Stadt der Steine
Roman
Ein kraftvoller, poetischer Roman über das Lebensgefühl junger Chinesen im 21. Jahrhundert.
Der Aal bringt Coral aus dem Gleichgewicht. Ein riesiger Meeresaal, gesalzen und getrocknet, wie es im Dorf ihrer Kindheit Tradition war. Jetzt liegt er in Corals...
Der Aal bringt Coral aus dem Gleichgewicht. Ein riesiger Meeresaal, gesalzen und getrocknet, wie es im Dorf ihrer Kindheit Tradition war. Jetzt liegt er in Corals...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Stadt der Steine “
Ein kraftvoller, poetischer Roman über das Lebensgefühl junger Chinesen im 21. Jahrhundert.
Der Aal bringt Coral aus dem Gleichgewicht. Ein riesiger Meeresaal, gesalzen und getrocknet, wie es im Dorf ihrer Kindheit Tradition war. Jetzt liegt er in Corals winzigem Appartement im untersten Geschoss eines 25-stöckigen Hochhauses in Peking.
Mit dem Aal kommen die Bilder: das abgelegene Fischernest am ostchinesischen Meer, die furchtbaren Stürme, die kargen Klippen, die dicht gedrängten, steinernen Häuser. Alles scheint an diesem Ort aus Stein zu sein, auch die Herzen der Bewohner. Früh verliert Coral Vater und Mutter. Die Großeltern sind Außenseiter und kommunizieren nur über das Enkelkind miteinander. Als ein stummer Junge sie entführt, spendet ihr niemand Trost und Schutz. Schließlich hat Coral nur noch einen Wunsch: der unbarmherzigen Stadt der Steine für immer zu entkommen...
»Was eine traurige Geschichte hätte werden können, besitzt den Zauber eines Märchens.« (Doris Lessing)
Der Aal bringt Coral aus dem Gleichgewicht. Ein riesiger Meeresaal, gesalzen und getrocknet, wie es im Dorf ihrer Kindheit Tradition war. Jetzt liegt er in Corals winzigem Appartement im untersten Geschoss eines 25-stöckigen Hochhauses in Peking.
Mit dem Aal kommen die Bilder: das abgelegene Fischernest am ostchinesischen Meer, die furchtbaren Stürme, die kargen Klippen, die dicht gedrängten, steinernen Häuser. Alles scheint an diesem Ort aus Stein zu sein, auch die Herzen der Bewohner. Früh verliert Coral Vater und Mutter. Die Großeltern sind Außenseiter und kommunizieren nur über das Enkelkind miteinander. Als ein stummer Junge sie entführt, spendet ihr niemand Trost und Schutz. Schließlich hat Coral nur noch einen Wunsch: der unbarmherzigen Stadt der Steine für immer zu entkommen...
»Was eine traurige Geschichte hätte werden können, besitzt den Zauber eines Märchens.« (Doris Lessing)
Klappentext zu „Stadt der Steine “
Eine Reise zum Meer der Erinnerung.Eine junge Frau in Peking wird mit den Bildern ihrer Kindheit konfrontiert und merkt, dass sie die in ihr verwurzelten Traditionen annehmen muss, um befreiter in die Zukunft zu blicken. Ein kraftvoller, poetischer Roman über das Lebensgefühl junger Chinesen im 21. Jahrhundert.
Der Aal bringt Coral aus dem Gleichgewicht. Ein riesiger Meeresaal, gesalzen und getrocknet, wie es im Dorf ihrer Kindheit Tradition war. Jetzt liegt er in Corals winzigem Appartement im untersten Geschoss eines 25-stöckigen Hochhauses in Peking. Mit dem Aal kommen die Bilder: das abgelegene Fischernest am ostchinesischen Meer, die furchtbaren Stürme, die kargen Klippen, die dicht gedrängten, steinernen Häuser. Alles scheint an diesem Ort aus Stein zu sein, auch die Herzen der Bewohner. Früh verliert Coral Vater und Mutter. Die Großeltern sind Außenseiter und kommunizieren nur über das Enkelkind miteinander. Als ein stummer Junge sie entführt, spendet ihr niemand Trost und Schutz. Schließlich hat Coral nur noch einen Wunsch: der unbarmherzigen Stadt der Steine für immer zu entkommen. Mit jeder der Aal-Mahlzeiten, die Coral und ihr Freund zu sich nehmen, sickern die Erinnerungen in die lärmende Gegenwart Pekings ein. Und dann steht eines Tages ein Mann vor der Tür, der behauptet, Corals Vater zu sein. Die Vergangenheit ist endgültig zurückgekehrt.
Xiaolu Guo schickt ihre Heldin auf eine eindringliche Reise zu ihren Ursprüngen und damit zu sich selbst. Der Leser erliegt dem Zauber einer ganz und gar fremd anmutenden Welt, die doch in die Gegenwart hineinragt. Er folgt gebannt einer poetischen Parabel über das Reich der Mitte zwischen Tradition und Moderne.
Eine Reise zum Meer der Erinnerung.
Eine junge Frau in Peking wird mit den Bildern ihrer Kindheit konfrontiert und merkt, dass sie die in ihr verwurzelten Traditionen annehmen muss, um befreiter in die Zukunft zu blicken. Ein kraftvoller, poetischer Roman über das Lebensgefühl junger Chinesen im 21. Jahrhundert.
Der Aal bringt Coral aus dem Gleichgewicht. Ein riesiger Meeresaal, gesalzen und getrocknet, wie es im Dorf ihrer Kindheit Tradition war. Jetzt liegt er in Corals winzigem Appartement im untersten Geschoss eines 25-stöckigen Hochhauses in Peking. Mit dem Aal kommen die Bilder: das abgelegene Fischernest am ostchinesischen Meer, die furchtbaren Stürme, die kargen Klippen, die dicht gedrängten, steinernen Häuser. Alles scheint an diesem Ort aus Stein zu sein, auch die Herzen der Bewohner. Früh verliert Coral Vater und Mutter. Die Großeltern sind Außenseiter und kommunizieren nur über das Enkelkind miteinander. Als ein stummer Junge sie entführt, spendet ihr niemand Trost und Schutz. Schließlich hat Coral nur noch einen Wunsch: der unbarmherzigen Stadt der Steine für immer zu entkommen.
