Strange Fruit
Crónicas. Gekürzte und aktualisierte Übersetzung
"Leila Guerrieros Texte zeigen, dass der Journalismus zur Literatur gehört." Mario Vargas Llosa
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch (Gebunden)
19.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Strange Fruit “
"Leila Guerrieros Texte zeigen, dass der Journalismus zur Literatur gehört." Mario Vargas Llosa
Klappentext zu „Strange Fruit “
Leila Guerriero ist die vielleicht angesehenste Journalistin Lateinamerikas. Ihre bestechenden Reportagen nehmen uns mit ans südliche Ende des Kontinents, und doch sind sie exemplarisch und von einer verblüffenden Allgemeingültigkeit in der heutigen globalisierten Welt. Sie erzählt von einer Gruppe junger Studenten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Toten in den Massengräbern der Diktatur zu identifi zieren - und mit ihren Methoden mittlerweile im Kongo wie im Kosovo gefragt ist. Von der absurden Welt der Direktvertriebs-Unternehmen, für deren zumeist weibliche Vertreterinnen ihr Label so etwas wie eine Ersatzfamilie ist und die den Verkauf mit missionarischem Eifer betreiben. Leila Guerriero erzählt wahre Geschichten mit dem Rhythmus und der Sinnlichkeit eines guten Romans. Ähnlich wie Joan Didion ist sie eher Schriftstellerin als Journalistin.
Lese-Probe zu „Strange Fruit “
Strange Fruit von Leila GuerrieroStatt eines Vorworts: Phantastisch wie ein Roman
Vortrag, gehalten auf der Buchmesse von Bogotá, veröffentlicht in El Malpensante, Kolumbien, Juni 2008
... mehr
Um irgendwo anzufangen, lassen Sie mich Ihnen erklären, dass ich die wichtigste Erkenntnis darüber, wie man Geschichten erzählt, einem Film verdanke: Lawrence von Arabien, den ich mir in meiner Heimatstadt in einem bitterkalten Winter mindestens sieben Mal hintereinander angesehen habe.
Ich war damals gerade elf Jahre alt, und während meine Freunde spielten oder angelten, vergrub ich mich in jenem Winter mit der Besessenheit einer Irren im Kino, um an sieben Tagen sieben Mal jeweils vier Stunden lang diesen Film zu sehen, bis ich ihn zuletzt so gut kannte wie jeden Winkel meines Zimmers. Und sieben Mal betrat ich das Kino jeweils mit der gleichen Vorfreude und wartete mit der gleichen Ungeduld auf die gleichen Szenen: die Szene, in der Omar Sharif aus den Dünen hervorstürmt, um seinen Brunnen zu verteidigen; die Szene, in der Lawrence wie ein Wahnsinniger über den Zug läuft, das Herz bereits erfüllt von Trauer über das Leben, das er wird aufgeben müssen; diese Schlachten, diese Pferde, diese Wüste, dieses weiße Gewand, diese Augen.
Recherchiert man allerdings die Handlung von Lawrence von Arabien zum Beispiel in Wikipedia, findet man folgenden Satz: »Der Film erzählt die Geschichte von Thomas Edward Lawrence, einem englischen Offizier, dem es während seiner Zeit in Arabien gelang, die arabischen Stämme im Kampf für die Unabhängigkeit gegen die Türken zu vereinen.«
Dieser Satz ist korrekt, aber auch nicht mehr als das: korrekt. Denn er sagt nichts über die gelbe Wüste, nichts über das Geheul ihrer tapferen Krieger, nichts über Lawrences schneeweißes Gewand und auch nichts über seine stets von Zorn verschatteten Augen. Denn Lawrence von Arabien ist die »Geschichte eines englischen Offiziers, dem es während seiner Zeit in Arabien« und so weiter und so fort, aber auf vielerlei und verschiedenste Weise ist der Film genau das nicht.
