Sonst kommst du dran!
Ich heiße Wolfgang Schmitz. In der Klasse nennen sie mich Wolfi. Nicht etwa Wolf, nein, Wolfi, manchmal sogar Wölfchen oder Wolfilein und das sagt eigentlich bereits alles: dass ich klein bin, dass ich keinen Respekt verdiene, dass ich, wenn auch längst...
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Produktinformationen zu „Sonst kommst du dran! “
Ich heiße Wolfgang Schmitz. In der Klasse nennen sie mich Wolfi. Nicht etwa Wolf, nein, Wolfi, manchmal sogar Wölfchen oder Wolfilein und das sagt eigentlich bereits alles: dass ich klein bin, dass ich keinen Respekt verdiene, dass ich, wenn auch längst über vierzehn, nichts weiter als ein fader Typ bin. Vielleicht käme ich mir ja wirklich ein wenig bedeutender vor, wenn ich tun würde, was Ede von mir verlangt.
In der Zwickmühle - Ein Jugendroman zu dem brisanten Thema Gewalt an Schulen.
"Wenn du nicht aktiv mitmachst, Wölfchen, wenn du lieber bei deiner Mami hockst, dann lass es bleiben. Aber von uns hast du dann auch nichts mehr zu erwarten." Wolfgang ist in der Zwickmühle. Ede und die Gang terrorisieren seine Klasse. Wer aufmuckt, kriegt Ärger. Die Lehrer ahnen etwas, doch keiner traut sich, den Mund aufzumachen. Erst recht nicht der stille Wolfgang.
Anfangs beeindruckte es Wolfgang noch, wie Ede sich vor allen Respekt verschafft. So klein und unauffällig wie er ist, war es für ihn ganz einfach, mitzulaufen und selbst nicht das Opfer von Nachstellungen zu werden. Doch nun hat Ede ihm ein Ultimatum gestellt: Er soll einer alten Frau die Handtasche klauen. Wolfgang hat Skrupel und weigert sich. Als Ede ihn aber zusammenschlägt, überwiegt die Angst. Wolfgang wird vom Mitläufer zum Täter.Schuldgefühle nagen an ihm. Sein "Opfer" liegt mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Am liebsten würde er Ede und die Gang auffliegen lassen. Doch wer würde ihm glauben, jetzt wo er selbst kriminell geworden ist? Und wie stünde er vor Julia da, die sich immer von der Gang distanziert hat und ihm vertraut?
"Wenn du nicht aktiv mitmachst, Wölfchen, wenn du lieber bei deiner Mami hockst, dann lass es bleiben. Aber von uns hast du dann auch nichts mehr zu erwarten." Wolfgang ist in der Zwickmühle. Ede und die Gang terrorisieren seine Klasse. Wer aufmuckt, kriegt Ärger. Die Lehrer ahnen etwas, doch keiner traut sich, den Mund aufzumachen. Erst recht nicht der stille Wolfgang.
Anfangs beeindruckte es Wolfgang noch, wie Ede sich vor allen Respekt verschafft. So klein und unauffällig wie er ist, war es für ihn ganz einfach, mitzulaufen und selbst nicht das Opfer von Nachstellungen zu werden. Doch nun hat Ede ihm ein Ultimatum gestellt: Er soll einer alten Frau die Handtasche klauen. Wolfgang hat Skrupel und weigert sich. Als Ede ihn aber zusammenschlägt, überwiegt die Angst. Wolfgang wird vom Mitläufer zum Täter.Schuldgefühle nagen an ihm. Sein "Opfer" liegt mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Am liebsten würde er Ede und die Gang auffliegen lassen. Doch wer würde ihm glauben, jetzt wo er selbst kriminell geworden ist? Und wie stünde er vor Julia da, die sich immer von der Gang distanziert hat und ihm vertraut?
Lese-Probe zu „Sonst kommst du dran! “
Ich heiße Wolfgang Schmitz. In der Klasse nennen sie mich Wolfi. Nicht etwa Wolf, nein, Wolfi, manchmal sogar Wölfchen oder Wolfilein und das sagt eigentlich bereits alles: dass ich klein bin, dass ich keinen Respekt verdiene, dass ich, wenn auch längst über vierzehn, nichts weiter als ein fader Typ bin. Vielleicht käme ich mir ja wirklich ein wenig bedeutender vor, wenn ich tun würde, was Ede von mir verlangt.Völlig cool hat er erklärt: "Wenn du dich weigerst, Wolfi, frag ich eben Nils. Der wird nicht Nein sagen, verlass dich darauf."
Mir bleibt doch gar keine Wahl, ich muss diesen Scheiß machen, sonst schließen sie mich aus, dann gehöre ich nicht mehr zu ihnen und das wäre schlimm. Irgendwohin muss der Mensch doch gehören, auch wenn es bloß eine Klassengang ist. Der Rest meiner Klasse zählt nicht, die meisten sind fast ebenso fad und unscheinbar wie ich.
Ich glaube, ich bin schon gleich nach meiner Geburt aufs falsche Gleis geraten. An meinen Vater kann ich mich kaum mehr erinnern, er ist gestorben, bevor ich vier war. Auf dem gerahmten Hochzeitsfoto, das Mama an die Wand gehängt hat, ist aber nicht zu übersehen, dass auch er kein Riese war. Damit es weniger auffällt, hat ihn der Fotograf auf die erste Treppenstufe gestellt, was Mamas Brautkleid nur teilweise verbirgt.
Zuweilen neckt meine Schwester Mascha unsere Mutter: "Wir hatten einen Zwergenvater! Weshalb hast du dir bloß keinen stattlicheren Mann ausgesucht?"