Mit jeder der Aal-Mahlzeiten, die Coral und ihr Freund zu sich nehmen, sickern die Erinnerungen in die lärmende Gegenwart Pekings ein. Und dann steht eines Tages ein Mann vor der Tür, der behauptet, Corals Vater zu sein. Die Vergangenheit ist endgültig zurückgekehrt.
Xiaolu Guo schickt ihre Heldin auf eine eindringliche Reise zu ihren Ursprüngen und damit zu sich selbst. Der Leser erliegt dem Zauber einer ganz und gar fremd anmutenden Welt, die doch in die Gegenwart hineinragt. Er folgt gebannt einer poetischen Parabel über das Reich der Mitte zwischen Tradition und Moderne.
"Was eine traurige Geschichte hätte werden können, hat den Zauber eines Märchens erhalten."
Doris Lessing
"Guos Sprache besitzt die Leichtigkeit eines Märchens. Und die Autorin zeigt mit diesem bewegenden Roman, dass wir uns mit den dunklen Seiten der Vergangenheit versöhnen müsse, um den Problemen der Gegenwart entgegentreten zu können."
TLS
Eine junge Frau in Peking wird mit den Bildern ihrer Kindheit konfrontiert und merkt, dass sie die in ihr verwurzelten Traditionen annehmen muss, um befreiter in die Zukunft zu blicken. Ein kraftvoller, poetischer Roman über das Lebensgefühl junger Chinesen im 21. Jahrhundert.
Der Aal bringt Coral aus dem Gleichgewicht. Ein riesiger Meeresaal, gesalzen und getrocknet, wie es im Dorf ihrer Kindheit Tradition war. Jetzt liegt er in Corals winzigem Appartement im untersten Geschoss eines 25-stöckigen Hochhauses in Peking. Mit dem Aal kommen die Bilder: das abgelegene Fischernest am ostchinesischen Meer, die furchtbaren Stürme, die kargen Klippen, die dicht gedrängten, steinernen Häuser. Alles scheint an diesem Ort aus Stein zu sein, auch die Herzen der Bewohner. Früh verliert Coral Vater und Mutter. Die Großeltern sind Außenseiter und kommunizieren nur über das Enkelkind miteinander. Als ein stummer Junge sie entführt, spendet ihr niemand Trost und Schutz. Schließlich hat Coral nur noch einen Wunsch: der unbarmherzigen Stadt der Steine für immer zu entkommen.
Mit jeder der Aal-Mahlzeiten, die Coral und ihr Freund zu sich nehmen, sickern die Erinnerungen in die lärmende Gegenwart Pekings ein. Und dann steht eines Tages ein Mann vor der Tür, der behauptet, Corals Vater zu sein. Die Vergangenheit ist endgültig zurückgekehrt.
Xiaolu Guo schickt ihre Heldin auf eine eindringliche Reise zu ihren Ursprüngen und damit zu sich selbst. Der Leser erliegt dem Zauber einer ganz und gar fremd anmutenden Welt, die doch in die Gegenwart hineinragt. Er folgt gebannt einer poetischen Parabel über das Reich der Mitte zwischen Tradition und Moderne.
"Was eine traurige Geschichte hätte werden können, hat den Zauber eines Märchens erhalten."
Doris Lessing
"Guos Sprache besitzt die Leichtigkeit eines Märchens. Und die Autorin zeigt mit diesem bewegenden Roman, dass wir uns mit den dunklen Seiten der Vergangenheit versöhnen müsse, um den Problemen der Gegenwart entgegentreten zu können."
TLS
Lese-Probe zu „Stadt der Steine “
1Alles begann mit einem Paket, einem Paket, in dem ein getrockneter und gesalzener Aal steckte, aufgegeben von einem namenlosen Absender unter einer unbekannten Adresse in der Stadt der Steine.
Es ist ein großer, etwa fünfundachtzig Zentimeter langer Meeraal, ganz intakt, mit Schwanz- und Seitenflossen. Die Schwanzflosse ist außergewöhnlich lang. Ich stelle mir vor, wie dieser Aal nach dem traditionellen Verfahren der Stadt der Steine behandelt wurde, bei dem man ihn erst mit zwei Kilo grobem Meersalz pro fünf Kilo Aal bestreute und dann in der Sonne trocknen ließ. Man sieht noch die Narbe an der Stelle, wo das Messer in den silberweißen Bauch des Aals schnitt, um dann wieder herauszufahren und den Aal langsam vom Kopf bis zur Schwanzflosse aufzuschlitzen, bis er in zwei lange Streifen auseinander fiel, die nur noch in der Mitte zusammenhingen.
Ein so riesiger Aal, überlege ich, muss im siebten Monat des Mondkalenders gefangen worden sein, in dem die Aale besonders fleischig und schmackhaft sein sollen. Als Erstes wird man ihm die Eingeweide ausgenommen haben, dann hat man ihn sicher an ein Nordfenster gehängt, wo er die Fischsaison des Winters über trocknete, bis er hart wie eine Messerklinge war. Dann muss ihn irgendeine Hand - wessen Hand, weiß ich nicht - vom Dachbalken genommen und in ein Paket gewickelt haben, das in eine tausendachthundert Kilometer weit entfernte Stadt geschickt wurde, die Stadt, in der Red und ich zu Hause sind.
Als ich das nach Fisch stinkende Paket auf den Küchentisch lege, steht Red neben mir. Red, mein bester Freund in dieser Stadt und der einzige Mann in meinem Leben, fragt mich argwöhnisch, woher das Paket kommt.
"Die Stadt der Steine", antworte ich abwesend.
"Die Stadt der Steine?" Die Worte scheinen Red zu verblüffen, als wären es kaum verständliche Silben einer altertümlichen Sprache.
Das Paket ist schwer. Als ich den riesigen Aal aus dem Einschlagpapier wickle und auf den Tisch lege, ist Red vor Schreck wie
... mehr
gelähmt. Der Aal wirkt auf unheimliche Art lebendig. Die monströse Schwanzflosse steht nach oben ab, als wolle das Tier jeden Moment losschwimmen.
