Süßer Tod
Journalistin Britt Shelley wacht im Bett neben dem Polizisten Jay auf. Britt kann sich nicht erinnern, wie sie dort gelandet ist - und sie weiß auch nicht, warum Jay tot ist.
Jay Burgess war einst durch seinen Einsatz bei einem...
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Produktinformationen zu „Süßer Tod “
Journalistin Britt Shelley wacht im Bett neben dem Polizisten Jay auf. Britt kann sich nicht erinnern, wie sie dort gelandet ist - und sie weiß auch nicht, warum Jay tot ist.
Jay Burgess war einst durch seinen Einsatz bei einem Feuer vor sieben Jahren zum Helden geworden. Britt gerät schnell ins Visier der Polizei, doch gefährlicher sind ihre anderen Verfolger - allen voran der Ex-Feuerwehrmann Raley Gannon. Er war es, der bei dem Feuer damals Verdächtiges fand - und dann alles verlor: seinen Job, seinen guten Ruf, seine Verlobte. Seitdem sinnt er auf Rache, und dazu braucht er Britt. Kurzerhand kidnappt er die junge Reporterin, um sie zu verhören. Doch plötzlich werden Britt und Raley gemeinsam zum Ziel von sehr mächtigen Feinden. Eine abenteuerliche Flucht beginnt.
Lese-Probe zu „Süßer Tod “
Süßer Tod von Sandra BrownProlog
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Gott sei Dank schlief er noch tief und fest. Aufzuwachen und zu entdecken, dass sie mit Jay Burgess
im Bett lag, war schon peinlich genug, da wollte sie ihm nicht auch noch ins Gesicht sehen müssen. Wenigstens nicht, bevor sie Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln.
Zentimeter um Zentimeter schob sie sich an die Bettkante und schlüpfte unter der Decke hervor, um ihn nicht aufzuwecken. Am Matratzenrand setzte sie sich auf und schielte über ihre Schulter. Aus dem Lüftungsschlitz über dem Bett blies ein kalter Luftzug, unter dem sich die Härchen an ihren Armen aufstellten. Obwohl Jay nackt und nur bis zur Taille zugedeckt war, hatte ihn die Eiseskälte nicht geweckt. Ganz behutsam verlagerte sie ihr Gewicht vom Bett auf ihre Füße und stand auf.
Der Raum kippte zur Seite weg. Um nicht ihrerseits umzukippen, streckte sie instinktiv die Arme aus. Ihre Hand traf mit einem Klatschen auf der Wand auf, das wie ein Schellenschlag durch das stille Haus hallte. Ohne sich noch groß darum zu kümmern, ob sie Jay aufweckte, sondern nur noch fassungslos, wie viel sie gestern Abend getrunken hatte, atmete sie an die Wand gelehnt durch und fixierte einen festen Punkt, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Wie durch ein Wunder hatte sie Jay mit ihrer Tollpatschigkeit nicht aufgeweckt. Sie erspähte ihren Slip, schlich zum Fußende des Bettes, holte ihn und arbeitete sich dann auf Zehenspitzen durch den Raum, um ihre übrigen Sachen einzusammeln, die sie züchtig an ihre Brust presste, auch wenn das unter den gegebenen Umständen eher lächerlich war.
Der Bußgang. Der Begriff aus dem College passte. Er bezeichnete Studentinnen, die sich nach einer Nacht mit einem Mitstudenten aus dessen Zimmer stahlen. Sie war längst übers College-alter hinaus und außerdem Single, genau wie Jay, weshalb beide nach Belieben miteinander schlafen konnten, wenn sie sich dazu entschlossen.
Wenn sie sich dazu entschlossen.
Der Nebensatz peitschte ihr ins Genick wie ein straff gezogenes Gummiband.
Plötzlich wich das Entsetzen darüber, in Jays Bett aufgewacht zu sein, der erschreckenden Erkenntnis, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie dort hineingeraten war. Sie glaubte nicht, dass sie irgendwann den bewussten Entschluss gefasst hatte, mit ihm zu schlafen. Sie konnte sich nicht erinnern, Pro und Kontra abgewogen zu haben und zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass das Pro überwog. Sie konnte sich auch nicht erinnern, so lange umworben worden zu sein, bis die Vernunft von schierer Lust erdrückt worden war. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, im Geist mit den Achseln gezuckt und gedacht zu haben: Was soll's? Wir sind erwachsen.
Sie konnte sich an überhaupt nichts erinnern.
Sie drehte eine langsame Pirouette und nahm dabei den Schnitt und die Einrichtung des Zimmers in sich auf. Es war ein angenehmer Raum, geschmackvoll möbliert und auf einen allein lebenden Mann zugeschnitten. Aber nichts hier drin kam ihr bekannt vor. Gar nichts. Es war, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.
Offenbar waren sie tatsächlich in Jays Wohnung; hier und da standen Bilder von ihm, größtenteils Ferienschnappschüsse mit verschiedenen Freunden beiderlei Geschlechts. Sie war ganz sicher noch nie in diesem Raum oder in diesem Haus gewesen. Sie hätte nicht einmal die Adresse gewusst, obwohl sie eine vage Erinnerung daran hatte, dass sie zu Fuß hierher gegangen war - aber von wo aus?
Offenbar sie und Jay.
Im nächsten Moment lief sie ins Schlafzimmer zurück und weiter in das dahinter liegende Bad. Sie drückte lautlos die Tür zu, aber diese Vorsichtsmaßnahme war angesichts der Tatsache, dass sie schon Sekunden später würgend über der Toilette hing, überflüssig. Ihr Magen wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt und stieß scheinbar literweise Scotch aus. Sie war noch nie eine große Scotch-Trinkerin gewesen, aber jetzt würde sie nie wieder einen Tropfen von diesem Gift anrühren, so viel stand fest.