Und darin wurzelt meine eingangs erwähnte Erkenntnis, und sie ist schlicht und einfach folgende: Es ist einer Geschichte, jeder Geschichte, beschieden, berühmt zu werden oder dem Vergessen anheimzufallen. Und der Schlüssel zum einen oder anderen liegt nicht in dem, was die Geschichte erzählt, sondern in dem, was bewirkt, dass sie mit Glanz und Gloria in den Hafen einläuft oder im Meer der Gleichgültigkeit versinkt. Meine Erkenntnis ist, wie gesagt, schlicht und einfach folgende: Wichtig ist nicht das Was, sondern das Wie.
Nicht die Geschichte, sondern die Winde, die sie weitertragen.
Der argentinische Journalist Martín Caparrós, bekannt durch seine crónicas, hat einmal gesagt, er wisse nie, was er auf die Frage antworten solle, ob es einen Unterschied zwischen
Journalismus und Literatur gibt. »Meine Überzeugung ist, dass es keinen Unterschied gibt«, sagte er. »Warum muss es einen geben? Wer hat bestimmt, dass es ihn gibt? Wir akzeptieren diese Unterscheidung als Teil eines Lesepakts. Der Autor schließt mit dem Leser folgenden Pakt: Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen; diese Geschichte ist wahr, sie ist tatsächlich geschehen, und ich habe von ihr erfahren. Das ist der Pakt für nichtfiktionale Texte. Der Literaturpakt hingegen lautet folgendermaßen: Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen; diese Geschichte ist nie geschehen, aber sie wird Sie unterhalten und nachdenklich stimmen. Doch was die Arbeitsweise betrifft, so gibt es keinen entscheidenden Unterschied.«
Selbstverständlich ist hier die Rede von ernsthaften crónicas, die eine bestimmte Weltsicht vermitteln und sich als Kunstform verstehen, und nicht von Texten, die lieblos zusammengeschustert wurden, um die Kolumnen der Zeitung von gestern zu füllen. Diese crónicas nehmen sich aus Film, Musik, Comic oder Literatur alles, was sie brauchen, um ihre Wirkung zu erzielen. Den Tonfall, den Rhythmus, den Spannungsbogen, den Gebrauch der Sprache und vieles andere mehr, das genau da endet, wo die Fiktion anfängt. Denn das Einzige, was in der crónica nichts zu suchen hat, ist das, was nicht existiert.
Vor einiger Zeit schrieb ich eine Reportage über ein Team forensischer Anthropologen. Ihre Arbeit besteht darin, aus geheimen Massengräbern die Knochenreste von Menschen zu bergen, die unter verschiedenen Diktaturen liquidiert wurden, sie zu identifizieren und ihren Angehörigen zurückzugeben. Die crónica begann folgendermaßen:
Er ist nicht groß. Vier mal vier Meter vielleicht, und ein Fenster, durch das trübes, himmelblaues Licht einfällt. Hohe Decke. Einfach geweißte Wände. Der Raum - in einem alten Bezirk mitten in Once, einer Wohn- und Geschäftsgegend von Buenos Aires - wirkt unauffällig: Niemand kommt versehentlich herein. Der Holzfußboden ist mit Zeitungen ausgelegt, auf den Zeitungen liegen ein gestreifter Pullover - zerrissen -, ein verdrehter Schuh, der wie eine schwarze, ausgedörrte Zunge aussieht, ein paar Strümpfe. Und die Knochen.
Schienbeine und Oberschenkelknochen, Wirbel und Schädel, Becken, Kiefer, Zähne, Rippenstücke. Es ist vier Uhr nachmittags an einem Donnerstag im November. Patricia Bernardi steht im Türrahmen. Sie hat große Augen und kurzes Haar. Sie greift nach einem glatten Femur und stützt ihn auf ihren Oberschenkel.
»Frauenknochen sind anmutiger.« Und es stimmt: Frauenknochen sind anmutiger.