Und sofort werde ich von Erinnerungen überflutet - der Salzgeruch des Ostchinesischen Meeres und der Geruch eines Taifuns über der Stadt der Steine, das alles scheint dem Körper des Aals zu entströmen. Synapsen verbinden sich, Schleusen gehen weit auf, und der reißende Strom der Erinnerung kann ungehindert fließen. Er strömt durch die Tunnel der Vergangenheit, droht die Erde zu überschwemmen und den Himmel zu verdunkeln.
Ich habe die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens in der Stadt der Steine verbracht, doch ich habe sie weit hinter mir gelassen. Jetzt lebe ich tausendachthundert Kilometer von ihr entfernt mit einem Mann zusammen, der nichts über meine Vergangenheit weiß, in einer Stadt, die sich auf jede nur denkbare Weise von meinem Geburtsort unterscheidet. Schon seit Jahren habe ich jeden Briefkontakt zur Stadt der Steine abgebrochen, doch jetzt muss ich plötzlich an sie denken - an die Dinge, die dort passierten, und an die Menschen, die dort lebten. All diese Menschen, deren Leben meines berührten und deren Leben ich berührte.
Wäre mir nicht von einem fernen Ort dieses Paket mit einem getrockneten und gesalzenen Aal geschickt worden, hätte ich nie wieder an all das gedacht, was in der Stadt der Steine geschehen ist.
Doch so begann die Erinnerung.
2
Ich will das Tor zur Vergangenheit noch einen Moment lang schließen und ein wenig über die Gegenwart erzählen. Red und ich leben in der gewaltigen, sonnenversengten Megalopole Beijing. Ich bin achtundzwanzig, und Red ist neunundzwanzig, doch in wenigen Tagen wird er dreißig. Laut Konfuzius soll ein Mensch mit dreißig Jahren sesshaft werden, aber Red und ich hatten noch nie das Gefühl, irgendwohin zu gehören, was in einer Stadt wie dieser auch schwer fällt. Ich denke, wir sind in dem Alter, in dem man sich des Verlusts seiner Jugend bewusst wird, auch wenn sich für mich nichts Wesentliches verändert hat. Mit achtundzwanzig hat man die Dummheit der Jugend gerade hinter sich gelassen, ist aber immer noch weit von den Achtzigern entfernt. Das Einzige, was ich an dieser Zahl irgendwie von Bedeutung finde, ist, dass die Meeresgöttin Mazu Niangniang achtundzwanzig war, als sie starb. Natürlich haben die Menschen in der Stadt der Steine niemals das Wort "gestorben" benutzt. Sie sei "direkt in den Himmel aufgestiegen" und unsterblich geworden, hieß es. In der ganzen Stadt gab es keinen Fischer und keine Frau, die das Andenken der Meeresgöttin nicht in Ehren gehalten hätten. Zu ihren Lebzeiten war Mazu Niangniang eine weise Frau, von der man sagte, sie könne schlechtes Wetter vorhersagen und sogar Schiffe aus einem Taifun retten. Als Mazu Niangniang mit achtundzwanzig an einer Krankheit starb, hinterließ sie eine Reihe von Tempeln, die zu ihrem Andenken gestiftet wurden. Aus ihnen wehten Weihrauchwolken über den Taifun umtosten Felsvorsprung der Stadt der Steine. Und jetzt bin ich selbst achtundzwanzig geworden. Ich lebe noch, und es geht mir gut, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob man es wirklich gut nennen kann, denn ich habe oft Angst. Wovor ich Angst habe, weiß ich selbst nicht so genau. Mazu Niangniang hat sicher nie Angst gehabt. Vielleicht konnte sie gerade deshalb anderen so viel Liebe und Mitleid entgegenbringen. Ich habe mich immer nur um mich selbst gekümmert.
Ich arbeite in einer Videothek im Haidian-Viertel im Norden Beijings, in einer Nebenstraße der Universitätsstraße. Es ist ein winziger Laden, der zwischen anderen Häusern eingezwängt ist und an einer Allee aus riesigen Pappeln liegt. Jedes Frühjahr werfen diese Pappeln Millionen flaumiger weißer Samenhülsen ab, die wie schmutzige Bällchen aus Rohbaumwolle durch die Luft schweben. Links von der Videothek befindet sich ein Drogeriemarkt, der sich auf die Art Medikamente, Spielzeuge und Stimulierungsmittel spezialisiert hat, die man euphemistisch als "Erwachsenenartikel" bezeichnet. Im Laden zur Rechten wird knallbunte Kinderkleidung eines kleineren Herstellers verkauft. Unsere drei Läden existieren sehr friedlich nebeneinander, da keiner von uns jemals dem anderen die Kundschaft streitig machen kann. So klein und unauffällig unsere Läden auch sein mögen, gerade mal winzige Pünktchen auf einem Plan, so braucht uns diese Stadt genauso, wie wir diese Stadt brauchen.
Ich arbeite halbtags in der Videothek. Der Laden ist nur zwölf Quadratmeter groß, und die Wände sind mit Postern von Filmstars wie Jackie Chan, Tom Cruise und Julia Roberts und mit Werbeplakaten für Filme aus Amerika und Hongkong voll gepflastert. Meine Aufgabe ist es, Videos zu verleihen, deshalb stehe ich jeden Tag hinter der winzigen Theke und helfe den Kunden, die gewünschten Kassetten zu finden, tippe Preise in die Kasse und schaue in die neuesten Filme rein. Die Arbeit ist zwar recht eintönig, aber immerhin kann ich dabei Filme sehen, und ich verdiene genug, um unsere Miete zu zahlen. Red hat gerade wieder einen Job geschmissen, vielleicht besser so, denn er hasst jede Arbeit. Er sagt, arbeiten sei idiotisch. Zum Glück hat er Eltern, die ihm finanziell unter die Arme greifen. Doch insgesamt ist Red ein anständiger Kerl, auch wenn ich nicht weiß, wie lang wir noch zusammen sein werden.
Red und ich leben wie ein Paar Einsiedlerkrebse in einem riesigen Hochhausblock. Er hat fünfundzwanzig Stockwerke, doch wir wohnen im Erdgeschoss. Manchmal, wenn wir unter die Decke gekuschelt im Bett liegen, haben wir das Gefühl, als würden unsere Körper immer schwerer, bleiern und unbeweglich. Vielleicht hat das mit den vierundzwanzig Stockwerken über uns zu tun, mit der geballten Schwerkraft Tausender Mitbewohner, die auf uns drückt. Genau genommen passt der Vergleich mit den Einsiedlerkrebsen auch gar nicht, eher müsste man sagen, dass wir sie beneiden, weil sie in einer Behausung leben, die sie einfach mit sich herumtragen können. Einsiedlerkrebse können jederzeit aus ihrer Muschel oder ihrem Schneckenhaus herauskriechen und in eine neue, bessere Muschel umziehen, was Red und mir nicht möglich ist.
