Spur des Verrats
Thriller
Clever, vielschichtig und erschreckend glaubwürdig zeigt »Spur des Verrats«, welche zivilen Opfer die globalen Ölkriege und geheimen Wall-Street-Spielchen fordern können. Dieser rasante, packende, höchst aktuelle Finanzthriller »haut einen komplett um!« Daily Mail
Leider schon ausverkauft
Buch
1.00 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Spur des Verrats “
Clever, vielschichtig und erschreckend glaubwürdig zeigt »Spur des Verrats«, welche zivilen Opfer die globalen Ölkriege und geheimen Wall-Street-Spielchen fordern können. Dieser rasante, packende, höchst aktuelle Finanzthriller »haut einen komplett um!« Daily Mail
Klappentext zu „Spur des Verrats “
Clever, vielschichtig und erschreckend glaubwürdig zeigt Spur des Verrats, welche zivilen Opfer die globalen Ölkriege und geheimen Wall-Street-Spielchen fordern. Ein rasanter, packender und zugleich höchst aktueller Finanzthriller. Es ist der Tag der Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline, die Russlands Öl nach Westeuropa transportieren soll. Mark Wallace, Energie-Analyst für einen privaten Hedgefonds, geht in New York routiniert seiner Arbeit nach, als ihn die Nachricht von einem Bombenanschlag auf die Pipeline erreicht. Mark versucht, seine nervösen Klienten zu beruhigen - da wird er von einer privaten Nachricht erschüttert: nach sieben Jahren ein erster Hinweis auf den Verbleib seines Sohnes Kyle. Als Mark erkennt, dass Kyles Verschwinden und die jüngsten Ereignisse auf bizarre Weise miteinander verknüpft sind, beginnt er mit eigenen Nachforschungen - und verstrickt sich dabei in die komplexen, gefährlichen Netze von internationaler Politik und Großkapital.
Clever, vielschichtig und erschreckend glaubwürdig zeigt Spur des Verrats, welche zivilen Opfer die globalen Ölkriege und geheimen Wall-Street-Spielchen fordern. Ein rasanter, packender und zugleich höchst aktueller Finanzthriller.
Es ist der Tag der Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline, die Russlands Öl nach Westeuropa transportieren soll. Mark Wallace, Energie-Analyst für einen privaten Hedgefonds, geht in New York routiniert seiner Arbeit nach, als ihn die Nachricht von einem Bombenanschlag auf die Pipeline erreicht. Mark versucht, seine nervösen Klienten zu beruhigen - da wird er von einer privaten Nachricht erschüttert: nach sieben Jahren ein erster Hinweis auf den Verbleib seines Sohnes Kyle. Als Mark erkennt, dass Kyles Verschwinden und die jüngsten Ereignisse auf bizarre Weise miteinander verknüpft sind, beginnt er mit eigenen Nachforschungen - und verstrickt sich dabei in die komplexen, gefährlichen Netze von internationaler Politik und Großkapital.
Es ist der Tag der Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline, die Russlands Öl nach Westeuropa transportieren soll. Mark Wallace, Energie-Analyst für einen privaten Hedgefonds, geht in New York routiniert seiner Arbeit nach, als ihn die Nachricht von einem Bombenanschlag auf die Pipeline erreicht. Mark versucht, seine nervösen Klienten zu beruhigen - da wird er von einer privaten Nachricht erschüttert: nach sieben Jahren ein erster Hinweis auf den Verbleib seines Sohnes Kyle. Als Mark erkennt, dass Kyles Verschwinden und die jüngsten Ereignisse auf bizarre Weise miteinander verknüpft sind, beginnt er mit eigenen Nachforschungen - und verstrickt sich dabei in die komplexen, gefährlichen Netze von internationaler Politik und Großkapital.
Lese-Probe zu „Spur des Verrats “
Spur des Verrats von Lee Vance(Aus dem Amerikanischen von Kristian Lutze)
Prolog
New York City, 2003
Schnee fiel auf einen dunklen Parkplatz. Ein großer Mann in
modischen Lederschuhen und einem neuen Kamelhaarmantel
schlitterte vorsichtig über den glatten Boden, die Arme ausgebreitet,
um die Balance zu halten. Im Wissen um die Sicherheitskamera
auf einem hohen Mast am anderen Ende des Platzes hielt
er den Kopf gesenkt. Der rote BMW parkte am verabredeten
Ort, und mit dem neuen Zweitschlüssel ließ sich die Wagentür
prob lemlos öffnen. Der noch warme Motor sprang sofort an. Der
Mann rollte langsam über den Parkplatz und fädelte sich unter
der pinkfarbenen Neonreklame eines Motels in den Verkehr ein.
Er bog rechts ab und hielt am Straßenrand. Zwei weitere Männer
mit dunkelblauen Rollmützen und Öljacken öffneten die hinteren
Türen, stiegen ein und ließen sich tief in die Sitze sinken.
»Schicker Mantel«, spottete einer der beiden. »Sieht echt klasse
aus an einem Penner wie dir.«
»Jemand hat mir noch dreihundert Dollar geschuldet«, gab
der Fahrer gereizt zurück. »Gebrauchen kann ich den auch nur
als Verkleidung beim Autoklauen.«
»Schluss mit dem Gequatsche«, murmelte der dritte Mann.
Er wurde beim Sprechen von einer jahrzehntealten Gesichtsverbrennung
behindert, von der als Narbe ein glänzender, faltiger
Streifen implantierter Haut zurückgeblieben war, der sich straff
von seinem Mundwinkel zu seinem rechten Ohr spannte. »Fahr
über die 10th Avenue. Und halt dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung.«
»Wir haben Diplomatenkennzeichen«, sagte der Fahrer. »Wir
können machen, was wir wollen.«
... mehr
»Du machst, was ich dir sage«, erwiderte der Mann mit der
Narbe. »Halt dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung.«
»Moment«, sagte Claire und hob zum fünften Mal in ebenso
vielen Minuten die Finger von den Tasten des Klaviers.
Kate ließ die Geige sinken. Mit den dunklen Haaren ihrer
Mutter und dem Babyspeck, den sie mit zehn immer noch nicht
ganz verloren hatte, sah sie aus wie ein schmollender raffaelitischer
Engel.
»Bitte spiel du es ihr noch mal vor, Kyle.«
Kyle wandte sich vom Fenster ab, durch das er die wirbelnden
Schneeflocken über den Baumkronen im Riverside Park betrachtet
hatte. Er war für seine zwölf Jahre groß gewachsen. Im
Arm hielt er die Geige. Er blickte von seiner Mutter zu seiner
Schwester und sah, dass deren vorgeschobene Unterlippe zitterte
wie immer, wenn sie kurz vor einem Wutausbruch stand.
»Ich hab Hunger«, sagte er. »Vielleicht sollten wir eine Pause
machen.«
»Erst möchte ich hören, wie Kate diese Stelle einmal richtig
spielt«, beharrte Claire. »Ihr seid schließlich keine Kleinkinder
mehr.«
Kate schleuderte ihren Bogen quer durchs Zimmer. »Bloß
weil du sauer auf Daddy bist, muss ich nicht den ganzen Abend
üben«, schrie sie und stürmte aus dem Zimmer.
Claire schloss die Augen und atmete vernehmlich aus. Kyle
machte einen Schritt auf sie zu und sah gleichzeitig seiner
Schwester nach. Im Flur stand Yolanda, fertig angekleidet, um
nach Hause zu gehen, und im Begriff, sich einen bunten Schal
um den Kopf zu binden. Seufzend steckte sie ihre Handschuhe
in die Manteltasche, machte Kyle ein Zeichen, sich um seine
Mutter zu kümmern, und folgte Kate. Er nickte dankbar und
wandte sich seiner Mutter zu.
Claire saß zusammengesunken auf dem Klavierhocker, ihre
Stirn berührte die Noten auf dem Ständer. Das zu einem Dutt
hochgesteckte, ebenholzfarbene Haar glänzte bläulich über ihrem
zarten Nacken. Kyle legte seine Geige beiseite und begann ihre
Schultern zu massieren, wie er es bei seinem Vater gesehen hatte.