In dem Spiegelschrank über dem Waschbecken stöberte sie etwas Zahnpasta auf, drückte sie auf ihren Zeigefinger und versuchte, den Schmutzfilm und den schlechten Geschmack von den Zähnen zu massieren. Danach fühlte sie sich zwar besser, aber immer noch so schmutzig, dass sie unbedingt duschen wollte. Wenn sie sauber war, würde sie Jay selbstbewusster gegenübertreten können, und die Exzesse der letzten Nacht wären ihr nicht mehr ganz so peinlich.
Die Duschkabine war bis unter die Decke gefliest und mit einer fest montierten Regendusche ausgestattet. Direkt unter dem Pseudoregen stehend, seifte und spülte sie sich mehrmals ab. Besonders sorgsam und gründlich wusch sie den Bereich zwischen ihren Beinen. Sie shampoonierte sich auch die Haare.
Nachdem sie fertig geduscht hatte, verlor sie keine unnötige Zeit. Bestimmt hatte ihn der Lärm, den sie veranstaltet hatte, inzwischen aufgeweckt. Sie zog sich wieder an, glättete ihr Haar mit seiner Bürste, holte tief Luft, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen, und riss die Badezimmertür auf.
Jay schlief immer noch. Wie war das möglich? Er war ein trainierter Trinker, offenbar hatte die vergangene Nacht sogar ihm zugesetzt. Wie viel Scotch war in der Flasche gewesen, als sie zu trinken angefangen hatten? Hatten sie tatsächlich zu zweit einen knappen Liter geleert?
Allem Anschein nach. Warum konnte sie sich sonst nicht erinnern, wie sie sich ausgezogen hatte und mit Jay Burgess ins Bett gehüpft war? Sie hatten vor Jahren eine kurze Affäre gehabt, die aber schnell erkaltete und geendet hatte, bevor sie sich zu einer echten Beziehung auswachsen konnte. Beide waren mit ungebrochenem Herzen daraus hervorgegangen. Es hatte keine Szene gegeben, keiner hatte offiziell Schluss gemacht. Sie hatten einfach aufgehört, miteinander auszugehen, und waren dennoch Freunde geblieben.
Nichtsdestotrotz hatte Jay, der charmante und unverbesserliche Jay, jedes Mal versucht, sie ins Bett zu locken, wenn sich ihre Wege gekreuzt hatten. »Man kann auch nur befreundet sein und trotzdem hin und wieder miteinander in die Kiste gehen«, hatte er ihr mit seinem verführerischsten Lächeln versichert.
Sie sah das anders, und genau das hatte sie ihm immer erklärt, wenn er sie überreden wollte, um der alten Zeiten willen bei ihm zu übernachten.
Gestern Nacht hatte sie sich offensichtlich breitschlagen lassen.
Sie hätte erwartet, dass er in aller Frühe aus dem Bett springen würde, um mit seiner Eroberung zu prahlen, oder dass er sie mit einem Kuss wecken und sie ironisch zu einem Frühstück im Bett einladen würde. Sie konnte ihn fast auftrumpfen hören: »Wenn du schon hier bist, kannst du die Burgess-Behandlung auch bis zum Schluss genießen.«
Warum war er eigentlich nicht zu ihr unter die Dusche gehüpft? Das wäre typisch Jay. Eigentlich hätte er sich zu ihr stellen und erklären müssen: Du hast eine Stelle auf deinem Rücken vergessen. Huch, und da vorne auch. Aber nicht einmal die Dusche hatte ihn geweckt. Genauso wenig wie das mehrmalige Spülen der Toilette.
Wie konnte er all das verschlafen? Er hatte sich nicht einmal...
Bewegt.
Ihr Magen hob sich wie auf einer Flutwelle. Ätzender Schleim schoss ihr in die Kehle, und sie hatte Angst, sich gleich wieder zu übergeben. Sie schluckte schwer. »Jay?«, fragte sie zaghaft. Dann lauter: »Jay?«
Nichts. Kein Seufzen und kein Schniefen. Nicht die leiseste Bewegung.
Wie angewurzelt stand sie da und spürte ihr Herz klopfen. Dann setzte sie sich widerstrebend in Bewegung, trat ans Bett, legte die ausgestreckte Hand an seine Schulter und rüttelte sie mit aller Kraft. »Jay!«
1
Unter dem quietschenden Protest der Scharniere zog Raley die verrostete Fliegentür auf. »Hey! Bist du da?« »Bin ich doch immer!«
Ein ausgeblichener roter Lacksplitter löste sich, als der Holzrahmen hinter Raley zuschlug und er in die winzige Hütte trat. Es roch nach gebratenem Schweinefleisch und nach der mäuselöchrigen Armeedecke auf der Pritsche in der Ecke.
Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt und den Alten entdeckt hatten. Er saß an seinem dreibeinigen Tisch, über seine Kaffeetasse gekrümmt wie ein bissiger Hund, der einen mühsam erkämpften Knochen bewacht, und starrte auf den verschneiten Bildschirm eines Schwarz-Weiß-Fernsehers. Geisterhafte Schemen zogen über das Bild. Aus dem Lautsprecher kam nur statisches Rauschen.
»Guten Morgen.«
Der Alte schnaubte einen Willkommensgruß durch die buschigen Nasenhaare. »Nimm dir ein'.« Er nickte zu der Emailkanne auf dem Herd hin. »Aber besser ohne Sahne. Die hat über Nacht einen Stich gekriegt.«
Raley stieg über die drei reglos am Boden liegenden Jagdhunde hinweg und trat an den Kühlschrank, der eingeklemmt zwischen einer zur Speisekammer zweckentfremdeten antiquierten Kuchenvitrine und einem Werktisch stand, der keinerlei Zweck erfüllte, außer Staub anzusammeln und den verfügbaren Platz in der übervollen Hütte zu verstellen.
Der Griff am Kühlschrank war abgerissen, wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten, aber wenn man die Finger an der richtigen Stelle in die weiche Gummidichtung bohrte, konnte man die Tür aufbekommen. »Ich habe dir Fisch mitgebracht.« Raley legte den in Zeitungspapier eingewickelten Katzenwels auf ein rostiges Kühlschrankgitter und schloss hastig die Tür vor dem Duftgemisch aus saurer Sahne und allgemeiner Verwesung.