Deshalb leben wir wie zwei Einsiedler in dieser Erdgeschosswohnung, klammern uns aneinander wie zwei Ertrinkende, lesen still unsere Bücher und verschlafen die Tage wie zwei ältere Menschen, die wissen, dass sie für diese Welt nicht mehr viel Zeit übrig haben. Wir haben nie versucht, uns eine Katze oder sogar einen Hund zu halten, aber wir hatten einmal ein paar Topfpflanzen, von denen wir hofften, dass sie irgendwann blühen würden. Wir haben es leider nie erlebt, weil das gegenüberliegende, ebenfalls fünfundzwanzig Stockwerke hohe Gebäude fast kein Sonnenlicht in unsere Wohnung ließ. Anders gesagt, um auch nur ein wenig Sonnenlicht zu ergattern, hätten sich diese kümmerlichen kleinen Topfpflanzen so lang wie möglich strecken und alles Licht auftanken müssen, das morgens in der kurzen Zeit von genau acht Uhr bis acht Uhr fünfundvierzig durchs Fenster fiel. Hatten sie diese wertvollen fünfundvierzig Minuten fahlen Sonnenlichts verpasst, mussten sie abwarten und versuchen, es bei der nächsten Gelegenheit zu schaffen, wenn die Sonne zwischen sechzehn Uhr und sechzehn Uhr fünfundvierzig noch einmal ins Zimmer schien. Außerdem konnten sie nur hoffen, dass ihre Besitzer daran gedacht hatten, die Kleider wegzunehmen, die sie zum Trocknen aufgehängt hatten, ebenso all die durcheinander liegenden Gegenstände, die ihnen das Licht nahmen. Wenn wir das vergaßen, raubten wir den Pflanzen grausam die ihnen zustehende Tagesration Sonnenlicht. Schließlich starben sie nach nur sechs Monaten bei uns einen frühen und vielleicht schicksalhaften Tod.
Eine Zeit lang besaßen wir auch zwei glupschäugige Goldfische, die wir nach den beiden Figuren der japanischen Fernsehserie "Tokio Love Story" Kanji Nagao und Rika Akana tauften. In der Hoffnung, dass sie sich ganz im Geist dieser unsterblichen Fernsehromanze entwickeln würden, stellten wir Kanji und Rika in einem großen grünen Glasbecken ans Fenster. Als wir nach einiger Zeit erkannten, dass sich die Goldfischzucht für uns mehr oder weniger darauf beschränkte, jede Woche auf dem Markt Ersatz-Kanjis und -Rikas zu kaufen, brachten wir es nicht mehr übers Herz, weitere Kreaturen zu dem grünen Aquarium zu verdammen. Es steht noch immer am selben Platz auf der Fensterbank, hat allerdings mittlerweile einen viel trockeneren Grünton angenommen. Die Romanze zwischen Kanji und Rika ist nur noch eine belanglose Erinnerung - Red und ich sind als einzige Lebewesen in dieser düsteren Erdgeschosswohnung übrig geblieben, wenn man mal von den Kakerlaken absieht, die gelegentlich über den Boden krabbeln.
Natürlich gibt es in unserem Hochhaus noch die anderen Mieter, und die scheinen tagaus, tagein beschäftigt zu sein. Sie kochen und kacken, vögeln und feiern, drücken ständig auf die Toilettenspülung, duschen, bohren, streiten, schlagen ihre Kinder, um sie im nächsten Moment wieder zu hätscheln, machen Aerobic-Übungen und spielen Mah-Jong - von morgens bis abends, an Wochentagen, Wochenenden und in den Ferien. Als würde die überschäumende Energie ihres Alltagslebens und die geballte Kraft ihres trivialen Daseins sich Schicht für Schicht über uns auftürmen und in alle fünfundzwanzig Stockwerke unseres Gebäudes ausdehnen. Diese Schichten drücken auf unsere triste Erdgeschossexistenz und ähneln darin meinen Kindheitserinnerungen, die sich langsam über mein sonst so ruhiges Leben zu legen beginnen. Manchmal versuche ich, mit Red über die Stadt der Steine zu reden, und dann merke ich, dass er eigentlich nur sehr wenig über mich weiß. Meine Gefühle oder meine Vergangenheit haben in unserer Beziehung nie eine besondere Rolle für ihn gespielt. Red und ich haben unterschiedliche Lebenslinien, das Blut fließt anders in unseren Adern. In der Nacht mögen unsere Körper sich vereinigen, doch unsere Erinnerungen verschmelzen nie, weder bei Tag noch bei Nacht.
Zwischen unseren Lebensgeschichten gibt es keinerlei Übereinstimmung.
Reds Welt ist ein geschlossener Kreis. Was eigentlich keine Rolle spielt. Schließlich bin ich selbst ein geschlossener Kreis, und mir bleibt nichts anderes, als in diesem Kreis irgendeinen Punkt zu finden, von dem ich losgehen, und einen, an dem ich ankommen kann. Im Kreis eines anderen Menschen werde ich weder meinen Anfang noch mein Ende jemals finden. Zwei Menschen ergeben zusammen eben nie etwas anderes als die Summe aus einem Menschen plus einem Menschen. Weil wir nicht anders können, als uns auf diese Weise zusammenzuaddieren, werden die Menschen immer einsam sein.
Die Liebe ist unsicher, unsere Jobs sind unsicher, unsere Zukunft in dieser Wohnung ist unsicher. Und meine Zukunft mit Red ist bestenfalls noch unsicherer.
Meine einzige Sicherheit ist, dass ich sehr weit von der vom Regen gepeitschten und von Taifunen umtobten Stadt am Meer weggereist bin. Ich habe eine große Entfernung zwischen mich und die kleine Fischerstadt geschoben, in der die Dächer mit Steinen bedeckt und die Straßen mit Steinen gepflastert sind. Ich habe es geschafft, meiner Kindheit zu entkommen, dem Chaos und Gefühlsaufruhr jener Jahre.
