung: Charlie trifft kurz darauf ihre große Liebe, und Bess findet zu verloren geglaubten Träumen zurück. Als Naomi eine schreckliche Diagnose erhält, müssen die Freundinnen beweisen, dass sie füreinander da sind.
Lese-Probe zu „Sonnengruß für Regentage “
Sonnengruß für Regentage von Zoe FishmanKapitel 1
Charlie
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Schnell und geschmeidig erhob sich Charlie vom Boden, sammelte die Wolldecken ein und legte sie zusammen. Lächelnd sah sie zu, wie die Kursteilnehmer wieder in ihre Winterjacken schlüpften, um sich gegen die schneidende Kälte draußen zu wappnen, und registrierte zufrieden den Kontrast zwischen ihren absolut entspannten Gesichtern und den verkniffenen Mienen, mit denen sie eine Stunde zuvor im Studio erschienen waren.
Wieder einmal bewunderte sie, wie Yoga die Menschen wieder zu sich selbst bringen konnte. Es gab ihr ein ausgesprochen gutes Gefühl, die vom New Yorker Alltag gestressten Gemüter ihrer Schüler mit jeder Übung ebenso zu entkrampfen und zu entspannen wie ihre Körper. Charlie wandte sich den Fenstern zu, die auf die geschäftige Straße in Brooklyn hinausführten, dann schaute sie wieder auf das inzwischen leere Studio und lächelte.
Sich vorzustellen, dass das alles ihr gehörte, dass sie wahrhaftig Meisterin ihres eigenen Schicksals war. Nicht schlecht. Manchmal musste sie sich selbst kneifen. Als Charlie das Licht ausknipste, blickte sie auf die Uhr an der Wand.
Viertel nach fünf! Verdammt, dachte sie. Ihr blieben nur noch fünfunddreißig Minuten, um nach Midtown zu gelangen, und sie befand sich hier weit draußen in Bushwick. Bitte, jetzt bloß keine der üblichen Pannen bei der Subway. Da keine Zeit zum Duschen blieb, unterzog sie ihre Achselhöhlen einer hastigen Geruchsprobe und kam zu dem Schluss, dass ein Tropfen Parfüm Abhilfe schaffen würde.
»Toll!«, hörte Charlie eine Stimme hinter sich sagen und drehte sich um.
»Was ist? Hast du noch nie gesehen, wie sich jemand beschnuppert, Julian?«
»Doch. Gorillas machen das ständig.« Grinsend sah er von seinem Computer am Rezeptionstisch auf. »Und? Inspektion erfolgreich verlaufen?«
»Bin frisch wie der junge Morgen! Was gibt's Neues im Netz?«
»Es ist wieder mal ein Ex-Teenie-Star in der Psychiatrie gelandet, und Scientology hat offenbar den nächsten Topschauspieler eingefangen«, antwortete Julian kopfschüttelnd. »Ich wette, das kommt von der schädlichen Wirkung der Sprays.«
»Wovon redest du?«, rief Charlie, die in den angrenzenden Waschraum gegangen war, um sich umzuziehen. Sie holte ihren roten Lieblingspullover aus der Sporttasche und schüttelte ihn aus.
»Von all diesen jungen Dingern, die den Verstand verlieren. Ich glaube, das giftige Zeug in diesen Haarsprays sickert ihnen ins Gehirn. Vielleicht sollten wir ein Spray mit organischem Festiger entwickeln. Ich wette, Felicity hat ein Rezept dafür. Wir könnten das Zeug hier verkaufen und einen Haufen Geld scheffeln!«
»O ja, großartig. Yoga und Haarfestiger. Wir könnten auch gleich Botox anbieten«, sagte Charlie und zog ihre Stiefel über die Jeans.
Lachend stand Julian auf und streckte sich. »Ich glaube, das könnte unser großer Durchbruch sein. Ein Yoga-Studio für das neue Jahrtausend.« Er beobachtete, wie Charlie ihre honigblonden Haare zu einem Knoten aufsteckte. »Wo willst du hin, Schönheit?«, wollte er wissen.
