Sturzflug
Roman. Ausgezeichnet mit dem Brigitte-Romanpreis 2006. Originalausgabe
Die beiden Freunde Henri und David stürzen mit ihrem Flugzeug über der Nordsee ab. Die Küste ist in unerreichbarer Ferne. Das Wasser steigt ihnen langsam bis zum Hals. So beginnt die längste Nacht ihres Lebens. Um dem verletzten Henri Kraft zu geben, bis...
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Produktinformationen zu „Sturzflug “
Die beiden Freunde Henri und David stürzen mit ihrem Flugzeug über der Nordsee ab. Die Küste ist in unerreichbarer Ferne. Das Wasser steigt ihnen langsam bis zum Hals. So beginnt die längste Nacht ihres Lebens. Um dem verletzten Henri Kraft zu geben, bis zum nächsten Morgen durchzuhalten, wählt David einen perfiden Weg. Er lüftet den Schleier ihrer Freundschaft und offenbart Henri ein Geheimnis, über das er all die Jahre geschwiegen hat. Schonungslos schürt er unbändige Wut in seinem Freund, in der Hoffnung, so dessen Überlebenswillen zu stärken ...
'Mark Pätzold hat mit seinem Debütroman ein perfekt konstruiertes, ausgeklügeltes und raffiniertes Werk geschrieben.' BRIGITTE (Meike Dinklage, Ressortleitung Kultur) "Ein perfekt konstruiertes, ausgeklügeltes, raffiniertes Werk, das von Menschen handelt, die sich und die Welt neue erkunden." -- Uncle Sallys Magazin
"Die kunstvoll konstruierte, spannend und stilsicher erzählte Geschichte überzeugt." -- Brigitte
"Die kunstvoll konstruierte, spannend und stilsicher erzählte Geschichte überzeugt." -- Brigitte
Lese-Probe zu „Sturzflug “
ÜberflugDie Inseln vor der Küste im Norden ziehen sich, zu einem dünnen Band aneinander gereiht, durch das flache Wattenmeer, einem weiten Feld von Schlamm, nicht dem Land und nicht dem Wasser zuzurechnen. Sie erheben sich aus dieser Zwitterlandschaft, wie der letzte Versuch des Landes, noch einmal über das Meer aufzubegehren, bevor die Wellen dem Horizont ihren Willen aufzwingen. Die meisten sind nur winzige Eilande, nicht viel mehr als grasbewachsene Sandbänke. Sie ragen lediglich wenige Meter über den Spiegel der grauen See hinaus, die ausschließlich in den Sommermonaten den beruhigenden dunkelblauen Ton des Meeres annimmt, den unsere Träume erschaffen. Das Blau, nach dem es die Augen der Menschen verlangt, wenn sie an die Küste kommen. Wenige Familien bewohnen diese Gegend. Düne um Düne zieht sich menschenleer dahin, kleinblättrige, knorrige Sträucher wetteifern mit störrischem Schilfgras. Nur ab und an erhebt sich ein traditionelles Reetdach oder das Rot von Schindeln aus der Stille. Einige der Inseln sind jedoch groß genug, um einen kleinen Ort zu beherbergen, Inseln, auf denen so viel Platz vorhanden ist, dass ein kleines, einmotoriges Flugzeug auf einem Streifen festem Gras landen kann, der sich schon fast entschuldigend für seine behelfsmäßige Wirkung mit einem winzigen Kontrollturm schmückt, von wo aus die wenigen Landungen und Starts eines Tages über Funk begleitet werden.
Die kleinen Inseln vor der Küste im Norden sind ein perfekter Ort, wenn man einen abgeschiedenen Platz sucht. Menschen kommen im Frühjahr und Sommer hierher, den Kopf voller Gründe, deren Heimlichkeit schmerzhaft an ihnen nagt. Sie steigen aus ihren kleinen Flugzeugen und verschwinden zwischen den Dünen, deren wellige Hügel sie wieder ausspucken, an einen breiten Strand aus außergewöhnlich feinem Sand. Dort laufen sie herum, und ihre Schritte sehen dabei unbeholfen und ziellos aus. Bewegungen von Papierfetzen, die der Wind über den Sand treibt. An manchen Stellen, wo ein Hotel
... mehr
den ruhigen Anblick der flachen Weite mit seinen viereckigen Formen stört, stehen Strandkörbe und der Turm einer Badeaufsicht. Für zu viel Geld mieten junge Liebespaare ohne Abenteuersinn oder alte Ehepaare mit einem Faible für die Natur einen dieser Strandkörbe, den sie mit viel Mühe dann so drehen, dass der Wind nicht in ihn hineinbläst, auch wenn sie in dieser Position nicht mehr auf das glitzernde Wasser hinausblicken können.
Im Herbst kommt nur sehr selten jemand hierher. Die Jahreszeit der frühen Dämmerung vernichtet die Träume, sperrt Paare in ihre Wohnungen, lässt ein verzeihliches Gefühl von Erschöpfung aufkommen. Die Bewohner der Inseln sind dann wieder unter sich. Trotzig stellen sie sich den Stürmen entgegen, die ab Ende September von Norden her über die flachen Inseln hinwegfegen, und zählen die Tage bis zum Frühjahr. So lange herrscht Ruhe.
Die Leute, die auf die kleinen Inseln kommen, suchen nach einem besonderen Platz. Mit scharrenden Füßen wenden sie Sandkörner, ihre Perspektiven gleichen der Flucht zweier Schienen, die sich nur scheinbar in der Ferne vereinen. Ältere Männer legen ihre Handtücher probeweise an dem Fuß des Dünenbewuchses auf den Sand, lassen sich darauf nieder und blicken mit auf die Brust gezogenem Kinn den Strand nach links und rechts hinunter, um dann mit einem Seufzen wieder aufzustehen und mit ihrem Handtuch einige Schritte weiterzugehen. In der Hoffnung, hier eine Ahnung der ersehnten Zufriedenheit zu finden.