Gleich darauf erfährt der Leser, dass es sich nicht etwa um das Spielzimmer eines Serienmörders handelt, sondern um das Büro der Argentinischen Arbeitsgruppe für Forensische Anthropologie, dass Patricia Bernardi dieser Arbeitsgruppe angehört und die verstreut herumliegenden Knochen drei Frauen gehörten, die am Tag zuvor auf einem Friedhof in der Stadt La Plata exhumiert wurden. Aber obwohl in dem hier zitierten Absatz der Tonfall sorgfältig gewählt, die Metrik genau bemessen und jedes Wort mit Bedacht eingesetzt ist, enthält er nichts, was nicht der Wahrheit entspräche. All das war an jenem Novembertag um vier Uhr nachmittags da: der gestreifte Pullover - zerrissen -, der verdrehte Schuh, der wie eine ausgedörrte Zunge aussieht, die Knochen, die zersplitterten Rippen und natürlich Patricia Bernardi, die einen Oberschenkelknochen in die Hand nahm und sagte: »Frauenknochen sind anmutiger.«
Darum liebe ich die Wirklichkeit: Wenn man nur lange genug an einem Ort bleibt, bietet sie sich früher oder später großzügig dar, und man wird belohnt mit der frischen Blüte des Zufalls.
Ich entdecke eine gewisse Schönheit darin, dass Dinge geschehen - absurde, widersprüchliche und manchmal irreale Dinge -, und ich liebe es, die Wirklichkeit zu betreten wie einen Basar voller Gläser: Ich fasse kaum etwas an und verändere nichts.
2006 veröffentlichte ich ein Buch mit dem Titel Los suicidas del fin del mundo (Die Selbstmörder vom Ende der Welt), in dem ich von Las Heras berichte, einem Ort in Patagonien, wo sich innerhalb von achtzehn Monaten zwölf junge Männer und Frauen eine Kugel in den Kopf jagten, sich mit einem Gürtel in ihrem Zimmer strangulierten oder sich am 31. Dezember 1999 um sechs Uhr morgens auf offener Straße erhängten. Eine Zeitlang fuhr ich regelmäßig dorthin, sprach mit Friseurinnen und Huren, mit den Müttern und Liebhabern, den Schwestern und Freunden der Toten, und als ich das Gefühl hatte, fertig zu sein, machte ich mich auf die Suche nach einem Verleger für meine Aufzeichnungen, aus denen man, wie ich dachte, ein Buch machen könne. Viele Verleger winkten angesichts des Todes so vieler junger Menschen ängstlich ab, aber einer fragte mich mit vor Begeisterung leuchtenden Augen: »Warum machst du nicht einen Roman daraus?«
Ich kann nicht begründen, warum ich nein sagte, außer dass ich eigentlich keinen Sinn darin sehe, aus einer Geschichte, die sich die Mühe gemacht hat, sich derart fesselnd zu ereignen, etwas Fiktives zu machen. Wenn in einem Zeitraum von anderthalb Jahren zwölf Menschen beschließen, ihrem Leben in aller Öffentlichkeit oder der Wohnung ihres besten Freundes ein Ende zu setzen, und das noch dazu an symbolträchtigen Daten wie zum Beispiel dem Tag der Jahr- tausendwende, in einer Stadt voller Ölarbeiter, in der es mehr Huren als Autos gibt, habe ich nicht den Eindruck, dass meine Phantasie dem noch etwas Wesentliches hinzuzufügen hätte.
Schließlich erschien das Buch als crónica, und obwohl alles, was darin berichtet wird, in Wirklichkeit genau so geschehen ist, wimmelt es darin von literarischen Stilmitteln, darunter die Hintergrundmusik des Textes: die rauschende Musik des Windes.
In seinem Roman Die Selbstmord-Schwestern, der von den fünf selbstzerstörerischen Schwestern der Familie Lisbon erzählt, benutzt der amerikanische Schriftsteller Jeffrey Eugenides ein Stilmittel, das von Anfang an eine unbehagliche Grundstimmung erzeugt und daran erinnert, dass alles Lebendige der Auflösung und Verwesung unterworfen ist. Eugenides schreibt:
Das war im Juni, in der Schlammfliegenzeit, wenn unser Städtchen alljährlich in der Schlacke dieser kurzlebigen Insekten versinkt. In Wolken steigen sie von den Algen im verschmutzten See auf und verdunkeln die Fenster, überziehen Autos und Straßenlampen [...] und hängen sich girlandenartig in die Takelagen der Segelboote, fliegender Abschaum von ewig gleicher, brauner Allgegenwart.(Jeffrey Eugenides, Die Selbstmord-Schwestern. Roman, übersetzt von Mechthild Sandberg-Ciletti, durchgesehen von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.)
