Sündenfall / Die Legende von Isaak Bd.1
Roman. Deutsche Erstausgabe
Als Rudolfo, der Herr der Neun Wälder, in der Ferne eine gewaltige Rauchsäule aufsteigen sieht, erkennt er, dass etwas Schreckliches geschehen ist - und dass die Zeiten des Friedens vorbei sind: Die Metropole Windwir, in der das gesamte Wissen...
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Produktinformationen zu „Sündenfall / Die Legende von Isaak Bd.1 “
Als Rudolfo, der Herr der Neun Wälder, in der Ferne eine gewaltige Rauchsäule aufsteigen sieht, erkennt er, dass etwas Schreckliches geschehen ist - und dass die Zeiten des Friedens vorbei sind: Die Metropole Windwir, in der das gesamte Wissen einer längst vergessenen Vergangenheit bewahrt wurde, ist nur noch ein Haufen schwelender Trümmer. Dort angekommen, stoßen Rudolfo und seine Männer inmitten des Ruinenfeldes auf den geheimnisvollen Metallmann Isaak. Ist der gramerfüllte Isaak der einzige Überlebende der Katastrophe - oder hat er sie womöglich sogar ausgelöst?
Klappentext zu „Sündenfall / Die Legende von Isaak Bd.1 “
Als Rudolfo, der Herr der Neun Wälder, in der Ferne eine gewaltige Rauchsäule aufsteigen sieht, erkennt er, dass etwas Schreckliches geschehen ist - und dass die Zeiten des Friedens vorbei sind: Die Metropole Windwir, in der das gesamte Wissen einer längst vergessenen Vergangenheit bewahrt wurde, ist nur noch ein Haufen schwelender Trümmer. Dort angekommen, stoßen Rudolfo und seine Männer inmitten des Ruinenfeldes auf den geheimnisvollen Metallmann Isaak. Ist der gramerfüllte Isaak der einzige Überlebende der Katastrophe - oder hat er sie womöglich sogar ausgelöst?
"Ken Scholes' Sündenfall gebührt ein fester Platz in jeder Bibliothek." -- Library Journal
Lese-Probe zu „Sündenfall / Die Legende von Isaak Bd.1 “
Sündenfall von Ken Scholes Aus dem Englischen von Simone Heller
Vorspiel
Windwir ist eine Stadt aus Papier und Talaren und Stein.
Unweit eines breiten, träge dahinfließenden Flusses kauert sie
am Rande der Benannten Lande. Ihren Namen hat sie von einem
Dichter, der zum Papst wurde - zum ersten Papst der Neuen
Welt. Ein Dorf im Wald, das zum Mittelpunkt der Welt geworden
war. Heimstatt des Androfranzinerordens und seiner Großen
Bibliothek. Heimstatt vieler Wunder, sowohl wissenschaftlicher
als auch magischer Natur.
Eines dieser Wunder hält hoch oben Wacht.
Es ist ein Vogel ganz aus Metall, ein goldener Funke vor der
blauen Weite, der in der Nachmittagssonne aufblitzt. Der Vogel
kreist und wartet ab.
Als unten das Lied beginnt, verfolgt der goldene Vogel, wie
sich die Melodie entfaltet. Ein Schatten fällt auf die Stadt und die
Luft wird träge. Winzige Gestalten halten in ihren Bewegungen
inne und blicken auf. Ein Schwarm Vögel erhebt sich und stiebt
auseinander. Der Himmel wird entzweigerissen und Feuer regnet
herab, bis nichts mehr bleibt als vollkommene Finsternis.
Finsternis und Hitze.
Die Hitze ergreift den Vogel und wirft ihn weiter in den Himmel
hinein. Ein Zahnrad dreht durch; die Flügel des Vogels gleichen
die Abweichung aus, doch eine heranwogende schwarze
Wolke entreißt ihm im Vorbeiziehen ein Auge.
... mehr
Die Stadt schreit, dann seufzt sie sieben Mal, und nach dem
siebten Seufzer kehrt das Sonnenlicht für kurze Zeit auf das ver-
sengte Land zurück. Die Ebene ist jetzt schwarz, Türme, Mauern
und Zinnen sind in sich zusammengestürzt und in Kratern versunken,
wo das Aufstampfen der Verwüstung Keller zum
Einsturz gebracht hat. Ein Wald aus Knochen, von der uralten
Blutmagie unversehrt gelassen, steht auf der rauchenden, pockennarbigen
Ebene.
Erneut verschlingt die Finsternis das Licht, als eine Säule aus
Rauch und Asche die Sonne verdunkelt. Schließlich flieht der
goldene Vogel nach Südwesten.
Mit Leichtigkeit überholt er die anderen Vögel, die mit rauchenden
Flügeln wild gegen die heißen Winde ankämpfen und
Botschaften an ihren Beinen tragen, die mit weißem oder rotem
oder schwarzem Garn befestigt sind.
Funkenstiebend und knatternd eilt der goldene Vogel tief
über die Landschaft dahin und träumt von dem Käfig, der auf
ihn wartet.
Kapitel 1
Rudolfo
Der Wind fegte über das Gräserne Meer, und Rudolfo jagte ihm
lachend nach, während er tief in den Sattel geduckt seinen
Zigeunerspähern ein Rennen lieferte. Die Nachmittagssonne
glitzerte golden auf dem wogenden Gras, und die Hufe der Pferde
hämmerten ihr Lied weit hinaus.
Rudolfo schwelgte in dem weiten gelben Ozean aus Gras, der
die Neun Häuser der Neun Wälder voneinander und von den
anderen Benannten Landen trennte - dies war seine Freiheit
inmitten der Pflichterfüllung, ganz so, wie die Ozeane auch den
zur See fahrenden Herren der Älteren Tage erschienen sein
mussten. Er lächelte und trieb seinen Hengst an.
In Schimmerschein, seinem ersten Haus der Neun Wälder,
hatte er eine wunderbare Zeit verbracht. Rudolfo war vor der
Morgendämmerung angekommen. Unter einem violetten Baldachin,
der für Gerechtigkeit stand, hatte er ein Frühstück aus
Ziegenkäse, Vollkornbrot und gekühltem Birnenwein zu sich
genommen. Während seines Mahles hatte er schweigend den
Anklagen gelauscht, als der Verwalter von Schimmerschein die
Verbrecher vorführte, die diesen Monat gestellt worden waren.
Weil er so ausgesprochen gut gelaunt war, überantwortete
Rudolfo zwei Diebe den Ladenbesitzern, die durch sie zu Schaden
gekommen waren, damit sie ihnen ein Jahr lang dienen soll-
ten, wohingegen er den einzigen Mörder seinen Anatomen der
Bußfertigen Folter im Foltertrakt überbringen ließ. Drei Anklagen
wegen Prostitution ließ er fallen und warb anschließend
zwei der Beschuldigten für seine eigene monatliche Runde an.
Bis zum Mittagessen hatte Rudolfo Aeteros Theorie von der
Sühnenden Verführung entschieden widerlegt und feierte dieses
Ergebnis mit Fasan in Rahmsauce, der auf Wildreis mit Waldpilzen
gereicht wurde.
Dann war er mit vollem Bauch und einem Ruf auf den Lippen
losgeritten, so dass seine Zigeunerspäher sich beeilen mussten,
um mitzuhalten.
In der Tat - ein guter Tag.
»Was jetzt?«, fragte ihn der Hauptmann seiner Zigeunerspäher,
der schreien musste, um die hämmernden Hufschläge zu übertönen.
Rudolfo grinste. »Was würdest du sagen, Gregoric?«
Gregoric erwiderte das Lächeln, was seine Narbe noch viel
unbarmherziger wirken ließ. Der schwarze Schal, der seinen
Rang kennzeichnete, wirbelte hinter ihm her, flatterte als langes
Banner im Wind. »Wir haben uns um Schimmerschein, Rudoheim
und Freundesend gekümmert. Ich denke, der nächstgelegene
Ort ist Paramo.«
»Dann soll es Paramo sein.« Das war auch ganz passend, fand
Rudolfo. Paramo konnte sich nicht mit den Wonnen von Schimmerschein
messen, aber es hatte sich die malerische Atmosphäre
eines Holzfällerdorfes bewahrt, und das seit mindestens tausend
Jahren, was durchaus eine Leistung darstellte. Die Einwohner
flößten ihre Stämme den Rajblut hinab, wie sie es schon seit den
ersten Tagen getan hatten, und behielten nur das, was sie benötigten,
um daraus Holzarbeiten anzufertigen, die zu den aufwendigsten
in der ganzen Welt zählten. Das Bauholz für Rudolfos
Güter kam von den Bäumen Paramos. Die Möbel, die dort hergestellt
wurden, rollten in ganzen Wagenladungen aus dem Ort,
und die besten Stücke davon fanden ihren Weg in die Häuser
von Königen, Priestern und Adligen in den gesamten Benannten
Landen.