Haben sie doch schon als Teenager festgestellt, dass jeder Strand, an dem sie jemals entlanglaufen, nur eine Variation dieses allerersten Stückes gelben Sandes ist, auf den sie ihre Füße gesetzt haben. Als Vierjährige, noch ein ganzes Universum vor sich; indessen die Reise nun auf der inneren Bahn eines Lorenz-Attraktors verläuft, auf enger werdenden Schleifen, und die Fliehkräfte sie schmerzhaft ihren unbequemen Sitz spüren lassen.
Diese Menschen kommen mit der Fähre und manchmal mit Flugzeugen. Schon bald reisen sie nur noch durch die Luft, denn das Fliegen erzeugt ein Gefühl, das sie zwischen den Sandkörnern und den Wassermolekülen nicht mehr gefunden haben.
Das Besondere. Einen Hauch von Exklusivität, vielleicht gar ...Abenteuer.
Oder zumindest die Hoffnung darauf.
Dämmerung
Das Wasser hatte um dreizehn Minuten nach einundzwanzig Uhr aufgehört zu steigen.
Es war eine Handbreit unter Davids Kinn, der ein gutes Stück kleiner war als Henri, zum Stehen gekommen. Seine hellblauen Augen starrten auf die graue Oberfläche, die sich vor ihm ausbreitete, auf den Zentimetern vor ihm, Meter weiter, Kilometer bis zum Horizont. Henri hatte braune Augen, das fiel ihm heute zum ersten Mal auf, nach über sechzehn Jahren. Sie waren nur einen Meter von ihm entfernt, undeutlich zu erkennen im Zwielicht der letzten Minuten eines schwülwarmen Sommertages. Augen, denen er Vertrauen schenkte, jetzt mehr denn je, da diese Augen bereit waren, Fehler zuzugeben.
Sie hatten Cocktails mit Maraschinokirschen getrunken; vor zwei Tagen war das gewesen, und jetzt standen sie hier. Henri hatte nicht einen Tropfen angerührt. Aus Prinzip. Es hatte nichts genutzt. Eine falsche Bewegung, ein Zucken, ein Zittern, und man war aus dem Spiel. Zurückhaltung rettete niemanden über den nächsten Tag. Das süße Aroma der kandierten Früchte lag David noch auf der Zunge, auf der sich der salzige Geschmack des Nordseewassers mit einer eingebildeten Trockenheit mischte.
Henris Augen. Er hatte sie sich nie angesehen.
Die Wellen waren nicht hoch, eher ein Kräuseln, hervorgerufen durch eine laue Abendbrise. Des guten Wetters wegen kamen die Touristen. Auf die Insel, die sich als grauer Schleier in der Ferne abzeichnete, die verdammte Insel, wo alles begann und endete, Henris Flüge, Henris endlose Geilheit, dieser Flug mit seiner begrenzten Reichweite, dem eng gesteckten Horizont. Davids Horizont. Die Wasserfläche wirkte leblos, doch er spürte schon die Würmer an seinen Waden heraufkrabbeln, Antennen und Scheren der Garnelen herumtasten, Fische mit rauen Lippen Kontakt aufnehmen, vielleicht eine Heringsart. Nicht leblos. Nicht einmal in seiner Phantasie, die ihn stets begleitet hatte, unter Wasser, an der Luft. Es gab überall genug Schatten, um zu erschrecken. Seine Erfahrungen waren ein lächerlicher Schild.
David spürte die kleinen Fettfalten an seinem Bauch, die im kühlen Wasser langsam zu einer tauben Masse erstarben, sich damit nur dem Zustand annäherten, der ihn bereits Tage und Nächte begleitet hatte. Er griff sich unter das T-Shirt und drückte die Wülste, dachte plötzlich schuldbewusst an Mengen von Bier, Rotwein und Fleisch, die er genossen hatte und die ihn heute vor der Auskühlung schützen sollten. Es hinauszögern sollten. Was auch immer dann kam und sich bis auf die letzte quälende Sekunde zu einer großen Szene in Zeitlupe ausdehnen würde.
Er lachte. Hob einen Arm aus dem Wasser und schlug mit einem Platschen auf die Oberfläche.
Er hörte sich weit entfernt sagen: "Prima Urlaub."
Die braunen Augen zitterten in ihren Höhlen und fixierten ihn schließlich.
Es blieben zwei Minuten.
Das war das Letzte, was sie im schwindenden Tageslicht deutlich sehen konnten: die graue, bewegte Oberfläche bis zum Horizont. Kein Schaum, keinen Badewannenrand, keine Badeleiter an der Swimmingpoolkante, keine Cocktailbar unter Sonnenschirmen. Nur ihre beiden Köpfe, die aus dem Wasser ragten, 53° 44' 26'' nördlicher Breite und 7° 8' 49'' östlicher Länge. Dreitausendsiebenhundert Meter vor der Küste der kleinen Insel. Ihre nassen Haare, das wachsende Unbehagen in ihren Gesichtern, das nur eine Ankündigung war.
"Henri?", sagte David.
Er antwortete nicht. Er hatte seinen Blick gesenkt und sich die Unterlippe blutig gebissen. Jetzt bohrte er wieder und wieder seinen linken Eckzahn in die kleine Wunde und saugte das herausquellende Blut mit einem leisen Schmatzgeräusch auf. Es war die einzige Regung in Henris Gesicht.