"Euer Vater ... klein vielleicht ... sein Herz ... umso größer", erwidert Mama dann jedesmal eisig. Sie versteht keinen Spaß, wenn es um Felix selig geht. Auch jetzt noch, bald elf Jahre nach seinem Tod, besucht sie sein Grab jeden Sonntag. Früher nahm sie Mascha und mich mit, zog uns an den Händen über die gekiesten Wege an Grabsteinen und Holzkreuzen vorbei, hielt dann vor einem Marmorstein an und sprach mit feierlicher Stimme: "Hier ... euer Vater." Mascha und ich guckten uns dann nur vielsagend an und schwiegen. Bereits als Kinder
... mehr
merkten wir, dass es Situationen gibt, in denen man besser die Klappe hält.
Meine Mutter arbeitet in der Kantine der Schlichter-Werke. Morgens um halb sieben verlässt sie unsere Wohnung und kehrt gegen vier Uhr völlig geschafft zurück. Logo hat sie, nachdem sie Berge von Karotten, Bohnen und Kartoffeln verarbeitet hat, keine Lust mehr, für Mascha und mich ein Abendessen hinzuzaubern. Dass es Familien gibt, in denen der Tisch schön gedeckt wird, flimmernde Kerzen sich in blanken Tellern spiegeln, erwartungsfrohe Kinder auf ihren Stühlen sitzen und frohgestimmte Eltern dampfende Schüsseln hereintragen, ihre Schar mit einem liebevollen Blick umfangen - das kenne ich nur aus der Fernsehwerbung. Vielleicht gibt es so was ja in Wirklichkeit gar nicht.
Mama ist groß. Ihre Haare sind von Dauerwellen ausgelaugt, und in ihrem Gesicht hängt alles ein bisschen, die Lider, die Haut unter den Augen, die Mundwinkel, das Kinn. Aber sie ist schon in Ordnung, meine Mutter, ich weiß, dass sie es allein mit zwei Kindern nicht leicht hat. Wenigstens setzt sie uns nicht dauernd wieder neue Männer vor die Nase wie die Mutter eines Klassenkameraden. Aber bestimmt träumt auch sie hin und wieder von einem anderen, besseren Leben.
Wenn sie nach Hause kommt, lässt sie sich wie totgeschossen gleich in ihren Lehnstuhl fallen und steckt die Füße in eine Wanne. Dazu verdreht sie verzückt die Augen und seufzt so wohlig, dass Mascha mir schon zugeflüstert hat: "Man könnte meinen, sie hätte einen Orgasmus!", was ich reichlich blöd fand. Mit Mascha kann man nicht mehr reden, sie hat nur noch ihren Jens, Haarspray und Tönungsshampoos im Kopf.
"Sie ist in einem schwierigen Alter", seufzt Mama manchmal, um Maschas Launen zu entschuldigen, und dann lässt sie ihre Augen hoffnungsvoll auf mir verweilen. "Du bist anders, Wolfgang ... spür ich!"
Was ich an Mama mag: Sie nennt mich immer Wolfgang. Bekäme sie allerdings mit, wie feige ich mich vor Ede ducke, würde sie wahrscheinlich auch nur noch Wolfi sagen.
Großer Gott, was Ede verlangt, ist ein starkes Stück. Ich trau mich einfach nicht. Ich darf auch gar nicht, schon Mama zuliebe! Sie rackert sich für ihre beiden Gören ab, quasselt dauernd vom "rechten Weg" und "nicht in falsche Gesellschaft geraten". Wie würde sie reagieren, wie weiterleben, falls man mich bei meiner Tat erwischt?
Nach ihrem Fußbad werkelt Mama im Haushalt, geht vielleicht rasch ins Einkaufszentrum an der Ecke oder sie bügelt und putzt beim Flimmern des Fernsehers, der ständig läuft. Der Fernseher gibt auch Anlass zum Streit zwischen Mascha und ihr. Mascha mag Talkshows, Mama dagegen guckt sich am liebsten Fortsetzungsserien an. Die beiden können sich nie auf ein Programm einigen. Was ich sehen möchte, überlegen sie sich gar nicht erst. Wolfi, das friedfertige Lamm, passt sich ja auch ihrer Entscheidung immer an.
Na ja, ich mache mich ohnehin lieber an die Hausaufgaben oder über meinen Laptop her, den mir Onkel Stefan geschenkt hat. Die meisten Fernsehsendungen finde ich nämlich doof. Das darf ich allerdings niemandem verraten, schon gar nicht unserer Klassengang, aber Lernen, der ganze Schulstoff, das macht mir Spaß, und Büffeln bereitet mir keine Mühe.
Dank Onkel Stefan kann ich mich auch jederzeit ins Internet einloggen und in die Welt hinaussurfen.
"Dein Vater ... genau wie du", meinte Mama kürzlich, als sie mich lesen sah. "... konnte nicht genug kriegen von Büchern. Wenn er länger ... hätte es weit gebracht!"
Aber er hat es nur bis zum Friedhof, Sektor 11, Reihe 5, Grab 207, gebracht.
Abends zwischen sechs und sieben holt sich dann jeder etwas aus dem Eisschrank und schneidet sich ein Stück Brot dazu ab. Bestenfalls rafft sich Mama mal zu einem Eintopfgericht auf, das dann ein paar Tage lang so oft aufgewärmt wird, bis es matschig ist. Es kommt auch vor, dass sie bereits gekochte Mahlzeiten aus der Kantine mitbringt. Die bilden dann die Höhepunkte unserer kulinarischen Verpflegung. Und wenn Mascha besonders gut drauf ist, opfert sie ein bisschen Lehrgeld und bringt Hamburger und Pommes mit nach Hause. Doch seit sie Jens kennt, ist sie auf Diät. Sie will nicht aus der Form geraten wie unsere Mutter. Zeit hat sie auch keine mehr. Sie hockt zappelnd auf der Stuhlkante und guckt immer wieder auf die Uhr, verschwindet sobald sie kann im Bad und von dort hört man alsbald verschiedene Sprays zischen, bevor sie aufgetakelt die Wohnung verlässt. Nur selten kommt sie vor elf zurück.
