Staub
Nach fünf Jahren übernimmt Kay Scarpetta wieder einen Fall in Richmond. Der rätselhafte Todesfall eines vierzehnjährigen Mädchens beschäftigt dort die Gerichtsmedizin: Es gibt scheinbar keine erkennbare Ursache für deren Tod. Kay entdeckt allerdings...
Nach fünf Jahren übernimmt Kay Scarpetta wieder einen Fall in Richmond. Der rätselhafte Todesfall eines vierzehnjährigen Mädchens beschäftigt dort die Gerichtsmedizin: Es gibt scheinbar keine erkennbare Ursache für deren Tod. Kay entdeckt allerdings höchst Seltsames: feine Spuren von Knochenstaub auf dem Körper der Toten. Als sie dieses Phänomen noch bei einer anderen Leiche vorfindet, hat Kay einen erschütternden Verdacht.
Auch in englischer Sprache erhältlich:
Trace
Staub von Patricia Cornwell
LESEPROBE
Die gelben Bulldozer und Bagger legeneinen alten Gebäudekomplex, der mehr Tote gesehen hat als die meisten Schlachtfelderder Moderne, in Schutt und Asche. Kay Scarpetta bremst ihren gemietetenGeländewagen ab, bis er fast steht. Erschüttert betrachtet sie das Werk derZerstörung und sieht zu, wie die senffarbenen Baumaschinen ihre Vergangenheitzu Staub verfallen lassen.
Jemand hätte es mir sagen sollen, sagtsie.
Eigentlich wollte sie an diesem grauenDezembermorgen nur ganz unschuldig in Erinnerungen schwelgen und an ihrer altenArbeitsstätte vorbeifahren. Sie ahnt nicht, dass das Haus gerade abgerissenwird. Das hätte ihr wirklich jemand erzählen können. Einfach nur derHöflichkeit halber hätte man es erwähnen müssen: »Ach, übrigens, das Gebäude,in dem du gearbeitet hast, als du noch jung und voller Hoffnungen und Träumewarst und an die Liebe geglaubt hast, das alte Gebäude, das du immer noch vermisstund für das du so viel empfindest, wird gerade abgerissen.«
Ein Bulldozer stürmt mit angriffslustiggereckter Schaufel voran. Seine lautstarke, maschinengetriebene Zerstörungswut scheinteine Warnung, ein Alarmsignal zu sein. Ich hätte besser hinhören sollen, denktsie, während sie den rissigen, zerborstenen Beton betrachtet. Der Fassadeihrer alten Wirkungsstätte fehlt schon das halbe Gesicht. Sie wäre gut beratengewesen, auf ihre Gefühle zu hören, als man sie gebeten hat, nach Richmond zurückzukehren.
»Ich habe einen Fall, bei dem Sie mirvielleicht helfen können«, meinte Dr. Joel Marcus, der derzeitige Chefpathologedes Staates Virginia, der Mann also, der Scarpettas Platz eingenommen hat. Erstgestern Nachmittag hat er sie angerufen.
»Natürlich, Dr. Marcus«, sprach sieins Telefon, während sie in der Küche ihres Hauses in Südflorida auf und ab ging.»Was kann ich für Sie tun?«
»Eine Vierzehnjährige wurde tot inihrem Bett aufgefunden. Das war vor zwei Wochen um die Mittagszeit. Sie warkrank, hatte die Grippe.«
Scarpetta hätte ihn fragen sollen,warum er sie angerufen hat.
Warum ausgerechnet sie? Aber sie hatihre Gefühle ignoriert.
»Also war sie nicht in der Schule?«,erkundigte sie sich. »Genau.«
»War sie allein?« Den Hörer untersKinn geklemmt, rührte sie in einer Mischung aus Bourbon, Honig und Olivenölherum. »Ja.«
»Wer hat sie gefunden, und was ist dieTodesursache?« Sie goss die Marinade in einen Gefrierbeutel aus Plastik, in demsich ein mageres Sirloin-Steak befand.
»Ihre Mutter. Die Todesursache stehtnoch nicht fest«, erwiderte er. »Nichts Verdächtiges, nur dass sie, wenn mandanach geht, was wir gefunden oder besser nicht gefunden haben, eigentlichnoch leben müsste.«
Scarpetta legte den Plastikbeutel mitdem Fleisch und der Marinade in den Kühlschrank, zog die Kartoffelschubladeauf und schloss sie wieder, weil sie es sich anders überlegt und beschlossenhatte, keine Kartoffeln zu kochen, sondern lieber Vollkornbrot zu backen. Siekonnte nicht still stehen, geschweige denn sitzen, war nervös und tat alles,um sich das nicht anmerken zu lassen. Warum rief er ausgerechnet sie an? Siehätte ihn danach fragen sollen.