Charlie schwieg einen Moment, während sie ihr Lipgloss hervorholte. »Nun, zu meinem Pseudo-Klassentreffen. Wiedersehen zehn Jahre nach dem College.«
»Tatsächlich? Sehnst du dich etwa nach dem Wiedersehen mit einem alten Jugendfreund, um die alte Leidenschaft wieder aufleben zu lassen? Danach, dass er wieder deine Bücher trägt und dir den Kopf hält, während du kotzen musst? Schätzchen, du weißt doch, dass dein großer Held aus Studientagen inzwischen Glatze trägt, mit irgendeiner Schlampe verheiratet ist und drei Kinder hat. Ach ja, und seine Hosen haben Bügelfalten.« Bei der Vorstellung zuckte Charlie unwillkürlich zusammen. »Aber Moment mal. Warum ist es ein Pseudo-Treffen und kein richtiges? Bist du etwa zu cool für Namensschilder und Hamburger mit Eisbergsalat von einem Catering-Service? Danach vielleicht ein Jell-O-Dessert und später ein kleines Tänzchen zu Black Sheep und Biggie Smalls?«
Charlie lachte. »Black Sheep? Großer Gott. Das klingt wie ein Echo aus fernster Vergangenheit. Nein, ich bin durchaus nicht zu cool. Es ist nur so, dass der Ehemaligenverein der Boston University irgendetwas in New York auf die Beine stellen wollte, weil viele von uns inzwischen hier leben. Zehn Jahre seit unserem Abschluss. Eigentlich kann ich es kaum glauben.« Sie hielt inne und dachte nach. Eine ganze Dekade. Verdammt! »Ich habe eine Einladung per E-Mail bekommen und beschlossen hinzugehen. An der Wiederbelebung irgendeiner längst vergangenen Schwärmerei habe ich übrigens nicht das geringste Interesse. Mir schwebt für heute Abend nur ein Ziel vor.«
»Eine Vorführung deiner Yoga-Künste?«, fragte Juli-an.
»Weniger. Aber natürlich werde ich über Prana Yoga reden. Bestimmt hat diese oder jener schon ein schlechtes Gewissen, weil der Neujahrsvorsatz, etwas für sich zu tun, noch immer nicht in die Tat umgesetzt wurde. Das Timing könnte nicht besser sein.«
»Das ist gar keine schlechte Idee, Miss Geschäftstüchtig«, erwiderte Julian. »Aber deine Yoga-Künste solltest du trotzdem zeigen. Etwas für die Augen kann nie schaden.«
»Was bist du? Mein Zuhälter?«, schnaubte Charlie. »Das ist ja ein starkes Stück. Aber im Ernst, wir müssen alle strampeln, um unsere Brötchen zu verdienen. Auch du, Mister.«
»Donnerwetter, Charlie! Tolle Erkenntnis.«
Prana Yoga gehörte Charlie, Julian und Felicity zu gleichen Teilen, und seit der Eröffnung vor zwei Monaten hatten sie sich sehr bemüht, die Kurse voll zu bekommen. Ihre intensive Werbung war nicht erfolglos geblieben, aber das angestrebte Ziel hatten sie noch längst nicht erreicht. Die Führung eines Unternehmens war kein Kinderspiel, selbst wenn das Unternehmen auf Zen-Prinzipien und dem Grundvertrauen in das Universum basierte. Mit allen Oms der Welt konnte man weder Strom noch Heizung noch Hypotheken bezahlen. Von Gas und Wasser ganz zu schweigen.
Darauf waren sie natürlich vorbereitet gewesen. Charlie hatte höchst erfolgreich an der Wall Street gearbeitet, Julian auf dem Immobilienmarkt ein kleines Vermögen verdient und Felicity ein eigenes Yoga-Studio besessen.
Doch bei aller geschäftlichen Erfahrung und Begeisterung der drei war es nicht leicht, ihren Traum am Leben zu erhalten.
»Wo warst du heute auf Werbetour?«, fragte Charlie.
»In sämtlichen Coffee Shops und Schickimicki-Boutiquen von Williamsburg und Carroll Gardens. Habe Flyer verteilt und an Schwarze Bretter gepinnt. Bevor ich herkam, habe ich die Flatbush Avenue abgegrast. Und dann ist da natürlich noch mein ultimativer Marketing-Coup.« Er zeigte auf den Hundekorb hinter dem Schreibtisch. George und Michael, die beiden verhätschelten Möpse von Julian und seinem Freund Scott, blickten mürrisch zu Charlie auf. Sie steckten in Prana-Yoga-Overalls, einer in Orange, der andere in Babyblau.
»Die bedauernswerten kleinen Dickerchen«, lachte Charlie, lief um den Schreibtisch herum und kraulte ihnen die Köpfe.