"Wenigstens du ... zu Hause!", hat Mama bis vor kurzem geseufzt und mich an sich gezogen, was ich nicht mochte. Weil ich so klein bin, bekam ich, so dicht an ihren Körper gepresst, kaum noch Luft.
Ja, bis vor etwa drei Monaten genoss ich die Abende daheim mit Mama. Wir sprachen wenig. Meistens verzog ich mich bald in mein Zimmer und las, aber es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass Mama sich im Nebenzimmer einen Fernsehfilm reinzog.
Bis Ede eines Tages sagte: "Wenn du nicht aktiv mitmachst, Wölfchen, wenn du lieber bei deiner Mami hockst, dann lass es bleiben. Aber von uns hast du dann auch nichts mehr zu erwarten."
Nur seinetwegen begann ich, abends nochmals wegzugehen. Ich traf mich mit den Kumpels am Brunnen vor dem Parkeingang, den sie als Ausgangspunkt für ihre Streifzüge gewählt haben.
Als ich das erste Mal abends wegging, musterte Mama mich scharf. "Wohin?", wollte sie wissen. Im Lauf der Jahre hat sie sich angewöhnt, nur noch das Notwendigste zu sagen. Lediglich für außergewöhnliche Angelegenheiten bemüht sie sich noch um fast vollständige Sätze, für den Alltagskram begnügt sie sich mit einer Stichwortsprache.
Da ich damals noch nicht genau wusste, was mir bevorstand, konnte ich ihr ohne weiteres gerade in die Augen blicken und antworten: "Ich treffe mich mit ein paar Schulfreunden an der Ecke."
Als Freunde habe ich Ede und die Mitglieder seiner Gang bezeichnet!
Aber was sind sie sonst? Solange ich mich an ihre Regeln halte, benehmen sie sich zumindest einigermaßen wie Freunde und es geht mir nicht schlecht. Auf jeden Fall möchte ich nicht mit Nils tauschen, den sie ständig fertig machen. Er hat es schwer in unserer Klasse, nicht nur, weil seine Mutter als Putzfrau arbeitet und die Gangmitglieder sich alle snobistisch für etwas Besseres halten.
Die Väter vieler Klassenkameraden nennen sich Teamleader, sie arbeiten im Trust und Recycling Business, jobben im Investment Support oder sind Ticket Agent. Bei den Müttern gibt es Consultants, Personal Assistants und Marketingleiterinnen oder sie verdienen ihr Geld im Bereich Sales und Administration. Da können eine Putzfrau und Kantinenmitarbeiterin natürlich schlecht mithalten.
Mascha wertet Mamas Beruf auf, indem sie allen erzählt, Mutter arbeite in den Schlichter-Werken als "Service Attendant des Foodstaff", was ich echt doof finde. Wenn ich mir Mama ansehe, arbeitet sie nun mal in einer Kantine und nicht in einem Foodstaff.
Dass wir in einer so genannt besseren Gegend wohnen - es gibt in unserem Viertel nur wenige Mietshäuser, dafür umso mehr Eigentumswohnungen und Reihenhäuser - haben wir einem Zufall zu verdanken. Die Schlichter-Werke haben nämlich für ihre Angestellten bereits vor Jahren vier große Wohnhäuser mit je sechzehn Wohnungen gebaut und mein verstorbener Vater bekam gleich als einer der Ersten eine kleine Vierzimmerwohnung im zweiten Stock. Er arbeitete als Büroangestellter - oder Office Employee, wie man heute gediegener sagen würde. Hätte die Schlichter-Crew damals geahnt, dass er sich schon drei Monate nach dem Einzug nach einer Herzattacke endgültig aus dem Leben verabschieden und eine mittellose Witwe mit zwei noch nicht schulpflichtigen Kindern zurücklassen würde, hätten sie ihm die Wohnung bestimmt nicht gegeben. Wie Mama es schaffte, dass man uns nicht rausschmiss, weiß ich nicht. Mag sein, dass unser einflussreicher Onkel Stefan ein Wort für uns eingelegt hat. Die Arbeiterfamilien wohnen nämlich woanders, und die Leute im Haus lassen uns gelegentlich spüren, dass wir eigentlich nicht zu ihnen gehören.
"Kopf hoch!", befiehlt Mama jeweils, wenn wir die Wohnung verlassen. Vielleicht macht sie sich auch bloß selbst Mut. Aber an ihren knappen Ratschlag denke ich zuweilen in der Schule und er hat mir schon oft über schlimme Stunden hinweggeholfen.
Ede und die andern Gangmitglieder dürften sich jedoch, selbst wenn ich den Kopf hoch trage, nicht täuschen lassen.
Hätte ich nur ein bisschen Mut, würde ich sie bei der Polizei anzeigen - oder wenigstens ihrem schmutzigen Spiel nicht kommentarlos zusehen! Ich bin so etwas von feige! Kleinen Jungs die Markenturnschuhe abnehmen, Mädchen das Geld aus der Börse klauen ... Was man mit Drohgebärden und grimmigem Blick doch alles erreichen kann!
Auch Kneipenmobiliar beschädigen oder Hausfassaden besprayen gehören zur Spezialität der Gang. Im Vergleich zu dem, was ich jetzt machen soll, ist das alles jedoch Kinderkram. Sollte es tatsächlich einen lieben Gott geben, würde er mir bestimmt einen Weg zeigen, wie ich mich aus diesem Schlamassel befreien könnte, ohne in Teufels Küche zu geraten. Doch bis jetzt weist mir noch kein himmlischer Stern einen gangbaren Weg.