»Hab zu danken.«
»Gern geschehen.« Der Kaffee war wahrscheinlich mehrmals aufgekocht worden und hatte mittlerweile die Konsistenz von frischem Asphalt angenommen. Ohne Sahne zur Verdünnung verzichtete Raley dankend.
Er warf einen Blick auf den stummen Fernseher. »Du musst deine Hasenohren neu ausrichten.« Dabei streckte er eine Hand nach der schleifenförmigen Zimmerantenne aus.
»Das sind nicht die Hasenohren. Ich hab den Ton abgestellt.« »Wieso das?«
Der alte Mann reagierte mit einem rituellen Schnauben, das heißen sollte, dass er sich nicht zu einer Antwort herablassen würde. Der selbst ernannte Eremit hauste seit »dem Krieg« im frei gewählten Exil, wobei er sich nie genauer darüber ausgelassen hatte, welchen Krieg er meinte. Er wollte so wenig wie möglich mit anderen Homo sapiens zu tun haben.
Kurz nachdem Raley in seine Nachbarschaft gezogen war, hatten sich ihre Wege im Wald gekreuzt. Raley hatte gerade in die Knopfaugen einer toten Beutelratte gestarrt, als der alte Mann durchs Unterholz gekracht kam und ihn angegeifert hatte: »Denk nicht mal dran!«
»Woran?«
»Mir mein Opossum wegzunehmen.«
Den grauenvoll stinkenden, aufgedunsenen und mit Fliegen übersäten Kadaver mit dem rosa Schwanz anzurühren war so ziemlich das Letzte, was Raley in den Sinn gekommen wäre. Er hob kapitulierend die Hände und trat beiseite, damit der barfüßige alte Mann im fleckigen Overall seine Beute aus dem Metallkiefer der kleinen Falle lösen konnte.
»So wie du hier rumtrampelst, hätt's mich nicht gewundert, wenn du in meiner Falle gelandet wärst und nicht das Opossum«, grummelte er.
Raley war davon ausgegangen, dass um die Hütte, die er kürzlich erworben hatte, meilenweit niemand lebte. Er brauchte keinen Nachbarn, schon gar keinen, der über sein Kommen und Gehen Buch führte.
Als der alte Mann aufstand, protestierten seine Knie mit so lautem Knacken und Knirschen, dass er unter Schmerzen das Gesicht verzog und einen Schwall von Flüchen ausstieß. Den baumelnden Kadaver in der Hand haltend, taxierte der Alte Raley von der Baseballkappe und dem bärtigen Gesicht abwärts bis zu den Wanderschuhen. Nach abgeschlossener Inspektion spuckte er einen Strahl Tabaksaft in den Dreck, um seine Meinung über diesen Anblick kundzutun. »Is' schließlich nicht verboten, im Wald rumzulaufen«, sagte er. »Aber lass bloß die Finger von meinen Fallen.«
»Es würde die Sache vereinfachen, wenn ich wüsste, wo sie stehen.«
Die Lippen des Alten verzogen sich zu einem breiten Grinsen, bei dem er tabakfleckige Stummel entblößte, wo früher einmal Zähne gewesen sein mussten. »Kann ich mir vorstellen.« Immer noch keckernd wandte er sich ab. »Die findest du schon, da wette ich drauf.« Noch lange nachdem er im dichten Unterholz verschwunden war, hörte Raley sein meckerndes Lachen.
Während der folgenden Monate waren sie sich immer wieder zufällig im Wald begegnet. Zumindest waren es für Raley zufällige Begegnungen gewesen. Er nahm an, dass sich der Alte nur zeigte, wenn ihm danach war, und unsichtbar blieb, wenn er keine Lust hatte, seinem neuen Nachbarn einen Gruß zuzugrunzen.
An einem heißen Nachmittag trafen sie in der Tür des Lebensmittelladens im nächsten Ort aufeinander. Raley wollte gerade hinein, der alte Mann heraus. Sie nickten einander zu. Als Raley später mit mehreren Einkaufstüten wieder nach draußen kam, sah er den Alten in einem Korbsessel auf der schattigen Veranda vor dem Laden sitzen und sich mit dem Hut Luft zufächeln. Aus einem Impuls heraus zerrte Raley eine gekühlte Bierdose aus dem Sixpack und warf sie dem Alten zu, der sie in einem exzellenten Reflex mit einer Hand auffing.
Raley lud die Einkäufe auf der Ladefläche des Pick-ups ab und kletterte hinter das Steuer. Der Alte beobachtete mit sichtlichem Misstrauen, wie er den Rückwärtsgang einlegte und aus der Parklücke setzte, aber Raley war aufgefallen, dass er die Dose geöffnet hatte.
Am nächsten Morgen klopfte jemand an Raleys Hütte. Nachdem er noch nie Besuch bekommen hatte, näherte er sich argwöhnisch der Tür. Vor ihm stand der Alte, in der Hand hielt er eine gesprungene Keramikschüssel mit einem Berg von rohem Fleisch unbekannter Herkunft. Es sah aus wie Aas, das sogar das Jagdhundetrio verschmäht hatte.
»Für das Bier. Ich mag keine Schulden bei niemand haben.«
Raley nahm die Schüssel entgegen, die ihm an die Brust gedrückt wurde. »Danke.« Sein Besucher machte kehrt und stapfte die Stufen hinab. Raley rief ihm nach: »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Wer will das wissen?«
»Raley Gannon.«
Der Alte zögerte und brummelte dann: »Delno Pickens.«
Von jenem Morgen an hatte sich zwischen ihnen eine Art Freundschaft entwickelt, die auf Einsamkeit und dem gemeinsamen Widerwillen beruhte, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen.