»Machst du Witze? Sie lieben es, herausgeputzt zu werden. Stimmt's, Babys? Aber im Ernst, Charlie, die Leute auf der Straße sind in ihrer Begeisterung über die beiden kaum zu bremsen. Da kam ich auf die Idee, sie zu wandelnden Werbeträgern zu machen.«
»Genialer Einfall. Obwohl sie auf mich nicht unbedingt beglückt wirken.«
»Oh, sie sind eben George und Michael. Berühmt zu sein gehört für sie zum Leben. So etwas wie Begeisterung zu zeigen empfinden sie offenbar als bourgeois.«
Wieder lachte Charlie und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. »Okay. Ich mache mich auf den Weg nach Midtown!« Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter.
»O Gott, du armes Mädchen.« Julian sprang auf, um sie zu umarmen. »Viel Spaß, und pass bloß auf, dass sich dir nicht so ein geschniegelter Affe an die Fersen heftet.«
»Ich gebe mir alle Mühe«, versprach sie und schoss zur Tür hinaus und die Treppen hinunter. Die kalte Luft schlug ihr ins Gesicht. Charlie atmete tief ein und zog sich die Kapuze über den Kopf.
Wen sie heute wohl treffen würde. Seit dem College hatte sie zu fast allen den Kontakt verloren. Charlie schüttelte den Kopf und malte sich aus, wie ihre ehemaligen Mitschüler auf die »neue« Charlie reagieren würden.
Schließlich hatte sie die geldfixierte Wall-Street-Aufsteigerin von damals weit hinter sich gelassen. Während alle anderen Pot rauchten und ihre gefälschten Ausweise laminierten, hatte sie die Börsenkurse studiert und C-SPAN geschaut.
Charlie war fest entschlossen gewesen, es in New York zu etwas zu bringen, auch wenn ihr klar war, dass ihre bescheidene Herkunft ihr den Weg nach oben nicht gerade erleichtern würde. »Es geht immer nur um das Wie, Baby«, hatte ihr kluger Pops immer gesagt, und der Wahrheitsgehalt dieser kleinen Lebensweisheit war nie größer gewesen als jetzt, vor ihrer Rückkehr in die Vergangenheit. Gott sei Dank war es nur für eine Stunde.
Okay, zwei Stunden, räumte Charlie missmutig ein. Eine Fahrt nach Midtown verlangte geradezu nach einem längeren Aufenthalt. Schon die Reise hinaus mit der verdammten Subway dauerte mehr als eine Stunde. Charlie zückte ihren Fahrausweis und schob sich durch die Sperre.
Sie lief zum Bahnsteig hinab. Ihr Herz klopfte spürbar, und sie war erstaunt, wie nervös sie war. Wer würde da sein? In Gedanken ging Charlie die kurze Liste ihrer College-Amouren durch. Sie hatte sich nur selten die Zeit dazu genommen, aber gelegentlich doch ihre stoische Abwehr überwunden und sich auf zwei- bis dreiwöchige Liebeleien eingelassen. Sie musste lächeln. Zwei, drei Wochen - doch auf dem College hatten sich drei Wochen angefühlt wie vier Jahre. Besonders wenn sich der Typ als totaler Schwachkopf herausstellte, was nahezu immer der Fall war.
Als der Zug einfuhr, musste Charlie plötzlich an Russ denken, einen strammen Footballspieler mit einem Penis von der Größe eines Engerlings. Besagter Engerling erwies sich als ausgesprochen resistent, denn selbst unter Zuhilfenahme sämtlicher Tricks und Kniffe war es Charlie nicht gelungen, ihn aus der Reserve zu locken. Als sie sich resigniert mit unschuldigem Kuscheln zufriedengab, war Russ mit keinem Wort auf die »Episode« eingegangen und hatte sie stattdessen nach ihrem Lieblingssportwagen gefragt. Am nächsten Tag kehrte Charlie in die Bibliothek für Wirtschaftswissenschaften zurück und plante ihre endgültige Übernahme der Welt. Wenn Russ ein Hinweis darauf gewesen war, was da draußen an Ablenkungen auf sie wartete, konnte sie gut und gern darauf verzichten.
An der Station Broadway-Lafayette stieg Charlie in die Linie sechs um. Sie dachte darüber nach, wie es sein würde, sich den Menschen zu erklären, die sie einmal gut gekannt hatte. Gelegentlich hatte sie jemanden aus ihrer Wall-Street-Vergangenheit getroffen und alle neugierigen Fragen abgewehrt.