Sollte schließlich alles auffliegen, kann ich natürlich auch Julia vergessen. Wobei ich selbst nicht weiß, weshalb sie mir nicht egal ist. Sie ist nicht mal sonderlich hübsch. Als sie vor einem Jahr aus einer andern Stadt hierhergezogen ist und in unsere Klasse eingeteilt wurde, stellten Ede und mit ihm natürlich all seine Kumpels sogleich fest: Sie ist keine coole Braut.
Das ist sie tatsächlich nicht. Wie sie damals vor unserer Klasse stand, dünn wie eine Bohnenstange, mit hellblonden Zöpfen, die widerspenstig vom Kopf abstanden, sah sie fast Mitleid erregend aus. Hannes grinste verächtlich und brummte vernehmlich: "Was hat denn Pippi Langstrumpf hier verloren?" Und alle brachen in Gelächter aus. Auch ich. Ich verhalte mich ohnehin meist wie die anderen. Frau Sommer, unsere Lehrerin, warf strafende Blicke in die Runde und schalt: "Das ist aber keine freundliche Begrüßung für eine neue Mitschülerin!" Und zu Julia: "Lass dich von diesen Großmäulern bloß nicht beeindrucken!", wobei sie Ede scharf ins Visier nahm.
Sie wies dieser Julia einen Platz neben Inge zu, und Inge, die auf Ede spitz ist, rückte sogleich demonstrativ zur Seite und erhielt von Ede einen anerkennenden Blick.
Mir fielen zuerst Julias Augen auf, riesengroß und dunkel. Sie wirkten in ihrem blassen Gesicht irgendwie fehl am Platz, gaben ihm einen hungrigen Ausdruck, der an Fotos aus Drittweltländern erinnert, an diese dünnen Kinder mit von Hunger aufgeblähten Bäuchen und Augen groß wie Wagenräder im ausgemergelten Gesicht. Jedesmal wenn ich von da an ins Klassenzimmer trat, musste ich, ob ich wollte oder nicht, rasch zu Julia hingucken, und meist schauten ihre Riesenaugen stumm zurück.
Sie hat bestimmt rasch gemerkt, wie es in unserer Klasse läuft: Da gibt's zuerst einmal Ede und die vier Kumpels, die ständig für Wirbel sorgen und unsere Klasse terrorisieren. Sie können auch Lehrer und Lehrerinnen richtiggehend fertig machen, sie boykottieren einfach alles, was verlangt wird, verweigern selbst Strafaufgaben. Es sieht aus, als hätte die gesamte Lehrerschaft resigniert, weil der Gruppe nicht beizukommen ist. Soweit dies möglich ist, lässt man sie links liegen. Ungefähr zehn Mitläufer, die jedoch nicht aktiv Terror machen, kreisen um die Gang. Sie ordnen sich Edes Herrschaft unter und schweigen zu allem, was geschieht. Bis vor kurzem gehörte ich dieser passiven Gruppe an.
Vor ein paar Tagen hat Ede aber beschlossen, mich zu "aktivieren". Ich darf von nun an nicht mehr nur alles kommentarlos mit ansehen, sondern soll mich an ihren Taten beteiligen. Sonst sei ich dran, meinte er - und das will auf keinen Fall, ich habe Angst!
Ich habe schon öfter mit ansehen müssen, was geschieht, wenn einer dran ist. Peter haben sie sogar den Arm gebrochen, aber der arme Kerl hat sich trotzdem nicht zu wehren getraut und behauptet, er sei im Schulhof die Treppe hinuntergefallen.
In unserer Klasse gibt es nur ganz wenige, die sich einen Deut darum scheren, was sich tut. Sie erledigen ihre Arbeit und ansonsten sondern sie sich ab, sind die Braven, Fleißigen, die es mit Ehrlichkeit zu etwas bringen wollen. Als ich Julia das erste Mal sah, ahnte ich gleich, dass sie sich dieser Gruppe anschließen würde.
Sie scheint allerdings für sich zu bleiben. Meist verbringt sie die Pausen allein, liest in einem Buch und isst einen Apfel, plaudert höchstens mal mit einer Kollegin über Belanglosigkeiten und auf dem Heimweg überholt sie mit ihrem schnellen Schritt alle Schülergruppen und läuft schnurstracks nach Hause.
Sie wohnt im Haus neben uns. Eines Tages habe ich zufällig bemerkt, dass ich von meinem Zimmer aus direkt zu ihr hochsehen kann. Auf dem Balkon im fünften Stock habe ich plötzlich Julia und ein kleines Mädchen entdeckt. Sie schauten beide auf die Straße hinunter. Seit damals habe ich sie öfter gesehen. Bei schönem Wetter sitzt die ganze Familie gemütlich unter dem rotblau gestreiften Sonnendach auf dem Balkon.
Okay, falls ich mich als aktives Gangmitglied oute, müsste ich eben riskieren, dass Julia mich nicht mehr anschaut, wenn ich ins Schulzimmer komme, aber das dürfte noch das kleinste aller zu erwartenden Übel sein.
Ich muss es tun, ich habe gar keine Wahl. Die sind imstande und bringen mich um. Nicht wirklich, nicht gleich, aber schrittweise, langsam, quälend, zermürbend. Auf diese Weise haben sie Steven und Claudia aus der Klasse geekelt, und sie waren dabei clever genug, sich nie auf frischer Tat ertappen zu lassen. So hatte man gegen sie nichts in der Hand. Alle ahnten, was abging, aber es ließ sich nichts beweisen. Es kam sogar ein Psychologe in die Klasse.