Doch die Stadt der Steine - jener winzige Fleck am Meer, der auf der Karte Chinas nicht mehr als einen dunkelblauen Punkt ausmacht und durch keine Schiffs- oder Fluglinie mit dem Rest der Welt verbunden scheint - hat noch immer eine seltsame Gewalt über mich. Ich fühle mich dieser Stadt verbunden, sie ist wie ein Traum, der pünktlich um Mitternacht wiederkehrt, oder wie hartnäckiges, schlimmes Heimweh. In den ungewöhnlichsten Situationen, wenn ich überhaupt nicht damit rechne, muss ich an sie denken: wenn ich durch Beijing laufe und die Busse höre, die in langsamem Tempo menschenleere Haltestellen anfahren, oder abends, wenn ich nach der Arbeit in der Küche den Gasherd anstelle und das Essen koche, oder morgens, kurz nachdem ich aufgestanden bin und mir Zahnpasta aus der Tube drücke. Die Erinnerungen kommen so ungefragt wie die Gezeiten in der Stadt meiner Kindheit, wie Wasser aus dem Nichts, das uns plötzlich bis zu den Knien umspült.
3
Ich war sieben, als es passierte.
Weiter zurück kann ich mich nicht erinnern. Alles, was vorher war, ist in meiner Erinnerung verwischt und undeutlich, wie Bilder, die ich durch eine regenverschleierte Fensterscheibe sehe. Doch in dem Jahr, als ich sieben war, ist so viel passiert, fürchterliche, unaussprechliche Dinge, dass ich dieses Jahr und alles, was danach kam, wohl niemals vergessen werde.
Ich war sieben, nicht mehr richtig klein und gerade alt genug, um ganz normale menschliche Regungen wie Freundlichkeit und Güte zu verstehen. Ich wusste bereits, dass die Menschen sehr warmherzig und sehr kalt sein konnten, denn ich hatte schon viel mehr gesehen als die meisten Kinder meines Alters. Für ein siebenjähriges Kind war ich sicher sehr verschlossen. Meine Eltern hatte ich nie gekannt, eine Mutter habe ich nie besessen und eigentlich auch keinen Vater. Meine Großmutter hatte mir erzählt, dass meine Mutter mich in einem Ruderboot zur Welt brachte. Es war eine schwere Geburt, und bis das kleine Boot wieder den Strand erreicht hatte, war meine Mutter am Blutverlust gestorben. Warum sie aufs Meer hinausgefahren und ob jemand bei ihr gewesen war, hat meine Großmutter mir nie erzählt. Ich selbst kann mich an diese Ereignisse natürlich nicht erinnern, und mein Vater war nicht da, um sie zu bezeugen. Er hatte die kleine Stadt schon vor meiner Geburt verlassen, um einem Dasein als Fischer zu entkommen. In seiner Abwesenheit brandmarkten die Stadtbewohner ihn wegen seiner bourgeoisen Ansichten als "kapitalistischen Herumtreiber". Das war während der Kulturrevolution. Wäre er in die Stadt zurückgekommen, hätte man ihn ins Gefängnis geworfen.
Nach meiner Geburt taufte mein Großvater mich Coral, ein Name, der mit dem Meer zu tun hatte. Die chinesischen Schriftzeichen in meinem Namen bedeuten "rote Koralle". Weiße und grüne Korallen habe ich schon oft gesehen, doch noch nie eine rote. Vielleicht steht das Rot für das Blut meiner Mutter, das Blut auf den Planken des Ruderboots. Mein Großvater gab mir auch einen Spitznamen: "Kleiner Hund". "Hund" ist ein guter Spitzname, ein Name, der Glück bringt. Mein Großvater sagte mir, dass es in unserer Stadt mindestens zehn Kinder gäbe, die "Hund" genannt wurden, denn je schlimmer ein Spitzname, so lautete die allgemeine Überzeugung, umso unwahrscheinlicher, dass sich der Meeresdämon das Kind holen kam. Und es stimmte - die schlimmsten Spitznamen brachten das meiste Glück. Jedes Jahr, wenn der Meeresdämon zur Zeit der Taifune aus dem Ozean aufstieg, um sich ein paar spielende Kinder vom Strand zu schnappen, waren es immer die Kinder mit den hübschen Namen, die verschwanden. Und mal ehrlich, niemand bei Verstand hätte sich ein Kind mit dem Spitznamen "Hund" oder, noch schlimmer, "Lepra" geholt.Die Stadt der Steine war meine ganze Welt, meine fensterlose Festung, der Ort, an dem man mir schon bald nach meiner Geburt ein Grab schaufelte. Die Bewohner begruben ihre Toten am entlegensten Ende des schroffen Felsens, der sich hinter dem Städtchen erhob und es von der übrigen Welt abschnitt. Sobald ein Mensch geboren wurde, gingen seine Verwandten zu einem Feng-Shui-Spezialisten, um für ihn ein Grab in günstiger Lage und passender Himmelsrichtung auszuwählen. Hatte man sich für einen Platz entschieden, stellte die Familie einen Grabstein auf, auf dem der Name des Neugeborenen zu lesen war, damit niemand anderes mehr diese Stätte für sich in Anspruch nehmen konnte. Wie kann ein Mensch einen Ort verlassen, an dem man ihm schon im Moment seiner Geburt ein Grab zugewiesen hat? Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, der Stadt der Steine jemals zu entfliehen. Nein, das wäre unmöglich. Im Alter von sieben Jahren kannte ich Worte wie "fliehen" oder "flüchten" natürlich noch nicht und hatte auch keinerlei Vorstellung von der Bedeutung, die sich dahinter verbarg.
Und sofort werde ich von Erinnerungen überflutet - der Salzgeruch des Ostchinesischen Meeres und der Geruch eines Taifuns über der Stadt der Steine, das alles scheint dem Körper des Aals zu entströmen. Synapsen verbinden sich, Schleusen gehen weit auf, und der reißende Strom der Erinnerung kann ungehindert fließen. Er strömt durch die Tunnel der Vergangenheit, droht die Erde zu überschwemmen und den Himmel zu verdunkeln.