Ich hatte keine Schlammfliegen, aber ich hatte den Wind.
An windigen Tagen, und das heißt fast immer, kann man in Las Heras nicht auf die Straße gehen. An diesen Tagen rüttelt er wütend an Türen und Fenstern, und die Bewohner bleiben eingesperrt, belagert vom Heulen dieser bösen Macht. Mütter und Freundinnen, Brüder und Freunde der Selbstmörder sprachen voller Furcht und Hass über das, was die Stadt mit dem Geschrei von Hexen bezwang und sie umfing wie ein böses Omen: Der Wind, sagten sie, sei schlimmer als alles andere - schlimmer als die Einsamkeit, schlimmer als die Abgeschiedenheit, schlimmer als Kälte und Schnee.
Als ich mich daranmachte, die Geschichte aufzuschreiben, hatte ich das Gefühl, dieses unbändige Klima wieder geben und erreichen zu müssen, dass der Wind aus dem Buch auffuhr wie ein Bienenschwarm. Und so bläst der Wind auf den ersten Seiten zaghaft, wiegt nur den Bus, der mich nach Las Heras brachte. Etwas später weht er Asche über den Boden, verfängt sich in den Ritzen, schiebt den Staub in den tiefsten Schlund der Häuser. Am Schluss ist der Wind ein schwarzes Ungeheuer, eine eigenwillige Bestie. »Draußen«, heißt es im Buch, »war der Wind ein dunkles Zischen, ein zerrissenes Maul, das alle Geräusche verschlang: die Küsse, das Gelächter. Ein stählernes Stöhnen, mahlende Kiefer.«
Wenn jeder Text eine eigene Tonart hat, möchte ich glauben, dass Los suicidas del fin del mundo auf das Brausen des Windes abgestimmt ist. Und das nicht, weil es mir so gefällt oder mir gerade danach war, sondern weil ich vor dem Hintergrund seines Heulens eine blutige Vergangenheit und eine grausame Gegenwart malen wollte, in der das alles - die Todesfälle, das pure Unglück, die Selbstmorde - geschah.
Denn selbst wenn er eine Figur wäre, eine Metapher, ein rein literarisches Stilmittel, wäre der Wind kein schmückendes Beiwerk, könnte es gar nicht sein. Der Wind war Teil der Information, musste es sein.
In seinem Roman El empampado Riquelme (Riquelme in der Pampa) - der Geschichte eines Mannes, der in einen Zug steigt, aber nie an seinem Ziel ankommt und dessen Knochen ein halbes Jahrhundert später in der Atacamawüste gefunden werden - erklärt der Chilene Francisco Mouat, um dieses Buch zu schreiben, habe er Paul Auster, Richard Ford, Juan Rulfo und Kafka gelesen. »Die Lektüre aller dieser Bücher«, sagt Mouat, »findet sich verstreut auf den Seiten dieses Buches wieder und hat sie beeinflusst.«
Ich habe stets vermutet, dass die Verfasser guter crónicas stattliche Romanbibliotheken besitzen und häufiger ins Kino gehen, als Workshops für kreatives Schreiben zu besuchen. Die Figurenzeichnung haben sie nicht an der Universität erlernt, sondern bei der Lektüre von John Irving. Wunderbar knapp zu formulieren verstehen sie nicht etwa, weil sie in einem Seminar gelernt haben, wie man Nachrichten verfasst, sondern weil sie die Prosa von Lorrie Moore in- und auswendig kennen. Sie sind nicht deshalb so genau bei der Information und so kreativ in ihrer Sprache, weil sie »Methodologie der Recherche« oder »Planung kommunikativer Prozesse« studiert haben, sondern weil sie wissen, wer John Steinbeck ist.
Und ich denke das alles, weil ich bei den großen crónica- Autoren den Widerhall von Richard Ford und Scott Fitzgerald spüre, von Góngora und der Bibel, von José Martí und Gonzalo Rojas, von Flaubert und Paul Bowles, von Salinger und Alice Munro, von Nabokov und Pavese, von Bradbury und Martin Amis, von Murakami und David Foster Wallace.
