Tirza
Roman
Jörgen Hofmeester, Ende fünfzig, wohlhabend, aber freigestellt, geht ganz auf in seiner Vaterrolle. Vor allem, seit seine Frau ihn verlassen hat. Tirza, so heißt sein Augenstern, die jüngere Tochter. Nach dem Abitur will sie auf Reisen...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
21.90 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Tirza “
Jörgen Hofmeester, Ende fünfzig, wohlhabend, aber freigestellt, geht ganz auf in seiner Vaterrolle. Vor allem, seit seine Frau ihn verlassen hat. Tirza, so heißt sein Augenstern, die jüngere Tochter. Nach dem Abitur will sie auf Reisen nach Afrika gehen. Dann hat Hofmeester ausgedient, wird keine Rolle mehr spielen - und deshalb fällt er aus der Rolle...
Klappentext zu „Tirza “
Jürgen Hofmeester, Ende fünfzig, wohlhabend, aber freigestellt, geht ganz auf in seiner Vaterrolle. Vor allem, seit seine Frau ihn verlassen hat. Tirza, so heißt sein Augenstern, die jüngere Tochter. Nach dem Abitur will sie auf Reisen nach Afrika gehen. Dann hat Hofmeester ausgedient, wird keine Rolle mehr spielen, und deshalb fällt er aus der Rolle.
Lese-Probe zu „Tirza “
Tirza von Arnon Grünberg LESEPROBE 1Jörgen Hofmeester steht in der Küche und schneidet Thun.sch für das Fest. In der Linken hält er den rohen Fisch. Er schwenkt das Messer, wie er es im Kurs »Sushi und Sashimi selber machen« gelernt hat, den er vor fünf Jahren zusammen mit seiner Frau belegte. Nicht zu viel Druck ausüben, das ist das Geheimnis.
Die Tür in den Garten steht halb offen. Es wird ein warmer Abend, wie Tirza gehofft hat. Seit ein paar Tagen verfolgt sie den Wetterbericht, als hinge der Erfolg ihrer Party ausschließlich vom Wetter ab.
In ein paar Stunden werden die Gäste den Garten in Beschlag nehmen. Pflanzen werden zertreten, junge Leute werden auf der Holztreppe zum Wohnzimmer hocken, andere sich auf den vier Gartenstühlen rekeln, die Hofmeester damals beim Einzug gekauft hat. Wieder andere werden in den kleinen Schuppen vordringen, wo Hofmeester nach Partys schon öfter leere Bierflaschen gefunden hat, halbvolle Weingläser neben dem Rasenmäher, Fläschchen mit exotischen Namen neben der Kettensäge, mit der er im Herbst und Frühling an Sonntagen den Apfelbaum stutzt. Einmal auch eine ungeöffnete Tüte mit Chips, die jemand dort vergessen hatte und die er geistesabwesend aufaß.
... mehr
Tirza hat schon häufiger Partys gegeben, doch dieser Abend ist etwas Besonderes. Wie Lebensläufe können auch Feste gelingen oder nicht. Obwohl Tirza nichts gesagt hat, spürt Hofmeester, daß viel von diesem Abend abhängt. Tirza, seine Jüngste, die Wohlgeratenste. Ausgezeichnet gelungen, sowohl innerlich als auch äußerlich.
Hofmeester hat die Ärmel hochgekrempelt. Um sein Hemd nicht zu bekleckern, trägt er eine Schürze, die er einmal zum Muttertag gekauft hat. Für seine Verhältnisse wirkt er heute männlich. Seit sechs Tagen hat er sich nicht rasiert. Er kam nicht dazu. Gleich nach dem Aufstehen überfielen ihn Gedanken, die ihm noch nie so gekommen waren: Pläne, Erinnerungen an die Kinder, als sie noch kaum krabbeln konnten, Ideen, die ihm zu dieser Morgenstunde brillant erschienen. Gleich will er sich schnell noch rasieren. Repräsentativ und charmant möchte er aussehen. So will er die Gäste empfangen: ein Mann, der nicht umsonst gelebt hat.