Ich habe die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens in der Stadt der Steine verbracht, doch ich habe sie weit hinter mir gelassen. Jetzt lebe ich tausendachthundert Kilometer von ihr entfernt mit einem Mann zusammen, der nichts über meine Vergangenheit weiß, in einer Stadt, die sich auf jede nur denkbare Weise von meinem Geburtsort unterscheidet. Schon seit Jahren habe ich jeden Briefkontakt zur Stadt der Steine abgebrochen, doch jetzt muss ich plötzlich an sie denken - an die Dinge, die dort passierten, und an die Menschen, die dort lebten. All diese Menschen, deren Leben meines berührten und deren Leben ich berührte.
Wäre mir nicht von einem fernen Ort dieses Paket mit einem getrockneten und gesalzenen Aal geschickt worden, hätte ich nie wieder an all das gedacht, was in der Stadt der Steine geschehen ist.
Doch so begann die Erinnerung.
2
Ich will das Tor zur Vergangenheit noch einen Moment lang schließen und ein wenig über die Gegenwart erzählen. Red und ich leben in der gewaltigen, sonnenversengten Megalopole Beijing. Ich bin achtundzwanzig, und Red ist neunundzwanzig, doch in wenigen Tagen wird er dreißig. Laut Konfuzius soll ein Mensch mit dreißig Jahren sesshaft werden, aber Red und ich hatten noch nie das Gefühl, irgendwohin zu gehören, was in einer Stadt wie dieser auch schwer fällt. Ich denke, wir sind in dem Alter, in dem man sich des Verlusts seiner Jugend bewusst wird, auch wenn sich für mich nichts Wesentliches verändert hat. Mit achtundzwanzig hat man die Dummheit der Jugend gerade hinter sich gelassen, ist aber immer noch weit von den Achtzigern entfernt. Das Einzige, was ich an dieser Zahl irgendwie von Bedeutung finde, ist, dass die Meeresgöttin Mazu Niangniang achtundzwanzig war, als sie starb. Natürlich haben die Menschen in der Stadt der Steine niemals das Wort "gestorben" benutzt. Sie sei "direkt in den Himmel aufgestiegen" und unsterblich geworden, hieß es. In der ganzen Stadt gab es keinen Fischer und keine Frau, die das Andenken der Meeresgöttin nicht in Ehren gehalten hätten. Zu ihren Lebzeiten war Mazu Niangniang eine weise Frau, von der man sagte, sie könne schlechtes Wetter vorhersagen und sogar Schiffe aus einem Taifun retten. Als Mazu Niangniang mit achtundzwanzig an einer Krankheit starb, hinterließ sie eine Reihe von Tempeln, die zu ihrem Andenken gestiftet wurden. Aus ihnen wehten Weihrauchwolken über den Taifun umtosten Felsvorsprung der Stadt der Steine. Und jetzt bin ich selbst achtundzwanzig geworden. Ich lebe noch, und es geht mir gut, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob man es wirklich gut nennen kann, denn ich habe oft Angst. Wovor ich Angst habe, weiß ich selbst nicht so genau. Mazu Niangniang hat sicher nie Angst gehabt. Vielleicht konnte sie gerade deshalb anderen so viel Liebe und Mitleid entgegenbringen. Ich habe mich immer nur um mich selbst gekümmert.
Ich arbeite in einer Videothek im Haidian-Viertel im Norden Beijings, in einer Nebenstraße der Universitätsstraße. Es ist ein winziger Laden, der zwischen anderen Häusern eingezwängt ist und an einer Allee aus riesigen Pappeln liegt. Jedes Frühjahr werfen diese Pappeln Millionen flaumiger weißer Samenhülsen ab, die wie schmutzige Bällchen aus Rohbaumwolle durch die Luft schweben. Links von der Videothek befindet sich ein Drogeriemarkt, der sich auf die Art Medikamente, Spielzeuge und Stimulierungsmittel spezialisiert hat, die man euphemistisch als "Erwachsenenartikel" bezeichnet. Im Laden zur Rechten wird knallbunte Kinderkleidung eines kleineren Herstellers verkauft. Unsere drei Läden existieren sehr friedlich nebeneinander, da keiner von uns jemals dem anderen die Kundschaft streitig machen kann. So klein und unauffällig unsere Läden auch sein mögen, gerade mal winzige Pünktchen auf einem Plan, so braucht uns diese Stadt genauso, wie wir diese Stadt brauchen.
Ich arbeite halbtags in der Videothek. Der Laden ist nur zwölf Quadratmeter groß, und die Wände sind mit Postern von Filmstars wie Jackie Chan, Tom Cruise und Julia Roberts und mit Werbeplakaten für Filme aus Amerika und Hongkong voll gepflastert. Meine Aufgabe ist es, Videos zu verleihen, deshalb stehe ich jeden Tag hinter der winzigen Theke und helfe den Kunden, die gewünschten Kassetten zu finden, tippe Preise in die Kasse und schaue in die neuesten Filme rein. Die Arbeit ist zwar recht eintönig, aber immerhin kann ich dabei Filme sehen, und ich verdiene genug, um unsere Miete zu zahlen. Red hat gerade wieder einen Job geschmissen, vielleicht besser so, denn er hasst jede Arbeit. Er sagt, arbeiten sei idiotisch. Zum Glück hat er Eltern, die ihm finanziell unter die Arme greifen. Doch insgesamt ist Red ein anständiger Kerl, auch wenn ich nicht weiß, wie lang wir noch zusammen sein werden.
Red und ich leben wie ein Paar Einsiedlerkrebse in einem riesigen Hochhausblock. Er hat fünfundzwanzig Stockwerke, doch wir wohnen im Erdgeschoss. Manchmal, wenn wir unter die Decke gekuschelt im Bett liegen, haben wir das Gefühl, als würden unsere Körper immer schwerer, bleiern und unbeweglich. Vielleicht hat das mit den vierundzwanzig Stockwerken über uns zu tun, mit der geballten Schwerkraft Tausender Mitbewohner, die auf uns drückt. Genau genommen passt der Vergleich mit den Einsiedlerkrebsen auch gar nicht, eher müsste man sagen, dass wir sie beneiden, weil sie in einer Behausung leben, die sie einfach mit sich herumtragen können. Einsiedlerkrebse können jederzeit aus ihrer Muschel oder ihrem Schneckenhaus herauskriechen und in eine neue, bessere Muschel umziehen, was Red und mir nicht möglich ist.