Er predigte eine ganze Stunde lang über Mobbing und Gewalt und nahm offenbar unter vier Augen sogar Ede ins Gebet - aber auch er erreichte nichts. Das Absurde ist ja, dass Ede eher wie ein Engel als wie ein Gangster aussieht. Er hat ein rundes Gesicht, umweht von einer Goldhaarwolke und mit seinen blauen Augen könnte er glatt mit Harrison Ford konkurrieren. Auf den ersten Blick hält ihn niemand für den ausgekochten Brutalo, der er ist. Es gibt einfach Menschen, die sind schlecht, und sie geben keine Ruhe, bis alle, die mit ihnen in Kontakt kommen, entweder ebenfalls schlecht sind oder kuschen. Nur wenige leisten Widerstand. Ich gehöre nicht zu ihnen.
Es muss doch einen lieben Gott geben: Er hat mir eine Blinddarmentzündung geschickt. Von einer Stunde auf die andere bekam ich rechts unten im Bauch einen bohrenden Schmerz und so hohes Fieber, dass meine Mutter nicht wagte, mich allein zu lassen, und nicht zur Arbeit ging. Zähneklappernd lag ich im Bett. Einerseits war ich erleichtert, dass ich nicht zur Schule zu gehen und Edes Anweisungen zu gehorchen brauchte, andererseits aber wünschte ich die Schmerzen zur Hölle - noch nicht ahnend, dass sie mit Eilpost vom Himmel kamen! Ich dachte, ich hätte etwas Schlechtes gegessen und am folgenden Tag sei alles wieder wie zuvor. Zuvor war zwar nichts gut, aber wenigstens tat mir nichts weh. Morgens um elf schleppte mich Mama in die Arztpraxis drei Häuser weiter. Ehrlich, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Von dort ging es kurz darauf gleich weiter, ins Krankenhaus, diesmal allerdings in einer Ambulanz. Mama saß neben mir und murmelte immer wieder verwirrt: "Was ... bloß ... Sachen, Wolfgang!" Sie sah aus, als habe sie selbst eine Blinddarmentzündung.
Im Krankenhaus schnipselten sie an mir rum, doch erst als ich nach der Operation aus der Narkose erwachte und nur noch ein leichtes Brennen spürte, wurde mir bewusst, welches Glück mir beschert war. Bestimmt würde man mich mindestens zwei Wochen lang krank schreiben! Zwei Wochen Aufschub, zwei Wochen Paradies, zwei Wochen ohne Ede und die Gang! Bestenfalls hatte Ede keine Lust, so lange zu warten, bis ich wieder gesund war, und würde einen anderen mit der Tat beauftragen, die er mir zugedacht hatte.
Frisch operiert lag ich im Krankenhauszimmer unter meinem Laken und fühlte mich vermutlich glücklicher als Kolumbus bei der Entdeckung Amerikas.
Zwei der drei übrigen Betten waren von anderen Patienten belegt. Als ich in die Runde schaute, begegnete ich einem Blick aus zwei grauen Augen, in denen vergnügte Funken tanzten."Hallo", sagte der Junge, zu dem sie gehörten, "bist du wieder unter die Lebenden zurückgekehrt! War ganz schön eklig, wie du gekotzt hast!"
Meine Mutter arbeitet in der Kantine der Schlichter-Werke. Morgens um halb sieben verlässt sie unsere Wohnung und kehrt gegen vier Uhr völlig geschafft zurück. Logo hat sie, nachdem sie Berge von Karotten, Bohnen und Kartoffeln verarbeitet hat, keine Lust mehr, für Mascha und mich ein Abendessen hinzuzaubern. Dass es Familien gibt, in denen der Tisch schön gedeckt wird, flimmernde Kerzen sich in blanken Tellern spiegeln, erwartungsfrohe Kinder auf ihren Stühlen sitzen und frohgestimmte Eltern dampfende Schüsseln hereintragen, ihre Schar mit einem liebevollen Blick umfangen - das kenne ich nur aus der Fernsehwerbung. Vielleicht gibt es so was ja in Wirklichkeit gar nicht.
Mama ist groß. Ihre Haare sind von Dauerwellen ausgelaugt, und in ihrem Gesicht hängt alles ein bisschen, die Lider, die Haut unter den Augen, die Mundwinkel, das Kinn. Aber sie ist schon in Ordnung, meine Mutter, ich weiß, dass sie es allein mit zwei Kindern nicht leicht hat. Wenigstens setzt sie uns nicht dauernd wieder neue Männer vor die Nase wie die Mutter eines Klassenkameraden. Aber bestimmt träumt auch sie hin und wieder von einem anderen, besseren Leben.
Wenn sie nach Hause kommt, lässt sie sich wie totgeschossen gleich in ihren Lehnstuhl fallen und steckt die Füße in eine Wanne. Dazu verdreht sie verzückt die Augen und seufzt so wohlig, dass Mascha mir schon zugeflüstert hat: "Man könnte meinen, sie hätte einen Orgasmus!", was ich reichlich blöd fand. Mit Mascha kann man nicht mehr reden, sie hat nur noch ihren Jens, Haarspray und Tönungsshampoos im Kopf.
"Sie ist in einem schwierigen Alter", seufzt Mama manchmal, um Maschas Launen zu entschuldigen, und dann lässt sie ihre Augen hoffnungsvoll auf mir verweilen. "Du bist anders, Wolfgang ... spür ich!"
Was ich an Mama mag: Sie nennt mich immer Wolfgang. Bekäme sie allerdings mit, wie feige ich mich vor Ede ducke, würde sie wahrscheinlich auch nur noch Wolfi sagen.
Großer Gott, was Ede verlangt, ist ein starkes Stück. Ich trau mich einfach nicht. Ich darf auch gar nicht, schon Mama zuliebe! Sie rackert sich für ihre beiden Gören ab, quasselt dauernd vom "rechten Weg" und "nicht in falsche Gesellschaft geraten". Wie würde sie reagieren, wie weiterleben, falls man mich bei meiner Tat erwischt?