Alles in allem waren Delnos Besitztümer keine hundert Dollar wert. Ständig schleifte er Sachen nach Hause, die er weiß Gott wo aufgetrieben und für die er keine Verwendung hatte. Seine Hütte stand auf Pfählen, zum Schutz vor Überschwemmungen, wenn der Combahee über die Ufer trat. Doch der Hohlraum unter dem Boden war mit Sperrmüll vollgestopft, wie um der Hütte ein solideres Fundament zu geben. Das Gelände um die Hütte war ebenfalls mit Schrott übersät, der nie auch nur zentimeterweise bewegt wurde, soweit Raley feststellen konnte. Das Sammeln schien Delno wichtiger zu sein als die Fundstücke selbst.
Er fuhr einen Pick-up, den Raley insgeheim »Frankenstein« getauft hatte, weil er aus den verschiedensten Einzelteilen bestand, die Delno im Lauf der Zeit zusammengetragen hatte, und hauptsächlich von Draht und Klebeband in Form gehalten wurde. Raley empfand es jedes Mal als Wunder, dass Delno das Gefährt überhaupt in Gang brachte, aber wie Delno sagte: »Es ist nicht schön, aber es bringt mich hin, wo ich hin will.«
Er aß alles. Wirklich alles. Alles, was er aus dem Wald, aus einer Falle oder aus dem Fluss zerren konnte. Aber was es auch war, er war stets bereit, es mit Raley zu teilen, seit sie Freundschaft geschlossen hatten.
Überraschenderweise war er sehr belesen und konnte sich fundiert über Themen unterhalten, bei denen man ihm das nie zugetraut hätte. Im Lauf der Zeit begann Raley zu argwöhnen, dass der Hillbilly-Akzent und das dazugehörige Vokabular nur zur Tarnung dienten. Genau wie das Elend, in dem er hauste, waren sie ein Protest gegen sein früheres Leben.
Aber was das für ein Leben gewesen war, blieb Delnos Geheimnis. Niemals erwähnte er eine Heimatstadt, seine Kindheit oder seine Eltern, eine frühere Beschäftigung, Kinder oder eine Ehefrau. Er redete ausschließlich mit seinen Hunden und mit Raley. Seine Intimbeziehungen beschränkten sich auf einen Stapel zerlesener Nackedei-Heftchen, die er unter seiner Pritsche versteckt hatte.
Auch Raley erzählte Delno nichts aus seinem Leben. Wenigstens nicht während der ersten zwei Jahre ihrer Bekanntschaft. Bis Delno eines Abends bei Sonnenuntergang vor Raleys Hütte stand, unter die Arme zwei Einmachgläser mit einer schlammigen Flüssigkeit geklemmt, die er selbst fermentiert hatte.
»Hab dich die ganze Woche nicht gesehen. Wo hast du gesteckt?«
»Hier.«
Raley wäre lieber allein geblieben, aber Delno hatte sich schon in seine Hütte gedrängt. »Dachte, du könntest vielleicht einen Schluck vertragen.« Er musterte Raley abfällig. »Wenn ich dich so sehe, hab ich wohl richtig gedacht. Du siehst wirklich übel aus. Konnte dich schon unten an der Veranda riechen.«
»Ausgerechnet du willst das Aussehen und die Körperhygiene anderer Leute kritisieren?«
»Wen hast du angerufen?«
»Wie bitte?«
»Dieses Plappermaul an der Kasse im Laden? Die mit der Zuckerwattefrisur und dem Gehänge an den Ohren? Die hat mir erzählt, du bist letzte Woche reingekommen, hast dir eine Handvoll Münzen geben lassen und damit das Telefon vor dem Laden gefüttert. Sie hat gesagt, du hast kurz telefoniert, dann hast du aufgelegt, und danach hast du ausgesehen, als wolltest du gleich wen umbringen. Dann bist du in deinen Truck gestiegen und losgerast, ohne deinen Einkauf zu zahlen, sagt sie.«
Er öffnete eines der Gläser und reichte es Raley, der kurz daran schnüffelte und es dann kopfschüttelnd zurückgab. »Darum frage ich«, fuhr Delno nach einem tiefen Schluck aus dem Glas fort, »wen hast du angerufen?«
Der Morgen dämmerte schon, als Raley fertig erzählt hatte. Bis dahin hatte Delno beide Gläser geleert. Raley fühlte sich ebenfalls leer - emotional, mental, körperlich. Es war eine schmerzhafte, aber therapeutische Katharsis gewesen. Ein ganzes Dutzend eitriger Wunden hatte er dabei aufgestochen.
Als alles gesagt war und Raley keine Kraft mehr zum Reden hatte, sah er den alten Mann an, der stundenlang zugehört hatte, ohne einen Ton von sich zu geben. Das faltige, lederige Gesicht zeigte tiefe Trauer. Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, sahen ihn die alten Augen offen und ohne Argwohn an, und Raley begriff, dass er in die Seele eines Menschen blickte, der unaussprechlichen Kummer durchgemacht hatte. Es schien, als hätte Delno Pickens alles Leid und alle Ungerechtigkeit der Welt in diesen einen hoffnungslosen Blick gepackt.
Dann seufzte er und streckte, obwohl sie sich noch nie berührt hatten, die Hand aus, um Raleys Knie zu tätscheln. »Geh und wasch dich unter den Armen, sonst kotz ich den ganzen guten Schnaps wieder aus, weil du so stinkst. Ich mach dir solange Frühstück.«
Sie sprachen nie wieder über das, was Raley in jener Nacht erzählt hatte. Es war, als hätte es diese Nacht nie gegeben. Aber Raley hatte nie vergessen, wie leidgeprüft Delno ihn damals angesehen hatte.
»Was ist?« Raleys Herz setzte einen Schlag aus, und ihm schoss automatisch das Wort Katastrophe durch den Kopf. Eine vollbesetzte 747, die in einen Berg gekracht war. Ein Anschlag auf den Präsidenten. Ein terroristisches Attentat wie der Angriff auf das World Trade Center.
»Mach jetzt bloß keine Dummheiten, okay?«, warnte ihn Delno. »Was ist denn los?«
Unter griesgrämigen Flüchen über das »beschissene Programm da« nickte Delno zum Fernseher hin.