Heute Abend würde Rudolfo gebratenen Eber speisen, den
Prahlereien und den Blähungen seiner besten Männer lauschen
und mit einem Sattel unter dem Kopf auf dem Boden schlafen -
ganz wie ein Zigeunerkönig. Und morgen würde er gekühlten
Wein aus dem Nabel einer Tänzerin der Holzfällerlager schlürfen,
hören, wie ihre Seufzer eins wurden mit dem Quaken der
Frösche in den Untiefen des Flusses, und dann im weichsten
aller Betten auf dem Sommerbalkon seiner Dritten Waldresidenz
einschlafen.
Rudolfo lächelte.
Doch als er sich nach Süden wandte, erstarb sein Lächeln. Er
zügelte sein Pferd und blinzelte ins Sonnenlicht. Die Zigeunerspäher
taten es ihm gleich und beruhigten mit Pfiffen ihre
Pferde, die langsamer wurden, anhielten und dann tänzelnd dastanden.
»Bei den Göttern«, sagte Gregoric. »Wodurch kann so etwas
nur zustande kommen?«
Im Südwesten, hoch aufgebauscht über dem Waldsaum am
Horizont, der die entfernteste Grenze seines Reiches markierte,
reckte sich eine Säule aus schwarzem Rauch wie eine Faust in den Himmel.
Rudolfo starrte, und sein Magen verkrampfte sich. Allein die
Größe der Rauchwolke schüchterte ihn ein; sie war unvorstellbar.
Er blinzelte, und sein Verstand machte sich so weit von dem
Anblick frei, dass er ein paar Berechnungen durchführen konnte,
indem er rasch die Entfernung und die Richtung anhand des
Sonnenstandes und der wenigen Sterne ermittelte, die hell genug
waren, um auch bei Tag zu scheinen.
»Windwir«, sagte er, ohne dass es ihm bewusst wurde.
Gregoric nickte. »Jawohl, General. Aber was kann das sein?«
Rudolfo wandte sich von der Wolke ab, um seinen Befehlshaber
zu mustern. Er kannte Gregoric schon seit Kindertagen und
hatte ihn mit fünfzehn Jahren zum jüngsten Hauptmann der
Zigeunerspäher gemacht, als er selbst erst zwölf gewesen war.
Sie hatten viel zusammen erlebt, aber Rudolfo hatte Gregoric
noch nie zuvor erbleichen sehen.
»Wir werden es allzu bald erfahren«, sagte Rudolfo. Dann
stieß er einen Pfiff aus, um seine Männer zu sich zu rufen. »Ich
will, dass Reiter zu allen Neun Häusern ausschwärmen, um die
Streunende Armee zu versammeln. Zwischen uns und Windwir
besteht Bundschaft; ihre Vögel werden schon unterwegs sein.
Wir treffen uns in einem Tag in den Steppen des Westens; in drei
Tagen werden wir Windwir zur Seite stehen.«
»Sollen wir die Späher magifizieren, General?«
Rudolfo strich sich über den Bart. »Ich glaube nicht.« Er überlegte
einen Augenblick lang. »Aber wir sollten darauf vorbereitet
sein«, fügte er hinzu.
Gregoric nickte und erteilte mit bellender Stimme die Befehle.
Während die neun Zigeunerspäher fortritten, ließ Rudolfo
sich aus dem Sattel gleiten und betrachtete die schwarze Säule.
Der Pfeiler aus Rauch, so breit wie eine Stadt, verlor sich im
Himmel.
Rudolfo, der Herr der Neun Häuser der Neun Wälder, der
General der Streunenden Armee, spürte, wie Neugier und Angst
zitternd über seine Wirbelsäule tanzten.
»Was, wenn sie nicht da ist, wenn wir ankommen?«, fragte er sich laut.
Und er wusste - ohne es wirklich wissen zu wollen -, dass die
Stadt nicht mehr da sein würde und dass sich aus diesem Grund
die Welt verändert hatte.
Petronus
Petronus war mit dem Flicken des Netzes fertig und verstaute es
im Bug seines Bootes. Es war ein weiterer ruhiger Tag auf dem
Wasser gewesen - ein weiterer Tag, an dem kaum etwas
Nennenswertes geschehen war, aber damit war er zufrieden.
Heute Abend würde er in der Schenke mit den anderen speisen,
zu viel essen und zu viel trinken und schließlich auf die
schlüpfrigen Reimlieder verfallen, für die er entlang der ganzen
Küste von Caldusbucht bekannt war. Dafür berühmt zu sein
machte Petronus überhaupt nichts aus. Außerhalb seines kleinen
Dorfes hatten die meisten keine Vorstellung davon, dass
gleich unter dieser Oberfläche weitaus größerer Ruhm verborgen war.
Petronus der Fischer hatte ein anderes Leben geführt, ehe er
zu seinen Netzen und seinem Boot zurückgekehrt war. In der
Zeit vor dem Tag, an dem er beschlossen hatte, dieses Leben zu
beenden, hatte Petronus eine Lüge gelebt, die sich zeitweise aufrichtiger
angefühlt hatte als die Liebe eines Kindes. Dennoch
war es eine Lüge gewesen, die an ihm genagt hatte, bis er ihr die
Stirn geboten und sie vor dreiunddreißig Jahren zu Grabe getragen hatte.
Nächste Woche, wie ihm mit einem Lächeln klar wurde. Inzwischen
konnte er Monate verbringen, ohne daran zu denken.
In jüngeren Jahren war das anders gewesen. Aber jedes
Jahr, etwa einen Monat vor dem Jahrestag seines ziemlich
plötzlichen und einfallsreichen Abgangs, überfluteten ihn Erinnerungen
an Windwir, an die Große Bibliothek der Stadt, an
den in Talare gewandeten Orden, und er stellte fest, dass er
sich in seine Vergangenheit verstrickt hatte wie eine Möwe in ein Netz.
Die Sonne tanzte auf dem Wasser, und er sah zu, wie die silbernen
Wellen an den großen und kleinen Schiffsrümpfen auf
blitzten. Über ihm erstreckte sich ein klarer, blauer Himmel, so
weit er sehen konnte, und Meeresvögel schossen durch die Luft
und kreischten laut und hungrig, während sie nach den kleinen
Fischen tauchten, die es wagten, nahe der Oberfläche zu schwimmen.
Ein ungewöhnliches Tier - ein Eisvogel - erhaschte Petronus'
Aufmerksamkeit, und sein Blick folgte ihm, als er eintauchte
und sich wieder aus dem Wasser schlängelte. Petronus drehte
sich mit ihm, beobachtete, wie er seine Flügel krümmte und
durch die Luft glitt, von einem Höhenwind abgedrängt, den
Petronus weder sehen noch spüren konnte.
Auch mich hat ein solcher Wind bedrängt, dachte er, und bei
diesem Gedanken erschauerte der Vogel jäh in der Luft, als ihn
der Wind überwältigte und mit sich riss.
Dann sah Petronus die Wolke, die sich am nordwestlichen
Horizont auftürmte.
Er brauchte keine Berechnungen anzustellen, um die Entfernung
abzuschätzen. Es verging nicht einmal ein Augenblick, bis
er genau wusste, was es war und was es bedeutete.
Windwir.
Wie betäubt sank er auf die Knie, ohne den Blick auch nur für
einen Moment von der Säule aus Rauch abzuwenden, die westwärts
und nördlich von Caldusbucht aufstieg. Die Säule war so
nahe, dass Petronus die kleinen, feurigen Flecken darin sehen
konnte, während der Rauch sich wirbelnd einen Weg gen Himmel
bahnte.
»Oh, meine Kinder«, flüsterte Petronus. Es war ein Zitat aus
dem Ersten Evangelium des P'Andro Whym. »Was habt ihr getan,
um den Zorn des Himmels zu verdienen?«
Jin li Tam
Jin Li Tam verbiss sich ihr Lachen und ließ zu, dass der dicke
Aufseher einen Versuch unternahm, sie durch Vernunft zu überzeugen.