»Was ist denn aus dir geworden?«, hatte eine frühere Kollegin bei einem unbehaglichen Samstag-Treffen in einem Starbucks gefragt. »Von einem Tag auf den anderen warst du einfach verschwunden. Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, was aus dir geworden ist.« Während sie das sagte, war sie mit den Fingern der einen Hand über ihre Tasse Milchkaffee (ohne Zucker und absolut fettfrei) geglitten und mit der anderen nervös über ihren tadellos geschnittenen Bob gefahren.
»Oh, ich hatte eine ...« Fieberhaft suchte Charlie nach einer Formulierung, die einerseits genug erklären und andererseits allen weiteren Fragen vorbeugen würde. »Ich hatte einfach eine Art Endzwanziger-Krise, weißt du? Es war höchste Zeit.« Charlie bemühte sich um eine dramatische und geheimnisvolle Miene. Die Frau, an deren Namen sich Charlie beim besten Willen nicht erinnern konnte (Sasha? Natasha? Nicole?), nickte voller Verständnis, während sie vermutlich nur dachte: Bankrotte Lesbe zerstückelt den Pizzaboten und verstaut ihn in ihrer Tiefkühltruhe. Alle Details in den Elf-Uhr-Nachrichten.
»Verstehe«, hauchte die Kollegin mit sichtlichem Unbehagen. »Nun, immerhin gut zu wissen, dass du noch unter uns Lebenden weilst!« Mit diesen Worten verließ sie Charlie und machte sich auf den Weg zu Bergdorf und Prosecco.
Die Erinnerung ließ Charlie lächeln. Sie hob den Kopf. Oh, Mist! Tatsächlich schon Fortysecond Street? Sie stürzte aus dem Zug und verhinderte im letzten Moment, dass die sich schließenden Türen den Riemen ihrer Schultertasche einfingen. Die Menge drängte vorwärts, und Charlie wurde mehr oder weniger die Treppe hinauf und ins Freie getragen. Sie holte tief Luft und lief auf die Bar zu.
Mal sehen, was da auf mich zukommt, dachte sie.
Schnell und geschmeidig erhob sich Charlie vom Boden, sammelte die Wolldecken ein und legte sie zusammen. Lächelnd sah sie zu, wie die Kursteilnehmer wieder in ihre Winterjacken schlüpften, um sich gegen die schneidende Kälte draußen zu wappnen, und registrierte zufrieden den Kontrast zwischen ihren absolut entspannten Gesichtern und den verkniffenen Mienen, mit denen sie eine Stunde zuvor im Studio erschienen waren.
Wieder einmal bewunderte sie, wie Yoga die Menschen wieder zu sich selbst bringen konnte. Es gab ihr ein ausgesprochen gutes Gefühl, die vom New Yorker Alltag gestressten Gemüter ihrer Schüler mit jeder Übung ebenso zu entkrampfen und zu entspannen wie ihre Körper. Charlie wandte sich den Fenstern zu, die auf die geschäftige Straße in Brooklyn hinausführten, dann schaute sie wieder auf das inzwischen leere Studio und lächelte.
Sich vorzustellen, dass das alles ihr gehörte, dass sie wahrhaftig Meisterin ihres eigenen Schicksals war. Nicht schlecht. Manchmal musste sie sich selbst kneifen. Als Charlie das Licht ausknipste, blickte sie auf die Uhr an der Wand.
Viertel nach fünf! Verdammt, dachte sie. Ihr blieben nur noch fünfunddreißig Minuten, um nach Midtown zu gelangen, und sie befand sich hier weit draußen in Bushwick. Bitte, jetzt bloß keine der üblichen Pannen bei der Subway. Da keine Zeit zum Duschen blieb, unterzog sie ihre Achselhöhlen einer hastigen Geruchsprobe und kam zu dem Schluss, dass ein Tropfen Parfüm Abhilfe schaffen würde.
»Toll!«, hörte Charlie eine Stimme hinter sich sagen und drehte sich um.