"Ich kann nicht mehr stehen", sagte Henri schließlich. Er bewegte seine Lippen nicht dabei.
David machte einen langsamen Schritt. Er verlor den Grund unter seinen Füßen. Mit einem vorsichtigen Zug schwamm er das winzige Stück, tastete nach dem sandigen Boden, fand Halt und legte Henri seinen rechten Arm um die Hüfte. Er spürte, wie dieser sein Gewicht auf ihn sinken ließ, und fasste fester zu.
"Mein Bein", sagte Henri.
"Stütz dich mit deinem Arm auf meine Schulter", sagte David.
Anderthalb Minuten.
Das Wasser war langsam mit der einsetzenden Flut gestiegen. Es hatte ihre Füße durch seine sanft scheinende, aber unaufhaltsam fließende Strömung in den feinen Grund der Sandbank sinken lassen. Sie hatten sich immer wieder aus dem weichen Untergrund befreien müssen. Sie taten es mechanisch, wie unter Chloroform betäubte Insekten, die in einer Petrischale herumstaksen, während die Welt um sie herum einstürzt.
David musste dabei an das schmatzende Geräusch denken, das seine Gummistiefel gemacht hatten, wenn er als Fünfjähriger bei Regenwetter durch den tiefer gelegenen Teil des Gartens am Haus seiner Eltern gelaufen war. Schlammschlachten waren damals unterhaltsam. Der Traum von großen Würmern und schuppigen Kreaturen, die sich aus der zähen Masse erhoben, war Wirklichkeit geworden. Das Spiel war vorbei.
Eine Minute.
Davids Hände begannen zu zittern. Nicht ausgelöst durch das kühle Wasser. Das würde später geschehen. Noch früh genug. Es würde anders sein. So dermaßen neu, wie es nichts zuvor gewesen war, das er je gefühlt hatte. Hypothermia. Das Wort blitze in seiner Vorstellung in Fettdruck wie aus den Seiten der Encyclopedia Britannica auf. Er wusste alles darüber. Jede verfluchte Einzelheit, die Anzeichen, die Stadien, er konnte sich ausrechnen, wie lange es dauern würde. Er spürte, wie das Zucken seiner Hände von seinen Armen Besitz ergriff, wie Myofibrillen asynchron kontrahierten, unsichtbare Spannungen und Torsionskräfte seine Gliedmaßen schüttelten. Und er dachte an eine Zeile aus einem Lied, das er vor Jahrhunderten gehört haben musste. Tell me who your puppet master is. Und er spürte das Ziehen an den Schnüren über seinem Kopf und hörte das hämische Lachen, das hinter dem Holzrahmen der Bühne erscholl. Unhörbar für ihn, unhörbar für ein Publikum, das er sich nur eingebildet hatte.
Es blieben: dreißig Sekunden.
David hörte ein Geräusch neben sich. Ein leises, irres Stöhnen. Ein schrilles Röcheln, das sich allmählich zu einem organischen Sirenenton aufschwang. Er blickte Henri an. Der hatte seinen Mund halb geöffnet. Er blinzelte langsam und monoton. Gepresster Atem. David spürte unter seiner Hand im Wasser, wie Henris bereits verkrampfte Schultermuskulatur zu Stein wurde.
Er tat nichts.
Die Dunkelheit brach um einundzwanzig Uhr und achtzehn Minuten über sie herein.
Eine arabische Nacht ohne das rettende Aroma der Verlockung. Keine Tänzerinnen. Die Sterne zu hoch über ihnen. Und die Insel. Die verdammte Insel, die David schwimmend mühelos erreicht hätte. Alleine. Die Insel. Auf die sie gewollt hatten. Sie war dort draußen. Er musste sie jetzt vergessen. Alleine. Er musste nur losschwimmen. Ganz einfach. Dies war sein Element. Das Wasser sprach zu ihm.
Begleitet von einem Geräusch. Tick. Tick. Tick. Einem Glimmen auf dem Zifferblatt. Zwölf blassgelbe Punkte auf Davids Schulter. Phosphoreszierende Zeitintervalle.
Die Uhr an Henris Handgelenk war wasserdicht. Er hatte sie mit David zusammen ausgesucht. Es war der erste Gegenstand, den er sich gekauft hatte, nachdem er seine Zulassung erhalten hatte, das erste Accessoire eines Piloten. Voller Stolz hatte er sie vor dem großen Garderobenspiegel über seinem Handgelenk geschlossen. Voller Verlegenheit hatte er an seinem ersten Arbeitstag auf das linke Handgelenk seines Kapitäns geblickt, an dem dasselbe Modell hing. Der Funken war verloschen. Kaltes Licht.
Etwas trieb auf den Wellen heran und stieß leicht an Davids Wangenknochen. Das Glasfaser-Epoxitharz-Gemisch fühlte sich unwirklich weich auf seiner Haut an, schenkte beinahe Vertrauen. Er schob das Treibgut mit der freien Hand zur Seite, so wie er als Junge gewachste Papierschiffe den kleinen Bach hinter dem Haus seiner Eltern hinuntergestoßen hatte. Nichts benötigte einen großen Anlauf. Alles bewegte sich von alleine. Stromabwärts. Das Stück Kunststoff taumelte auf den winzigen Wellen, und die Reihe der Buchstaben und Nummern aus schwarzem Lack war für einen Augenblick deutlich zu lesen.
NB-675H.
Heckleitwerk.
Henri vernahm nicht das stoßende Atmen neben sich und den Rhythmus der herausgequetschten "Nein, nein, nein, nein, nein", der andauerte.