»Es gehört sich nicht«, sagte Sethbert, »dass die Gefährtin
eines Königs im Damensitz reitet.«
Sie machte sich nicht die Mühe, ihn an den feinen Unterschied
zwischen einem Aufseher und einem König zu erinnern.
Stattdessen hielt sie an ihrem Standpunkt fest. »Ich habe auch
nicht vor, im Damensitz zu reiten, mein Herr.«
Jin Li Tam hatte den Großteil des Tages damit zugebracht, sich
in eine Kutsche aus dem Gefolge des Aufsehers zu zwängen, und
sie hatte es satt. Es stand ein ganzes Heer von Pferden bereit -
und von Sätteln ebenso -, und sie wollte den Wind auf ihrem
Gesicht spüren. Außerdem ließ sich vom Inneren der Kutsche
aus nur wenig aufschnappen, und sie wusste, dass sich ihr Vater
einen vollständigen Bericht wünschen würde.
Ein Hauptmann unterbrach sie. Er zog Sethbert zur Seite und
flüsterte ihm etwas zu. Dies nahm Jin Li Tam zum Anlass, sich
aus dem Staub und auf die Suche nach dem richtigen Pferd zu
machen - sie wollte sich endlich ein besseres Bild davon machen,
was hier vor sich ging.
Seit mehr als einer Woche hatte sie schon die Anzeichen beobachtet:
Botenvögel, die kamen und gingen, vermummte Höflinge,
die zu allen Nachtstunden von hier nach dort galoppierten.
Lange Unterredungen unter alten Männern in Uniformen, bald
gedämpfte und bald laute Stimmen, dann abermals Gemurmel.
Die Armee hatte sich rasch zusammengefunden, Truppen aus
jedem der Stadtstaaten, die unter einer gemeinsamen Flagge vereint
wurden. Inzwischen erstreckte sich das Heer auf der Whymerischen
Straße weit nach vorne und nach hinten, ergoss sich
zu beiden Seiten bis über den Rand des schmalen Weges und
zertrampelte auf seinem Gewaltmarsch nach Norden die Felder
und Wälder.
Den Grund dafür bekam sie nicht heraus, sosehr sie sich auch
bemühte. Aber sie wusste, dass die Späher magifiziert waren,
und nach den Gepflogenheiten der Bundschaft bedeutete das,
dass Sethbert und die Entrolusischen Stadtstaaten in den Krieg
zogen. Und ihr war ebenso bewusst, dass es im Norden kaum
etwas gab, abgesehen von Windwir, dem großen Sitz des
Androfranzinerordens, und Rudolfos Neun Häusern der Neun
Wälder noch weiter im Norden und Osten. Aber diese beiden
Nachbarn hielten Bundschaft mit den Entrolusiern, und ihr war
nicht zu Ohren gekommen, dass sie sich in irgendwelchen
Schwierigkeiten befänden, die ein Eingreifen der Entrolusier
nötig machten.
Allerdings war Sethberts Verhalten in letzter Zeit alles in allem
nicht immer von Vernunft gesteuert gewesen.
Obwohl sie bei dem Gedanken daran erschauerte, hatte sie
sein Bett oft genug geteilt, um zu wissen, dass er im Schlaf
sprach und keine Ruhe fand, dass es ihm nicht gelang, sich der
Herausforderung zu stellen, die seine junge, rothaarige Gefährtin
ihm bot. Er rauchte auch mehr von den getrockneten Kallabeeren,
und im Beisein seiner Offiziere drosch er Phrasen oder
gab sich Wutanfällen hin. Trotzdem folgten sie ihm, und dafür
musste es irgendeinen Grund geben. Er verfügte nicht über den
Charme oder das Charisma, um alleine eine ganze Armee zu
bewegen. Um sie durch Schonungslosigkeit anzutreiben, war er
zu faul, und zu freundlichem Ansporn war er nicht in der Lage.
»Was hast du nur vor?«, fragte sie sich laut.
»Meine Dame?« Ein junger Leutnant der Kavallerie auf einer
weißen Stute ragte vor ihr auf. Er hatte ein weiteres Pferd hinter
sich angebunden.
Sie lächelte, wobei sie darauf achtete, sich so zu ihm umzudrehen,
dass er gerade weit genug in ihren Ausschnitt blicken
konnte, dass es sich für ihn lohnte, aber nicht so weit, dass es
ungebührlich gewesen wäre. »Ja, Leutnant?«
»Aufseher Sethbert entbietet Euch seinen Gruß und ersucht
Euch, sich zu ihm zu gesellen.« Der junge Mann zog das Pferd
nach vorne und reichte ihr die Zügel.
Jin nahm sie entgegen und nickte. »Ich nehme an, Ihr werdet
mit mir reiten?«
Der Leutnant nickte ebenfalls. »Ja, er hat mich darum gebeten.«
Nachdem sie in den Sattel gestiegen war, richtete sie ihren
Rock und stemmte sich gegen die Steigbügel. Wenn sie sich
ganz streckte, konnte sie gerade noch die Spitze und das Ende
der langen Reihe von Soldaten ausmachen. Sie trieb ihr Pferd an.
»Dann wollen wir den Aufseher nicht warten lassen.«
Sethbert erwartete sie an einer Stelle, an der die Straße über
den Kamm einer Anhöhe führte. Sie sah, wie die Sklaven seinen
dunkelroten Baldachin am höchsten Punkt der Straße aufbauten,
und fragte sich, weshalb sie hier anhielten, mitten im Nirgendwo.
Als sie hinaufritt, winkte er ihr zu. Sein Gesicht war gerötet, er
wirkte richtiggehend erregt. Seine Backen bebten, und Schweißperlen
standen ihm auf der Stirn. »Gleich ist es so weit«, sagte er. »Gleich.«
Jin blickte zum Himmel auf. Bis die Sonne unterging, würde
es noch mindestens vier Stunden dauern. Sie schaute zu ihm
zurück und ließ sich dann aus dem Sattel gleiten. »Was ist gleich
so weit, mein Herr?«
Inzwischen wurden Stühle für sie aufgestellt, Wein eingeschenkt
und Geschirr vorbereitet. »Oh, das wirst du schon
sehen«, sagte Sethbert, während er sein fettes Hinterteil auf
einen Stuhl bugsierte, der unter ihm ächzte.
Jin Li Tam setzte sich hin, nahm den Wein entgegen und nippte daran.
»Dies«, sagte Sethbert, »ist meine vortrefflichste Stunde.« Er
sah sie an und zwinkerte. In seinen Augen stand der glasige, in
die Ferne gerichtete Blick, den sie schon einige Male während
ihrer intimeren Momente an ihm beobachtet hatte. Ein Blick,
von dem sie wünschte, auch sie könne sich den Luxus leisten,
ihn in solchen Augenblicken aufzusetzen und trotzdem noch die
Spionin ihres Vaters zu bleiben.
»Was ...« Aber mitten im Satz hielt sie inne. Weit entfernt,
jenseits der Wälder und hinter dem Glitzern des Dritten Flusses,
der sich nordwärts schlängelte, blitzte ein Licht am Himmel auf,
und ein kleiner Kranz aus Rauch begann sich am Horizont zu
erheben. Dieser kleine Kranz dehnte sich stetig nach oben und
außen aus, eine Säule aus tiefstem Schwarz vor dem blauen
Himmel, die immer weiter wuchs.
Sethbert kicherte und beugte sich vor, um Jin ins Knie zu
kneifen. »Oh. Es ist sogar noch besser, als ich gedacht habe.« Sie
zwang sich dazu, ihre Augen lange genug von dem Anblick loszureißen,
um sein breites Lächeln wahrzunehmen. »Sieh es dir an.«
Und inzwischen erklang ein Keuchen und Flüstern, das um
sie herum immer lauter wurde. Arme wurden gehoben, Finger
deuteten nach Norden. Jin Li Tam wandte sich abermals ab, um
in die blassen Gesichter von Sethberts Generälen, Hauptleuten
und Offizieren zu sehen, und sie wusste: Hätte sie bis ganz zum
Ende dieser Karawane von Soldaten und Spähern blicken können,
hätte sie dieselbe Angst und Ehrfurcht auf allen Gesichtern
gesehen. Vielleicht, dachte sie, als sie ihren Blick wieder zurück
auf die schreckliche Wolke richtete, die immer höher in den
Himmel aufstieg, war in diesem Moment jedes Gesicht von dieser
Angst und Ehrfurcht gezeichnet - jedes Gesicht im Umkreis
endloser Wegstunden, das die Wolke erblicken konnte. Vielleicht
war jedem bewusst, was sie bedeutete.