»Du musst deine Vorstellung nicht absagen«, erklärte er. »Du
schaffst es immer noch rechtzeitig zum Theater. Ich kann auf
Kate aufpassen.«
»Ich weiß«, murmelte sie. »Aber dein Vater sitzt in einem
Flugzeug. Es ist eine Sache, mich krankzumelden, aber mitten
im zweiten Akt von Giselle vom Klavier aufzustehen, weil ich
aus irgendeinem Grund nach Hause rennen muss, ist etwas ganz
anderes.«
Die Muskeln in ihrem oberen Rücken fühlten sich an wie aus
Stein gemeißelt. Kyle drückte ein wenig fester und setzte auch
behutsam die Handballen ein. Er wollte seiner Mutter nicht
wehtun.
»Du machst dir zu viele Sorgen. Wir sind beide keine Kleinkinder
mehr, weißt du.«
Sie lachte, und er spürte, wie sie sich ein wenig entspannte.
Der Mann in dem Kamelhaarmantel setzte seine Begleiter ab,
fuhr durch das Einbahnstraßensystem einmal um den Block und
parkte den BMW vor dem Hydranten in der 86th Street zwischen
Riverside Drive und West End Avenue mit Blick auf den
Park und den dahinter liegenden Hudson River. Dann nahm er
ein kleines Funkgerät vom Beifahrersitz und drückte auf den
Sendeknopf.
»Check«, sagte er.
»Check«, kam die Antwort.
Einen Block weiter nördlich, an der Ecke 87th Street und
River side Drive, schob der Mann mit der Narbe ein identisches
Funkgerät in die Außentasche seiner Jacke. Er griff in die andere
Tasche, zog eine Weihnachtskarte he raus und hielt sie seinem
Begleiter hin.
»Was?«
»Guck dir das Foto an.«
»Ich kenn das verdammte Foto auswendig.«
»Guck es dir noch mal an.«
Der zweite Mann nahm das Bild, bemüht, seinen Widerwillen
zu kaschieren. Er hielt die Karte ins Licht einer Laterne und betrachtete
das aufgeklebte Hochglanzfoto. Eine vierköpfige Familie
vor einem Flügel, die Frau und der Junge waren beinahe
gleich groß. Sie interessierten sich für die Frau.
»Wie lange noch?«
»Eine Viertelstunde«, sagte der Mann mit der Narbe. »Höchstens
zwanzig Minuten. Sie ist pünktlich.«
Schneeflocken schmolzen auf dem Foto, und der zweite
Mann wischte es an seiner Hose ab. Sein Puls schlug schneller,
als er sich den kommenden Abend ausmalte. Die Frau sah gut
aus.
»Kate nimmt ein Bad«, verkündete Yolanda, die im Mantel ins
Wohnzimmer kam. »Und jetzt muss ich wirklich los.«
Claire stand vom Flügel auf und küsste Kyle auf die Wange.
In den letzten ein oder zwei Monaten war er ihr ein paar Zentimeter
über den Kopf gewachsen, so dass sie das Kinn ein wenig
heben musste.
»Danke«, sagte sie zu ihm. »Und jetzt lauf, damit ich mit Yolanda
reden kann.«
Beide Frauen sahen ihm nach. Kyle hatte die hohe und ernste
Stirn seines Vaters und blasse, aufmerksame Augen.
»Dünn wie eine Bohnenstange«, bemerkte Yolanda. »Ich
kann mich erinnern, dass es bei meinem Guillermo genauso war.
In dem Alter schießen sie regelrecht in die Höhe.«
»Er trägt seine Hosen sechs Mal, dann sind sie ihm schon
wieder zu klein.« Claire ließ den Blick sinken und begann mit
ihrem Ehering zu spielen. »Ist mit Kate alles okay?«
»Ihr geht es gut.«
»Ich wollte nicht so streng sein.«
»Streng«, höhnte Yolanda. »Meine abuela hat mir den Katechismus
mit der Bibel in der einen und ihrem Stock in der anderen
Hand beigebracht. Kates Prob lem ist, dass sie so feinfühlig
ist wie ihr Bruder. Kaum bin ich durch die Tür gekommen, wissen
sie, ob ich im Bus einen Sitzplatz hatte oder die ganze Fahrt
stehen musste. Irgendein Ärger im Haus, und die beiden fühlen
sich elend wie nasse Katzen.«
Bei dem Wort »Ärger« zuckte Claire zusammen und wurde
rot. Yolanda zog ihr Tuch aus dem Ärmel ihres Mantels und begann,
es sich über den Kopf zu binden.
»Jetzt hören Sie mir mal zu. Sie brauchen jemanden, der länger
bleiben kann, wenn Sie wieder abends arbeiten. Ich kann
mich umhören, wenn Sie möchten. Es wird mir keinerlei Mühe
bereiten, eine andere Anstellung zu finden.«
»Gott bewahre«, sagte Claire entsetzt. »Du gehörst zur Familie.
« Sie zögerte, schlug die Hand vors Gesicht und schluckte
einen Kloß hinun ter. »Ich bin einfach frustriert. Es ist wirklich
schwer, den Schritt vom Unterrichten zurück auf die Konzertbühne
zu schaffen, und dieser Job ist eine große Chance für
mich. Aber niemand wird mich je wieder verpflichten, wenn ich
erst mal den Ruf habe, unzuverlässig zu sein.«
»Mark wusste nicht, dass er verreisen muss?«
»Ein Kollege in London ist krank geworden. Er muss für ihn
eine Rede auf einer großen europäischen Energiekonferenz halten.«
»Und was war es vor ein paar Wochen noch?«
»Wien«, antwortete Claire ein wenig abwehrend. »Ein ungeplantes
Treffen mit ein paar Leuten von der OPEC.«
Yolanda runzelte lächelnd die Stirn. »Sieht so aus, als würde
es immer irgendwas sein. Ich bin jetzt seit acht Jahren bei Ihnen
und weiß nie, ob er gerade kommt oder geht.«
»Dann war es vielleicht ein Fehler, dass ich wieder angefangen
habe, Konzerte zu geben«, sagte Claire zögernd. »Vielleicht
hätte ich warten sollen, bis Kate ein bisschen älter ist.«
»Vielleicht dies und vielleicht das. Arbeit ist wichtig. Für einen
Mann wie für eine Frau.« Yolanda fasste Claires Handgelenk
und schüttelte sanft ihren Arm. »Sie haben Glück. Sie haben
einen guten Mann und gute Kinder und einen guten Job. Sie
haben nur den Fehler gemacht, sich nicht jemanden zu suchen,
der länger bleiben kann.«
»Da könnte was dran sein«, sagte Claire lächelnd und umarmte
Yolanda. »Ich habe so ein Glück - mit Mark und mit den
Kindern und mit dieser Chance. Aber Kate und Kyle würden es
mir nie verzeihen, wenn du uns verlässt. Ich werde irgendeine
Lösung finden.«
Mehr als eine Stunde war verstrichen, und der Mann in dem Kamelhaarmantel
am Steuer des BMW wurde unruhig. Dank des
Wetters waren kaum Fußgänger unterwegs, die sich sein Gesicht
einprägen könnten, aber trotzdem sollten sie längst weg sein. Er
sehnte sich nach einer Zigarette. Der Besitzer des Wagens war
offensichtlich Raucher, und der Geruch trieb ihn zum Wahnsinn.
Er hatte nach der Operation Desert Storm aufhören müssen;
die Wochen, die er in den brennenden Ölfeldern verbracht
hatte, hatten seine Lungen dauerhaft geschädigt. Trotzdem vertrieb
nichts eine lange Wartezeit besser als eine Zigarette.
Seine Kollegen, die einhundert Meter weiter die Straße hi nauf
warteten, waren genauso rastlos. Erst zwei Personen waren aus
dem Wohnhaus an der Ecke gegenüber gekommen: eine ältere
Südamerikanerin mit einem Kopftuch und ein Schwarzer mit
einem Schäferhund an der Leine. Der Mann mit der Narbe sah
wieder auf seine Uhr. So spät war sie noch nie gewesen. Er hatte
ihren Vorstellungsplan überprüft - der Vorhang ging in weniger
als einer halben Stunde hoch. Er fragte sich, ob sie wegen des
Wetters früher aufgebrochen war.
»Noch zehn Minuten«, sagte er.
Der zweite Mann stampfte gegen die Kälte mit den Füßen
auf und fluchte. Was schlecht begann, nahm meist ein schlechtes
Ende, und die Frau war nur der erste von zwei Aufträgen, die
sie an diesem Abend zu erledigen hatten.