Raley trat an den uralten Apparat, drehte die Lautstärke auf und hantierte an der Zimmerantenne herum, um ein besseres Bild zu bekommen.
Das Bild blieb verschneit und der Ton kratzig, trotzdem war ihm Sekunden später klar, was passiert war und warum Delno nicht den Mut aufgebracht hatte, es ihm zu erzählen.
Jay Burgess war tot.
...
Übersetzung: Christoph Göhler
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Gott sei Dank schlief er noch tief und fest. Aufzuwachen und zu entdecken, dass sie mit Jay Burgess
im Bett lag, war schon peinlich genug, da wollte sie ihm nicht auch noch ins Gesicht sehen müssen. Wenigstens nicht, bevor sie Zeit gehabt hatte, sich zu sammeln.
Zentimeter um Zentimeter schob sie sich an die Bettkante und schlüpfte unter der Decke hervor, um ihn nicht aufzuwecken. Am Matratzenrand setzte sie sich auf und schielte über ihre Schulter. Aus dem Lüftungsschlitz über dem Bett blies ein kalter Luftzug, unter dem sich die Härchen an ihren Armen aufstellten. Obwohl Jay nackt und nur bis zur Taille zugedeckt war, hatte ihn die Eiseskälte nicht geweckt. Ganz behutsam verlagerte sie ihr Gewicht vom Bett auf ihre Füße und stand auf.
Der Raum kippte zur Seite weg. Um nicht ihrerseits umzukippen, streckte sie instinktiv die Arme aus. Ihre Hand traf mit einem Klatschen auf der Wand auf, das wie ein Schellenschlag durch das stille Haus hallte. Ohne sich noch groß darum zu kümmern, ob sie Jay aufweckte, sondern nur noch fassungslos, wie viel sie gestern Abend getrunken hatte, atmete sie an die Wand gelehnt durch und fixierte einen festen Punkt, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Wie durch ein Wunder hatte sie Jay mit ihrer Tollpatschigkeit nicht aufgeweckt. Sie erspähte ihren Slip, schlich zum Fußende des Bettes, holte ihn und arbeitete sich dann auf Zehenspitzen durch den Raum, um ihre übrigen Sachen einzusammeln, die sie züchtig an ihre Brust presste, auch wenn das unter den gegebenen Umständen eher lächerlich war.
Der Bußgang. Der Begriff aus dem College passte. Er bezeichnete Studentinnen, die sich nach einer Nacht mit einem Mitstudenten aus dessen Zimmer stahlen. Sie war längst übers College-alter hinaus und außerdem Single, genau wie Jay, weshalb beide nach Belieben miteinander schlafen konnten, wenn sie sich dazu entschlossen.
Wenn sie sich dazu entschlossen.
Der Nebensatz peitschte ihr ins Genick wie ein straff gezogenes Gummiband.
Plötzlich wich das Entsetzen darüber, in Jays Bett aufgewacht zu sein, der erschreckenden Erkenntnis, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie dort hineingeraten war. Sie glaubte nicht, dass sie irgendwann den bewussten Entschluss gefasst hatte, mit ihm zu schlafen. Sie konnte sich nicht erinnern, Pro und Kontra abgewogen zu haben und zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass das Pro überwog. Sie konnte sich auch nicht erinnern, so lange umworben worden zu sein, bis die Vernunft von schierer Lust erdrückt worden war. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, im Geist mit den Achseln gezuckt und gedacht zu haben: Was soll's? Wir sind erwachsen.
Sie konnte sich an überhaupt nichts erinnern.
Sie drehte eine langsame Pirouette und nahm dabei den Schnitt und die Einrichtung des Zimmers in sich auf. Es war ein angenehmer Raum, geschmackvoll möbliert und auf einen allein lebenden Mann zugeschnitten. Aber nichts hier drin kam ihr bekannt vor. Gar nichts. Es war, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.
Offenbar waren sie tatsächlich in Jays Wohnung; hier und da standen Bilder von ihm, größtenteils Ferienschnappschüsse mit verschiedenen Freunden beiderlei Geschlechts. Sie war ganz sicher noch nie in diesem Raum oder in diesem Haus gewesen. Sie hätte nicht einmal die Adresse gewusst, obwohl sie eine vage Erinnerung daran hatte, dass sie zu Fuß hierher gegangen war - aber von wo aus?
Offenbar sie und Jay.
Im nächsten Moment lief sie ins Schlafzimmer zurück und weiter in das dahinter liegende Bad. Sie drückte lautlos die Tür zu, aber diese Vorsichtsmaßnahme war angesichts der Tatsache, dass sie schon Sekunden später würgend über der Toilette hing, überflüssig. Ihr Magen wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt und stieß scheinbar literweise Scotch aus. Sie war noch nie eine große Scotch-Trinkerin gewesen, aber jetzt würde sie nie wieder einen Tropfen von diesem Gift anrühren, so viel stand fest.
In dem Spiegelschrank über dem Waschbecken stöberte sie etwas Zahnpasta auf, drückte sie auf ihren Zeigefinger und versuchte, den Schmutzfilm und den schlechten Geschmack von den Zähnen zu massieren. Danach fühlte sie sich zwar besser, aber immer noch so schmutzig, dass sie unbedingt duschen wollte. Wenn sie sauber war, würde sie Jay selbstbewusster gegenübertreten können, und die Exzesse der letzten Nacht wären ihr nicht mehr ganz so peinlich.
Die Duschkabine war bis unter die Decke gefliest und mit einer fest montierten Regendusche ausgestattet. Direkt unter dem Pseudoregen stehend, seifte und spülte sie sich mehrmals ab. Besonders sorgsam und gründlich wusch sie den Bereich zwischen ihren Beinen. Sie shampoonierte sich auch die Haare.