»Siehe«, sagte Sethbert mit leiser Stimme, »wie die Tyrannei
der Androfranziner zu Ende geht. Windwir ist gefallen.« Er
kicherte. »Berichte das deinem Vater.«
Und als aus seinem Kichern Gelächter wurde, erkannte Jin Li
Tam zum ersten Mal seinen Wahnsinn.
Neb
Neb stand aufrecht im Wagen und sah, wie sich Windwir vor
ihm erstreckte. Sie hatten fünf Stunden gebraucht, um die niedrigen
Hügel zu erklettern, die die große Stadt umsäumten, und
nun, da er sie sehen konnte, wollte er alles in sich aufnehmen,
es auf irgendeine Art in seinem Gedächtnis verewigen. Er verließ
diese Stadt zum ersten Mal, und es würden Monate vergehen,
ehe er sie wieder erblickte.
Sein Vater, Bruder Hebda, erhob sich ebenfalls und streckte
sich in der Morgensonne. »Und du hast die Vorstellungs- und
Empfehlungsschreiben des Bischofs dabei?«, fragte Bruder Hebda.
Neb achtete nicht darauf. Stattdessen konzentrierte er sich auf
die riesige Stadt - auf die Kathedralen, die Türme, die Läden
und Häuser, die sich eng aneinanderdrückten. Die Fahnen der
Bundschaft wehten über der Stadt, zusammen mit den königsblauen
Fahnen des Androfranzinerordens, und selbst von diesem
Standpunkt aus konnte Neb die Gestalten in Talaren sehen,
die geschäftig umhergingen.
Sein Vater sprach ihn noch einmal an, und Neb fuhr zusammen.
»Bruder Hebda?«
»Ich habe nach den Vorstellungs- und Empfehlungsschreiben
gefragt. Du hast sie am Morgen gelesen, ehe wir gegangen sind,
und ich habe dir aufgetragen, dich zu vergewissern, dass du sie
zurück in ihren Umschlag gesteckt hast.«
Neb versuchte, sich daran zu erinnern. Er entsann sich, sie auf
dem Schreibtisch seines Vaters gesehen und gefragt zu haben, ob
er sie anschauen dürfe. Er entsann sich, sie gelesen zu haben,
fasziniert von den Schriftzeichen und der Handschrift. Aber er
entsann sich nicht, sie zurückgelegt zu haben. »Ich glaube
schon«, sagte er.
Sie kletterten nach hinten in den Wagen und durchsuchten
jeden Beutel, jede Tasche und jeden Sack. Als sie sicher waren,
dass sie den Umschlag nicht finden würden, seufzte sein Vater.
»Ich werde zurückgehen und ihn holen müssen«, sagte er.
Neb blickte zur Seite. »Ich werde Euch begleiten, Bruder Hebda.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Nein. Warte hier auf mich.«
Neb spürte, wie heiß sein Gesicht brannte, fühlte einen Klumpen
im Hals. Der rundliche Gelehrte streckte den Arm aus und
drückte Nebs Schulter. »Zerbrich dir nicht den Kopf deswegen.
Ich hätte es selbst überprüfen sollen.« Er blinzelte, als suche er
nach den richtigen Worten. »Ich bin es ... nur nicht gewohnt,
noch jemanden um mich zu haben.«
Neb nickte. »Kann ich etwas tun, während Ihr fort seid?«
Bruder Hebda lächelte. »Lies. Meditiere. Pass auf den Wagen
auf. Ich werde bald zurück sein.«
Neb zeichnete whymerische Irrgärten auf den Boden und versuchte,
sich auf seine Meditation zu konzentrieren. Aber alles
hielt ihn davon ab. Anfangs die Geräusche der Vögel, der Wind,
das Kauen des Pferdes. Der Geruch von Nadelbäumen, Staub
und Pferdeschweiß. Und auch der seines eigenen Schweißes,
der nun nach fünf langen Stunden im Schatten getrocknet war.
Er hatte jahrelang gewartet. Jährlich hatte er beim Rektor die
Bewilligung beantragt, und jetzt, gerade noch ein Jahr bevor er
zum Mann wurde und die Fähigkeit erlangte, sein Schicksal
selbst und ohne die Genehmigung des Franziner Waisenhauses
zu bestimmen, war er endlich entlassen worden, um mit seinem
Vater zu forschen. Alle Kinder der Androfranziner wurden im
Franziner Waisenhaus großgezogen, um zumindest offiziell das
Keuschheitsgelübde zu wahren. Keines kannte die Mutter, die
sie geboren hatte, und nur wenige kannten ihre Väter.
Nebs Vater hatte ihn mindestens zweimal im Jahr besucht,
hatte ihm Geschenke und Bücher von weit entfernten Orten gesandt,
während er sich auf Ausgrabungen in den Mahlenden
Ödlanden befunden und die Ära vor dem Zeitalter des Lachenden
Wahnsinns erforscht hatte. Und einmal, vor langer Zeit, hatte
er Neb sogar versprochen, dass er ihn eines Tages mitnehmen
würde, so dass er mit eigenen Augen sehen könnte, worum es
bei der Liebe von P'Andro Whym wirklich ging - einer Liebe,
die so stark war, dass sie einen Mann dazu brachte, seinen eingeborenen
Sohn zu opfern.
Endlich würde sein Vater dieses Versprechen einlösen.
Und gleich zu Beginn ihrer Reise in die Ödlande hatte Neb
dem Mann, den er so gerne stolz machen wollte, die erste Enttäuschung
bereitet.
Inzwischen waren fünf Stunden vergangen, und obwohl es unmöglich
war, seinen Vater aus dieser Entfernung unter all den
anderen Menschen zu erkennen, stand Neb immer wieder auf
und blickte auf die Stadt hinab, beobachtete das Tor in der Nähe
der Piere am Fluss.
Er hatte sich gerade erst wieder hingesetzt, als die Härchen auf
seinen Armen sich aufrichteten und die Welt einen Augenblick
lang gänzlich still wurde, bis auf eine einsame, blecherne Stimme
in weiter Ferne. Neb sprang auf die Beine. Dann hörte er ein
heftiges Summen, und seine Haut kribbelte von einem plötzlichen
Wind, der den Himmel zu verformen schien. Das Summen
wurde zu einem Kreischen, und seine Augen wurden weit, als sie
sich sowohl mit Licht als auch mit Finsternis füllten, und er
stand wie festgenagelt, die Arme weit ausgestreckt, zu seiner
ganzen Größe aufgerichtet, den Mund weit offen.
Der Boden erbebte, und er sah die Stadt taumeln, während
das Kreischen immer lauter wurde. Vögel stoben aus der Stadt
empor, winzige braune, weiße und schwarze Flecken, die er in
der Asche und dem Schutt, den der plötzliche heiße Wind aufwühlte,
kaum erkennen konnte.
Türme fielen in sich zusammen und Dächer stürzten ein. Die
Mauern zitterten und gaben nach, brachen auseinander, noch
während sie nach innen kippten. Feuer flammten auf, ein Kaleidoskop
in allen Regenbogenfarben, erst leckend, dann verschlingend.
Neb sah, wie die winzigen Umrisse in Talaren, die
eilig umherhasteten, in Flammen aufgingen. Er sah, wie walzende,
dunkle Schatten sich durch die wirbelnde Asche bewegten
und alles verwüsteten, das es wagte, aufrecht zu stehen. Er sah,
wie Matrosen von brennenden Vorschiffen sprangen, noch während
die Boote ablegten, in der Hoffnung, die Strömung möge
sie retten. Aber die Schiffe und Seemänner brannten gleichermaßen
weiter, grün und weiß, während sie unter die Wasseroberfläche
sanken. Das Geräusch von berstenden Steinen und kochendem
Wasser wogte heran, der Geruch von erhitztem Gestein
und verkohltem Fleisch. Und der Schmerz der Verheerung von
Windwir fiel auch über seinen eigenen Körper her. Neb schrie,
während er spürte, wie hier ein Herz platzte und dort ein Körper
sich aufblähte und zerbarst.