Natürlich muss man ehrlicherweise zugeben, dass sich in den großen Belletristikautoren kein Widerhall bedeutender crónica-Autoren findet.
Aber man darf die Geduld nicht verlieren.
Denn es wird eine Zeit kommen, da geschieht auch das.
Copyright © Ullstein Verlag
Um irgendwo anzufangen, lassen Sie mich Ihnen erklären, dass ich die wichtigste Erkenntnis darüber, wie man Geschichten erzählt, einem Film verdanke: Lawrence von Arabien, den ich mir in meiner Heimatstadt in einem bitterkalten Winter mindestens sieben Mal hintereinander angesehen habe.
Ich war damals gerade elf Jahre alt, und während meine Freunde spielten oder angelten, vergrub ich mich in jenem Winter mit der Besessenheit einer Irren im Kino, um an sieben Tagen sieben Mal jeweils vier Stunden lang diesen Film zu sehen, bis ich ihn zuletzt so gut kannte wie jeden Winkel meines Zimmers. Und sieben Mal betrat ich das Kino jeweils mit der gleichen Vorfreude und wartete mit der gleichen Ungeduld auf die gleichen Szenen: die Szene, in der Omar Sharif aus den Dünen hervorstürmt, um seinen Brunnen zu verteidigen; die Szene, in der Lawrence wie ein Wahnsinniger über den Zug läuft, das Herz bereits erfüllt von Trauer über das Leben, das er wird aufgeben müssen; diese Schlachten, diese Pferde, diese Wüste, dieses weiße Gewand, diese Augen.
Recherchiert man allerdings die Handlung von Lawrence von Arabien zum Beispiel in Wikipedia, findet man folgenden Satz: »Der Film erzählt die Geschichte von Thomas Edward Lawrence, einem englischen Offizier, dem es während seiner Zeit in Arabien gelang, die arabischen Stämme im Kampf für die Unabhängigkeit gegen die Türken zu vereinen.«
Dieser Satz ist korrekt, aber auch nicht mehr als das: korrekt. Denn er sagt nichts über die gelbe Wüste, nichts über das Geheul ihrer tapferen Krieger, nichts über Lawrences schneeweißes Gewand und auch nichts über seine stets von Zorn verschatteten Augen. Denn Lawrence von Arabien ist die »Geschichte eines englischen Offiziers, dem es während seiner Zeit in Arabien« und so weiter und so fort, aber auf vielerlei und verschiedenste Weise ist der Film genau das nicht.
Und darin wurzelt meine eingangs erwähnte Erkenntnis, und sie ist schlicht und einfach folgende: Es ist einer Geschichte, jeder Geschichte, beschieden, berühmt zu werden oder dem Vergessen anheimzufallen. Und der Schlüssel zum einen oder anderen liegt nicht in dem, was die Geschichte erzählt, sondern in dem, was bewirkt, dass sie mit Glanz und Gloria in den Hafen einläuft oder im Meer der Gleichgültigkeit versinkt. Meine Erkenntnis ist, wie gesagt, schlicht und einfach folgende: Wichtig ist nicht das Was, sondern das Wie.
Nicht die Geschichte, sondern die Winde, die sie weitertragen.