»Was ist? Hast du noch nie gesehen, wie sich jemand beschnuppert, Julian?«
»Doch. Gorillas machen das ständig.« Grinsend sah er von seinem Computer am Rezeptionstisch auf. »Und? Inspektion erfolgreich verlaufen?«
»Bin frisch wie der junge Morgen! Was gibt's Neues im Netz?«
»Es ist wieder mal ein Ex-Teenie-Star in der Psychiatrie gelandet, und Scientology hat offenbar den nächsten Topschauspieler eingefangen«, antwortete Julian kopfschüttelnd. »Ich wette, das kommt von der schädlichen Wirkung der Sprays.«
»Wovon redest du?«, rief Charlie, die in den angrenzenden Waschraum gegangen war, um sich umzuziehen. Sie holte ihren roten Lieblingspullover aus der Sporttasche und schüttelte ihn aus.
»Von all diesen jungen Dingern, die den Verstand verlieren. Ich glaube, das giftige Zeug in diesen Haarsprays sickert ihnen ins Gehirn. Vielleicht sollten wir ein Spray mit organischem Festiger entwickeln. Ich wette, Felicity hat ein Rezept dafür. Wir könnten das Zeug hier verkaufen und einen Haufen Geld scheffeln!«
»O ja, großartig. Yoga und Haarfestiger. Wir könnten auch gleich Botox anbieten«, sagte Charlie und zog ihre Stiefel über die Jeans.
Lachend stand Julian auf und streckte sich. »Ich glaube, das könnte unser großer Durchbruch sein. Ein Yoga-Studio für das neue Jahrtausend.« Er beobachtete, wie Charlie ihre honigblonden Haare zu einem Knoten aufsteckte. »Wo willst du hin, Schönheit?«, wollte er wissen.
Charlie schwieg einen Moment, während sie ihr Lipgloss hervorholte. »Nun, zu meinem Pseudo-Klassentreffen. Wiedersehen zehn Jahre nach dem College.«
»Tatsächlich? Sehnst du dich etwa nach dem Wiedersehen mit einem alten Jugendfreund, um die alte Leidenschaft wieder aufleben zu lassen? Danach, dass er wieder deine Bücher trägt und dir den Kopf hält, während du kotzen musst? Schätzchen, du weißt doch, dass dein großer Held aus Studientagen inzwischen Glatze trägt, mit irgendeiner Schlampe verheiratet ist und drei Kinder hat. Ach ja, und seine Hosen haben Bügelfalten.« Bei der Vorstellung zuckte Charlie unwillkürlich zusammen. »Aber Moment mal. Warum ist es ein Pseudo-Treffen und kein richtiges? Bist du etwa zu cool für Namensschilder und Hamburger mit Eisbergsalat von einem Catering-Service? Danach vielleicht ein Jell-O-Dessert und später ein kleines Tänzchen zu Black Sheep und Biggie Smalls?«
Charlie lachte. »Black Sheep? Großer Gott. Das klingt wie ein Echo aus fernster Vergangenheit. Nein, ich bin durchaus nicht zu cool. Es ist nur so, dass der Ehemaligenverein der Boston University irgendetwas in New York auf die Beine stellen wollte, weil viele von uns inzwischen hier leben. Zehn Jahre seit unserem Abschluss. Eigentlich kann ich es kaum glauben.« Sie hielt inne und dachte nach. Eine ganze Dekade. Verdammt! »Ich habe eine Einladung per E-Mail bekommen und beschlossen hinzugehen. An der Wiederbelebung irgendeiner längst vergangenen Schwärmerei habe ich übrigens nicht das geringste Interesse. Mir schwebt für heute Abend nur ein Ziel vor.«
»Eine Vorführung deiner Yoga-Künste?«, fragte Juli-an.
»Weniger. Aber natürlich werde ich über Prana Yoga reden. Bestimmt hat diese oder jener schon ein schlechtes Gewissen, weil der Neujahrsvorsatz, etwas für sich zu tun, noch immer nicht in die Tat umgesetzt wurde. Das Timing könnte nicht besser sein.«
»Das ist gar keine schlechte Idee, Miss Geschäftstüchtig«, erwiderte Julian. »Aber deine Yoga-Künste solltest du trotzdem zeigen. Etwas für die Augen kann nie schaden.«
»Was bist du? Mein Zuhälter?«, schnaubte Charlie. »Das ist ja ein starkes Stück. Aber im Ernst, wir müssen alle strampeln, um unsere Brötchen zu verdienen. Auch du, Mister.«
»Donnerwetter, Charlie! Tolle Erkenntnis.«
Prana Yoga gehörte Charlie, Julian und Felicity zu gleichen Teilen, und seit der Eröffnung vor zwei Monaten hatten sie sich sehr bemüht, die Kurse voll zu bekommen. Ihre intensive Werbung war nicht erfolglos geblieben, aber das angestrebte Ziel hatten sie noch längst nicht erreicht. Die Führung eines Unternehmens war kein Kinderspiel, selbst wenn das Unternehmen auf Zen-Prinzipien und dem Grundvertrauen in das Universum basierte. Mit allen Oms der Welt konnte man weder Strom noch Heizung noch Hypotheken bezahlen. Von Gas und Wasser ganz zu schweigen.