Nach ihrem Fußbad werkelt Mama im Haushalt, geht vielleicht rasch ins Einkaufszentrum an der Ecke oder sie bügelt und putzt beim Flimmern des Fernsehers, der ständig läuft. Der Fernseher gibt auch Anlass zum Streit zwischen Mascha und ihr. Mascha mag Talkshows, Mama dagegen guckt sich am liebsten Fortsetzungsserien an. Die beiden können sich nie auf ein Programm einigen. Was ich sehen möchte, überlegen sie sich gar nicht erst. Wolfi, das friedfertige Lamm, passt sich ja auch ihrer Entscheidung immer an.
Na ja, ich mache mich ohnehin lieber an die Hausaufgaben oder über meinen Laptop her, den mir Onkel Stefan geschenkt hat. Die meisten Fernsehsendungen finde ich nämlich doof. Das darf ich allerdings niemandem verraten, schon gar nicht unserer Klassengang, aber Lernen, der ganze Schulstoff, das macht mir Spaß, und Büffeln bereitet mir keine Mühe.
Dank Onkel Stefan kann ich mich auch jederzeit ins Internet einloggen und in die Welt hinaussurfen.
"Dein Vater ... genau wie du", meinte Mama kürzlich, als sie mich lesen sah. "... konnte nicht genug kriegen von Büchern. Wenn er länger ... hätte es weit gebracht!"
Aber er hat es nur bis zum Friedhof, Sektor 11, Reihe 5, Grab 207, gebracht.
Abends zwischen sechs und sieben holt sich dann jeder etwas aus dem Eisschrank und schneidet sich ein Stück Brot dazu ab. Bestenfalls rafft sich Mama mal zu einem Eintopfgericht auf, das dann ein paar Tage lang so oft aufgewärmt wird, bis es matschig ist. Es kommt auch vor, dass sie bereits gekochte Mahlzeiten aus der Kantine mitbringt. Die bilden dann die Höhepunkte unserer kulinarischen Verpflegung. Und wenn Mascha besonders gut drauf ist, opfert sie ein bisschen Lehrgeld und bringt Hamburger und Pommes mit nach Hause. Doch seit sie Jens kennt, ist sie auf Diät. Sie will nicht aus der Form geraten wie unsere Mutter. Zeit hat sie auch keine mehr. Sie hockt zappelnd auf der Stuhlkante und guckt immer wieder auf die Uhr, verschwindet sobald sie kann im Bad und von dort hört man alsbald verschiedene Sprays zischen, bevor sie aufgetakelt die Wohnung verlässt. Nur selten kommt sie vor elf zurück.
"Wenigstens du ... zu Hause!", hat Mama bis vor kurzem geseufzt und mich an sich gezogen, was ich nicht mochte. Weil ich so klein bin, bekam ich, so dicht an ihren Körper gepresst, kaum noch Luft.
Ja, bis vor etwa drei Monaten genoss ich die Abende daheim mit Mama. Wir sprachen wenig. Meistens verzog ich mich bald in mein Zimmer und las, aber es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass Mama sich im Nebenzimmer einen Fernsehfilm reinzog.
Bis Ede eines Tages sagte: "Wenn du nicht aktiv mitmachst, Wölfchen, wenn du lieber bei deiner Mami hockst, dann lass es bleiben. Aber von uns hast du dann auch nichts mehr zu erwarten."
Nur seinetwegen begann ich, abends nochmals wegzugehen. Ich traf mich mit den Kumpels am Brunnen vor dem Parkeingang, den sie als Ausgangspunkt für ihre Streifzüge gewählt haben.
Als ich das erste Mal abends wegging, musterte Mama mich scharf. "Wohin?", wollte sie wissen. Im Lauf der Jahre hat sie sich angewöhnt, nur noch das Notwendigste zu sagen. Lediglich für außergewöhnliche Angelegenheiten bemüht sie sich noch um fast vollständige Sätze, für den Alltagskram begnügt sie sich mit einer Stichwortsprache.
Da ich damals noch nicht genau wusste, was mir bevorstand, konnte ich ihr ohne weiteres gerade in die Augen blicken und antworten: "Ich treffe mich mit ein paar Schulfreunden an der Ecke."
Als Freunde habe ich Ede und die Mitglieder seiner Gang bezeichnet!
Aber was sind sie sonst? Solange ich mich an ihre Regeln halte, benehmen sie sich zumindest einigermaßen wie Freunde und es geht mir nicht schlecht. Auf jeden Fall möchte ich nicht mit Nils tauschen, den sie ständig fertig machen. Er hat es schwer in unserer Klasse, nicht nur, weil seine Mutter als Putzfrau arbeitet und die Gangmitglieder sich alle snobistisch für etwas Besseres halten.
Die Väter vieler Klassenkameraden nennen sich Teamleader, sie arbeiten im Trust und Recycling Business, jobben im Investment Support oder sind Ticket Agent. Bei den Müttern gibt es Consultants, Personal Assistants und Marketingleiterinnen oder sie verdienen ihr Geld im Bereich Sales und Administration. Da können eine Putzfrau und Kantinenmitarbeiterin natürlich schlecht mithalten.
Mascha wertet Mamas Beruf auf, indem sie allen erzählt, Mutter arbeite in den Schlichter-Werken als "Service Attendant des Foodstaff", was ich echt doof finde. Wenn ich mir Mama ansehe, arbeitet sie nun mal in einer Kantine und nicht in einem Foodstaff.