»O nein«, kreischten Kate und Kyle im Chor und warfen Kopfkissen
in Richtung Fernseher. Ihre Mutter lachte. Sie hatten gemeinsam
zu Abend gegessen und es sich auf der Couch gemütlich
gemacht, um Titanic zu gucken, aber der Vorspann war
kaum über den Bildschirm geflimmert, als plötzlich ein Südamerikaner
im Frack ins Bild kam, der zum Playback eines spanischen
Lieds die Lippen bewegte, während er auf dem Times
Square auf dem Dach eines Taxis tanzte. Sooft sie Yolanda auch
anflehten, nicht den Sender zu wechseln, wenn der Videorekorder
lief, so häufig vergaß sie es trotzdem.
»Ich laufe zur Videothek und leihe ihn aus«, sagte Claire und
schlug die Decke auf ihrem Schoß beiseite.
Kyle sah aus dem Fenster. Der Wind war aufgefrischt und
wirbelte lange weiße Wolken von den schneebedeckten Dächern
auf.
»Das kann ich doch machen«, sagte er und sprang auf.
Claire drehte sich um und warf einen Blick auf die Küchenuhr.
Kyle hatte erst im letzten Jahr begonnen, sich auf eigene
Faust in der Nachbarschaft zu bewegen.
»Ich könnte ein bisschen frische Luft brauchen«, sagte sie.
»Lügnerin«, neckte er sie. »Du hasst die Kälte. Und du hast es
selbst gesagt - ich bin kein Kleinkind mehr.«
Claire biss sich auf die Lippe und nickte. »Nimm dein Handy
mit.«
»Ich bin sofort zurück.«
Eine Tür aus Glas und Eisen schwang auf, und Kyle trat aus
dem Haus auf die Straße. Er trug eine grüne Schulmütze, die
hoch auf seinem Kopf saß, und den Goretex-Parka seines Vaters.
Die Ärmel bauschten sich an den elastischen Bündchen, und
die Schultern hingen zu tief, aber er trug ihn trotzdem gerne.
Er vergrub die Hände in den Taschen, stieß auf einen gefalteten
Zettel und zog ihn he raus. Sein Vater hatte handschriftlich
eine Liste erstellt: Rashid, Azikiwo, Statoil, Petronuevo. Einige
Namen erkannte er, andere nicht. Rashid war ein alter Freund
seines Vaters, der für die OPEC arbeitete, und Statoil war die
staatliche norwegische Ölgesellschaft. Azikiwo und Petronuevo
sagten ihm nichts. Er sprach die Worte laut aus und genoss ihren
Klang. Alles an dem Job seines Vaters war cool. Wenn er erwachsen
war, wollte er genauso sein wie er.
Er steckte den Zettel wieder in die Tasche, trat unter der Markise
des Gebäudes hervor und ging in südlicher Richtung den
Riverside Drive hi nun ter. Die beiden Männer standen an der
Kreuzung 86th Street. Laternenlicht fiel auf Kyles Gesicht, als er
mit gesenktem Kopf vorbeieilte. Einer der Männer drehte sich
um und starrte ihm nach.
»Das ist der Junge«, sagte der Mann mit der Narbe.
»Welcher Junge?«, fragte der zweite Mann.
»Der Sohn, du Vollidiot. Ich dachte, du hättest dir das Bild
eingeprägt.«
»Sie habe ich mir eingeprägt«, protestierte der Mann. »Nicht
den Jungen. Von einem Jungen hast du nie was gesagt.«
»Aber sie ist nicht gekommen. Wir müssen improvisieren.«
Der Mann mit der Narbe zog das Funkgerät aus der Tasche,
flüsterte eilig etwas hin ein und lief Kyle nach. Sein Kollege zögerte
kurz und folgte ihm dann. Er steckte schon zu tief drin,
um zu widersprechen.
Der Fahrer des BMW ließ das Beifahrerfenster he run ter, als
Kyle näher kam. Frau oder Kind, das war ihm gleich.
»Verzeihung«, rief er höflich.
Kyle machte einen Schritt auf den Wagen zu und beugte sich
unsicher zum Fenster.
»Ja?«
Der Mann mit der Narbe trat von hinten hinzu und traf Kyle
mit einem Totschläger hinter dem Ohr. Der zweite Mann fing
ihn auf, als er zusammensackte und seine grüne Mütze zu Boden
fiel. Sekunden später fuhr der BMW los, der Junge eingeklemmt
zwischen den beiden Männern auf der Rückbank.
Der Wind erfasste die Mütze und wehte sie in einen Gully.
Eine Stunde später erreichte sie den Fluss, wo die Flut sie in
Richtung Hafen und den Atlantik jenseits davonzog. Bei Tagesanbruch
trieb sie schon Meilen vor der Küste und wurde nie
wieder gesehen.
SIEBEN JAHRE SPÄTER
1
Ich wachte früh auf und lauschte Claires Atem. Sie hatte mir
den Rücken zugewandt, klang jedoch nicht, als würde sie noch
schlafen, deshalb drehte ich mich auf die Seite und massierte mit
einer Hand sanft ihren Nacken und ihre Schultern. An manchen
Morgen ignorierte sie mich, an anderen schliefen wir miteinander,
und an wieder anderen weinte sie. Nach ein paar Minuten
ohne Reaktion stand ich auf und machte mich für die Arbeit
fertig.
Die Küche war kalt und dunkel. Ich schaltete das Licht über
der Arbeitsplatte an, drehte die leise klappernde Heizung auf
und deckte das übliche Wochentagsfrühstück für Claire und
Kate - Obst, Müsli und Joghurt. Freitags legte ich immer ein
Schokoladencroissant dazu, das ich für sie in der Mitte teilte.
Als ich in der Lobby unseres Hauses ankam, hatte Frank,
der Nachtportier, schon ein Taxi gerufen, das vor dem Haus auf
mich wartete. Er wünschte mir einen guten Morgen und überreichte
mir ernst einen kleinen Packen an meinen Sohn adressierter
Post. Als ich ein Jahr nach seinem Verschwinden zum
ersten Mal Post für Kyle erhielt, war das ein Schock, auch wenn
es nur Werbung für eine Teenie-Zeitschrift war. Ich dachte den
ganzen Tag lang da rüber nach und klopfte dann an die Tür des
Hausverwalters, Mr Dimitrios. Mit Tränen in den Augen gestand
er mir, dass er seit zwölf Monaten alle Werbesendungen
an Kyle abgefangen hatte, und überreichte mir einen Schuhkarton
voller Umschläge. Ich zwang mich, sie durchzusehen -
Reggie Kinnard, der Detektiv, der mit uns zusammengearbeitet
hatte, hatte erwähnt, dass Psychopathen, die Kinder entführen,
sich manchmal ein Vergnügen da raus machten, Briefe an die Familie
des Opfers zu schreiben. Aber der Karton enthielt nichts
Ungewöhnliches. Der freundliche Vertreter einer Direkt-Marketing-
Agentur, mit dem ich am Telefon sprach, riet, einfach
»verstorben« auf jede Sendung zu schreiben und an den Absender
zurückzuschicken. Stattdessen ließ ich Mr Dimitrios die
Briefe weiter abfangen, damit Claire und Kate sie nicht sahen,
und sie mir von Frank aushändigen. Zurzeit sind es vor allem
Werbung für Akne-Produkte und CD-Clubs, Sommerjob-Angebote
und Zeitschriften wie Maxim und Outside. Die Sachen,
die ein Neunzehnjähriger eben so zugeschickt bekommt. Sachen,
für die sich Kyle vielleicht tatsächlich interessiert, wenn er
noch lebt.
Ich ließ das Taxi halten, um an einem durchgehend geöffneten
Kiosk in der 72nd Street die Zeitungen zu kaufen, und fuhr
dann weiter zur Arbeit. Im Büro ist immer irgendjemand, egal
zu welcher Uhrzeit ich komme - der Hedgefonds, bei dem ich
Büroräume gemietet habe, handelt rund um die Uhr. Er hat nur
etwa sechzig Angestellte, belegt jedoch ein komplettes Stockwerk
in einem Bürohochhaus in Midtown Manhattan, dessen
eine Hälfte von einem großen, nicht unterteilten Handels-
raum eingenommen wird. In einer Ecke des Raumes steht der
Namensgeber des Fonds, ein mitternachtsblauer 1966er Ford
Shelby AC auf einem niedrigen Podest. Der Wagen hatte sich
als zu groß für die Fahrstühle erwiesen, so dass Walter Coleman,
der Gründer des Fonds, ihn mittels eines Krans anliefern ließ,
nachdem Arbeiter ein Garagentor-breites Loch in eine Front des
Gebäudes geschlagen hatten.