Darauf waren sie natürlich vorbereitet gewesen. Charlie hatte höchst erfolgreich an der Wall Street gearbeitet, Julian auf dem Immobilienmarkt ein kleines Vermögen verdient und Felicity ein eigenes Yoga-Studio besessen.
Doch bei aller geschäftlichen Erfahrung und Begeisterung der drei war es nicht leicht, ihren Traum am Leben zu erhalten.
»Wo warst du heute auf Werbetour?«, fragte Charlie.
»In sämtlichen Coffee Shops und Schickimicki-Boutiquen von Williamsburg und Carroll Gardens. Habe Flyer verteilt und an Schwarze Bretter gepinnt. Bevor ich herkam, habe ich die Flatbush Avenue abgegrast. Und dann ist da natürlich noch mein ultimativer Marketing-Coup.« Er zeigte auf den Hundekorb hinter dem Schreibtisch. George und Michael, die beiden verhätschelten Möpse von Julian und seinem Freund Scott, blickten mürrisch zu Charlie auf. Sie steckten in Prana-Yoga-Overalls, einer in Orange, der andere in Babyblau.
»Die bedauernswerten kleinen Dickerchen«, lachte Charlie, lief um den Schreibtisch herum und kraulte ihnen die Köpfe.
»Machst du Witze? Sie lieben es, herausgeputzt zu werden. Stimmt's, Babys? Aber im Ernst, Charlie, die Leute auf der Straße sind in ihrer Begeisterung über die beiden kaum zu bremsen. Da kam ich auf die Idee, sie zu wandelnden Werbeträgern zu machen.«
»Genialer Einfall. Obwohl sie auf mich nicht unbedingt beglückt wirken.«
»Oh, sie sind eben George und Michael. Berühmt zu sein gehört für sie zum Leben. So etwas wie Begeisterung zu zeigen empfinden sie offenbar als bourgeois.«
Wieder lachte Charlie und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. »Okay. Ich mache mich auf den Weg nach Midtown!« Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter.
»O Gott, du armes Mädchen.« Julian sprang auf, um sie zu umarmen. »Viel Spaß, und pass bloß auf, dass sich dir nicht so ein geschniegelter Affe an die Fersen heftet.«
»Ich gebe mir alle Mühe«, versprach sie und schoss zur Tür hinaus und die Treppen hinunter. Die kalte Luft schlug ihr ins Gesicht. Charlie atmete tief ein und zog sich die Kapuze über den Kopf.
Wen sie heute wohl treffen würde. Seit dem College hatte sie zu fast allen den Kontakt verloren. Charlie schüttelte den Kopf und malte sich aus, wie ihre ehemaligen Mitschüler auf die »neue« Charlie reagieren würden.
Schließlich hatte sie die geldfixierte Wall-Street-Aufsteigerin von damals weit hinter sich gelassen. Während alle anderen Pot rauchten und ihre gefälschten Ausweise laminierten, hatte sie die Börsenkurse studiert und C-SPAN geschaut.
Charlie war fest entschlossen gewesen, es in New York zu etwas zu bringen, auch wenn ihr klar war, dass ihre bescheidene Herkunft ihr den Weg nach oben nicht gerade erleichtern würde. »Es geht immer nur um das Wie, Baby«, hatte ihr kluger Pops immer gesagt, und der Wahrheitsgehalt dieser kleinen Lebensweisheit war nie größer gewesen als jetzt, vor ihrer Rückkehr in die Vergangenheit. Gott sei Dank war es nur für eine Stunde.
Okay, zwei Stunden, räumte Charlie missmutig ein. Eine Fahrt nach Midtown verlangte geradezu nach einem längeren Aufenthalt. Schon die Reise hinaus mit der verdammten Subway dauerte mehr als eine Stunde. Charlie zückte ihren Fahrausweis und schob sich durch die Sperre.