Dass wir in einer so genannt besseren Gegend wohnen - es gibt in unserem Viertel nur wenige Mietshäuser, dafür umso mehr Eigentumswohnungen und Reihenhäuser - haben wir einem Zufall zu verdanken. Die Schlichter-Werke haben nämlich für ihre Angestellten bereits vor Jahren vier große Wohnhäuser mit je sechzehn Wohnungen gebaut und mein verstorbener Vater bekam gleich als einer der Ersten eine kleine Vierzimmerwohnung im zweiten Stock. Er arbeitete als Büroangestellter - oder Office Employee, wie man heute gediegener sagen würde. Hätte die Schlichter-Crew damals geahnt, dass er sich schon drei Monate nach dem Einzug nach einer Herzattacke endgültig aus dem Leben verabschieden und eine mittellose Witwe mit zwei noch nicht schulpflichtigen Kindern zurücklassen würde, hätten sie ihm die Wohnung bestimmt nicht gegeben. Wie Mama es schaffte, dass man uns nicht rausschmiss, weiß ich nicht. Mag sein, dass unser einflussreicher Onkel Stefan ein Wort für uns eingelegt hat. Die Arbeiterfamilien wohnen nämlich woanders, und die Leute im Haus lassen uns gelegentlich spüren, dass wir eigentlich nicht zu ihnen gehören.
"Kopf hoch!", befiehlt Mama jeweils, wenn wir die Wohnung verlassen. Vielleicht macht sie sich auch bloß selbst Mut. Aber an ihren knappen Ratschlag denke ich zuweilen in der Schule und er hat mir schon oft über schlimme Stunden hinweggeholfen.
Ede und die andern Gangmitglieder dürften sich jedoch, selbst wenn ich den Kopf hoch trage, nicht täuschen lassen.
Hätte ich nur ein bisschen Mut, würde ich sie bei der Polizei anzeigen - oder wenigstens ihrem schmutzigen Spiel nicht kommentarlos zusehen! Ich bin so etwas von feige! Kleinen Jungs die Markenturnschuhe abnehmen, Mädchen das Geld aus der Börse klauen ... Was man mit Drohgebärden und grimmigem Blick doch alles erreichen kann!
Auch Kneipenmobiliar beschädigen oder Hausfassaden besprayen gehören zur Spezialität der Gang. Im Vergleich zu dem, was ich jetzt machen soll, ist das alles jedoch Kinderkram. Sollte es tatsächlich einen lieben Gott geben, würde er mir bestimmt einen Weg zeigen, wie ich mich aus diesem Schlamassel befreien könnte, ohne in Teufels Küche zu geraten. Doch bis jetzt weist mir noch kein himmlischer Stern einen gangbaren Weg.
Sollte schließlich alles auffliegen, kann ich natürlich auch Julia vergessen. Wobei ich selbst nicht weiß, weshalb sie mir nicht egal ist. Sie ist nicht mal sonderlich hübsch. Als sie vor einem Jahr aus einer andern Stadt hierhergezogen ist und in unsere Klasse eingeteilt wurde, stellten Ede und mit ihm natürlich all seine Kumpels sogleich fest: Sie ist keine coole Braut.
Das ist sie tatsächlich nicht. Wie sie damals vor unserer Klasse stand, dünn wie eine Bohnenstange, mit hellblonden Zöpfen, die widerspenstig vom Kopf abstanden, sah sie fast Mitleid erregend aus. Hannes grinste verächtlich und brummte vernehmlich: "Was hat denn Pippi Langstrumpf hier verloren?" Und alle brachen in Gelächter aus. Auch ich. Ich verhalte mich ohnehin meist wie die anderen. Frau Sommer, unsere Lehrerin, warf strafende Blicke in die Runde und schalt: "Das ist aber keine freundliche Begrüßung für eine neue Mitschülerin!" Und zu Julia: "Lass dich von diesen Großmäulern bloß nicht beeindrucken!", wobei sie Ede scharf ins Visier nahm.
Sie wies dieser Julia einen Platz neben Inge zu, und Inge, die auf Ede spitz ist, rückte sogleich demonstrativ zur Seite und erhielt von Ede einen anerkennenden Blick.
Mir fielen zuerst Julias Augen auf, riesengroß und dunkel. Sie wirkten in ihrem blassen Gesicht irgendwie fehl am Platz, gaben ihm einen hungrigen Ausdruck, der an Fotos aus Drittweltländern erinnert, an diese dünnen Kinder mit von Hunger aufgeblähten Bäuchen und Augen groß wie Wagenräder im ausgemergelten Gesicht. Jedesmal wenn ich von da an ins Klassenzimmer trat, musste ich, ob ich wollte oder nicht, rasch zu Julia hingucken, und meist schauten ihre Riesenaugen stumm zurück.
Sie hat bestimmt rasch gemerkt, wie es in unserer Klasse läuft: Da gibt's zuerst einmal Ede und die vier Kumpels, die ständig für Wirbel sorgen und unsere Klasse terrorisieren. Sie können auch Lehrer und Lehrerinnen richtiggehend fertig machen, sie boykottieren einfach alles, was verlangt wird, verweigern selbst Strafaufgaben. Es sieht aus, als hätte die gesamte Lehrerschaft resigniert, weil der Gruppe nicht beizukommen ist. Soweit dies möglich ist, lässt man sie links liegen. Ungefähr zehn Mitläufer, die jedoch nicht aktiv Terror machen, kreisen um die Gang. Sie ordnen sich Edes Herrschaft unter und schweigen zu allem, was geschieht. Bis vor kurzem gehörte ich dieser passiven Gruppe an.
Vor ein paar Tagen hat Ede aber beschlossen, mich zu "aktivieren". Ich darf von nun an nicht mehr nur alles kommentarlos mit ansehen, sondern soll mich an ihren Taten beteiligen. Sonst sei ich dran, meinte er - und das will auf keinen Fall, ich habe Angst!
Ich habe schon öfter mit ansehen müssen, was geschieht, wenn einer dran ist. Peter haben sie sogar den Arm gebrochen, aber der arme Kerl hat sich trotzdem nicht zu wehren getraut und behauptet, er sei im Schulhof die Treppe hinuntergefallen.