Walters Sohn Alex war derjenige, der mir eineinhalb Jahre
nach Kyles Verschwinden vorschlug, mich als unabhängiger
Energie-Analyst selbstständig zu machen. Ich hatte gezögert.
Ich brauchte das Geld, aber ich wusste nicht, ob ich einen Job
noch mit so viel Engagement und Hingabe machen konnte wie
vorher, und ob ich, selbst wenn, als freier Sachverständiger erfolgreich
sein würde. Ich hatte meine gesamte berufliche Karriere
auf der Seite der Verkäufer zugebracht und Recherche-
ergebnisse über Ölfirmen an die Kunden der Investmentbank
vertickt, für die ich arbeitete. Nach eineinhalb Jahren weg von
den Märkten und ohne die institutionellen Verbindungen, deretwegen
die Leute mit mir hatten reden wollen, fürchtete ich,
nichts Wertvolles mehr liefern zu können. Ich hatte Recht, dass
mich meine ehemaligen Quellen bis auf ein oder zwei Freunde
im Stich lassen würden, lag jedoch falsch damit zu glauben, es
würde eine Rolle spielen. Cobra war der Großvater der Hedgefonds-
Gemeinde, Urahn zahlreicher Generationen von Firmen,
die tratschten und sich kabbelten und sich im Ganzen benahmen
wie eine große Familie. Alex und sein Vater hatten für mich
ein paar Anrufe getätigt, und plötzlich hatte ich ein Dutzend
Kunden, allesamt Fonds, mit denen Wall Street unbedingt Geschäfte
machen wollte. Schon bald gab es in der Wall Street keinen
Verkäufer mehr, der für mich nicht alles stehen und liegen
lassen würde, erpicht auf eine wohlwollende Erwähnung gegenüber
meiner Kundschaft. Und in dem Maße, in dem ich einflussreicher
wurde, streckten auch meine alten Kontakte ihre Fühler
wieder aus. Das Geschäft boomte, sogar der jüngste Crash war
ein verkappter Segen gewesen: Die Kunden, die untergegangen
waren, wurden durch frisch entschuldete und zutiefst geläuterte
Überlebende ersetzt, die verzweifelt originelle Ideen und Analysen
verlangten, um ihre faulen Kreditstrategien abzulösen.
Der größte Vorteil besteht da rin, dass ich kaum noch reisen
muss. Die traditionellen Fonds-Manager, die ich zuvor bediente,
haben mich stets auf dem Sprung von Amerika nach Europa
gehalten, meine persönliche Anwesenheit war ein Akt der Vasallentreue,
ein nettes Essen und eine Flasche Wein der Tribut,
den sie verlangten. Für unsere junge Familie ist es schwer gewesen.
Wenn ich Claire und den Kindern sonntagabends einen
Abschiedskuss gab, wusste ich oft schon, dass vor mir eine Woche
voller karger Hotelzimmer lag, während ich es Claire überließ,
sich um die Kinder zu kümmern. Ich vermisste sie, und ich
hatte ein schlechtes Gewissen, Claire allein zu lassen, aber ich
konnte - Gott hilf mir - keinen Auftrag absagen, ich genoss den
Erfolg, die Anerkennung und die finanzielle Belohnung. In meinem
neuen Job bin ich meistens abends wieder zu Hause, meiner
Hedgefonds-Kundschaft ist die Zeit, die ich in ihrer Gegenwart
verbringe, egal, und sie besteht da rauf, ihr Essen selbst zu
bezahlen, aber es bleibt eine traurige Wahrheit, dass alle Zeit,
über die ich nun verfüge, nicht aufwiegen konnte, was ich verloren
habe.
Mein Büro liegt auf der Südseite des Gebäudes neben dem
Handelsraum. Nachdem ich mir in der Küche eine Tasse Kaffee
geholt habe, setze ich mich an den Schreibtisch und überfliege
die Wirtschafts- und Auslandsnachrichten. Ich konzentriere
mich auf die Schlagzeilen und Autorennamen und verfolge
die Arbeit von Journalisten, die über besonders gute Informationen
oder Verbindungen verfügen; ich versuche, das Rudel-
denken der Wall Street zu meiden, und Pressekontakte lassen
sich erstaunlich leicht pflegen. Es gibt immer irgendetwas, das
Journalisten nicht schreiben können oder wollen oder schon geschrieben
haben, ohne es richtig zu verstehen. Ich habe mehr als
zwanzig Jahre Erfahrung auf den Energiemärkten und bin deshalb
die richtige Adresse, wenn man Fakten oder Gerüchte ventilieren
möchte. Ich kenne die Industrie aus dem Effeff, kann
mit Informationen frei umgehen und publiziere nie selbst - auch
wenn ich mich hin und wieder überreden lasse, eine Marktbeobachtung
zu diktieren, weil ein befreundeter Journalist in einer
Verlegenheit steckt. GASPREIS VOR ERNEUTEM ABSTURZ
ODER ZEHN ÖLAKTIEN FÜR DEN CLEVEREN INVESTOR.
Dafür können sie Leute befragen, zu denen meine Wall-
Street-Verbindungen vielleicht keinen Zugang haben, füttern
mich mit Details, die sie bisher noch nicht in einem längeren Artikel
verwerten konnten, oder warnen mich vor größeren Storys,
die sich auf die Märkte auswirken könnten. Und alle profitieren
davon.
Gegen acht Uhr tippte ich einen zweiseitigen aktuellen
Marktbericht für meinen Kundenstamm, um sie auf Faktoren
hinzuweisen, die sie beachten sollten. Danach stand ich auf,
streckte meine Glieder und erlaubte mir, eine Viertelstunde aus
dem Fenster neben meinem Schreibtisch zu starren. Es muss das
Fenster gewesen sein, das mich bewogen hat, ein Büro bei Alex
und Walter zu mieten. Vielleicht hatte es mich sogar dazu bewogen,
mein Glück als unabhängiger Analyst zu versuchen. Es
blickt nach Süden auf die Park Avenue, und ich kann zu praktisch
jeder Tageszeit Hunderte von Menschen auf der Straße
sehen.
An dem Abend, als Kyle verschwand, saß ich in einem Flugzeug
nach London. Als wir in Heathrow zum Gate rollten, informierte
mich eine Stewardess, dass ein Manager des Kundenservice
mich sprechen wollte. Ich war zu erschöpft, um etwas
anderes zu erwarten als einen lauwarmen Händedruck und steifen
Smalltalk, wie es Fluggesellschaften geschäftlichen Vielfliegern
manchmal angedeihen ließen.
An die folgenden zwei Stunden kann ich mich nur verschwommen
erinnern. Ich weiß, dass mich die Nachricht von
Kyles Verschwinden traf wie ein Schlag, nachdem ich geraume
Zeit keine Luft mehr bekam. Ich weiß noch, wie ich auf dem
langen Rückflug nach New York zusammengesunken auf meinem
Platz saß und das Gefühl hatte, immer tiefer zu fallen, ohne
dass der Boden in Sicht kam. Vor allem jedoch erinnere ich mich
an den Ausdruck in Claires Gesicht, als wir uns auf der Polizeiwache
trafen - die Trauer, die mich davon überzeugte, dass der
Albtraum real war, und das Schuldgefühl, das mich seitdem nie
wieder verlassen hat.
Wenn ich aus dem Fenster starre, kommt Amy, meine Assistentin,
manchmal he rein und spottet freundlich über meine
Trance. Es hilft nachzudenken, lüge ich sie an. Die Wahrheit
kann ich mir selbst nur mit Mühe eingestehen. Claire und ich
haben nie im Detail über den Abend gesprochen, an dem Kyle
verschwunden ist, aber ich habe ihre Aussage gegenüber der Po-
lizei und die Beschreibung der Kleidung gelesen, die Kyle getragen
hat. Trotz all der Jahre, die mittlerweile verstrichen sind,
suche ich in der Menge auf der Straße noch immer nach einem
schlaksigen Zwölfjährigen mit einem zu großen Parka und einer
grünen Schulmütze.
2
Ich saß am Schreibtisch und las ein Wirtschaftsmagazin, als Amy
den Kopf he reinsteckte und mir einen guten Morgen wünschte.
Sie hielt einen Umschlag in der Hand. »Raten Sie mal, was ich
hier habe.« Sie lächelte.