Sie lief zum Bahnsteig hinab. Ihr Herz klopfte spürbar, und sie war erstaunt, wie nervös sie war. Wer würde da sein? In Gedanken ging Charlie die kurze Liste ihrer College-Amouren durch. Sie hatte sich nur selten die Zeit dazu genommen, aber gelegentlich doch ihre stoische Abwehr überwunden und sich auf zwei- bis dreiwöchige Liebeleien eingelassen. Sie musste lächeln. Zwei, drei Wochen - doch auf dem College hatten sich drei Wochen angefühlt wie vier Jahre. Besonders wenn sich der Typ als totaler Schwachkopf herausstellte, was nahezu immer der Fall war.
Als der Zug einfuhr, musste Charlie plötzlich an Russ denken, einen strammen Footballspieler mit einem Penis von der Größe eines Engerlings. Besagter Engerling erwies sich als ausgesprochen resistent, denn selbst unter Zuhilfenahme sämtlicher Tricks und Kniffe war es Charlie nicht gelungen, ihn aus der Reserve zu locken. Als sie sich resigniert mit unschuldigem Kuscheln zufriedengab, war Russ mit keinem Wort auf die »Episode« eingegangen und hatte sie stattdessen nach ihrem Lieblingssportwagen gefragt. Am nächsten Tag kehrte Charlie in die Bibliothek für Wirtschaftswissenschaften zurück und plante ihre endgültige Übernahme der Welt. Wenn Russ ein Hinweis darauf gewesen war, was da draußen an Ablenkungen auf sie wartete, konnte sie gut und gern darauf verzichten.
An der Station Broadway-Lafayette stieg Charlie in die Linie sechs um. Sie dachte darüber nach, wie es sein würde, sich den Menschen zu erklären, die sie einmal gut gekannt hatte. Gelegentlich hatte sie jemanden aus ihrer Wall-Street-Vergangenheit getroffen und alle neugierigen Fragen abgewehrt.
»Was ist denn aus dir geworden?«, hatte eine frühere Kollegin bei einem unbehaglichen Samstag-Treffen in einem Starbucks gefragt. »Von einem Tag auf den anderen warst du einfach verschwunden. Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, was aus dir geworden ist.« Während sie das sagte, war sie mit den Fingern der einen Hand über ihre Tasse Milchkaffee (ohne Zucker und absolut fettfrei) geglitten und mit der anderen nervös über ihren tadellos geschnittenen Bob gefahren.
»Oh, ich hatte eine ...« Fieberhaft suchte Charlie nach einer Formulierung, die einerseits genug erklären und andererseits allen weiteren Fragen vorbeugen würde. »Ich hatte einfach eine Art Endzwanziger-Krise, weißt du? Es war höchste Zeit.« Charlie bemühte sich um eine dramatische und geheimnisvolle Miene. Die Frau, an deren Namen sich Charlie beim besten Willen nicht erinnern konnte (Sasha? Natasha? Nicole?), nickte voller Verständnis, während sie vermutlich nur dachte: Bankrotte Lesbe zerstückelt den Pizzaboten und verstaut ihn in ihrer Tiefkühltruhe. Alle Details in den Elf-Uhr-Nachrichten.
»Verstehe«, hauchte die Kollegin mit sichtlichem Unbehagen. »Nun, immerhin gut zu wissen, dass du noch unter uns Lebenden weilst!« Mit diesen Worten verließ sie Charlie und machte sich auf den Weg zu Bergdorf und Prosecco.
Die Erinnerung ließ Charlie lächeln. Sie hob den Kopf. Oh, Mist! Tatsächlich schon Fortysecond Street? Sie stürzte aus dem Zug und verhinderte im letzten Moment, dass die sich schließenden Türen den Riemen ihrer Schultertasche einfingen. Die Menge drängte vorwärts, und Charlie wurde mehr oder weniger die Treppe hinauf und ins Freie getragen. Sie holte tief Luft und lief auf die Bar zu.
Mal sehen, was da auf mich zukommt, dachte sie.
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Autoren-Porträt von Zoe Fishman
Zoe Fishman arbeitet als Agentin für eine New Yorker Literaturagentur.
Bibliographische Angaben
- Autor: Zoe Fishman
- 2011, 413 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Hedda Pänke
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610390
- ISBN-13: 9783548610399
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