Der argentinische Journalist Martín Caparrós, bekannt durch seine crónicas, hat einmal gesagt, er wisse nie, was er auf die Frage antworten solle, ob es einen Unterschied zwischen
Journalismus und Literatur gibt. »Meine Überzeugung ist, dass es keinen Unterschied gibt«, sagte er. »Warum muss es einen geben? Wer hat bestimmt, dass es ihn gibt? Wir akzeptieren diese Unterscheidung als Teil eines Lesepakts. Der Autor schließt mit dem Leser folgenden Pakt: Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen; diese Geschichte ist wahr, sie ist tatsächlich geschehen, und ich habe von ihr erfahren. Das ist der Pakt für nichtfiktionale Texte. Der Literaturpakt hingegen lautet folgendermaßen: Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen; diese Geschichte ist nie geschehen, aber sie wird Sie unterhalten und nachdenklich stimmen. Doch was die Arbeitsweise betrifft, so gibt es keinen entscheidenden Unterschied.«
Selbstverständlich ist hier die Rede von ernsthaften crónicas, die eine bestimmte Weltsicht vermitteln und sich als Kunstform verstehen, und nicht von Texten, die lieblos zusammengeschustert wurden, um die Kolumnen der Zeitung von gestern zu füllen. Diese crónicas nehmen sich aus Film, Musik, Comic oder Literatur alles, was sie brauchen, um ihre Wirkung zu erzielen. Den Tonfall, den Rhythmus, den Spannungsbogen, den Gebrauch der Sprache und vieles andere mehr, das genau da endet, wo die Fiktion anfängt. Denn das Einzige, was in der crónica nichts zu suchen hat, ist das, was nicht existiert.
Vor einiger Zeit schrieb ich eine Reportage über ein Team forensischer Anthropologen. Ihre Arbeit besteht darin, aus geheimen Massengräbern die Knochenreste von Menschen zu bergen, die unter verschiedenen Diktaturen liquidiert wurden, sie zu identifizieren und ihren Angehörigen zurückzugeben. Die crónica begann folgendermaßen:
Er ist nicht groß. Vier mal vier Meter vielleicht, und ein Fenster, durch das trübes, himmelblaues Licht einfällt. Hohe Decke. Einfach geweißte Wände. Der Raum - in einem alten Bezirk mitten in Once, einer Wohn- und Geschäftsgegend von Buenos Aires - wirkt unauffällig: Niemand kommt versehentlich herein. Der Holzfußboden ist mit Zeitungen ausgelegt, auf den Zeitungen liegen ein gestreifter Pullover - zerrissen -, ein verdrehter Schuh, der wie eine schwarze, ausgedörrte Zunge aussieht, ein paar Strümpfe. Und die Knochen.
Schienbeine und Oberschenkelknochen, Wirbel und Schädel, Becken, Kiefer, Zähne, Rippenstücke. Es ist vier Uhr nachmittags an einem Donnerstag im November. Patricia Bernardi steht im Türrahmen. Sie hat große Augen und kurzes Haar. Sie greift nach einem glatten Femur und stützt ihn auf ihren Oberschenkel.
»Frauenknochen sind anmutiger.« Und es stimmt: Frauenknochen sind anmutiger.
Gleich darauf erfährt der Leser, dass es sich nicht etwa um das Spielzimmer eines Serienmörders handelt, sondern um das Büro der Argentinischen Arbeitsgruppe für Forensische Anthropologie, dass Patricia Bernardi dieser Arbeitsgruppe angehört und die verstreut herumliegenden Knochen drei Frauen gehörten, die am Tag zuvor auf einem Friedhof in der Stadt La Plata exhumiert wurden. Aber obwohl in dem hier zitierten Absatz der Tonfall sorgfältig gewählt, die Metrik genau bemessen und jedes Wort mit Bedacht eingesetzt ist, enthält er nichts, was nicht der Wahrheit entspräche. All das war an jenem Novembertag um vier Uhr nachmittags da: der gestreifte Pullover - zerrissen -, der verdrehte Schuh, der wie eine ausgedörrte Zunge aussieht, die Knochen, die zersplitterten Rippen und natürlich Patricia Bernardi, die einen Oberschenkelknochen in die Hand nahm und sagte: »Frauenknochen sind anmutiger.«
Darum liebe ich die Wirklichkeit: Wenn man nur lange genug an einem Ort bleibt, bietet sie sich früher oder später großzügig dar, und man wird belohnt mit der frischen Blüte des Zufalls.
Ich entdecke eine gewisse Schönheit darin, dass Dinge geschehen - absurde, widersprüchliche und manchmal irreale Dinge -, und ich liebe es, die Wirklichkeit zu betreten wie einen Basar voller Gläser: Ich fasse kaum etwas an und verändere nichts.