»Wer wohnt noch in ihrem Haushalt?«,erkundigte sich Scarpetta.
»Ich würde die Einzelheiten lieberpersönlich mit Ihnen besprechen«, erwiderte Dr. Marcus. »Der Fall ist rechtheikel.«
Beinahe hätte Scarpetta erwidert, dasssie gerade im Begriff sei, zu einem zweiwöchigen Urlaub nach Aspen in Coloradoaufzubrechen, aber sie bekam die Worte nicht heraus, weil sie nicht mehrstimmten. Obwohl sie es schon seit Monaten geplant hatte, würde sie nicht nachAspen fahren. Die Reise war abgesagt. Sie brachte es nicht über sich zu lügen,verschanzte sich stattdessen hinter ihrem Beruf und flüchtete sich in dieAusrede, sie könne nicht nach Richmond kommen, weil sie gerade mitten in einemschwierigen Fall stecke, einem komplizierten Fall, Tod durch Erhängen, dieFamilie des Toten weigere sich, an Selbstmord zu glauben.
»Was ist bei Erhängen denn dasProblem?«, fragte Dr. Marcus. »Rassistischer Hintergrund?«
»Er ist auf einen Baum gestiegen, hatsich ein Seil um den Hals gelegt und die Hände mit Handschellen auf dem Rückengefesselt, für den Fall, dass er es sich doch noch anders überlegen könnte«,entgegnete sie und öffnete eine Schranktür in ihrer hellen, freundlichwirkenden Küche. »Als er vom Ast gestiegen und gefallen ist, ist sein zweiterHalswirbel gebrochen. Das Seil hat ihm die Kopfhaut zurückgeschoben, sodass esaussah, als runzle er die Stirn und litte Schmerzen. Und jetzt versuchen Siemal, das und die Handschellen seiner Familie in Mississippi zu erklären, und zwarim allertiefsten Mississippi, wo Army-Klamotten normal sind und schwule Männernicht.«
»Ich war noch nie in Mississippi«,antwortete Dr. Marcus gleichgültig, als wollte er damit ausdrücken, dass ihnweder der Erhängte noch sonst irgendeine Tragödie, die keine direkten Auswirkungenauf sein Leben hatte, interessierte.
»Ich würde Ihnen ja gern helfen«,meinte Scarpetta, während sie eine noch unangebrochene Flasche naturtrübesOlivenöl öffnete, obwohl das nicht unbedingt jetzt hätte sein müssen. »Aber esist vermutlich keine gute Idee, wenn ich mich in einen Ihrer Fälle einmische.«
Sie war wütend, gestand es sich abernicht ein, als sie in ihrer großen, gut ausgestatteten Küche mit den Gerätenaus Edelstahl, den Arbeitsflächen aus poliertem Granit und den großen, hellen Fenstern,die einen Blick auf den Intracoastal Waterway boten, umherging. Sie ärgertesich wegen Aspen, wollte es sich jedoch nicht eingestehen. Und obwohl siewütend war, wollte sie Dr. Marcus nicht durch einen Wink mit dem Zaunpfahldarauf hinweisen, dass er nun die Vorzüge ebendes Postens genoss, den man ihrweggenommen hatte. Das war auch der Grund, warum sie Virginia verlassen hatte,und sie hatte eigentlich nicht vor, je dorthin zurückzukehren. Aber sein langesSchweigen ließ ihr keine Wahl, als weiterzusprechen und ihm zu erklären, dasssie nicht in aller Freundschaft aus Richmond fortgegangen sei, was er dochsicher wisse.
»Kay, das ist doch schon lange her«,erwiderte er. Sie hatte sich für die professionelle und respektvolle Anrede Dr.Marcus entschieden, und nun nannte er sie einfach Kay. Es erschreckte sieselbst, dass sie das als beleidigend empfand. Aber dann sagte sie sich, dass ernur eine freundschaftliche und persönliche Atmosphäre schaffen wollte, währendsie überempfindlich und übertrieben reagierte. Sie fragte sich, ob sie nurneidisch auf ihn war und sich wünschte, dass er scheiterte, und schalt sich imnächsten Moment wegen ihrer eigenen Kleinlichkeit. Es war doch nurverständlich, dass er sie Kay und nicht Dr. Scarpetta nannte, hielt sie sichvor Augen, obwohl ihr Gefühl das Gegenteil sagte.