»Hmm ...«, sagte ich und tippte mir mit dem Finger ans
Kinn. Amy ist vierzig, verheiratet und im Vorstand ihrer Kirchengemeinde.
Sie trug an diesem Tag ein schlichtes dunkelblaues
Kleid und hatte das Haar zu einem züchtigen Dutt hochgesteckt.
»Ein Ticket nach Las Vegas. Sie verlassen mich, um
einen Job als Croupier im Bellagio anzunehmen.«
»Von wegen«, höhnte sie. »Den einzigen Job, den ich in Las
Vegas annehmen würde, wäre in einer Mission.«
»Wie die Schauspielerin in Guys and Dolls, die am Ende Marlon
Brando kriegt.«
»Jean Simmons«, sagte sie und wurde ein wenig rot. Amy
liebte alte Filme. »In Elmer Gantry hat sie mir besser gefallen.
Und Guys and Dolls spielt in New York. Aber das hat alles rein
gar nichts damit zu tun.« Sie griff in den Umschlag und zog mit
dramatischer Geste ein BlackBerry he raus. »Ta-daa!«
»Mein neues Handy?«, fragte ich erstaunt.
»Noch besser. Ihr altes Handy.«
Ich war mir das ganze Wochenende wie ein Volltrottel vorgekommen.
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
The Garden of Betrayal bei Alfred A. Knopf, New York
© 2010 Lee Vance
Für die deutsche Ausgabe
© 2011 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
BLOOMSBURY BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung:
Rothfos & Gabler, Hamburg,
unter Verwendung einer Fotografie von © Floyd Dean/getty
Typografie: Leslie Driesener, Berlin
Gesetzt aus der Stempel Garamond
von hanseatenSatz-bremen, Bremen
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 2011
ISBN 978-3-8270-0930-2
www.berlinverlage.de
»Du machst, was ich dir sage«, erwiderte der Mann mit der
Narbe. »Halt dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung.«
»Moment«, sagte Claire und hob zum fünften Mal in ebenso
vielen Minuten die Finger von den Tasten des Klaviers.
Kate ließ die Geige sinken. Mit den dunklen Haaren ihrer
Mutter und dem Babyspeck, den sie mit zehn immer noch nicht
ganz verloren hatte, sah sie aus wie ein schmollender raffaelitischer
Engel.
»Bitte spiel du es ihr noch mal vor, Kyle.«
Kyle wandte sich vom Fenster ab, durch das er die wirbelnden
Schneeflocken über den Baumkronen im Riverside Park betrachtet
hatte. Er war für seine zwölf Jahre groß gewachsen. Im
Arm hielt er die Geige. Er blickte von seiner Mutter zu seiner
Schwester und sah, dass deren vorgeschobene Unterlippe zitterte
wie immer, wenn sie kurz vor einem Wutausbruch stand.
»Ich hab Hunger«, sagte er. »Vielleicht sollten wir eine Pause
machen.«
»Erst möchte ich hören, wie Kate diese Stelle einmal richtig
spielt«, beharrte Claire. »Ihr seid schließlich keine Kleinkinder
mehr.«
Kate schleuderte ihren Bogen quer durchs Zimmer. »Bloß
weil du sauer auf Daddy bist, muss ich nicht den ganzen Abend
üben«, schrie sie und stürmte aus dem Zimmer.
Claire schloss die Augen und atmete vernehmlich aus. Kyle
machte einen Schritt auf sie zu und sah gleichzeitig seiner
Schwester nach. Im Flur stand Yolanda, fertig angekleidet, um
nach Hause zu gehen, und im Begriff, sich einen bunten Schal
um den Kopf zu binden. Seufzend steckte sie ihre Handschuhe
in die Manteltasche, machte Kyle ein Zeichen, sich um seine
Mutter zu kümmern, und folgte Kate. Er nickte dankbar und
wandte sich seiner Mutter zu.
Claire saß zusammengesunken auf dem Klavierhocker, ihre
Stirn berührte die Noten auf dem Ständer. Das zu einem Dutt
hochgesteckte, ebenholzfarbene Haar glänzte bläulich über ihrem
zarten Nacken. Kyle legte seine Geige beiseite und begann ihre
Schultern zu massieren, wie er es bei seinem Vater gesehen hatte.
»Du musst deine Vorstellung nicht absagen«, erklärte er. »Du
schaffst es immer noch rechtzeitig zum Theater. Ich kann auf
Kate aufpassen.«
»Ich weiß«, murmelte sie. »Aber dein Vater sitzt in einem
Flugzeug. Es ist eine Sache, mich krankzumelden, aber mitten
im zweiten Akt von Giselle vom Klavier aufzustehen, weil ich
aus irgendeinem Grund nach Hause rennen muss, ist etwas ganz
anderes.«
Die Muskeln in ihrem oberen Rücken fühlten sich an wie aus
Stein gemeißelt. Kyle drückte ein wenig fester und setzte auch
behutsam die Handballen ein. Er wollte seiner Mutter nicht
wehtun.
»Du machst dir zu viele Sorgen. Wir sind beide keine Kleinkinder
mehr, weißt du.«
Sie lachte, und er spürte, wie sie sich ein wenig entspannte.
Der Mann in dem Kamelhaarmantel setzte seine Begleiter ab,
fuhr durch das Einbahnstraßensystem einmal um den Block und
parkte den BMW vor dem Hydranten in der 86th Street zwischen
Riverside Drive und West End Avenue mit Blick auf den
Park und den dahinter liegenden Hudson River. Dann nahm er
ein kleines Funkgerät vom Beifahrersitz und drückte auf den
Sendeknopf.
»Check«, sagte er.
»Check«, kam die Antwort.
Einen Block weiter nördlich, an der Ecke 87th Street und
River side Drive, schob der Mann mit der Narbe ein identisches
Funkgerät in die Außentasche seiner Jacke. Er griff in die andere
Tasche, zog eine Weihnachtskarte he raus und hielt sie seinem
Begleiter hin.
»Was?«
»Guck dir das Foto an.«
»Ich kenn das verdammte Foto auswendig.«
»Guck es dir noch mal an.«
Der zweite Mann nahm das Bild, bemüht, seinen Widerwillen
zu kaschieren. Er hielt die Karte ins Licht einer Laterne und betrachtete
das aufgeklebte Hochglanzfoto. Eine vierköpfige Familie
vor einem Flügel, die Frau und der Junge waren beinahe
gleich groß. Sie interessierten sich für die Frau.
»Wie lange noch?«
»Eine Viertelstunde«, sagte der Mann mit der Narbe. »Höchstens
zwanzig Minuten. Sie ist pünktlich.«
Schneeflocken schmolzen auf dem Foto, und der zweite
Mann wischte es an seiner Hose ab. Sein Puls schlug schneller,
als er sich den kommenden Abend ausmalte. Die Frau sah gut
aus.
»Kate nimmt ein Bad«, verkündete Yolanda, die im Mantel ins
Wohnzimmer kam. »Und jetzt muss ich wirklich los.«
Claire stand vom Flügel auf und küsste Kyle auf die Wange.
In den letzten ein oder zwei Monaten war er ihr ein paar Zentimeter
über den Kopf gewachsen, so dass sie das Kinn ein wenig
heben musste.
»Danke«, sagte sie zu ihm. »Und jetzt lauf, damit ich mit Yolanda
reden kann.«
Beide Frauen sahen ihm nach. Kyle hatte die hohe und ernste
Stirn seines Vaters und blasse, aufmerksame Augen.
»Dünn wie eine Bohnenstange«, bemerkte Yolanda. »Ich
kann mich erinnern, dass es bei meinem Guillermo genauso war.
In dem Alter schießen sie regelrecht in die Höhe.«
»Er trägt seine Hosen sechs Mal, dann sind sie ihm schon
wieder zu klein.« Claire ließ den Blick sinken und begann mit
ihrem Ehering zu spielen. »Ist mit Kate alles okay?«
»Ihr geht es gut.«
»Ich wollte nicht so streng sein.«
»Streng«, höhnte Yolanda. »Meine abuela hat mir den Katechismus
mit der Bibel in der einen und ihrem Stock in der anderen
Hand beigebracht. Kates Prob lem ist, dass sie so feinfühlig
ist wie ihr Bruder. Kaum bin ich durch die Tür gekommen, wissen
sie, ob ich im Bus einen Sitzplatz hatte oder die ganze Fahrt
stehen musste. Irgendein Ärger im Haus, und die beiden fühlen
sich elend wie nasse Katzen.«
Bei dem Wort »Ärger« zuckte Claire zusammen und wurde
rot. Yolanda zog ihr Tuch aus dem Ärmel ihres Mantels und begann,
es sich über den Kopf zu binden.