Die Welt brüllte ihn an, Feuer und Blitze jagten über den
Himmel, während Windwir schrie und brannte. Die ganze Zeit
über hielt eine unsichtbare Macht Neb an Ort und Stelle, und er
schrie mit seiner Stadt, die Augen weit geöffnet, den Mund aufgesperrt,
die Lunge ein einziges wildes Anpumpen gegen die
heiße Luft.
Ein einzelner Vogel flog aus der schwarzen Wolke heraus,
sauste über Nebs Kopf hinweg und in den Wald hinter ihm. Für
den Bruchteil eines Augenblicks war er davon überzeugt, er
wäre aus Gold gemacht.
Stunden später, als nichts mehr übrig war bis auf das wütende
Feuer, fiel Neb auf die Knie und wimmerte. Die Säule aus Asche
und Rauch verfinsterte die Sonne. Der Geruch des Todes verstopfte
ihm die Nase. Er schluchzte, bis er keine Tränen mehr
hatte, lag zitternd und von Krämpfen geschüttelt da, blinzelte
unkontrolliert angesichts der Verwüstung unter ihm.
Schließlich setzte sich Neb auf und schloss die Augen. Murmelnd
sprach er die Gebote aus dem Evangelium des P'Andro
Whym, des Gründers der Androfranziner, und meditierte über
die Torheit in seinem Herzen.
Die Torheit, die zum Tod seines Vaters geführt hatte.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe September 2010
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Ken Scholes
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin's Press, LLC,
durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,
30827 Garbsen, vermittelt.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Illustration: © Isabelle Hirtz / HildenDesign, München
Redaktion: Michael Pfingstl
UH • Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-26672-2
www.blanvalet.de
Die Stadt schreit, dann seufzt sie sieben Mal, und nach dem
siebten Seufzer kehrt das Sonnenlicht für kurze Zeit auf das ver-
sengte Land zurück. Die Ebene ist jetzt schwarz, Türme, Mauern
und Zinnen sind in sich zusammengestürzt und in Kratern versunken,
wo das Aufstampfen der Verwüstung Keller zum
Einsturz gebracht hat. Ein Wald aus Knochen, von der uralten
Blutmagie unversehrt gelassen, steht auf der rauchenden, pockennarbigen
Ebene.
Erneut verschlingt die Finsternis das Licht, als eine Säule aus
Rauch und Asche die Sonne verdunkelt. Schließlich flieht der
goldene Vogel nach Südwesten.
Mit Leichtigkeit überholt er die anderen Vögel, die mit rauchenden
Flügeln wild gegen die heißen Winde ankämpfen und
Botschaften an ihren Beinen tragen, die mit weißem oder rotem
oder schwarzem Garn befestigt sind.
Funkenstiebend und knatternd eilt der goldene Vogel tief
über die Landschaft dahin und träumt von dem Käfig, der auf
ihn wartet.
Kapitel 1
Rudolfo
Der Wind fegte über das Gräserne Meer, und Rudolfo jagte ihm
lachend nach, während er tief in den Sattel geduckt seinen
Zigeunerspähern ein Rennen lieferte. Die Nachmittagssonne
glitzerte golden auf dem wogenden Gras, und die Hufe der Pferde
hämmerten ihr Lied weit hinaus.
Rudolfo schwelgte in dem weiten gelben Ozean aus Gras, der
die Neun Häuser der Neun Wälder voneinander und von den
anderen Benannten Landen trennte - dies war seine Freiheit
inmitten der Pflichterfüllung, ganz so, wie die Ozeane auch den
zur See fahrenden Herren der Älteren Tage erschienen sein
mussten. Er lächelte und trieb seinen Hengst an.
In Schimmerschein, seinem ersten Haus der Neun Wälder,
hatte er eine wunderbare Zeit verbracht. Rudolfo war vor der
Morgendämmerung angekommen. Unter einem violetten Baldachin,
der für Gerechtigkeit stand, hatte er ein Frühstück aus
Ziegenkäse, Vollkornbrot und gekühltem Birnenwein zu sich
genommen. Während seines Mahles hatte er schweigend den
Anklagen gelauscht, als der Verwalter von Schimmerschein die
Verbrecher vorführte, die diesen Monat gestellt worden waren.
Weil er so ausgesprochen gut gelaunt war, überantwortete
Rudolfo zwei Diebe den Ladenbesitzern, die durch sie zu Schaden
gekommen waren, damit sie ihnen ein Jahr lang dienen soll-
ten, wohingegen er den einzigen Mörder seinen Anatomen der
Bußfertigen Folter im Foltertrakt überbringen ließ. Drei Anklagen
wegen Prostitution ließ er fallen und warb anschließend
zwei der Beschuldigten für seine eigene monatliche Runde an.
Bis zum Mittagessen hatte Rudolfo Aeteros Theorie von der
Sühnenden Verführung entschieden widerlegt und feierte dieses
Ergebnis mit Fasan in Rahmsauce, der auf Wildreis mit Waldpilzen
gereicht wurde.
Dann war er mit vollem Bauch und einem Ruf auf den Lippen
losgeritten, so dass seine Zigeunerspäher sich beeilen mussten,
um mitzuhalten.
In der Tat - ein guter Tag.
»Was jetzt?«, fragte ihn der Hauptmann seiner Zigeunerspäher,
der schreien musste, um die hämmernden Hufschläge zu übertönen.
Rudolfo grinste. »Was würdest du sagen, Gregoric?«
Gregoric erwiderte das Lächeln, was seine Narbe noch viel
unbarmherziger wirken ließ. Der schwarze Schal, der seinen
Rang kennzeichnete, wirbelte hinter ihm her, flatterte als langes
Banner im Wind. »Wir haben uns um Schimmerschein, Rudoheim
und Freundesend gekümmert. Ich denke, der nächstgelegene
Ort ist Paramo.«
»Dann soll es Paramo sein.« Das war auch ganz passend, fand
Rudolfo. Paramo konnte sich nicht mit den Wonnen von Schimmerschein
messen, aber es hatte sich die malerische Atmosphäre
eines Holzfällerdorfes bewahrt, und das seit mindestens tausend
Jahren, was durchaus eine Leistung darstellte. Die Einwohner
flößten ihre Stämme den Rajblut hinab, wie sie es schon seit den
ersten Tagen getan hatten, und behielten nur das, was sie benötigten,
um daraus Holzarbeiten anzufertigen, die zu den aufwendigsten
in der ganzen Welt zählten. Das Bauholz für Rudolfos
Güter kam von den Bäumen Paramos. Die Möbel, die dort hergestellt
wurden, rollten in ganzen Wagenladungen aus dem Ort,
und die besten Stücke davon fanden ihren Weg in die Häuser
von Königen, Priestern und Adligen in den gesamten Benannten
Landen.
Heute Abend würde Rudolfo gebratenen Eber speisen, den
Prahlereien und den Blähungen seiner besten Männer lauschen
und mit einem Sattel unter dem Kopf auf dem Boden schlafen -
ganz wie ein Zigeunerkönig. Und morgen würde er gekühlten
Wein aus dem Nabel einer Tänzerin der Holzfällerlager schlürfen,
hören, wie ihre Seufzer eins wurden mit dem Quaken der
Frösche in den Untiefen des Flusses, und dann im weichsten
aller Betten auf dem Sommerbalkon seiner Dritten Waldresidenz
einschlafen.
Rudolfo lächelte.
Doch als er sich nach Süden wandte, erstarb sein Lächeln. Er
zügelte sein Pferd und blinzelte ins Sonnenlicht. Die Zigeunerspäher
taten es ihm gleich und beruhigten mit Pfiffen ihre
Pferde, die langsamer wurden, anhielten und dann tänzelnd dastanden.
»Bei den Göttern«, sagte Gregoric. »Wodurch kann so etwas
nur zustande kommen?«
Im Südwesten, hoch aufgebauscht über dem Waldsaum am
Horizont, der die entfernteste Grenze seines Reiches markierte,
reckte sich eine Säule aus schwarzem Rauch wie eine Faust in den Himmel.
Rudolfo starrte, und sein Magen verkrampfte sich. Allein die
Größe der Rauchwolke schüchterte ihn ein; sie war unvorstellbar.
Er blinzelte, und sein Verstand machte sich so weit von dem
Anblick frei, dass er ein paar Berechnungen durchführen konnte,
indem er rasch die Entfernung und die Richtung anhand des
Sonnenstandes und der wenigen Sterne ermittelte, die hell genug
waren, um auch bei Tag zu scheinen.