»Wir haben inzwischen eine andereGouverneurin«, fuhr er fort. »Vermutlich weiß sie gar nicht, wer Sie sind.«
Nun deutete er an, Scarpetta sei sounwichtig und unbedeutend, dass sie der Gouverneurin sicherlich kein Begriffwäre. Dr. Marcus hatte sie schon wieder beleidigt. Unsinn, rief sie sich sofortzur Ordnung.
»Bei unserer neuen Gouverneurin drehtsich alles um unser augenblickliches Haushaltsdefizit und um die vielenpotenziellen terroristischen Angriffsziele, die wir hier in Virginia bieten ...«
Scarpetta konnte sich selbst ihrenegative Haltung gegenüber ihrem Nachfolger nicht verzeihen. Schließlich bat ersie nur um Hilfe in einem schwierigen Fall. Warum hätte er sich nicht an sie wendensollen? Schließlich kam es nicht selten vor, dass Manager, die von einemGroßkonzern gefeuert wurden, später als Experten und Berater gefragt waren.Außerdem würde sie ja, wie sie sich vor Augen hielt, ohnehin nicht nach Aspenfahren.
»... Atomkraftwerke, unzähligeMilitärstützpunkte, die FBIAkademie, ein nicht unbedingt geheimesCIA-Ausbildungslager, die Bundesbank. Also werden Sie keine Probleme mit derGouverneurin kriegen, Kay. Dazu ist sie viel zu ehrgeizig. Außerdem steht siemit einem Bein eigentlich schon in Washington und kümmert sich nicht darum, wassich in meinem Büro tut«, fuhr Dr. Marcus in seinem weichen Südstaatenakzentfort und versuchte Scarpetta die Befürchtung auszureden, dass es Kontroversenauslösen oder Aufmerksamkeit erregen könnte, wenn sie, fünf Jahre nachdem sieaus der Stadt gejagt worden war, wieder hier einzog. Allerdings überzeugte ersie nicht wirklich, weil ihre Gedanken nun in Aspen und bei Benton waren.Benton war dort oben in Colorado, und sie steckte hier in Florida, allein.Deshalb hatte sie nun plötzlich auch jede Menge Zeit totzuschlagen und konntegenauso gut auch einen neuen Fall annehmen.
Scarpetta biegt langsam um die Eckedes Häuserblocks, der in einer Phase, die ihr inzwischen endgültigabgeschlossen erscheint, ihr Lebensmittelpunkt gewesen ist. Staubwolkensteigen auf, als Maschinen sich wie riesige gelbe Insekten auf den Kadaverihres früheren Arbeitsplatzes stürzen. Metallklingen und Schaufeln klappern undwummern gegen Beton und Erdreich. Lastwagen und Maschinen, die Erde bewegen,rollen und rucken hin und her. Reifen zermalmen und Stahlgürtel zerren.
»Tja«, sagt Scarpetta. »Ich bin frohüber die Gelegenheit, das sehen zu können. Aber trotzdem hätte es mir jemanderzählen sollen.«
Pete Marino, ihr Beifahrer, beobachtetschweigend, wie das gedrungene, schäbige Gebäude am Rand des Bankenviertelsabgerissen wird.
»Und ich freue mich, dass du es auchsiehst, Captain«, fügt sie hinzu, obwohl er gar kein Captain mehr ist. Wenn sieihn Captain nennt, was nicht oft passiert, will sie besonders nett zu ihm sein.
»Genau, was der Arzt mir verschriebenhat«, murmelt er in dem sarkastischen Tonfall, der in seinen meisten Äußerungenmitschwingt wie das Schlüssel-C auf dem Klavier. »Und du hast Recht. Jemandhätte es dir erzählen sollen, und dieser Jemand ist der schwanzlose Kerl, derjetzt auf deinem Stuhl sitzt.
© Hoffmann und Campe
Übersetzung: Karin Dufner
Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Werde Teil dessen, was Du erschaffst. Versuche nicht, eszu kontrollieren. Lass zu, dass die Dinge Dir etwas beibringen, anstatt sieimmer nur selbst zu lenken. Das ist meine Philosophie als Autorin. Ich habeschon vor langer Zeit festgestellt, dass man über sich selbst hinaus wächst,wenn man loslassen kann."