Startabbruch
Henri hielt das Steuerhorn der kleinen Maschine fest mit seinen Händen umklammert. Den Oberkörper hatte er leicht nach vorn gebeugt und seine Augen konzentriert auf den verschwommenen Horizont gerichtet, der im Nebel versank. Er hatte den Wetterbericht eingeschaltet, bevor sie das Flugzeug aus dem Hangar gerollt hatten, und alles hatte sich richtig angehört. Dreiundzwanzig Grad Lufttemperatur, trocken und nur leichte Höhenwinde, hatte die Stimme aus dem kleinen Radio verkündet. Mr. Wettermann, der mit seinem in die Breite geflossenen Hinterteil in einem versiegelten, staubfreien Studio saß, musste es wissen.
Sie waren auf der holperigen Graspiste gestartet, vollkommen unbeobachtet von Zaungästen oder anderen Piloten. Die Sonne schien auf die Tragflächen und in die Kanzel hinein. Die kleinen silbernen Köpfe der Nieten blinzelten jedem Lichtstrahl zu. Das Aufbrummen des Flugzeugmotors hatte die Ruhe und die träge Atmosphäre durchschnitten, die wie ein klebriger Schleier über der Wiese mit dem grauen Wellblechhangar hing. Sie waren an das Ende der Startbahn gerollt, Henri hatte noch einmal einen prüfenden Blick auf Davids Sicherheitsgurt geworfen, durch seinen Kopf raste in Sekundenschnelle eine letzte Checkliste; dann hatte er schon den Gashebel ganz nach vorne gedrückt. Nach einhundert Metern war das Rumpeln und Klappern einem Dröhnen gewichen. Davids Magen waren im Moment des Starts ein paar winzige Flügel gewachsen, die angefangen hatten, hektisch zu schlagen. Besonders als Henri das Flugzeug in eine steile Kurve gelegt hatte, um seinem Freund den bestmöglichen Ausblick über den kleinen Flugplatz, das Dorf, den Badesee und die Wiesen zu gewähren. In der Ferne waren der Kirchturm und ein paar rote Ziegeldächer der kleinen Stadt zu erkennen gewesen. Nichts Neues im Osten. Ihr Ziel lag in einer anderen Richtung.
Sie hatten ein Gehöft überflogen und konnten gerade die große Trichtermündung der Weser in der Ferne erahnen, als sich am Horizont eine dünne graue Linie ausgebreitet hatte. Henri hatte das Flugzeug weiter aufsteigen lassen, so lange, bis sie über den kleinen Wolkenfetzen flogen, die aufgezogen waren. Dann hatte sich mit einem Schlag eine dichte Schicht aus blassgrauem Dunst unter ihnen ausgebreitet, und aus dem vorerst leichten Vorhang war innerhalb von Minuten eine dichte Nebelbank geworden. Henri hatte sich besorgt umgesehen, das Flugzeug mit kleinen Bewegungen der Querruder um seine Längsachse kippen lassen und über den Rand der Kanzel hinweg nach unten gespäht. Wenn sich das Gefühl in ihm regte, handeln zu müssen, das aus der Gegend um den Solarplexus heraufkletterte, hatte er keine Wahl. Es war eine Sache, die er noch genauer nahm als alles andere.
Jeder Tag hielt für Henri eine Liste mit neuen Aufgaben bereit, die er erledigte. Das Essen eines Stückes Pizza, ohne sich zu bekleckern, seinen Schwanz richtig zu bewegen, um nicht zu früh zu kommen, die Lösung einer Flugkalkulationsaufgabe in den verbleibenden dreizehn Minuten einer Prüfung. Ein Flugzeug zu landen. Aufgaben, denen er sich gegenübergestellt sah wie einer Reihe von Verdächtigen bei der Identifizierung des wahren Zeitdiebes. Und die Gesichter glichen sich: die der acht Gestalten vor der weißen Wand, das des Mannes, der ihn am Arm festhielt, damit er seiner Pflicht auch nachkam. Seines. Henri konnte seinen Tag nicht einfach abhaken, ohne dass er seine Aufgaben erfüllt hatte. Das war nicht einfach, auch heute musste er sich das wieder eingestehen, denn es gab ein Kriterium für ihn, das über die simple Erfüllung seiner Aufgaben hinausging. Er wollte es so gut wie nur irgend möglich tun. Nur gab es nie jemanden, der ihm die Frage beantwortete, wann dies der Fall war.
Um gut zu sein, musste Henri an diesem Tag das Flugzeug auf einen Kurs nach Hause bringen. Aber es war ein "Gut" mit Abstrichen, die ihn unangenehm berührten.
Er zeigte durch das Plexiglas auf den Nebel unter ihnen und zuckte mit den Schultern. Seine Lippen kräuselten sich, als er sie kurz und heftig aufeinander presste.
"Wir müssen umkehren", sagte er. "Zurück zum Flugplatz."
Sie waren erst eine gute Viertelstunde in der Luft. Es war gerade genug Zeit für David gewesen, kurz den Blick schweifen zu lassen und sich an das Ziehen in der Magengegend zu gewöhnen, das während der kleinen Bewegungen des leichten Flugzeuges schnell auftrat. Der Nebel hatte ihm die Aussicht genommen. Auf die Landschaft wie auf die vor ihm liegenden Stunden dieses Tages.
"Wir können die Inseln bei so schlechter Sicht nicht anfliegen. Ich erkenne am Boden nicht genug für eine Landung", fuhr Henri fort. "Wir können es morgen noch einmal probieren."
David lächelte und nickte.
"Das ist keine 747 hier", sagte Henri.
"Ist schon klar."
"Geht eben nicht anders."
"Du bist der Kapitän."