Deshalb leben wir wie zwei Einsiedler in dieser Erdgeschosswohnung, klammern uns aneinander wie zwei Ertrinkende, lesen still unsere Bücher und verschlafen die Tage wie zwei ältere Menschen, die wissen, dass sie für diese Welt nicht mehr viel Zeit übrig haben. Wir haben nie versucht, uns eine Katze oder sogar einen Hund zu halten, aber wir hatten einmal ein paar Topfpflanzen, von denen wir hofften, dass sie irgendwann blühen würden. Wir haben es leider nie erlebt, weil das gegenüberliegende, ebenfalls fünfundzwanzig Stockwerke hohe Gebäude fast kein Sonnenlicht in unsere Wohnung ließ. Anders gesagt, um auch nur ein wenig Sonnenlicht zu ergattern, hätten sich diese kümmerlichen kleinen Topfpflanzen so lang wie möglich strecken und alles Licht auftanken müssen, das morgens in der kurzen Zeit von genau acht Uhr bis acht Uhr fünfundvierzig durchs Fenster fiel. Hatten sie diese wertvollen fünfundvierzig Minuten fahlen Sonnenlichts verpasst, mussten sie abwarten und versuchen, es bei der nächsten Gelegenheit zu schaffen, wenn die Sonne zwischen sechzehn Uhr und sechzehn Uhr fünfundvierzig noch einmal ins Zimmer schien. Außerdem konnten sie nur hoffen, dass ihre Besitzer daran gedacht hatten, die Kleider wegzunehmen, die sie zum Trocknen aufgehängt hatten, ebenso all die durcheinander liegenden Gegenstände, die ihnen das Licht nahmen. Wenn wir das vergaßen, raubten wir den Pflanzen grausam die ihnen zustehende Tagesration Sonnenlicht. Schließlich starben sie nach nur sechs Monaten bei uns einen frühen und vielleicht schicksalhaften Tod.
Eine Zeit lang besaßen wir auch zwei glupschäugige Goldfische, die wir nach den beiden Figuren der japanischen Fernsehserie "Tokio Love Story" Kanji Nagao und Rika Akana tauften. In der Hoffnung, dass sie sich ganz im Geist dieser unsterblichen Fernsehromanze entwickeln würden, stellten wir Kanji und Rika in einem großen grünen Glasbecken ans Fenster. Als wir nach einiger Zeit erkannten, dass sich die Goldfischzucht für uns mehr oder weniger darauf beschränkte, jede Woche auf dem Markt Ersatz-Kanjis und -Rikas zu kaufen, brachten wir es nicht mehr übers Herz, weitere Kreaturen zu dem grünen Aquarium zu verdammen. Es steht noch immer am selben Platz auf der Fensterbank, hat allerdings mittlerweile einen viel trockeneren Grünton angenommen. Die Romanze zwischen Kanji und Rika ist nur noch eine belanglose Erinnerung - Red und ich sind als einzige Lebewesen in dieser düsteren Erdgeschosswohnung übrig geblieben, wenn man mal von den Kakerlaken absieht, die gelegentlich über den Boden krabbeln.
Natürlich gibt es in unserem Hochhaus noch die anderen Mieter, und die scheinen tagaus, tagein beschäftigt zu sein. Sie kochen und kacken, vögeln und feiern, drücken ständig auf die Toilettenspülung, duschen, bohren, streiten, schlagen ihre Kinder, um sie im nächsten Moment wieder zu hätscheln, machen Aerobic-Übungen und spielen Mah-Jong - von morgens bis abends, an Wochentagen, Wochenenden und in den Ferien. Als würde die überschäumende Energie ihres Alltagslebens und die geballte Kraft ihres trivialen Daseins sich Schicht für Schicht über uns auftürmen und in alle fünfundzwanzig Stockwerke unseres Gebäudes ausdehnen. Diese Schichten drücken auf unsere triste Erdgeschossexistenz und ähneln darin meinen Kindheitserinnerungen, die sich langsam über mein sonst so ruhiges Leben zu legen beginnen. Manchmal versuche ich, mit Red über die Stadt der Steine zu reden, und dann merke ich, dass er eigentlich nur sehr wenig über mich weiß. Meine Gefühle oder meine Vergangenheit haben in unserer Beziehung nie eine besondere Rolle für ihn gespielt. Red und ich haben unterschiedliche Lebenslinien, das Blut fließt anders in unseren Adern. In der Nacht mögen unsere Körper sich vereinigen, doch unsere Erinnerungen verschmelzen nie, weder bei Tag noch bei Nacht.
Zwischen unseren Lebensgeschichten gibt es keinerlei Übereinstimmung.
Reds Welt ist ein geschlossener Kreis. Was eigentlich keine Rolle spielt. Schließlich bin ich selbst ein geschlossener Kreis, und mir bleibt nichts anderes, als in diesem Kreis irgendeinen Punkt zu finden, von dem ich losgehen, und einen, an dem ich ankommen kann. Im Kreis eines anderen Menschen werde ich weder meinen Anfang noch mein Ende jemals finden. Zwei Menschen ergeben zusammen eben nie etwas anderes als die Summe aus einem Menschen plus einem Menschen. Weil wir nicht anders können, als uns auf diese Weise zusammenzuaddieren, werden die Menschen immer einsam sein.
Die Liebe ist unsicher, unsere Jobs sind unsicher, unsere Zukunft in dieser Wohnung ist unsicher. Und meine Zukunft mit Red ist bestenfalls noch unsicherer.
Meine einzige Sicherheit ist, dass ich sehr weit von der vom Regen gepeitschten und von Taifunen umtobten Stadt am Meer weggereist bin. Ich habe eine große Entfernung zwischen mich und die kleine Fischerstadt geschoben, in der die Dächer mit Steinen bedeckt und die Straßen mit Steinen gepflastert sind. Ich habe es geschafft, meiner Kindheit zu entkommen, dem Chaos und Gefühlsaufruhr jener Jahre.