2006 veröffentlichte ich ein Buch mit dem Titel Los suicidas del fin del mundo (Die Selbstmörder vom Ende der Welt), in dem ich von Las Heras berichte, einem Ort in Patagonien, wo sich innerhalb von achtzehn Monaten zwölf junge Männer und Frauen eine Kugel in den Kopf jagten, sich mit einem Gürtel in ihrem Zimmer strangulierten oder sich am 31. Dezember 1999 um sechs Uhr morgens auf offener Straße erhängten. Eine Zeitlang fuhr ich regelmäßig dorthin, sprach mit Friseurinnen und Huren, mit den Müttern und Liebhabern, den Schwestern und Freunden der Toten, und als ich das Gefühl hatte, fertig zu sein, machte ich mich auf die Suche nach einem Verleger für meine Aufzeichnungen, aus denen man, wie ich dachte, ein Buch machen könne. Viele Verleger winkten angesichts des Todes so vieler junger Menschen ängstlich ab, aber einer fragte mich mit vor Begeisterung leuchtenden Augen: »Warum machst du nicht einen Roman daraus?«
Ich kann nicht begründen, warum ich nein sagte, außer dass ich eigentlich keinen Sinn darin sehe, aus einer Geschichte, die sich die Mühe gemacht hat, sich derart fesselnd zu ereignen, etwas Fiktives zu machen. Wenn in einem Zeitraum von anderthalb Jahren zwölf Menschen beschließen, ihrem Leben in aller Öffentlichkeit oder der Wohnung ihres besten Freundes ein Ende zu setzen, und das noch dazu an symbolträchtigen Daten wie zum Beispiel dem Tag der Jahr- tausendwende, in einer Stadt voller Ölarbeiter, in der es mehr Huren als Autos gibt, habe ich nicht den Eindruck, dass meine Phantasie dem noch etwas Wesentliches hinzuzufügen hätte.
Schließlich erschien das Buch als crónica, und obwohl alles, was darin berichtet wird, in Wirklichkeit genau so geschehen ist, wimmelt es darin von literarischen Stilmitteln, darunter die Hintergrundmusik des Textes: die rauschende Musik des Windes.
In seinem Roman Die Selbstmord-Schwestern, der von den fünf selbstzerstörerischen Schwestern der Familie Lisbon erzählt, benutzt der amerikanische Schriftsteller Jeffrey Eugenides ein Stilmittel, das von Anfang an eine unbehagliche Grundstimmung erzeugt und daran erinnert, dass alles Lebendige der Auflösung und Verwesung unterworfen ist. Eugenides schreibt:
Das war im Juni, in der Schlammfliegenzeit, wenn unser Städtchen alljährlich in der Schlacke dieser kurzlebigen Insekten versinkt. In Wolken steigen sie von den Algen im verschmutzten See auf und verdunkeln die Fenster, überziehen Autos und Straßenlampen [...] und hängen sich girlandenartig in die Takelagen der Segelboote, fliegender Abschaum von ewig gleicher, brauner Allgegenwart.(Jeffrey Eugenides, Die Selbstmord-Schwestern. Roman, übersetzt von Mechthild Sandberg-Ciletti, durchgesehen von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.)
Ich hatte keine Schlammfliegen, aber ich hatte den Wind.
An windigen Tagen, und das heißt fast immer, kann man in Las Heras nicht auf die Straße gehen. An diesen Tagen rüttelt er wütend an Türen und Fenstern, und die Bewohner bleiben eingesperrt, belagert vom Heulen dieser bösen Macht. Mütter und Freundinnen, Brüder und Freunde der Selbstmörder sprachen voller Furcht und Hass über das, was die Stadt mit dem Geschrei von Hexen bezwang und sie umfing wie ein böses Omen: Der Wind, sagten sie, sei schlimmer als alles andere - schlimmer als die Einsamkeit, schlimmer als die Abgeschiedenheit, schlimmer als Kälte und Schnee.