Henri trat das linke Pedal durch und drückte den Steuerhebel nach rechts. Das Flugzeug zitterte und kippte in eine steile Rechtskurve. Von Flügelspitze zu Flügelspitze schien es fast senkrecht in der Luft zu stehen, und die Fliehkraft drückte die beiden schwer in die Sitze. Henri konnte es nicht sehen, aber David grinste, während er mit seinem Gesicht an der Scheibe des Seitenfensters klebte. Er genoss das Gefühl, sich in einer kreisförmigen Bahn im freien Fall zu befinden; genoss die Kräfte, die Vibrationen und den Eindruck, durch eine Luke senkrecht auf den Boden zu blicken.
"Alles klar?", fragte Henri.
Erst letzte Woche hatte er drei Stunden damit verbracht, das Cockpit von den Resten eines großen Frühstücks zu befreien. Inklusive Oliven und Orangensaft. Klebrige Spuren von Ciabattabrot auf dem Höhenmesser. Die gute italienische Küche.
Charlottes Bruder war ein Bodenlebewesen, und einige kleine Turbulenzen, in die sie auf halbem Weg nach Hause geraten waren, winzige Veränderungen in den Luftströmungen, welche die Flügelspitzen hatten vibrieren lassen, waren mehr als ausreichend gewesen. Eriks Magen hatte sich zu einer harten Kugel verkrampft. Als der zerkaute Mozarella aus ihm herauszuspritzen begann, hatte Henri ihm nur einen müden Seitenblick zugeworfen.Fliegen, das bedeutete für Henri, sich dem Luftmeer anzuvertrauen und sich seinen Regeln ganz zu ergeben. Einen Schritt vorwärts zu wagen und Fühlung aufzunehmen, mit dem, was fremd und feindlich anmutete, das Element erfassen, nicht bestaunen, es aufzunehmen und den Bewegungen eines erfahrenen Schwimmers im Wasser gleich sich durch die Luft zu bewegen, ihre Kraft und Gesetze zu spüren, um mit ihnen gemeinsam zu etwas Emergierendem zu werden.
Im Herbst kommt nur sehr selten jemand hierher. Die Jahreszeit der frühen Dämmerung vernichtet die Träume, sperrt Paare in ihre Wohnungen, lässt ein verzeihliches Gefühl von Erschöpfung aufkommen. Die Bewohner der Inseln sind dann wieder unter sich. Trotzig stellen sie sich den Stürmen entgegen, die ab Ende September von Norden her über die flachen Inseln hinwegfegen, und zählen die Tage bis zum Frühjahr. So lange herrscht Ruhe.
Die Leute, die auf die kleinen Inseln kommen, suchen nach einem besonderen Platz. Mit scharrenden Füßen wenden sie Sandkörner, ihre Perspektiven gleichen der Flucht zweier Schienen, die sich nur scheinbar in der Ferne vereinen. Ältere Männer legen ihre Handtücher probeweise an dem Fuß des Dünenbewuchses auf den Sand, lassen sich darauf nieder und blicken mit auf die Brust gezogenem Kinn den Strand nach links und rechts hinunter, um dann mit einem Seufzen wieder aufzustehen und mit ihrem Handtuch einige Schritte weiterzugehen. In der Hoffnung, hier eine Ahnung der ersehnten Zufriedenheit zu finden.
Haben sie doch schon als Teenager festgestellt, dass jeder Strand, an dem sie jemals entlanglaufen, nur eine Variation dieses allerersten Stückes gelben Sandes ist, auf den sie ihre Füße gesetzt haben. Als Vierjährige, noch ein ganzes Universum vor sich; indessen die Reise nun auf der inneren Bahn eines Lorenz-Attraktors verläuft, auf enger werdenden Schleifen, und die Fliehkräfte sie schmerzhaft ihren unbequemen Sitz spüren lassen.
Diese Menschen kommen mit der Fähre und manchmal mit Flugzeugen. Schon bald reisen sie nur noch durch die Luft, denn das Fliegen erzeugt ein Gefühl, das sie zwischen den Sandkörnern und den Wassermolekülen nicht mehr gefunden haben.
Das Besondere. Einen Hauch von Exklusivität, vielleicht gar ...Abenteuer.
Oder zumindest die Hoffnung darauf.
Dämmerung
Das Wasser hatte um dreizehn Minuten nach einundzwanzig Uhr aufgehört zu steigen.
Es war eine Handbreit unter Davids Kinn, der ein gutes Stück kleiner war als Henri, zum Stehen gekommen. Seine hellblauen Augen starrten auf die graue Oberfläche, die sich vor ihm ausbreitete, auf den Zentimetern vor ihm, Meter weiter, Kilometer bis zum Horizont. Henri hatte braune Augen, das fiel ihm heute zum ersten Mal auf, nach über sechzehn Jahren. Sie waren nur einen Meter von ihm entfernt, undeutlich zu erkennen im Zwielicht der letzten Minuten eines schwülwarmen Sommertages. Augen, denen er Vertrauen schenkte, jetzt mehr denn je, da diese Augen bereit waren, Fehler zuzugeben.
Sie hatten Cocktails mit Maraschinokirschen getrunken; vor zwei Tagen war das gewesen, und jetzt standen sie hier. Henri hatte nicht einen Tropfen angerührt. Aus Prinzip. Es hatte nichts genutzt. Eine falsche Bewegung, ein Zucken, ein Zittern, und man war aus dem Spiel. Zurückhaltung rettete niemanden über den nächsten Tag. Das süße Aroma der kandierten Früchte lag David noch auf der Zunge, auf der sich der salzige Geschmack des Nordseewassers mit einer eingebildeten Trockenheit mischte.