Nachdem sie fertig geduscht hatte, verlor sie keine unnötige Zeit. Bestimmt hatte ihn der Lärm, den sie veranstaltet hatte, inzwischen aufgeweckt. Sie zog sich wieder an, glättete ihr Haar mit seiner Bürste, holte tief Luft, um ihren ganzen Mut zusammenzunehmen, und riss die Badezimmertür auf.
Jay schlief immer noch. Wie war das möglich? Er war ein trainierter Trinker, offenbar hatte die vergangene Nacht sogar ihm zugesetzt. Wie viel Scotch war in der Flasche gewesen, als sie zu trinken angefangen hatten? Hatten sie tatsächlich zu zweit einen knappen Liter geleert?
Allem Anschein nach. Warum konnte sie sich sonst nicht erinnern, wie sie sich ausgezogen hatte und mit Jay Burgess ins Bett gehüpft war? Sie hatten vor Jahren eine kurze Affäre gehabt, die aber schnell erkaltete und geendet hatte, bevor sie sich zu einer echten Beziehung auswachsen konnte. Beide waren mit ungebrochenem Herzen daraus hervorgegangen. Es hatte keine Szene gegeben, keiner hatte offiziell Schluss gemacht. Sie hatten einfach aufgehört, miteinander auszugehen, und waren dennoch Freunde geblieben.
Nichtsdestotrotz hatte Jay, der charmante und unverbesserliche Jay, jedes Mal versucht, sie ins Bett zu locken, wenn sich ihre Wege gekreuzt hatten. »Man kann auch nur befreundet sein und trotzdem hin und wieder miteinander in die Kiste gehen«, hatte er ihr mit seinem verführerischsten Lächeln versichert.
Sie sah das anders, und genau das hatte sie ihm immer erklärt, wenn er sie überreden wollte, um der alten Zeiten willen bei ihm zu übernachten.
Gestern Nacht hatte sie sich offensichtlich breitschlagen lassen.
Sie hätte erwartet, dass er in aller Frühe aus dem Bett springen würde, um mit seiner Eroberung zu prahlen, oder dass er sie mit einem Kuss wecken und sie ironisch zu einem Frühstück im Bett einladen würde. Sie konnte ihn fast auftrumpfen hören: »Wenn du schon hier bist, kannst du die Burgess-Behandlung auch bis zum Schluss genießen.«
Warum war er eigentlich nicht zu ihr unter die Dusche gehüpft? Das wäre typisch Jay. Eigentlich hätte er sich zu ihr stellen und erklären müssen: Du hast eine Stelle auf deinem Rücken vergessen. Huch, und da vorne auch. Aber nicht einmal die Dusche hatte ihn geweckt. Genauso wenig wie das mehrmalige Spülen der Toilette.
Wie konnte er all das verschlafen? Er hatte sich nicht einmal...
Bewegt.
Ihr Magen hob sich wie auf einer Flutwelle. Ätzender Schleim schoss ihr in die Kehle, und sie hatte Angst, sich gleich wieder zu übergeben. Sie schluckte schwer. »Jay?«, fragte sie zaghaft. Dann lauter: »Jay?«
Nichts. Kein Seufzen und kein Schniefen. Nicht die leiseste Bewegung.
Wie angewurzelt stand sie da und spürte ihr Herz klopfen. Dann setzte sie sich widerstrebend in Bewegung, trat ans Bett, legte die ausgestreckte Hand an seine Schulter und rüttelte sie mit aller Kraft. »Jay!«
1
Unter dem quietschenden Protest der Scharniere zog Raley die verrostete Fliegentür auf. »Hey! Bist du da?« »Bin ich doch immer!«
Ein ausgeblichener roter Lacksplitter löste sich, als der Holzrahmen hinter Raley zuschlug und er in die winzige Hütte trat. Es roch nach gebratenem Schweinefleisch und nach der mäuselöchrigen Armeedecke auf der Pritsche in der Ecke.
Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt und den Alten entdeckt hatten. Er saß an seinem dreibeinigen Tisch, über seine Kaffeetasse gekrümmt wie ein bissiger Hund, der einen mühsam erkämpften Knochen bewacht, und starrte auf den verschneiten Bildschirm eines Schwarz-Weiß-Fernsehers. Geisterhafte Schemen zogen über das Bild. Aus dem Lautsprecher kam nur statisches Rauschen.
»Guten Morgen.«
Der Alte schnaubte einen Willkommensgruß durch die buschigen Nasenhaare. »Nimm dir ein'.« Er nickte zu der Emailkanne auf dem Herd hin. »Aber besser ohne Sahne. Die hat über Nacht einen Stich gekriegt.«
Raley stieg über die drei reglos am Boden liegenden Jagdhunde hinweg und trat an den Kühlschrank, der eingeklemmt zwischen einer zur Speisekammer zweckentfremdeten antiquierten Kuchenvitrine und einem Werktisch stand, der keinerlei Zweck erfüllte, außer Staub anzusammeln und den verfügbaren Platz in der übervollen Hütte zu verstellen.
Der Griff am Kühlschrank war abgerissen, wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten, aber wenn man die Finger an der richtigen Stelle in die weiche Gummidichtung bohrte, konnte man die Tür aufbekommen. »Ich habe dir Fisch mitgebracht.« Raley legte den in Zeitungspapier eingewickelten Katzenwels auf ein rostiges Kühlschrankgitter und schloss hastig die Tür vor dem Duftgemisch aus saurer Sahne und allgemeiner Verwesung.
»Hab zu danken.«
»Gern geschehen.« Der Kaffee war wahrscheinlich mehrmals aufgekocht worden und hatte mittlerweile die Konsistenz von frischem Asphalt angenommen. Ohne Sahne zur Verdünnung verzichtete Raley dankend.
Er warf einen Blick auf den stummen Fernseher. »Du musst deine Hasenohren neu ausrichten.« Dabei streckte er eine Hand nach der schleifenförmigen Zimmerantenne aus.