Doch die Stadt der Steine - jener winzige Fleck am Meer, der auf der Karte Chinas nicht mehr als einen dunkelblauen Punkt ausmacht und durch keine Schiffs- oder Fluglinie mit dem Rest der Welt verbunden scheint - hat noch immer eine seltsame Gewalt über mich. Ich fühle mich dieser Stadt verbunden, sie ist wie ein Traum, der pünktlich um Mitternacht wiederkehrt, oder wie hartnäckiges, schlimmes Heimweh. In den ungewöhnlichsten Situationen, wenn ich überhaupt nicht damit rechne, muss ich an sie denken: wenn ich durch Beijing laufe und die Busse höre, die in langsamem Tempo menschenleere Haltestellen anfahren, oder abends, wenn ich nach der Arbeit in der Küche den Gasherd anstelle und das Essen koche, oder morgens, kurz nachdem ich aufgestanden bin und mir Zahnpasta aus der Tube drücke. Die Erinnerungen kommen so ungefragt wie die Gezeiten in der Stadt meiner Kindheit, wie Wasser aus dem Nichts, das uns plötzlich bis zu den Knien umspült.
3
Ich war sieben, als es passierte.
Weiter zurück kann ich mich nicht erinnern. Alles, was vorher war, ist in meiner Erinnerung verwischt und undeutlich, wie Bilder, die ich durch eine regenverschleierte Fensterscheibe sehe. Doch in dem Jahr, als ich sieben war, ist so viel passiert, fürchterliche, unaussprechliche Dinge, dass ich dieses Jahr und alles, was danach kam, wohl niemals vergessen werde.
Ich war sieben, nicht mehr richtig klein und gerade alt genug, um ganz normale menschliche Regungen wie Freundlichkeit und Güte zu verstehen. Ich wusste bereits, dass die Menschen sehr warmherzig und sehr kalt sein konnten, denn ich hatte schon viel mehr gesehen als die meisten Kinder meines Alters. Für ein siebenjähriges Kind war ich sicher sehr verschlossen. Meine Eltern hatte ich nie gekannt, eine Mutter habe ich nie besessen und eigentlich auch keinen Vater. Meine Großmutter hatte mir erzählt, dass meine Mutter mich in einem Ruderboot zur Welt brachte. Es war eine schwere Geburt, und bis das kleine Boot wieder den Strand erreicht hatte, war meine Mutter am Blutverlust gestorben. Warum sie aufs Meer hinausgefahren und ob jemand bei ihr gewesen war, hat meine Großmutter mir nie erzählt. Ich selbst kann mich an diese Ereignisse natürlich nicht erinnern, und mein Vater war nicht da, um sie zu bezeugen. Er hatte die kleine Stadt schon vor meiner Geburt verlassen, um einem Dasein als Fischer zu entkommen. In seiner Abwesenheit brandmarkten die Stadtbewohner ihn wegen seiner bourgeoisen Ansichten als "kapitalistischen Herumtreiber". Das war während der Kulturrevolution. Wäre er in die Stadt zurückgekommen, hätte man ihn ins Gefängnis geworfen.
Nach meiner Geburt taufte mein Großvater mich Coral, ein Name, der mit dem Meer zu tun hatte. Die chinesischen Schriftzeichen in meinem Namen bedeuten "rote Koralle". Weiße und grüne Korallen habe ich schon oft gesehen, doch noch nie eine rote. Vielleicht steht das Rot für das Blut meiner Mutter, das Blut auf den Planken des Ruderboots. Mein Großvater gab mir auch einen Spitznamen: "Kleiner Hund". "Hund" ist ein guter Spitzname, ein Name, der Glück bringt. Mein Großvater sagte mir, dass es in unserer Stadt mindestens zehn Kinder gäbe, die "Hund" genannt wurden, denn je schlimmer ein Spitzname, so lautete die allgemeine Überzeugung, umso unwahrscheinlicher, dass sich der Meeresdämon das Kind holen kam. Und es stimmte - die schlimmsten Spitznamen brachten das meiste Glück. Jedes Jahr, wenn der Meeresdämon zur Zeit der Taifune aus dem Ozean aufstieg, um sich ein paar spielende Kinder vom Strand zu schnappen, waren es immer die Kinder mit den hübschen Namen, die verschwanden. Und mal ehrlich, niemand bei Verstand hätte sich ein Kind mit dem Spitznamen "Hund" oder, noch schlimmer, "Lepra" geholt.Die Stadt der Steine war meine ganze Welt, meine fensterlose Festung, der Ort, an dem man mir schon bald nach meiner Geburt ein Grab schaufelte. Die Bewohner begruben ihre Toten am entlegensten Ende des schroffen Felsens, der sich hinter dem Städtchen erhob und es von der übrigen Welt abschnitt. Sobald ein Mensch geboren wurde, gingen seine Verwandten zu einem Feng-Shui-Spezialisten, um für ihn ein Grab in günstiger Lage und passender Himmelsrichtung auszuwählen. Hatte man sich für einen Platz entschieden, stellte die Familie einen Grabstein auf, auf dem der Name des Neugeborenen zu lesen war, damit niemand anderes mehr diese Stätte für sich in Anspruch nehmen konnte. Wie kann ein Mensch einen Ort verlassen, an dem man ihm schon im Moment seiner Geburt ein Grab zugewiesen hat? Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, der Stadt der Steine jemals zu entfliehen. Nein, das wäre unmöglich. Im Alter von sieben Jahren kannte ich Worte wie "fliehen" oder "flüchten" natürlich noch nicht und hatte auch keinerlei Vorstellung von der Bedeutung, die sich dahinter verbarg.
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Autoren-Porträt von Xiaolu Guo
Xiaolu Guo, geboren 1973 in einem Dorf am chinesischen Meer, ist in ihrer Heimat eine bekannte Filmemacherin und eine erfolgreiche Autorin. Seit 2002 hat sie auch einen Wohnsitz in London. "Stadt der Steine" ist der erste Roman, der im Westen erschien. Er wurde im April 2005 von der englischen Zeitung "The Independent" für den Foreign Fiction Prize nominiert.Anne Rademacher, geb. 1961 in Lippstadt, lebt als freie Lektorin und Übersetzerin in Bad Waldsee.
Bibliographische Angaben
- Autor: Xiaolu Guo
- 2005, 253 Seiten, Maße: 13,3 x 20,5 cm, Kunststoff, Deutsch
- Übersetzung: Rademacher, Anne
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813502538
- ISBN-13: 9783813502534
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