Henris Augen. Er hatte sie sich nie angesehen.
Die Wellen waren nicht hoch, eher ein Kräuseln, hervorgerufen durch eine laue Abendbrise. Des guten Wetters wegen kamen die Touristen. Auf die Insel, die sich als grauer Schleier in der Ferne abzeichnete, die verdammte Insel, wo alles begann und endete, Henris Flüge, Henris endlose Geilheit, dieser Flug mit seiner begrenzten Reichweite, dem eng gesteckten Horizont. Davids Horizont. Die Wasserfläche wirkte leblos, doch er spürte schon die Würmer an seinen Waden heraufkrabbeln, Antennen und Scheren der Garnelen herumtasten, Fische mit rauen Lippen Kontakt aufnehmen, vielleicht eine Heringsart. Nicht leblos. Nicht einmal in seiner Phantasie, die ihn stets begleitet hatte, unter Wasser, an der Luft. Es gab überall genug Schatten, um zu erschrecken. Seine Erfahrungen waren ein lächerlicher Schild.
David spürte die kleinen Fettfalten an seinem Bauch, die im kühlen Wasser langsam zu einer tauben Masse erstarben, sich damit nur dem Zustand annäherten, der ihn bereits Tage und Nächte begleitet hatte. Er griff sich unter das T-Shirt und drückte die Wülste, dachte plötzlich schuldbewusst an Mengen von Bier, Rotwein und Fleisch, die er genossen hatte und die ihn heute vor der Auskühlung schützen sollten. Es hinauszögern sollten. Was auch immer dann kam und sich bis auf die letzte quälende Sekunde zu einer großen Szene in Zeitlupe ausdehnen würde.
Er lachte. Hob einen Arm aus dem Wasser und schlug mit einem Platschen auf die Oberfläche.
Er hörte sich weit entfernt sagen: "Prima Urlaub."
Die braunen Augen zitterten in ihren Höhlen und fixierten ihn schließlich.
Es blieben zwei Minuten.
Das war das Letzte, was sie im schwindenden Tageslicht deutlich sehen konnten: die graue, bewegte Oberfläche bis zum Horizont. Kein Schaum, keinen Badewannenrand, keine Badeleiter an der Swimmingpoolkante, keine Cocktailbar unter Sonnenschirmen. Nur ihre beiden Köpfe, die aus dem Wasser ragten, 53° 44' 26'' nördlicher Breite und 7° 8' 49'' östlicher Länge. Dreitausendsiebenhundert Meter vor der Küste der kleinen Insel. Ihre nassen Haare, das wachsende Unbehagen in ihren Gesichtern, das nur eine Ankündigung war.
"Henri?", sagte David.
Er antwortete nicht. Er hatte seinen Blick gesenkt und sich die Unterlippe blutig gebissen. Jetzt bohrte er wieder und wieder seinen linken Eckzahn in die kleine Wunde und saugte das herausquellende Blut mit einem leisen Schmatzgeräusch auf. Es war die einzige Regung in Henris Gesicht.
"Ich kann nicht mehr stehen", sagte Henri schließlich. Er bewegte seine Lippen nicht dabei.
David machte einen langsamen Schritt. Er verlor den Grund unter seinen Füßen. Mit einem vorsichtigen Zug schwamm er das winzige Stück, tastete nach dem sandigen Boden, fand Halt und legte Henri seinen rechten Arm um die Hüfte. Er spürte, wie dieser sein Gewicht auf ihn sinken ließ, und fasste fester zu.
"Mein Bein", sagte Henri.
"Stütz dich mit deinem Arm auf meine Schulter", sagte David.
Anderthalb Minuten.
Das Wasser war langsam mit der einsetzenden Flut gestiegen. Es hatte ihre Füße durch seine sanft scheinende, aber unaufhaltsam fließende Strömung in den feinen Grund der Sandbank sinken lassen. Sie hatten sich immer wieder aus dem weichen Untergrund befreien müssen. Sie taten es mechanisch, wie unter Chloroform betäubte Insekten, die in einer Petrischale herumstaksen, während die Welt um sie herum einstürzt.
David musste dabei an das schmatzende Geräusch denken, das seine Gummistiefel gemacht hatten, wenn er als Fünfjähriger bei Regenwetter durch den tiefer gelegenen Teil des Gartens am Haus seiner Eltern gelaufen war. Schlammschlachten waren damals unterhaltsam. Der Traum von großen Würmern und schuppigen Kreaturen, die sich aus der zähen Masse erhoben, war Wirklichkeit geworden. Das Spiel war vorbei.
Eine Minute.
Davids Hände begannen zu zittern. Nicht ausgelöst durch das kühle Wasser. Das würde später geschehen. Noch früh genug. Es würde anders sein. So dermaßen neu, wie es nichts zuvor gewesen war, das er je gefühlt hatte. Hypothermia. Das Wort blitze in seiner Vorstellung in Fettdruck wie aus den Seiten der Encyclopedia Britannica auf. Er wusste alles darüber. Jede verfluchte Einzelheit, die Anzeichen, die Stadien, er konnte sich ausrechnen, wie lange es dauern würde. Er spürte, wie das Zucken seiner Hände von seinen Armen Besitz ergriff, wie Myofibrillen asynchron kontrahierten, unsichtbare Spannungen und Torsionskräfte seine Gliedmaßen schüttelten. Und er dachte an eine Zeile aus einem Lied, das er vor Jahrhunderten gehört haben musste. Tell me who your puppet master is. Und er spürte das Ziehen an den Schnüren über seinem Kopf und hörte das hämische Lachen, das hinter dem Holzrahmen der Bühne erscholl. Unhörbar für ihn, unhörbar für ein Publikum, das er sich nur eingebildet hatte.