»Windwir«, sagte er, ohne dass es ihm bewusst wurde.
Gregoric nickte. »Jawohl, General. Aber was kann das sein?«
Rudolfo wandte sich von der Wolke ab, um seinen Befehlshaber
zu mustern. Er kannte Gregoric schon seit Kindertagen und
hatte ihn mit fünfzehn Jahren zum jüngsten Hauptmann der
Zigeunerspäher gemacht, als er selbst erst zwölf gewesen war.
Sie hatten viel zusammen erlebt, aber Rudolfo hatte Gregoric
noch nie zuvor erbleichen sehen.
»Wir werden es allzu bald erfahren«, sagte Rudolfo. Dann
stieß er einen Pfiff aus, um seine Männer zu sich zu rufen. »Ich
will, dass Reiter zu allen Neun Häusern ausschwärmen, um die
Streunende Armee zu versammeln. Zwischen uns und Windwir
besteht Bundschaft; ihre Vögel werden schon unterwegs sein.
Wir treffen uns in einem Tag in den Steppen des Westens; in drei
Tagen werden wir Windwir zur Seite stehen.«
»Sollen wir die Späher magifizieren, General?«
Rudolfo strich sich über den Bart. »Ich glaube nicht.« Er überlegte
einen Augenblick lang. »Aber wir sollten darauf vorbereitet
sein«, fügte er hinzu.
Gregoric nickte und erteilte mit bellender Stimme die Befehle.
Während die neun Zigeunerspäher fortritten, ließ Rudolfo
sich aus dem Sattel gleiten und betrachtete die schwarze Säule.
Der Pfeiler aus Rauch, so breit wie eine Stadt, verlor sich im
Himmel.
Rudolfo, der Herr der Neun Häuser der Neun Wälder, der
General der Streunenden Armee, spürte, wie Neugier und Angst
zitternd über seine Wirbelsäule tanzten.
»Was, wenn sie nicht da ist, wenn wir ankommen?«, fragte er sich laut.
Und er wusste - ohne es wirklich wissen zu wollen -, dass die
Stadt nicht mehr da sein würde und dass sich aus diesem Grund
die Welt verändert hatte.
Petronus
Petronus war mit dem Flicken des Netzes fertig und verstaute es
im Bug seines Bootes. Es war ein weiterer ruhiger Tag auf dem
Wasser gewesen - ein weiterer Tag, an dem kaum etwas
Nennenswertes geschehen war, aber damit war er zufrieden.
Heute Abend würde er in der Schenke mit den anderen speisen,
zu viel essen und zu viel trinken und schließlich auf die
schlüpfrigen Reimlieder verfallen, für die er entlang der ganzen
Küste von Caldusbucht bekannt war. Dafür berühmt zu sein
machte Petronus überhaupt nichts aus. Außerhalb seines kleinen
Dorfes hatten die meisten keine Vorstellung davon, dass
gleich unter dieser Oberfläche weitaus größerer Ruhm verborgen war.
Petronus der Fischer hatte ein anderes Leben geführt, ehe er
zu seinen Netzen und seinem Boot zurückgekehrt war. In der
Zeit vor dem Tag, an dem er beschlossen hatte, dieses Leben zu
beenden, hatte Petronus eine Lüge gelebt, die sich zeitweise aufrichtiger
angefühlt hatte als die Liebe eines Kindes. Dennoch
war es eine Lüge gewesen, die an ihm genagt hatte, bis er ihr die
Stirn geboten und sie vor dreiunddreißig Jahren zu Grabe getragen hatte.
Nächste Woche, wie ihm mit einem Lächeln klar wurde. Inzwischen
konnte er Monate verbringen, ohne daran zu denken.
In jüngeren Jahren war das anders gewesen. Aber jedes
Jahr, etwa einen Monat vor dem Jahrestag seines ziemlich
plötzlichen und einfallsreichen Abgangs, überfluteten ihn Erinnerungen
an Windwir, an die Große Bibliothek der Stadt, an
den in Talare gewandeten Orden, und er stellte fest, dass er
sich in seine Vergangenheit verstrickt hatte wie eine Möwe in ein Netz.
Die Sonne tanzte auf dem Wasser, und er sah zu, wie die silbernen
Wellen an den großen und kleinen Schiffsrümpfen auf
blitzten. Über ihm erstreckte sich ein klarer, blauer Himmel, so
weit er sehen konnte, und Meeresvögel schossen durch die Luft
und kreischten laut und hungrig, während sie nach den kleinen
Fischen tauchten, die es wagten, nahe der Oberfläche zu schwimmen.
Ein ungewöhnliches Tier - ein Eisvogel - erhaschte Petronus'
Aufmerksamkeit, und sein Blick folgte ihm, als er eintauchte
und sich wieder aus dem Wasser schlängelte. Petronus drehte
sich mit ihm, beobachtete, wie er seine Flügel krümmte und
durch die Luft glitt, von einem Höhenwind abgedrängt, den
Petronus weder sehen noch spüren konnte.
Auch mich hat ein solcher Wind bedrängt, dachte er, und bei
diesem Gedanken erschauerte der Vogel jäh in der Luft, als ihn
der Wind überwältigte und mit sich riss.
Dann sah Petronus die Wolke, die sich am nordwestlichen
Horizont auftürmte.
Er brauchte keine Berechnungen anzustellen, um die Entfernung
abzuschätzen. Es verging nicht einmal ein Augenblick, bis
er genau wusste, was es war und was es bedeutete.
Windwir.
Wie betäubt sank er auf die Knie, ohne den Blick auch nur für
einen Moment von der Säule aus Rauch abzuwenden, die westwärts
und nördlich von Caldusbucht aufstieg. Die Säule war so
nahe, dass Petronus die kleinen, feurigen Flecken darin sehen
konnte, während der Rauch sich wirbelnd einen Weg gen Himmel
bahnte.
»Oh, meine Kinder«, flüsterte Petronus. Es war ein Zitat aus
dem Ersten Evangelium des P'Andro Whym. »Was habt ihr getan,
um den Zorn des Himmels zu verdienen?«
Jin li Tam
Jin Li Tam verbiss sich ihr Lachen und ließ zu, dass der dicke
Aufseher einen Versuch unternahm, sie durch Vernunft zu überzeugen.
»Es gehört sich nicht«, sagte Sethbert, »dass die Gefährtin
eines Königs im Damensitz reitet.«
Sie machte sich nicht die Mühe, ihn an den feinen Unterschied
zwischen einem Aufseher und einem König zu erinnern.
Stattdessen hielt sie an ihrem Standpunkt fest. »Ich habe auch
nicht vor, im Damensitz zu reiten, mein Herr.«
Jin Li Tam hatte den Großteil des Tages damit zugebracht, sich
in eine Kutsche aus dem Gefolge des Aufsehers zu zwängen, und
sie hatte es satt. Es stand ein ganzes Heer von Pferden bereit -
und von Sätteln ebenso -, und sie wollte den Wind auf ihrem
Gesicht spüren. Außerdem ließ sich vom Inneren der Kutsche
aus nur wenig aufschnappen, und sie wusste, dass sich ihr Vater
einen vollständigen Bericht wünschen würde.
Ein Hauptmann unterbrach sie. Er zog Sethbert zur Seite und
flüsterte ihm etwas zu. Dies nahm Jin Li Tam zum Anlass, sich
aus dem Staub und auf die Suche nach dem richtigen Pferd zu
machen - sie wollte sich endlich ein besseres Bild davon machen,
was hier vor sich ging.
Seit mehr als einer Woche hatte sie schon die Anzeichen beobachtet:
Botenvögel, die kamen und gingen, vermummte Höflinge,
die zu allen Nachtstunden von hier nach dort galoppierten.
Lange Unterredungen unter alten Männern in Uniformen, bald
gedämpfte und bald laute Stimmen, dann abermals Gemurmel.
Die Armee hatte sich rasch zusammengefunden, Truppen aus
jedem der Stadtstaaten, die unter einer gemeinsamen Flagge vereint
wurden. Inzwischen erstreckte sich das Heer auf der Whymerischen
Straße weit nach vorne und nach hinten, ergoss sich
zu beiden Seiten bis über den Rand des schmalen Weges und
zertrampelte auf seinem Gewaltmarsch nach Norden die Felder
und Wälder.