Patricia Cornwell wurde 1956 inMiami, Florida, als mittleres von drei Kindern geboren. Sie war gerade fünfJahre alt, als sich ihre Eltern trennten und sie mit ihrer Mutter und ihrenGeschwistern nach North Carolina zog. Auf dem College, wo sie bereits für dieSchülerzeitung schrieb, lernte sie ihren späteren Ehemann, Dr. Charles Cornwell, kennen. Nach ihrem Abschluss arbeitete Patricia Cornwell als Journalistin für die Tageszeitung CharlotteObserver. Parallel dazu begann sie, Kriminalgeschichten zu schreiben, undwar zudem als Computerspezialistin in der forensischen Medizin tätig. Ihreersten Romane, die während dieser Zeit entstanden, schickte sie erfolglos anzahlreiche Verlagshäuser. Der entscheidende Hinweis, der ihr später zumDurchbruch als Autorin verhalf, kam von Sara Ann Freed.Die Mitarbeiterin eines Verlages, an den Cornwell ihrManuskript geschickt hatte, riet ihr, die Pathologin Dr. Kay Scarpetta als zentrale Figur auszubauen und deren Arbeit inden Vordergrund zu stellen. Diesen Ratschlag befolgend, gelang es Cornwell 1990, ihren ersten Kriminalroman Postmortem" zu veröffentlichen, für den sie im selben Jahrvöllig unerwartet gleich mit mehreren nationalen und internationalen Preisenausgezeichnet wurde. Seitdem gehört Patricia Cornwellzu den erfolgreichsten Autorinnen dieses Genres.
Neben ihrer Tätigkeit als Autorin setzt sich Cornwell auch für den schriftstellerischen Nachwuchs einund unterstützt besonders begabte Studenten mit einem Stipendium. 1999 war sieaußerdem Mitbegründerin des Virginia Institute of ForensicScience and Medicine, einer Einrichtung, in derPathologen und Wissenschaftler ausgebildet werden.
Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Werde Teil dessen, was Du erschaffst. Versuche nicht, eszu kontrollieren. Lass zu, dass die Dinge Dir etwas beibringen, anstatt sieimmer nur selbst zu lenken. Das ist meine Philosophie als Autorin. Ich habeschon vor langer Zeit festgestellt, dass man über sich selbst hinaus wächst,wenn man loslassen kann."
Patricia Cornwell wurde 1956 inMiami, Florida, als mittleres von drei Kindern geboren. Sie war gerade fünfJahre alt, als sich ihre Eltern trennten und sie mit ihrer Mutter und ihrenGeschwistern nach North Carolina zog. Auf dem College, wo sie bereits für dieSchülerzeitung schrieb, lernte sie ihren späteren Ehemann, Dr. Charles Cornwell, kennen. Nach ihrem Abschluss arbeitete Patricia Cornwell als Journalistin für die Tageszeitung CharlotteObserver. Parallel dazu begann sie, Kriminalgeschichten zu schreiben, undwar zudem als Computerspezialistin in der forensischen Medizin tätig. Ihreersten Romane, die während dieser Zeit entstanden, schickte sie erfolglos anzahlreiche Verlagshäuser. Der entscheidende Hinweis, der ihr später zumDurchbruch als Autorin verhalf, kam von Sara Ann Freed.Die Mitarbeiterin eines Verlages, an den Cornwell ihrManuskript geschickt hatte, riet ihr, die Pathologin Dr. Kay Scarpetta als zentrale Figur auszubauen und deren Arbeit inden Vordergrund zu stellen. Diesen Ratschlag befolgend, gelang es Cornwell 1990, ihren ersten Kriminalroman Postmortem" zu veröffentlichen, für den sie im selben Jahrvöllig unerwartet gleich mit mehreren nationalen und internationalen Preisenausgezeichnet wurde. Seitdem gehört Patricia Cornwellzu den erfolgreichsten Autorinnen dieses Genres.
Neben ihrer Tätigkeit als Autorin setzt sich Cornwell auch für den schriftstellerischen Nachwuchs einund unterstützt besonders begabte Studenten mit einem Stipendium. 1999 war sieaußerdem Mitbegründerin des Virginia Institute of ForensicScience and Medicine, einer Einrichtung, in derPathologen und Wissenschaftler ausgebildet werden.
- Autor: Patricia Cornwell
- 2005, 428 Seiten, Maße: 14 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Dufner, Karin
- Übersetzer: Karin Dufner
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455011004
- ISBN-13: 9783455011005
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
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