»Das sind nicht die Hasenohren. Ich hab den Ton abgestellt.« »Wieso das?«
Der alte Mann reagierte mit einem rituellen Schnauben, das heißen sollte, dass er sich nicht zu einer Antwort herablassen würde. Der selbst ernannte Eremit hauste seit »dem Krieg« im frei gewählten Exil, wobei er sich nie genauer darüber ausgelassen hatte, welchen Krieg er meinte. Er wollte so wenig wie möglich mit anderen Homo sapiens zu tun haben.
Kurz nachdem Raley in seine Nachbarschaft gezogen war, hatten sich ihre Wege im Wald gekreuzt. Raley hatte gerade in die Knopfaugen einer toten Beutelratte gestarrt, als der alte Mann durchs Unterholz gekracht kam und ihn angegeifert hatte: »Denk nicht mal dran!«
»Woran?«
»Mir mein Opossum wegzunehmen.«
Den grauenvoll stinkenden, aufgedunsenen und mit Fliegen übersäten Kadaver mit dem rosa Schwanz anzurühren war so ziemlich das Letzte, was Raley in den Sinn gekommen wäre. Er hob kapitulierend die Hände und trat beiseite, damit der barfüßige alte Mann im fleckigen Overall seine Beute aus dem Metallkiefer der kleinen Falle lösen konnte.
»So wie du hier rumtrampelst, hätt's mich nicht gewundert, wenn du in meiner Falle gelandet wärst und nicht das Opossum«, grummelte er.
Raley war davon ausgegangen, dass um die Hütte, die er kürzlich erworben hatte, meilenweit niemand lebte. Er brauchte keinen Nachbarn, schon gar keinen, der über sein Kommen und Gehen Buch führte.
Als der alte Mann aufstand, protestierten seine Knie mit so lautem Knacken und Knirschen, dass er unter Schmerzen das Gesicht verzog und einen Schwall von Flüchen ausstieß. Den baumelnden Kadaver in der Hand haltend, taxierte der Alte Raley von der Baseballkappe und dem bärtigen Gesicht abwärts bis zu den Wanderschuhen. Nach abgeschlossener Inspektion spuckte er einen Strahl Tabaksaft in den Dreck, um seine Meinung über diesen Anblick kundzutun. »Is' schließlich nicht verboten, im Wald rumzulaufen«, sagte er. »Aber lass bloß die Finger von meinen Fallen.«
»Es würde die Sache vereinfachen, wenn ich wüsste, wo sie stehen.«
Die Lippen des Alten verzogen sich zu einem breiten Grinsen, bei dem er tabakfleckige Stummel entblößte, wo früher einmal Zähne gewesen sein mussten. »Kann ich mir vorstellen.« Immer noch keckernd wandte er sich ab. »Die findest du schon, da wette ich drauf.« Noch lange nachdem er im dichten Unterholz verschwunden war, hörte Raley sein meckerndes Lachen.
Während der folgenden Monate waren sie sich immer wieder zufällig im Wald begegnet. Zumindest waren es für Raley zufällige Begegnungen gewesen. Er nahm an, dass sich der Alte nur zeigte, wenn ihm danach war, und unsichtbar blieb, wenn er keine Lust hatte, seinem neuen Nachbarn einen Gruß zuzugrunzen.
An einem heißen Nachmittag trafen sie in der Tür des Lebensmittelladens im nächsten Ort aufeinander. Raley wollte gerade hinein, der alte Mann heraus. Sie nickten einander zu. Als Raley später mit mehreren Einkaufstüten wieder nach draußen kam, sah er den Alten in einem Korbsessel auf der schattigen Veranda vor dem Laden sitzen und sich mit dem Hut Luft zufächeln. Aus einem Impuls heraus zerrte Raley eine gekühlte Bierdose aus dem Sixpack und warf sie dem Alten zu, der sie in einem exzellenten Reflex mit einer Hand auffing.
Raley lud die Einkäufe auf der Ladefläche des Pick-ups ab und kletterte hinter das Steuer. Der Alte beobachtete mit sichtlichem Misstrauen, wie er den Rückwärtsgang einlegte und aus der Parklücke setzte, aber Raley war aufgefallen, dass er die Dose geöffnet hatte.
Am nächsten Morgen klopfte jemand an Raleys Hütte. Nachdem er noch nie Besuch bekommen hatte, näherte er sich argwöhnisch der Tür. Vor ihm stand der Alte, in der Hand hielt er eine gesprungene Keramikschüssel mit einem Berg von rohem Fleisch unbekannter Herkunft. Es sah aus wie Aas, das sogar das Jagdhundetrio verschmäht hatte.
»Für das Bier. Ich mag keine Schulden bei niemand haben.«
Raley nahm die Schüssel entgegen, die ihm an die Brust gedrückt wurde. »Danke.« Sein Besucher machte kehrt und stapfte die Stufen hinab. Raley rief ihm nach: »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Wer will das wissen?«
»Raley Gannon.«
Der Alte zögerte und brummelte dann: »Delno Pickens.«
Von jenem Morgen an hatte sich zwischen ihnen eine Art Freundschaft entwickelt, die auf Einsamkeit und dem gemeinsamen Widerwillen beruhte, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen.
Alles in allem waren Delnos Besitztümer keine hundert Dollar wert. Ständig schleifte er Sachen nach Hause, die er weiß Gott wo aufgetrieben und für die er keine Verwendung hatte. Seine Hütte stand auf Pfählen, zum Schutz vor Überschwemmungen, wenn der Combahee über die Ufer trat. Doch der Hohlraum unter dem Boden war mit Sperrmüll vollgestopft, wie um der Hütte ein solideres Fundament zu geben. Das Gelände um die Hütte war ebenfalls mit Schrott übersät, der nie auch nur zentimeterweise bewegt wurde, soweit Raley feststellen konnte. Das Sammeln schien Delno wichtiger zu sein als die Fundstücke selbst.