Den Grund dafür bekam sie nicht heraus, sosehr sie sich auch
bemühte. Aber sie wusste, dass die Späher magifiziert waren,
und nach den Gepflogenheiten der Bundschaft bedeutete das,
dass Sethbert und die Entrolusischen Stadtstaaten in den Krieg
zogen. Und ihr war ebenso bewusst, dass es im Norden kaum
etwas gab, abgesehen von Windwir, dem großen Sitz des
Androfranzinerordens, und Rudolfos Neun Häusern der Neun
Wälder noch weiter im Norden und Osten. Aber diese beiden
Nachbarn hielten Bundschaft mit den Entrolusiern, und ihr war
nicht zu Ohren gekommen, dass sie sich in irgendwelchen
Schwierigkeiten befänden, die ein Eingreifen der Entrolusier
nötig machten.
Allerdings war Sethberts Verhalten in letzter Zeit alles in allem
nicht immer von Vernunft gesteuert gewesen.
Obwohl sie bei dem Gedanken daran erschauerte, hatte sie
sein Bett oft genug geteilt, um zu wissen, dass er im Schlaf
sprach und keine Ruhe fand, dass es ihm nicht gelang, sich der
Herausforderung zu stellen, die seine junge, rothaarige Gefährtin
ihm bot. Er rauchte auch mehr von den getrockneten Kallabeeren,
und im Beisein seiner Offiziere drosch er Phrasen oder
gab sich Wutanfällen hin. Trotzdem folgten sie ihm, und dafür
musste es irgendeinen Grund geben. Er verfügte nicht über den
Charme oder das Charisma, um alleine eine ganze Armee zu
bewegen. Um sie durch Schonungslosigkeit anzutreiben, war er
zu faul, und zu freundlichem Ansporn war er nicht in der Lage.
»Was hast du nur vor?«, fragte sie sich laut.
»Meine Dame?« Ein junger Leutnant der Kavallerie auf einer
weißen Stute ragte vor ihr auf. Er hatte ein weiteres Pferd hinter
sich angebunden.
Sie lächelte, wobei sie darauf achtete, sich so zu ihm umzudrehen,
dass er gerade weit genug in ihren Ausschnitt blicken
konnte, dass es sich für ihn lohnte, aber nicht so weit, dass es
ungebührlich gewesen wäre. »Ja, Leutnant?«
»Aufseher Sethbert entbietet Euch seinen Gruß und ersucht
Euch, sich zu ihm zu gesellen.« Der junge Mann zog das Pferd
nach vorne und reichte ihr die Zügel.
Jin nahm sie entgegen und nickte. »Ich nehme an, Ihr werdet
mit mir reiten?«
Der Leutnant nickte ebenfalls. »Ja, er hat mich darum gebeten.«
Nachdem sie in den Sattel gestiegen war, richtete sie ihren
Rock und stemmte sich gegen die Steigbügel. Wenn sie sich
ganz streckte, konnte sie gerade noch die Spitze und das Ende
der langen Reihe von Soldaten ausmachen. Sie trieb ihr Pferd an.
»Dann wollen wir den Aufseher nicht warten lassen.«
Sethbert erwartete sie an einer Stelle, an der die Straße über
den Kamm einer Anhöhe führte. Sie sah, wie die Sklaven seinen
dunkelroten Baldachin am höchsten Punkt der Straße aufbauten,
und fragte sich, weshalb sie hier anhielten, mitten im Nirgendwo.
Als sie hinaufritt, winkte er ihr zu. Sein Gesicht war gerötet, er
wirkte richtiggehend erregt. Seine Backen bebten, und Schweißperlen
standen ihm auf der Stirn. »Gleich ist es so weit«, sagte er. »Gleich.«
Jin blickte zum Himmel auf. Bis die Sonne unterging, würde
es noch mindestens vier Stunden dauern. Sie schaute zu ihm
zurück und ließ sich dann aus dem Sattel gleiten. »Was ist gleich
so weit, mein Herr?«
Inzwischen wurden Stühle für sie aufgestellt, Wein eingeschenkt
und Geschirr vorbereitet. »Oh, das wirst du schon
sehen«, sagte Sethbert, während er sein fettes Hinterteil auf
einen Stuhl bugsierte, der unter ihm ächzte.
Jin Li Tam setzte sich hin, nahm den Wein entgegen und nippte daran.
»Dies«, sagte Sethbert, »ist meine vortrefflichste Stunde.« Er
sah sie an und zwinkerte. In seinen Augen stand der glasige, in
die Ferne gerichtete Blick, den sie schon einige Male während
ihrer intimeren Momente an ihm beobachtet hatte. Ein Blick,
von dem sie wünschte, auch sie könne sich den Luxus leisten,
ihn in solchen Augenblicken aufzusetzen und trotzdem noch die
Spionin ihres Vaters zu bleiben.
»Was ...« Aber mitten im Satz hielt sie inne. Weit entfernt,
jenseits der Wälder und hinter dem Glitzern des Dritten Flusses,
der sich nordwärts schlängelte, blitzte ein Licht am Himmel auf,
und ein kleiner Kranz aus Rauch begann sich am Horizont zu
erheben. Dieser kleine Kranz dehnte sich stetig nach oben und
außen aus, eine Säule aus tiefstem Schwarz vor dem blauen
Himmel, die immer weiter wuchs.
Sethbert kicherte und beugte sich vor, um Jin ins Knie zu
kneifen. »Oh. Es ist sogar noch besser, als ich gedacht habe.« Sie
zwang sich dazu, ihre Augen lange genug von dem Anblick loszureißen,
um sein breites Lächeln wahrzunehmen. »Sieh es dir an.«
Und inzwischen erklang ein Keuchen und Flüstern, das um
sie herum immer lauter wurde. Arme wurden gehoben, Finger
deuteten nach Norden. Jin Li Tam wandte sich abermals ab, um
in die blassen Gesichter von Sethberts Generälen, Hauptleuten
und Offizieren zu sehen, und sie wusste: Hätte sie bis ganz zum
Ende dieser Karawane von Soldaten und Spähern blicken können,
hätte sie dieselbe Angst und Ehrfurcht auf allen Gesichtern
gesehen. Vielleicht, dachte sie, als sie ihren Blick wieder zurück
auf die schreckliche Wolke richtete, die immer höher in den
Himmel aufstieg, war in diesem Moment jedes Gesicht von dieser
Angst und Ehrfurcht gezeichnet - jedes Gesicht im Umkreis
endloser Wegstunden, das die Wolke erblicken konnte. Vielleicht
war jedem bewusst, was sie bedeutete.
»Siehe«, sagte Sethbert mit leiser Stimme, »wie die Tyrannei
der Androfranziner zu Ende geht. Windwir ist gefallen.« Er
kicherte. »Berichte das deinem Vater.«
Und als aus seinem Kichern Gelächter wurde, erkannte Jin Li
Tam zum ersten Mal seinen Wahnsinn.
Neb
Neb stand aufrecht im Wagen und sah, wie sich Windwir vor
ihm erstreckte. Sie hatten fünf Stunden gebraucht, um die niedrigen
Hügel zu erklettern, die die große Stadt umsäumten, und
nun, da er sie sehen konnte, wollte er alles in sich aufnehmen,
es auf irgendeine Art in seinem Gedächtnis verewigen. Er verließ
diese Stadt zum ersten Mal, und es würden Monate vergehen,
ehe er sie wieder erblickte.
Sein Vater, Bruder Hebda, erhob sich ebenfalls und streckte
sich in der Morgensonne. »Und du hast die Vorstellungs- und
Empfehlungsschreiben des Bischofs dabei?«, fragte Bruder Hebda.
Neb achtete nicht darauf. Stattdessen konzentrierte er sich auf
die riesige Stadt - auf die Kathedralen, die Türme, die Läden
und Häuser, die sich eng aneinanderdrückten. Die Fahnen der
Bundschaft wehten über der Stadt, zusammen mit den königsblauen
Fahnen des Androfranzinerordens, und selbst von diesem
Standpunkt aus konnte Neb die Gestalten in Talaren sehen,
die geschäftig umhergingen.
Sein Vater sprach ihn noch einmal an, und Neb fuhr zusammen.