»Jetzt hören Sie mir mal zu. Sie brauchen jemanden, der länger
bleiben kann, wenn Sie wieder abends arbeiten. Ich kann
mich umhören, wenn Sie möchten. Es wird mir keinerlei Mühe
bereiten, eine andere Anstellung zu finden.«
»Gott bewahre«, sagte Claire entsetzt. »Du gehörst zur Familie.
« Sie zögerte, schlug die Hand vors Gesicht und schluckte
einen Kloß hinun ter. »Ich bin einfach frustriert. Es ist wirklich
schwer, den Schritt vom Unterrichten zurück auf die Konzertbühne
zu schaffen, und dieser Job ist eine große Chance für
mich. Aber niemand wird mich je wieder verpflichten, wenn ich
erst mal den Ruf habe, unzuverlässig zu sein.«
»Mark wusste nicht, dass er verreisen muss?«
»Ein Kollege in London ist krank geworden. Er muss für ihn
eine Rede auf einer großen europäischen Energiekonferenz halten.«
»Und was war es vor ein paar Wochen noch?«
»Wien«, antwortete Claire ein wenig abwehrend. »Ein ungeplantes
Treffen mit ein paar Leuten von der OPEC.«
Yolanda runzelte lächelnd die Stirn. »Sieht so aus, als würde
es immer irgendwas sein. Ich bin jetzt seit acht Jahren bei Ihnen
und weiß nie, ob er gerade kommt oder geht.«
»Dann war es vielleicht ein Fehler, dass ich wieder angefangen
habe, Konzerte zu geben«, sagte Claire zögernd. »Vielleicht
hätte ich warten sollen, bis Kate ein bisschen älter ist.«
»Vielleicht dies und vielleicht das. Arbeit ist wichtig. Für einen
Mann wie für eine Frau.« Yolanda fasste Claires Handgelenk
und schüttelte sanft ihren Arm. »Sie haben Glück. Sie haben
einen guten Mann und gute Kinder und einen guten Job. Sie
haben nur den Fehler gemacht, sich nicht jemanden zu suchen,
der länger bleiben kann.«
»Da könnte was dran sein«, sagte Claire lächelnd und umarmte
Yolanda. »Ich habe so ein Glück - mit Mark und mit den
Kindern und mit dieser Chance. Aber Kate und Kyle würden es
mir nie verzeihen, wenn du uns verlässt. Ich werde irgendeine
Lösung finden.«
Mehr als eine Stunde war verstrichen, und der Mann in dem Kamelhaarmantel
am Steuer des BMW wurde unruhig. Dank des
Wetters waren kaum Fußgänger unterwegs, die sich sein Gesicht
einprägen könnten, aber trotzdem sollten sie längst weg sein. Er
sehnte sich nach einer Zigarette. Der Besitzer des Wagens war
offensichtlich Raucher, und der Geruch trieb ihn zum Wahnsinn.
Er hatte nach der Operation Desert Storm aufhören müssen;
die Wochen, die er in den brennenden Ölfeldern verbracht
hatte, hatten seine Lungen dauerhaft geschädigt. Trotzdem vertrieb
nichts eine lange Wartezeit besser als eine Zigarette.
Seine Kollegen, die einhundert Meter weiter die Straße hi nauf
warteten, waren genauso rastlos. Erst zwei Personen waren aus
dem Wohnhaus an der Ecke gegenüber gekommen: eine ältere
Südamerikanerin mit einem Kopftuch und ein Schwarzer mit
einem Schäferhund an der Leine. Der Mann mit der Narbe sah
wieder auf seine Uhr. So spät war sie noch nie gewesen. Er hatte
ihren Vorstellungsplan überprüft - der Vorhang ging in weniger
als einer halben Stunde hoch. Er fragte sich, ob sie wegen des
Wetters früher aufgebrochen war.
»Noch zehn Minuten«, sagte er.
Der zweite Mann stampfte gegen die Kälte mit den Füßen
auf und fluchte. Was schlecht begann, nahm meist ein schlechtes
Ende, und die Frau war nur der erste von zwei Aufträgen, die
sie an diesem Abend zu erledigen hatten.
»O nein«, kreischten Kate und Kyle im Chor und warfen Kopfkissen
in Richtung Fernseher. Ihre Mutter lachte. Sie hatten gemeinsam
zu Abend gegessen und es sich auf der Couch gemütlich
gemacht, um Titanic zu gucken, aber der Vorspann war
kaum über den Bildschirm geflimmert, als plötzlich ein Südamerikaner
im Frack ins Bild kam, der zum Playback eines spanischen
Lieds die Lippen bewegte, während er auf dem Times
Square auf dem Dach eines Taxis tanzte. Sooft sie Yolanda auch
anflehten, nicht den Sender zu wechseln, wenn der Videorekorder
lief, so häufig vergaß sie es trotzdem.
»Ich laufe zur Videothek und leihe ihn aus«, sagte Claire und
schlug die Decke auf ihrem Schoß beiseite.
Kyle sah aus dem Fenster. Der Wind war aufgefrischt und
wirbelte lange weiße Wolken von den schneebedeckten Dächern
auf.
»Das kann ich doch machen«, sagte er und sprang auf.
Claire drehte sich um und warf einen Blick auf die Küchenuhr.
Kyle hatte erst im letzten Jahr begonnen, sich auf eigene
Faust in der Nachbarschaft zu bewegen.
»Ich könnte ein bisschen frische Luft brauchen«, sagte sie.
»Lügnerin«, neckte er sie. »Du hasst die Kälte. Und du hast es
selbst gesagt - ich bin kein Kleinkind mehr.«
Claire biss sich auf die Lippe und nickte. »Nimm dein Handy
mit.«
»Ich bin sofort zurück.«
Eine Tür aus Glas und Eisen schwang auf, und Kyle trat aus
dem Haus auf die Straße. Er trug eine grüne Schulmütze, die
hoch auf seinem Kopf saß, und den Goretex-Parka seines Vaters.
Die Ärmel bauschten sich an den elastischen Bündchen, und
die Schultern hingen zu tief, aber er trug ihn trotzdem gerne.
Er vergrub die Hände in den Taschen, stieß auf einen gefalteten
Zettel und zog ihn he raus. Sein Vater hatte handschriftlich
eine Liste erstellt: Rashid, Azikiwo, Statoil, Petronuevo. Einige
Namen erkannte er, andere nicht. Rashid war ein alter Freund
seines Vaters, der für die OPEC arbeitete, und Statoil war die
staatliche norwegische Ölgesellschaft. Azikiwo und Petronuevo
sagten ihm nichts. Er sprach die Worte laut aus und genoss ihren
Klang. Alles an dem Job seines Vaters war cool. Wenn er erwachsen
war, wollte er genauso sein wie er.
Er steckte den Zettel wieder in die Tasche, trat unter der Markise
des Gebäudes hervor und ging in südlicher Richtung den
Riverside Drive hi nun ter. Die beiden Männer standen an der
Kreuzung 86th Street. Laternenlicht fiel auf Kyles Gesicht, als er
mit gesenktem Kopf vorbeieilte. Einer der Männer drehte sich
um und starrte ihm nach.
»Das ist der Junge«, sagte der Mann mit der Narbe.
»Welcher Junge?«, fragte der zweite Mann.
»Der Sohn, du Vollidiot. Ich dachte, du hättest dir das Bild
eingeprägt.«
»Sie habe ich mir eingeprägt«, protestierte der Mann. »Nicht
den Jungen. Von einem Jungen hast du nie was gesagt.«
»Aber sie ist nicht gekommen. Wir müssen improvisieren.«
Der Mann mit der Narbe zog das Funkgerät aus der Tasche,
flüsterte eilig etwas hin ein und lief Kyle nach. Sein Kollege zögerte
kurz und folgte ihm dann. Er steckte schon zu tief drin,
um zu widersprechen.
Der Fahrer des BMW ließ das Beifahrerfenster he run ter, als
Kyle näher kam. Frau oder Kind, das war ihm gleich.
»Verzeihung«, rief er höflich.
Kyle machte einen Schritt auf den Wagen zu und beugte sich
unsicher zum Fenster.