Es blieben: dreißig Sekunden.
David hörte ein Geräusch neben sich. Ein leises, irres Stöhnen. Ein schrilles Röcheln, das sich allmählich zu einem organischen Sirenenton aufschwang. Er blickte Henri an. Der hatte seinen Mund halb geöffnet. Er blinzelte langsam und monoton. Gepresster Atem. David spürte unter seiner Hand im Wasser, wie Henris bereits verkrampfte Schultermuskulatur zu Stein wurde.
Er tat nichts.
Die Dunkelheit brach um einundzwanzig Uhr und achtzehn Minuten über sie herein.
Eine arabische Nacht ohne das rettende Aroma der Verlockung. Keine Tänzerinnen. Die Sterne zu hoch über ihnen. Und die Insel. Die verdammte Insel, die David schwimmend mühelos erreicht hätte. Alleine. Die Insel. Auf die sie gewollt hatten. Sie war dort draußen. Er musste sie jetzt vergessen. Alleine. Er musste nur losschwimmen. Ganz einfach. Dies war sein Element. Das Wasser sprach zu ihm.
Begleitet von einem Geräusch. Tick. Tick. Tick. Einem Glimmen auf dem Zifferblatt. Zwölf blassgelbe Punkte auf Davids Schulter. Phosphoreszierende Zeitintervalle.
Die Uhr an Henris Handgelenk war wasserdicht. Er hatte sie mit David zusammen ausgesucht. Es war der erste Gegenstand, den er sich gekauft hatte, nachdem er seine Zulassung erhalten hatte, das erste Accessoire eines Piloten. Voller Stolz hatte er sie vor dem großen Garderobenspiegel über seinem Handgelenk geschlossen. Voller Verlegenheit hatte er an seinem ersten Arbeitstag auf das linke Handgelenk seines Kapitäns geblickt, an dem dasselbe Modell hing. Der Funken war verloschen. Kaltes Licht.
Etwas trieb auf den Wellen heran und stieß leicht an Davids Wangenknochen. Das Glasfaser-Epoxitharz-Gemisch fühlte sich unwirklich weich auf seiner Haut an, schenkte beinahe Vertrauen. Er schob das Treibgut mit der freien Hand zur Seite, so wie er als Junge gewachste Papierschiffe den kleinen Bach hinter dem Haus seiner Eltern hinuntergestoßen hatte. Nichts benötigte einen großen Anlauf. Alles bewegte sich von alleine. Stromabwärts. Das Stück Kunststoff taumelte auf den winzigen Wellen, und die Reihe der Buchstaben und Nummern aus schwarzem Lack war für einen Augenblick deutlich zu lesen.
NB-675H.
Heckleitwerk.
Henri vernahm nicht das stoßende Atmen neben sich und den Rhythmus der herausgequetschten "Nein, nein, nein, nein, nein", der andauerte.
Startabbruch
Henri hielt das Steuerhorn der kleinen Maschine fest mit seinen Händen umklammert. Den Oberkörper hatte er leicht nach vorn gebeugt und seine Augen konzentriert auf den verschwommenen Horizont gerichtet, der im Nebel versank. Er hatte den Wetterbericht eingeschaltet, bevor sie das Flugzeug aus dem Hangar gerollt hatten, und alles hatte sich richtig angehört. Dreiundzwanzig Grad Lufttemperatur, trocken und nur leichte Höhenwinde, hatte die Stimme aus dem kleinen Radio verkündet. Mr. Wettermann, der mit seinem in die Breite geflossenen Hinterteil in einem versiegelten, staubfreien Studio saß, musste es wissen.
Sie waren auf der holperigen Graspiste gestartet, vollkommen unbeobachtet von Zaungästen oder anderen Piloten. Die Sonne schien auf die Tragflächen und in die Kanzel hinein. Die kleinen silbernen Köpfe der Nieten blinzelten jedem Lichtstrahl zu. Das Aufbrummen des Flugzeugmotors hatte die Ruhe und die träge Atmosphäre durchschnitten, die wie ein klebriger Schleier über der Wiese mit dem grauen Wellblechhangar hing. Sie waren an das Ende der Startbahn gerollt, Henri hatte noch einmal einen prüfenden Blick auf Davids Sicherheitsgurt geworfen, durch seinen Kopf raste in Sekundenschnelle eine letzte Checkliste; dann hatte er schon den Gashebel ganz nach vorne gedrückt. Nach einhundert Metern war das Rumpeln und Klappern einem Dröhnen gewichen. Davids Magen waren im Moment des Starts ein paar winzige Flügel gewachsen, die angefangen hatten, hektisch zu schlagen. Besonders als Henri das Flugzeug in eine steile Kurve gelegt hatte, um seinem Freund den bestmöglichen Ausblick über den kleinen Flugplatz, das Dorf, den Badesee und die Wiesen zu gewähren. In der Ferne waren der Kirchturm und ein paar rote Ziegeldächer der kleinen Stadt zu erkennen gewesen. Nichts Neues im Osten. Ihr Ziel lag in einer anderen Richtung.
Sie hatten ein Gehöft überflogen und konnten gerade die große Trichtermündung der Weser in der Ferne erahnen, als sich am Horizont eine dünne graue Linie ausgebreitet hatte. Henri hatte das Flugzeug weiter aufsteigen lassen, so lange, bis sie über den kleinen Wolkenfetzen flogen, die aufgezogen waren. Dann hatte sich mit einem Schlag eine dichte Schicht aus blassgrauem Dunst unter ihnen ausgebreitet, und aus dem vorerst leichten Vorhang war innerhalb von Minuten eine dichte Nebelbank geworden. Henri hatte sich besorgt umgesehen, das Flugzeug mit kleinen Bewegungen der Querruder um seine Längsachse kippen lassen und über den Rand der Kanzel hinweg nach unten gespäht. Wenn sich das Gefühl in ihm regte, handeln zu müssen, das aus der Gegend um den Solarplexus heraufkletterte, hatte er keine Wahl. Es war eine Sache, die er noch genauer nahm als alles andere.