»Bruder Hebda?«
»Ich habe nach den Vorstellungs- und Empfehlungsschreiben
gefragt. Du hast sie am Morgen gelesen, ehe wir gegangen sind,
und ich habe dir aufgetragen, dich zu vergewissern, dass du sie
zurück in ihren Umschlag gesteckt hast.«
Neb versuchte, sich daran zu erinnern. Er entsann sich, sie auf
dem Schreibtisch seines Vaters gesehen und gefragt zu haben, ob
er sie anschauen dürfe. Er entsann sich, sie gelesen zu haben,
fasziniert von den Schriftzeichen und der Handschrift. Aber er
entsann sich nicht, sie zurückgelegt zu haben. »Ich glaube
schon«, sagte er.
Sie kletterten nach hinten in den Wagen und durchsuchten
jeden Beutel, jede Tasche und jeden Sack. Als sie sicher waren,
dass sie den Umschlag nicht finden würden, seufzte sein Vater.
»Ich werde zurückgehen und ihn holen müssen«, sagte er.
Neb blickte zur Seite. »Ich werde Euch begleiten, Bruder Hebda.«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Nein. Warte hier auf mich.«
Neb spürte, wie heiß sein Gesicht brannte, fühlte einen Klumpen
im Hals. Der rundliche Gelehrte streckte den Arm aus und
drückte Nebs Schulter. »Zerbrich dir nicht den Kopf deswegen.
Ich hätte es selbst überprüfen sollen.« Er blinzelte, als suche er
nach den richtigen Worten. »Ich bin es ... nur nicht gewohnt,
noch jemanden um mich zu haben.«
Neb nickte. »Kann ich etwas tun, während Ihr fort seid?«
Bruder Hebda lächelte. »Lies. Meditiere. Pass auf den Wagen
auf. Ich werde bald zurück sein.«
Neb zeichnete whymerische Irrgärten auf den Boden und versuchte,
sich auf seine Meditation zu konzentrieren. Aber alles
hielt ihn davon ab. Anfangs die Geräusche der Vögel, der Wind,
das Kauen des Pferdes. Der Geruch von Nadelbäumen, Staub
und Pferdeschweiß. Und auch der seines eigenen Schweißes,
der nun nach fünf langen Stunden im Schatten getrocknet war.
Er hatte jahrelang gewartet. Jährlich hatte er beim Rektor die
Bewilligung beantragt, und jetzt, gerade noch ein Jahr bevor er
zum Mann wurde und die Fähigkeit erlangte, sein Schicksal
selbst und ohne die Genehmigung des Franziner Waisenhauses
zu bestimmen, war er endlich entlassen worden, um mit seinem
Vater zu forschen. Alle Kinder der Androfranziner wurden im
Franziner Waisenhaus großgezogen, um zumindest offiziell das
Keuschheitsgelübde zu wahren. Keines kannte die Mutter, die
sie geboren hatte, und nur wenige kannten ihre Väter.
Nebs Vater hatte ihn mindestens zweimal im Jahr besucht,
hatte ihm Geschenke und Bücher von weit entfernten Orten gesandt,
während er sich auf Ausgrabungen in den Mahlenden
Ödlanden befunden und die Ära vor dem Zeitalter des Lachenden
Wahnsinns erforscht hatte. Und einmal, vor langer Zeit, hatte
er Neb sogar versprochen, dass er ihn eines Tages mitnehmen
würde, so dass er mit eigenen Augen sehen könnte, worum es
bei der Liebe von P'Andro Whym wirklich ging - einer Liebe,
die so stark war, dass sie einen Mann dazu brachte, seinen eingeborenen
Sohn zu opfern.
Endlich würde sein Vater dieses Versprechen einlösen.
Und gleich zu Beginn ihrer Reise in die Ödlande hatte Neb
dem Mann, den er so gerne stolz machen wollte, die erste Enttäuschung
bereitet.
Inzwischen waren fünf Stunden vergangen, und obwohl es unmöglich
war, seinen Vater aus dieser Entfernung unter all den
anderen Menschen zu erkennen, stand Neb immer wieder auf
und blickte auf die Stadt hinab, beobachtete das Tor in der Nähe
der Piere am Fluss.
Er hatte sich gerade erst wieder hingesetzt, als die Härchen auf
seinen Armen sich aufrichteten und die Welt einen Augenblick
lang gänzlich still wurde, bis auf eine einsame, blecherne Stimme
in weiter Ferne. Neb sprang auf die Beine. Dann hörte er ein
heftiges Summen, und seine Haut kribbelte von einem plötzlichen
Wind, der den Himmel zu verformen schien. Das Summen
wurde zu einem Kreischen, und seine Augen wurden weit, als sie
sich sowohl mit Licht als auch mit Finsternis füllten, und er
stand wie festgenagelt, die Arme weit ausgestreckt, zu seiner
ganzen Größe aufgerichtet, den Mund weit offen.
Der Boden erbebte, und er sah die Stadt taumeln, während
das Kreischen immer lauter wurde. Vögel stoben aus der Stadt
empor, winzige braune, weiße und schwarze Flecken, die er in
der Asche und dem Schutt, den der plötzliche heiße Wind aufwühlte,
kaum erkennen konnte.
Türme fielen in sich zusammen und Dächer stürzten ein. Die
Mauern zitterten und gaben nach, brachen auseinander, noch
während sie nach innen kippten. Feuer flammten auf, ein Kaleidoskop
in allen Regenbogenfarben, erst leckend, dann verschlingend.
Neb sah, wie die winzigen Umrisse in Talaren, die
eilig umherhasteten, in Flammen aufgingen. Er sah, wie walzende,
dunkle Schatten sich durch die wirbelnde Asche bewegten
und alles verwüsteten, das es wagte, aufrecht zu stehen. Er sah,
wie Matrosen von brennenden Vorschiffen sprangen, noch während
die Boote ablegten, in der Hoffnung, die Strömung möge
sie retten. Aber die Schiffe und Seemänner brannten gleichermaßen
weiter, grün und weiß, während sie unter die Wasseroberfläche
sanken. Das Geräusch von berstenden Steinen und kochendem
Wasser wogte heran, der Geruch von erhitztem Gestein
und verkohltem Fleisch. Und der Schmerz der Verheerung von
Windwir fiel auch über seinen eigenen Körper her. Neb schrie,
während er spürte, wie hier ein Herz platzte und dort ein Körper
sich aufblähte und zerbarst.
Die Welt brüllte ihn an, Feuer und Blitze jagten über den
Himmel, während Windwir schrie und brannte. Die ganze Zeit
über hielt eine unsichtbare Macht Neb an Ort und Stelle, und er
schrie mit seiner Stadt, die Augen weit geöffnet, den Mund aufgesperrt,
die Lunge ein einziges wildes Anpumpen gegen die
heiße Luft.
Ein einzelner Vogel flog aus der schwarzen Wolke heraus,
sauste über Nebs Kopf hinweg und in den Wald hinter ihm. Für
den Bruchteil eines Augenblicks war er davon überzeugt, er
wäre aus Gold gemacht.
Stunden später, als nichts mehr übrig war bis auf das wütende
Feuer, fiel Neb auf die Knie und wimmerte. Die Säule aus Asche
und Rauch verfinsterte die Sonne. Der Geruch des Todes verstopfte
ihm die Nase. Er schluchzte, bis er keine Tränen mehr
hatte, lag zitternd und von Krämpfen geschüttelt da, blinzelte
unkontrolliert angesichts der Verwüstung unter ihm.
Schließlich setzte sich Neb auf und schloss die Augen. Murmelnd
sprach er die Gebote aus dem Evangelium des P'Andro
Whym, des Gründers der Androfranziner, und meditierte über
die Torheit in seinem Herzen.
Die Torheit, die zum Tod seines Vaters geführt hatte.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe September 2010
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Ken Scholes
Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin's Press, LLC,
durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH,
30827 Garbsen, vermittelt.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Illustration: © Isabelle Hirtz / HildenDesign, München
Redaktion: Michael Pfingstl
UH • Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-26672-2
www.blanvalet.de
... weniger
Autoren-Porträt von Ken Scholes
Ken Scholes hat mit seinen Kurzgeschichten bereits zahlreiche Preise errungen, und auch seine ersten beiden Romane wurden von Lesern wie Kritikern begeistert aufgenommen. Er lebt in Gresham, Oregon.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ken Scholes
- 2010, 540 Seiten, Maße: 13,8 x 20,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Simone Heller
- Übersetzer: Simone Heller
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442266726
- ISBN-13: 9783442266722
Rezension zu „Sündenfall / Die Legende von Isaak Bd.1 “
"Ken Scholes' Sündenfall gebührt ein fester Platz in jeder Bibliothek."
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