»Ja?«
Der Mann mit der Narbe trat von hinten hinzu und traf Kyle
mit einem Totschläger hinter dem Ohr. Der zweite Mann fing
ihn auf, als er zusammensackte und seine grüne Mütze zu Boden
fiel. Sekunden später fuhr der BMW los, der Junge eingeklemmt
zwischen den beiden Männern auf der Rückbank.
Der Wind erfasste die Mütze und wehte sie in einen Gully.
Eine Stunde später erreichte sie den Fluss, wo die Flut sie in
Richtung Hafen und den Atlantik jenseits davonzog. Bei Tagesanbruch
trieb sie schon Meilen vor der Küste und wurde nie
wieder gesehen.
SIEBEN JAHRE SPÄTER
1
Ich wachte früh auf und lauschte Claires Atem. Sie hatte mir
den Rücken zugewandt, klang jedoch nicht, als würde sie noch
schlafen, deshalb drehte ich mich auf die Seite und massierte mit
einer Hand sanft ihren Nacken und ihre Schultern. An manchen
Morgen ignorierte sie mich, an anderen schliefen wir miteinander,
und an wieder anderen weinte sie. Nach ein paar Minuten
ohne Reaktion stand ich auf und machte mich für die Arbeit
fertig.
Die Küche war kalt und dunkel. Ich schaltete das Licht über
der Arbeitsplatte an, drehte die leise klappernde Heizung auf
und deckte das übliche Wochentagsfrühstück für Claire und
Kate - Obst, Müsli und Joghurt. Freitags legte ich immer ein
Schokoladencroissant dazu, das ich für sie in der Mitte teilte.
Als ich in der Lobby unseres Hauses ankam, hatte Frank,
der Nachtportier, schon ein Taxi gerufen, das vor dem Haus auf
mich wartete. Er wünschte mir einen guten Morgen und überreichte
mir ernst einen kleinen Packen an meinen Sohn adressierter
Post. Als ich ein Jahr nach seinem Verschwinden zum
ersten Mal Post für Kyle erhielt, war das ein Schock, auch wenn
es nur Werbung für eine Teenie-Zeitschrift war. Ich dachte den
ganzen Tag lang da rüber nach und klopfte dann an die Tür des
Hausverwalters, Mr Dimitrios. Mit Tränen in den Augen gestand
er mir, dass er seit zwölf Monaten alle Werbesendungen
an Kyle abgefangen hatte, und überreichte mir einen Schuhkarton
voller Umschläge. Ich zwang mich, sie durchzusehen -
Reggie Kinnard, der Detektiv, der mit uns zusammengearbeitet
hatte, hatte erwähnt, dass Psychopathen, die Kinder entführen,
sich manchmal ein Vergnügen da raus machten, Briefe an die Familie
des Opfers zu schreiben. Aber der Karton enthielt nichts
Ungewöhnliches. Der freundliche Vertreter einer Direkt-Marketing-
Agentur, mit dem ich am Telefon sprach, riet, einfach
»verstorben« auf jede Sendung zu schreiben und an den Absender
zurückzuschicken. Stattdessen ließ ich Mr Dimitrios die
Briefe weiter abfangen, damit Claire und Kate sie nicht sahen,
und sie mir von Frank aushändigen. Zurzeit sind es vor allem
Werbung für Akne-Produkte und CD-Clubs, Sommerjob-Angebote
und Zeitschriften wie Maxim und Outside. Die Sachen,
die ein Neunzehnjähriger eben so zugeschickt bekommt. Sachen,
für die sich Kyle vielleicht tatsächlich interessiert, wenn er
noch lebt.
Ich ließ das Taxi halten, um an einem durchgehend geöffneten
Kiosk in der 72nd Street die Zeitungen zu kaufen, und fuhr
dann weiter zur Arbeit. Im Büro ist immer irgendjemand, egal
zu welcher Uhrzeit ich komme - der Hedgefonds, bei dem ich
Büroräume gemietet habe, handelt rund um die Uhr. Er hat nur
etwa sechzig Angestellte, belegt jedoch ein komplettes Stockwerk
in einem Bürohochhaus in Midtown Manhattan, dessen
eine Hälfte von einem großen, nicht unterteilten Handels-
raum eingenommen wird. In einer Ecke des Raumes steht der
Namensgeber des Fonds, ein mitternachtsblauer 1966er Ford
Shelby AC auf einem niedrigen Podest. Der Wagen hatte sich
als zu groß für die Fahrstühle erwiesen, so dass Walter Coleman,
der Gründer des Fonds, ihn mittels eines Krans anliefern ließ,
nachdem Arbeiter ein Garagentor-breites Loch in eine Front des
Gebäudes geschlagen hatten.
Walters Sohn Alex war derjenige, der mir eineinhalb Jahre
nach Kyles Verschwinden vorschlug, mich als unabhängiger
Energie-Analyst selbstständig zu machen. Ich hatte gezögert.
Ich brauchte das Geld, aber ich wusste nicht, ob ich einen Job
noch mit so viel Engagement und Hingabe machen konnte wie
vorher, und ob ich, selbst wenn, als freier Sachverständiger erfolgreich
sein würde. Ich hatte meine gesamte berufliche Karriere
auf der Seite der Verkäufer zugebracht und Recherche-
ergebnisse über Ölfirmen an die Kunden der Investmentbank
vertickt, für die ich arbeitete. Nach eineinhalb Jahren weg von
den Märkten und ohne die institutionellen Verbindungen, deretwegen
die Leute mit mir hatten reden wollen, fürchtete ich,
nichts Wertvolles mehr liefern zu können. Ich hatte Recht, dass
mich meine ehemaligen Quellen bis auf ein oder zwei Freunde
im Stich lassen würden, lag jedoch falsch damit zu glauben, es
würde eine Rolle spielen. Cobra war der Großvater der Hedgefonds-
Gemeinde, Urahn zahlreicher Generationen von Firmen,
die tratschten und sich kabbelten und sich im Ganzen benahmen
wie eine große Familie. Alex und sein Vater hatten für mich
ein paar Anrufe getätigt, und plötzlich hatte ich ein Dutzend
Kunden, allesamt Fonds, mit denen Wall Street unbedingt Geschäfte
machen wollte. Schon bald gab es in der Wall Street keinen
Verkäufer mehr, der für mich nicht alles stehen und liegen
lassen würde, erpicht auf eine wohlwollende Erwähnung gegenüber
meiner Kundschaft. Und in dem Maße, in dem ich einflussreicher
wurde, streckten auch meine alten Kontakte ihre Fühler
wieder aus. Das Geschäft boomte, sogar der jüngste Crash war
ein verkappter Segen gewesen: Die Kunden, die untergegangen
waren, wurden durch frisch entschuldete und zutiefst geläuterte
Überlebende ersetzt, die verzweifelt originelle Ideen und Analysen
verlangten, um ihre faulen Kreditstrategien abzulösen.
Der größte Vorteil besteht da rin, dass ich kaum noch reisen
muss. Die traditionellen Fonds-Manager, die ich zuvor bediente,
haben mich stets auf dem Sprung von Amerika nach Europa
gehalten, meine persönliche Anwesenheit war ein Akt der Vasallentreue,
ein nettes Essen und eine Flasche Wein der Tribut,
den sie verlangten. Für unsere junge Familie ist es schwer gewesen.
Wenn ich Claire und den Kindern sonntagabends einen
Abschiedskuss gab, wusste ich oft schon, dass vor mir eine Woche
voller karger Hotelzimmer lag, während ich es Claire überließ,
sich um die Kinder zu kümmern. Ich vermisste sie, und ich
hatte ein schlechtes Gewissen, Claire allein zu lassen, aber ich
konnte - Gott hilf mir - keinen Auftrag absagen, ich genoss den
Erfolg, die Anerkennung und die finanzielle Belohnung. In meinem
neuen Job bin ich meistens abends wieder zu Hause, meiner
Hedgefonds-Kundschaft ist die Zeit, die ich in ihrer Gegenwart
verbringe, egal, und sie besteht da rauf, ihr Essen selbst zu
bezahlen, aber es bleibt eine traurige Wahrheit, dass alle Zeit,
über die ich nun verfüge, nicht aufwiegen konnte, was ich verloren
habe.