Als ich mich daranmachte, die Geschichte aufzuschreiben, hatte ich das Gefühl, dieses unbändige Klima wieder geben und erreichen zu müssen, dass der Wind aus dem Buch auffuhr wie ein Bienenschwarm. Und so bläst der Wind auf den ersten Seiten zaghaft, wiegt nur den Bus, der mich nach Las Heras brachte. Etwas später weht er Asche über den Boden, verfängt sich in den Ritzen, schiebt den Staub in den tiefsten Schlund der Häuser. Am Schluss ist der Wind ein schwarzes Ungeheuer, eine eigenwillige Bestie. »Draußen«, heißt es im Buch, »war der Wind ein dunkles Zischen, ein zerrissenes Maul, das alle Geräusche verschlang: die Küsse, das Gelächter. Ein stählernes Stöhnen, mahlende Kiefer.«
Wenn jeder Text eine eigene Tonart hat, möchte ich glauben, dass Los suicidas del fin del mundo auf das Brausen des Windes abgestimmt ist. Und das nicht, weil es mir so gefällt oder mir gerade danach war, sondern weil ich vor dem Hintergrund seines Heulens eine blutige Vergangenheit und eine grausame Gegenwart malen wollte, in der das alles - die Todesfälle, das pure Unglück, die Selbstmorde - geschah.
Denn selbst wenn er eine Figur wäre, eine Metapher, ein rein literarisches Stilmittel, wäre der Wind kein schmückendes Beiwerk, könnte es gar nicht sein. Der Wind war Teil der Information, musste es sein.
In seinem Roman El empampado Riquelme (Riquelme in der Pampa) - der Geschichte eines Mannes, der in einen Zug steigt, aber nie an seinem Ziel ankommt und dessen Knochen ein halbes Jahrhundert später in der Atacamawüste gefunden werden - erklärt der Chilene Francisco Mouat, um dieses Buch zu schreiben, habe er Paul Auster, Richard Ford, Juan Rulfo und Kafka gelesen. »Die Lektüre aller dieser Bücher«, sagt Mouat, »findet sich verstreut auf den Seiten dieses Buches wieder und hat sie beeinflusst.«
Ich habe stets vermutet, dass die Verfasser guter crónicas stattliche Romanbibliotheken besitzen und häufiger ins Kino gehen, als Workshops für kreatives Schreiben zu besuchen. Die Figurenzeichnung haben sie nicht an der Universität erlernt, sondern bei der Lektüre von John Irving. Wunderbar knapp zu formulieren verstehen sie nicht etwa, weil sie in einem Seminar gelernt haben, wie man Nachrichten verfasst, sondern weil sie die Prosa von Lorrie Moore in- und auswendig kennen. Sie sind nicht deshalb so genau bei der Information und so kreativ in ihrer Sprache, weil sie »Methodologie der Recherche« oder »Planung kommunikativer Prozesse« studiert haben, sondern weil sie wissen, wer John Steinbeck ist.
Und ich denke das alles, weil ich bei den großen crónica- Autoren den Widerhall von Richard Ford und Scott Fitzgerald spüre, von Góngora und der Bibel, von José Martí und Gonzalo Rojas, von Flaubert und Paul Bowles, von Salinger und Alice Munro, von Nabokov und Pavese, von Bradbury und Martin Amis, von Murakami und David Foster Wallace.
Natürlich muss man ehrlicherweise zugeben, dass sich in den großen Belletristikautoren kein Widerhall bedeutender crónica-Autoren findet.
Aber man darf die Geduld nicht verlieren.
Denn es wird eine Zeit kommen, da geschieht auch das.
Copyright © Ullstein Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Leila Guerriero
Leila Guerriero, geboren 1967 in Junín, Argentinien, lebt seit 1984 in Buenos Aires. In einer Rede gestand sie einmal, dass sie nie irgendeinen Studiengang oder auch nur Kurs für Journalisten besucht hat. Ihre Reportagen zeichnen sich durch gründliche Recherche und eine hohe literarische Qualität aus.
Bibliographische Angaben
- Autor: Leila Guerriero
- 2014, 272 Seiten, Maße: 13,3 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Brandt, Kirsten
- Übersetzer: Kirsten Brandt
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550080603
- ISBN-13: 9783550080609
- Erscheinungsdatum: 09.05.2014
Kommentar zu "Strange Fruit"
0 Gebrauchte Artikel zu „Strange Fruit“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Strange Fruit".
Kommentar verfassen