Jeder Tag hielt für Henri eine Liste mit neuen Aufgaben bereit, die er erledigte. Das Essen eines Stückes Pizza, ohne sich zu bekleckern, seinen Schwanz richtig zu bewegen, um nicht zu früh zu kommen, die Lösung einer Flugkalkulationsaufgabe in den verbleibenden dreizehn Minuten einer Prüfung. Ein Flugzeug zu landen. Aufgaben, denen er sich gegenübergestellt sah wie einer Reihe von Verdächtigen bei der Identifizierung des wahren Zeitdiebes. Und die Gesichter glichen sich: die der acht Gestalten vor der weißen Wand, das des Mannes, der ihn am Arm festhielt, damit er seiner Pflicht auch nachkam. Seines. Henri konnte seinen Tag nicht einfach abhaken, ohne dass er seine Aufgaben erfüllt hatte. Das war nicht einfach, auch heute musste er sich das wieder eingestehen, denn es gab ein Kriterium für ihn, das über die simple Erfüllung seiner Aufgaben hinausging. Er wollte es so gut wie nur irgend möglich tun. Nur gab es nie jemanden, der ihm die Frage beantwortete, wann dies der Fall war.
Um gut zu sein, musste Henri an diesem Tag das Flugzeug auf einen Kurs nach Hause bringen. Aber es war ein "Gut" mit Abstrichen, die ihn unangenehm berührten.
Er zeigte durch das Plexiglas auf den Nebel unter ihnen und zuckte mit den Schultern. Seine Lippen kräuselten sich, als er sie kurz und heftig aufeinander presste.
"Wir müssen umkehren", sagte er. "Zurück zum Flugplatz."
Sie waren erst eine gute Viertelstunde in der Luft. Es war gerade genug Zeit für David gewesen, kurz den Blick schweifen zu lassen und sich an das Ziehen in der Magengegend zu gewöhnen, das während der kleinen Bewegungen des leichten Flugzeuges schnell auftrat. Der Nebel hatte ihm die Aussicht genommen. Auf die Landschaft wie auf die vor ihm liegenden Stunden dieses Tages.
"Wir können die Inseln bei so schlechter Sicht nicht anfliegen. Ich erkenne am Boden nicht genug für eine Landung", fuhr Henri fort. "Wir können es morgen noch einmal probieren."
David lächelte und nickte.
"Das ist keine 747 hier", sagte Henri.
"Ist schon klar."
"Geht eben nicht anders."
"Du bist der Kapitän."
Henri trat das linke Pedal durch und drückte den Steuerhebel nach rechts. Das Flugzeug zitterte und kippte in eine steile Rechtskurve. Von Flügelspitze zu Flügelspitze schien es fast senkrecht in der Luft zu stehen, und die Fliehkraft drückte die beiden schwer in die Sitze. Henri konnte es nicht sehen, aber David grinste, während er mit seinem Gesicht an der Scheibe des Seitenfensters klebte. Er genoss das Gefühl, sich in einer kreisförmigen Bahn im freien Fall zu befinden; genoss die Kräfte, die Vibrationen und den Eindruck, durch eine Luke senkrecht auf den Boden zu blicken.
"Alles klar?", fragte Henri.
Erst letzte Woche hatte er drei Stunden damit verbracht, das Cockpit von den Resten eines großen Frühstücks zu befreien. Inklusive Oliven und Orangensaft. Klebrige Spuren von Ciabattabrot auf dem Höhenmesser. Die gute italienische Küche.
Charlottes Bruder war ein Bodenlebewesen, und einige kleine Turbulenzen, in die sie auf halbem Weg nach Hause geraten waren, winzige Veränderungen in den Luftströmungen, welche die Flügelspitzen hatten vibrieren lassen, waren mehr als ausreichend gewesen. Eriks Magen hatte sich zu einer harten Kugel verkrampft. Als der zerkaute Mozarella aus ihm herauszuspritzen begann, hatte Henri ihm nur einen müden Seitenblick zugeworfen.Fliegen, das bedeutete für Henri, sich dem Luftmeer anzuvertrauen und sich seinen Regeln ganz zu ergeben. Einen Schritt vorwärts zu wagen und Fühlung aufzunehmen, mit dem, was fremd und feindlich anmutete, das Element erfassen, nicht bestaunen, es aufzunehmen und den Bewegungen eines erfahrenen Schwimmers im Wasser gleich sich durch die Luft zu bewegen, ihre Kraft und Gesetze zu spüren, um mit ihnen gemeinsam zu etwas Emergierendem zu werden.
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Autoren-Porträt von Mark Pätzold
Mark Pätzold, Jahrgang 1974, hat nach seinem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik unter anderem als Tauchlehrer, Grafiker, Fotograf und Journalist gearbeitet. Er hat bereits mehrere Texte und Beiträge in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Mark Pätzold lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mark Pätzold
- 2006, 318 Seiten, Maße: 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442463424
- ISBN-13: 9783442463428
Rezension zu „Sturzflug “
"Mark Pätzold hat mit seinem Debütroman ein perfekt konstruiertes, ausgeklügeltes und raffiniertes Werk geschrieben." (BRIGITTE (Meike Dinklage, Ressortleitung Kultur))
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