Mein Büro liegt auf der Südseite des Gebäudes neben dem
Handelsraum. Nachdem ich mir in der Küche eine Tasse Kaffee
geholt habe, setze ich mich an den Schreibtisch und überfliege
die Wirtschafts- und Auslandsnachrichten. Ich konzentriere
mich auf die Schlagzeilen und Autorennamen und verfolge
die Arbeit von Journalisten, die über besonders gute Informationen
oder Verbindungen verfügen; ich versuche, das Rudel-
denken der Wall Street zu meiden, und Pressekontakte lassen
sich erstaunlich leicht pflegen. Es gibt immer irgendetwas, das
Journalisten nicht schreiben können oder wollen oder schon geschrieben
haben, ohne es richtig zu verstehen. Ich habe mehr als
zwanzig Jahre Erfahrung auf den Energiemärkten und bin deshalb
die richtige Adresse, wenn man Fakten oder Gerüchte ventilieren
möchte. Ich kenne die Industrie aus dem Effeff, kann
mit Informationen frei umgehen und publiziere nie selbst - auch
wenn ich mich hin und wieder überreden lasse, eine Marktbeobachtung
zu diktieren, weil ein befreundeter Journalist in einer
Verlegenheit steckt. GASPREIS VOR ERNEUTEM ABSTURZ
ODER ZEHN ÖLAKTIEN FÜR DEN CLEVEREN INVESTOR.
Dafür können sie Leute befragen, zu denen meine Wall-
Street-Verbindungen vielleicht keinen Zugang haben, füttern
mich mit Details, die sie bisher noch nicht in einem längeren Artikel
verwerten konnten, oder warnen mich vor größeren Storys,
die sich auf die Märkte auswirken könnten. Und alle profitieren
davon.
Gegen acht Uhr tippte ich einen zweiseitigen aktuellen
Marktbericht für meinen Kundenstamm, um sie auf Faktoren
hinzuweisen, die sie beachten sollten. Danach stand ich auf,
streckte meine Glieder und erlaubte mir, eine Viertelstunde aus
dem Fenster neben meinem Schreibtisch zu starren. Es muss das
Fenster gewesen sein, das mich bewogen hat, ein Büro bei Alex
und Walter zu mieten. Vielleicht hatte es mich sogar dazu bewogen,
mein Glück als unabhängiger Analyst zu versuchen. Es
blickt nach Süden auf die Park Avenue, und ich kann zu praktisch
jeder Tageszeit Hunderte von Menschen auf der Straße
sehen.
An dem Abend, als Kyle verschwand, saß ich in einem Flugzeug
nach London. Als wir in Heathrow zum Gate rollten, informierte
mich eine Stewardess, dass ein Manager des Kundenservice
mich sprechen wollte. Ich war zu erschöpft, um etwas
anderes zu erwarten als einen lauwarmen Händedruck und steifen
Smalltalk, wie es Fluggesellschaften geschäftlichen Vielfliegern
manchmal angedeihen ließen.
An die folgenden zwei Stunden kann ich mich nur verschwommen
erinnern. Ich weiß, dass mich die Nachricht von
Kyles Verschwinden traf wie ein Schlag, nachdem ich geraume
Zeit keine Luft mehr bekam. Ich weiß noch, wie ich auf dem
langen Rückflug nach New York zusammengesunken auf meinem
Platz saß und das Gefühl hatte, immer tiefer zu fallen, ohne
dass der Boden in Sicht kam. Vor allem jedoch erinnere ich mich
an den Ausdruck in Claires Gesicht, als wir uns auf der Polizeiwache
trafen - die Trauer, die mich davon überzeugte, dass der
Albtraum real war, und das Schuldgefühl, das mich seitdem nie
wieder verlassen hat.
Wenn ich aus dem Fenster starre, kommt Amy, meine Assistentin,
manchmal he rein und spottet freundlich über meine
Trance. Es hilft nachzudenken, lüge ich sie an. Die Wahrheit
kann ich mir selbst nur mit Mühe eingestehen. Claire und ich
haben nie im Detail über den Abend gesprochen, an dem Kyle
verschwunden ist, aber ich habe ihre Aussage gegenüber der Po-
lizei und die Beschreibung der Kleidung gelesen, die Kyle getragen
hat. Trotz all der Jahre, die mittlerweile verstrichen sind,
suche ich in der Menge auf der Straße noch immer nach einem
schlaksigen Zwölfjährigen mit einem zu großen Parka und einer
grünen Schulmütze.
2
Ich saß am Schreibtisch und las ein Wirtschaftsmagazin, als Amy
den Kopf he reinsteckte und mir einen guten Morgen wünschte.
Sie hielt einen Umschlag in der Hand. »Raten Sie mal, was ich
hier habe.« Sie lächelte.
»Hmm ...«, sagte ich und tippte mir mit dem Finger ans
Kinn. Amy ist vierzig, verheiratet und im Vorstand ihrer Kirchengemeinde.
Sie trug an diesem Tag ein schlichtes dunkelblaues
Kleid und hatte das Haar zu einem züchtigen Dutt hochgesteckt.
»Ein Ticket nach Las Vegas. Sie verlassen mich, um
einen Job als Croupier im Bellagio anzunehmen.«
»Von wegen«, höhnte sie. »Den einzigen Job, den ich in Las
Vegas annehmen würde, wäre in einer Mission.«
»Wie die Schauspielerin in Guys and Dolls, die am Ende Marlon
Brando kriegt.«
»Jean Simmons«, sagte sie und wurde ein wenig rot. Amy
liebte alte Filme. »In Elmer Gantry hat sie mir besser gefallen.
Und Guys and Dolls spielt in New York. Aber das hat alles rein
gar nichts damit zu tun.« Sie griff in den Umschlag und zog mit
dramatischer Geste ein BlackBerry he raus. »Ta-daa!«
»Mein neues Handy?«, fragte ich erstaunt.
»Noch besser. Ihr altes Handy.«
Ich war mir das ganze Wochenende wie ein Volltrottel vorgekommen.
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
The Garden of Betrayal bei Alfred A. Knopf, New York
© 2010 Lee Vance
Für die deutsche Ausgabe
© 2011 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
BLOOMSBURY BERLIN
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung:
Rothfos & Gabler, Hamburg,
unter Verwendung einer Fotografie von © Floyd Dean/getty
Typografie: Leslie Driesener, Berlin
Gesetzt aus der Stempel Garamond
von hanseatenSatz-bremen, Bremen
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 2011
ISBN 978-3-8270-0930-2
www.berlinverlage.de
... weniger
Autoren-Porträt von Lee Vance
Lee Vance studierte an der Harvard Business School und war lange Jahre General Partner bei Goldman Sachs. Er lebt mit seiner Familie in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lee Vance
- 2011, 384 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übers. v. Kristian Lutze
- Übersetzer: Kristian Lutze
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 3827009308
- ISBN-13: 9783827009302
Rezension zu „Spur des Verrats “
"Die Spur des Verrats ist ein geschickt komponierter hochintelligenter und rasanter Thriller, besser noch als Vance' ausgezeichneter Debütroman Die Entschädigung. (...) Die Spannung steigt unerbittlich; jedes der kurzen Kapitel wartet mit einer schockierenden Wendung auf, es wimmelt von falschen Fährten."Bookseller"Mit seinem sympathischen Porträt einer trauernden Familie hebt sich dieser Roman qualitativ von den durchschnittlichen Finanzthrillern ab."Library Journal"Vance hat einen schlagkräftigen, hochintelligenten Page-Turner geschrieben."Book Group Online"Der Mann kann schreiben, für einen Banker keine Selbstverständlichkeit. Seine Figuren sind stimmig, die Dialoge saftig, die Szenarien plausibel - der Text bleibt spannend bis zur letzten Zeile."Manager-Magazin"Nur selten erscheint ein neuer Thriller, der einen so komplett umhaut. Ein Buch, das vor Energie sprudelt, mit einem Plot, für den man sterben möchte, Figuren, die man gernhat, und einer Auflösung, bei der einem die Luft wegbleibt. Genau das passiert bei Lee Vances zweitem Roman. ... Das ist der beste Thriller, den ich dieses Jahr gelesen habe - und zwar bei weitem."Daily Mail"Spur des Verrats ist der Wahnsinn. ... Vance speist ihn mit Insiderwissen über die Energieindustrie, das er während seiner Jahre bei Goldman Sachs und seiner früheren Mitgliedschaft in der International Petroleum Exchange gesammelt hat."Bloomberg.com
Kommentar zu "Spur des Verrats"
0 Gebrauchte Artikel zu „Spur des Verrats“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Spur des Verrats".
Kommentar verfassen