Er fuhr einen Pick-up, den Raley insgeheim »Frankenstein« getauft hatte, weil er aus den verschiedensten Einzelteilen bestand, die Delno im Lauf der Zeit zusammengetragen hatte, und hauptsächlich von Draht und Klebeband in Form gehalten wurde. Raley empfand es jedes Mal als Wunder, dass Delno das Gefährt überhaupt in Gang brachte, aber wie Delno sagte: »Es ist nicht schön, aber es bringt mich hin, wo ich hin will.«
Er aß alles. Wirklich alles. Alles, was er aus dem Wald, aus einer Falle oder aus dem Fluss zerren konnte. Aber was es auch war, er war stets bereit, es mit Raley zu teilen, seit sie Freundschaft geschlossen hatten.
Überraschenderweise war er sehr belesen und konnte sich fundiert über Themen unterhalten, bei denen man ihm das nie zugetraut hätte. Im Lauf der Zeit begann Raley zu argwöhnen, dass der Hillbilly-Akzent und das dazugehörige Vokabular nur zur Tarnung dienten. Genau wie das Elend, in dem er hauste, waren sie ein Protest gegen sein früheres Leben.
Aber was das für ein Leben gewesen war, blieb Delnos Geheimnis. Niemals erwähnte er eine Heimatstadt, seine Kindheit oder seine Eltern, eine frühere Beschäftigung, Kinder oder eine Ehefrau. Er redete ausschließlich mit seinen Hunden und mit Raley. Seine Intimbeziehungen beschränkten sich auf einen Stapel zerlesener Nackedei-Heftchen, die er unter seiner Pritsche versteckt hatte.
Auch Raley erzählte Delno nichts aus seinem Leben. Wenigstens nicht während der ersten zwei Jahre ihrer Bekanntschaft. Bis Delno eines Abends bei Sonnenuntergang vor Raleys Hütte stand, unter die Arme zwei Einmachgläser mit einer schlammigen Flüssigkeit geklemmt, die er selbst fermentiert hatte.
»Hab dich die ganze Woche nicht gesehen. Wo hast du gesteckt?«
»Hier.«
Raley wäre lieber allein geblieben, aber Delno hatte sich schon in seine Hütte gedrängt. »Dachte, du könntest vielleicht einen Schluck vertragen.« Er musterte Raley abfällig. »Wenn ich dich so sehe, hab ich wohl richtig gedacht. Du siehst wirklich übel aus. Konnte dich schon unten an der Veranda riechen.«
»Ausgerechnet du willst das Aussehen und die Körperhygiene anderer Leute kritisieren?«
»Wen hast du angerufen?«
»Wie bitte?«
»Dieses Plappermaul an der Kasse im Laden? Die mit der Zuckerwattefrisur und dem Gehänge an den Ohren? Die hat mir erzählt, du bist letzte Woche reingekommen, hast dir eine Handvoll Münzen geben lassen und damit das Telefon vor dem Laden gefüttert. Sie hat gesagt, du hast kurz telefoniert, dann hast du aufgelegt, und danach hast du ausgesehen, als wolltest du gleich wen umbringen. Dann bist du in deinen Truck gestiegen und losgerast, ohne deinen Einkauf zu zahlen, sagt sie.«
Er öffnete eines der Gläser und reichte es Raley, der kurz daran schnüffelte und es dann kopfschüttelnd zurückgab. »Darum frage ich«, fuhr Delno nach einem tiefen Schluck aus dem Glas fort, »wen hast du angerufen?«
Der Morgen dämmerte schon, als Raley fertig erzählt hatte. Bis dahin hatte Delno beide Gläser geleert. Raley fühlte sich ebenfalls leer - emotional, mental, körperlich. Es war eine schmerzhafte, aber therapeutische Katharsis gewesen. Ein ganzes Dutzend eitriger Wunden hatte er dabei aufgestochen.
Als alles gesagt war und Raley keine Kraft mehr zum Reden hatte, sah er den alten Mann an, der stundenlang zugehört hatte, ohne einen Ton von sich zu geben. Das faltige, lederige Gesicht zeigte tiefe Trauer. Zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, sahen ihn die alten Augen offen und ohne Argwohn an, und Raley begriff, dass er in die Seele eines Menschen blickte, der unaussprechlichen Kummer durchgemacht hatte. Es schien, als hätte Delno Pickens alles Leid und alle Ungerechtigkeit der Welt in diesen einen hoffnungslosen Blick gepackt.
Dann seufzte er und streckte, obwohl sie sich noch nie berührt hatten, die Hand aus, um Raleys Knie zu tätscheln. »Geh und wasch dich unter den Armen, sonst kotz ich den ganzen guten Schnaps wieder aus, weil du so stinkst. Ich mach dir solange Frühstück.«
Sie sprachen nie wieder über das, was Raley in jener Nacht erzählt hatte. Es war, als hätte es diese Nacht nie gegeben. Aber Raley hatte nie vergessen, wie leidgeprüft Delno ihn damals angesehen hatte.
»Was ist?« Raleys Herz setzte einen Schlag aus, und ihm schoss automatisch das Wort Katastrophe durch den Kopf. Eine vollbesetzte 747, die in einen Berg gekracht war. Ein Anschlag auf den Präsidenten. Ein terroristisches Attentat wie der Angriff auf das World Trade Center.
»Mach jetzt bloß keine Dummheiten, okay?«, warnte ihn Delno. »Was ist denn los?«
Unter griesgrämigen Flüchen über das »beschissene Programm da« nickte Delno zum Fernseher hin.
Raley trat an den uralten Apparat, drehte die Lautstärke auf und hantierte an der Zimmerantenne herum, um ein besseres Bild zu bekommen.
Das Bild blieb verschneit und der Ton kratzig, trotzdem war ihm Sekunden später klar, was passiert war und warum Delno nicht den Mut aufgebracht hatte, es ihm zu erzählen.
Jay Burgess war tot.
...
Übersetzung: Christoph Göhler
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Sandra Brown
Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem ersten Romanauf Anhieb einen großen Erfolg landete. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sandra Brown
- 2011, 1, 511 Seiten, Maße: 13,7 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009981
- ISBN-13: 9783868009989
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