In unserer Klasse gibt es nur ganz wenige, die sich einen Deut darum scheren, was sich tut. Sie erledigen ihre Arbeit und ansonsten sondern sie sich ab, sind die Braven, Fleißigen, die es mit Ehrlichkeit zu etwas bringen wollen. Als ich Julia das erste Mal sah, ahnte ich gleich, dass sie sich dieser Gruppe anschließen würde.
Sie scheint allerdings für sich zu bleiben. Meist verbringt sie die Pausen allein, liest in einem Buch und isst einen Apfel, plaudert höchstens mal mit einer Kollegin über Belanglosigkeiten und auf dem Heimweg überholt sie mit ihrem schnellen Schritt alle Schülergruppen und läuft schnurstracks nach Hause.
Sie wohnt im Haus neben uns. Eines Tages habe ich zufällig bemerkt, dass ich von meinem Zimmer aus direkt zu ihr hochsehen kann. Auf dem Balkon im fünften Stock habe ich plötzlich Julia und ein kleines Mädchen entdeckt. Sie schauten beide auf die Straße hinunter. Seit damals habe ich sie öfter gesehen. Bei schönem Wetter sitzt die ganze Familie gemütlich unter dem rotblau gestreiften Sonnendach auf dem Balkon.
Okay, falls ich mich als aktives Gangmitglied oute, müsste ich eben riskieren, dass Julia mich nicht mehr anschaut, wenn ich ins Schulzimmer komme, aber das dürfte noch das kleinste aller zu erwartenden Übel sein.
Ich muss es tun, ich habe gar keine Wahl. Die sind imstande und bringen mich um. Nicht wirklich, nicht gleich, aber schrittweise, langsam, quälend, zermürbend. Auf diese Weise haben sie Steven und Claudia aus der Klasse geekelt, und sie waren dabei clever genug, sich nie auf frischer Tat ertappen zu lassen. So hatte man gegen sie nichts in der Hand. Alle ahnten, was abging, aber es ließ sich nichts beweisen. Es kam sogar ein Psychologe in die Klasse.
Er predigte eine ganze Stunde lang über Mobbing und Gewalt und nahm offenbar unter vier Augen sogar Ede ins Gebet - aber auch er erreichte nichts. Das Absurde ist ja, dass Ede eher wie ein Engel als wie ein Gangster aussieht. Er hat ein rundes Gesicht, umweht von einer Goldhaarwolke und mit seinen blauen Augen könnte er glatt mit Harrison Ford konkurrieren. Auf den ersten Blick hält ihn niemand für den ausgekochten Brutalo, der er ist. Es gibt einfach Menschen, die sind schlecht, und sie geben keine Ruhe, bis alle, die mit ihnen in Kontakt kommen, entweder ebenfalls schlecht sind oder kuschen. Nur wenige leisten Widerstand. Ich gehöre nicht zu ihnen.
Es muss doch einen lieben Gott geben: Er hat mir eine Blinddarmentzündung geschickt. Von einer Stunde auf die andere bekam ich rechts unten im Bauch einen bohrenden Schmerz und so hohes Fieber, dass meine Mutter nicht wagte, mich allein zu lassen, und nicht zur Arbeit ging. Zähneklappernd lag ich im Bett. Einerseits war ich erleichtert, dass ich nicht zur Schule zu gehen und Edes Anweisungen zu gehorchen brauchte, andererseits aber wünschte ich die Schmerzen zur Hölle - noch nicht ahnend, dass sie mit Eilpost vom Himmel kamen! Ich dachte, ich hätte etwas Schlechtes gegessen und am folgenden Tag sei alles wieder wie zuvor. Zuvor war zwar nichts gut, aber wenigstens tat mir nichts weh. Morgens um elf schleppte mich Mama in die Arztpraxis drei Häuser weiter. Ehrlich, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Von dort ging es kurz darauf gleich weiter, ins Krankenhaus, diesmal allerdings in einer Ambulanz. Mama saß neben mir und murmelte immer wieder verwirrt: "Was ... bloß ... Sachen, Wolfgang!" Sie sah aus, als habe sie selbst eine Blinddarmentzündung.
Im Krankenhaus schnipselten sie an mir rum, doch erst als ich nach der Operation aus der Narkose erwachte und nur noch ein leichtes Brennen spürte, wurde mir bewusst, welches Glück mir beschert war. Bestimmt würde man mich mindestens zwei Wochen lang krank schreiben! Zwei Wochen Aufschub, zwei Wochen Paradies, zwei Wochen ohne Ede und die Gang! Bestenfalls hatte Ede keine Lust, so lange zu warten, bis ich wieder gesund war, und würde einen anderen mit der Tat beauftragen, die er mir zugedacht hatte.
Frisch operiert lag ich im Krankenhauszimmer unter meinem Laken und fühlte mich vermutlich glücklicher als Kolumbus bei der Entdeckung Amerikas.
Zwei der drei übrigen Betten waren von anderen Patienten belegt. Als ich in die Runde schaute, begegnete ich einem Blick aus zwei grauen Augen, in denen vergnügte Funken tanzten."Hallo", sagte der Junge, zu dem sie gehörten, "bist du wieder unter die Lebenden zurückgekehrt! War ganz schön eklig, wie du gekotzt hast!"
... weniger
Autoren-Porträt von Maja Gerber-Hess
Maja Gerber-Hess, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1978 schriftstellerisch tätig. Sie schreibt Erzählungen und Kurzgeschichten für Kinder und Erwachsene. Nebenbei arbeitet sie als Bibliothekarin und in einem Jugendamt. Maja Gerber-Hess ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen und lebt in der Nähe von Zürich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maja Gerber-Hess
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2002, 157 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbj
- ISBN-10: 3570126544
- ISBN-13: 9783570126547
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