Er wird Sushi und Sashimi herumreichen, stilvoll arrangiert auf einem Tablett, das er speziell zu diesem Anlaß in einem Laden für Japanartikel gekauft hat. Er wird mit den Gästen plaudern, sie nebenbei bitten: »Probiert mal den Sashimi vom Tintenfisch.« Ein Vater, der sich diskret im Hintergrund hält, das wird er sein. Das Geheimnis des Elternberufs: diskrete Selbstverleugnung. Elternliebe ist das Opfer, das schweigend gebracht wird. Alle Liebe ist Opfer. Niemand wird ihm etwas anmerken. Ihm ist auch nichts anzumerken. Manche werden ihm zu Tirzas blendendem Zeugnis gratulieren, der eine oder andere eingeladene Lehrer ihn fragen, was Tirza jetzt vorhat, und er wird antworten, das Sashimi-Tablett in der Hand: »Erst mal will sie ein bißchen verreisen. Namibia, Südafrika. Botswana. Dann kommt sie zurück zum Studieren.« Er wird ein vorbildlicher Gastgeber sein, der seine Augen überall hat. Nicht nur Essen und Getränke wird er den Gästen reichen, auch um die Einsamen und Vernachlässigten wird er sich kümmern. Hofmeester wird die unterhalten, die keinen anderen Gesprächspartner haben als ihr Glas oder ihr Sushi. Verschüchterten Gästen seine Gesellschaft anbieten. Und getanzt werden, getanzt werden soll auch.
Hofmeester greift in eine Schüssel mit lauwarmem Reis, knetet ihn, und während er das tut, wirft er einen Blick auf den Rahmen der Flurtür, als sehe er ihn zum ersten Mal. Er bemerkt die abblätternde Farbe, eine abgeschabte Stelle auf der Tapete daneben, gegen die einmal ein Schuh geflogen ist, den Tirza ihm an den Kopf werfen wollte. Zuvor hatte sie »Arschloch« gerufen. Oder danach, das weiß er nicht mehr so genau. Ein Glück, daß die Scheibe in der Tür heil blieb. Er betrachtet den Reis in seiner Hand. In Japan geht alles besser. Hofmeesters Sushi sind formlos. Die Hingabe, mit der er knetet, verwundert ihn, wie er sich über Dummheiten aus seiner Vergangenheit wundert. Die Arten Dummheit, die nicht allzuviel Schaden anrichten.
Er wirft noch einen Blick auf die abblätternde Farbe, sie erinnert ihn an seine Haut. Er hat eine Salbe, doch zum Eincremen ist er seit Tagen nicht mehr gekommen. Den Reis in der Hand, schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, dies Haus, sein Haus zu verkaufen. Erst nimmt er ihn nicht ernst, spielt nur damit, wie mit etwas, das doch nie Wirklichkeit wird. Sich nach dem Tod einfrieren und hundert Jahre später wieder auftauen lassen zum Beispiel. Doch der Gedanke überzeugt ihn immer mehr. Die Zeit ist reif. Wie lang soll er noch warten, und worauf?
Früher hätte er solche Ideen sofort verworfen. Sein Haus war sein Stolz. Der Apfelbaum, den er selbst gepflanzt hatte, sein drittes Kind. Sich von Haus und Apfelbaum zu trennen, wenn das Wasser ihm einmal bis zum Hals stände, war ihm zwar früher auch schon durch den Kopf gegangen, doch war es ihm völlig unmöglich vorgekommen. Es war absurd, geradezu widernatürlich. Wo sollte er mit seiner Familie denn hin? Der Apfelbaum ließ sich nicht mehr verpflanzen. Hofmeester war an dieses Haus gekettet, wie an alles andere. Wenn Freunden und Bekannten zu Hofmeester nichts Freundliches einfiel – was hin und wieder durchaus einmal vorkam –, gab es immer einen, der bemerkte: »Dafür wohnt Jörgen aber an erster Adresse.«
An erster Adresse. Für Hofmeester war das lebenswichtig. Irgendworin mußte Erfolg sich ja zeigen. Meist in der Wohnanschrift. Sobald er die Straße nannte, packte ihn eine gewisse Verbissenheit. Als sei seine ganze Identität, alles, was er war und was ihm etwas bedeutete, in diesem einen Straßennamen samt Hausnummer und Postleitzahl enthalten. Mehr als sein Name, sein Beruf oder sein Magistertitel, den Hofmeester manchmal, ohne der Wahrheit damit Gewalt anzutun, vor seine Initialen setzte, erklärte seine Adresse, wer er war und wer er sein wollte.
Jetzt braucht er diese Adresse nicht mehr. Während er ein Stück Thunfisch über den Reis drapiert, kommt ihm der Gedanke plötzlich wie eine Erlösung vor.
© Diogenes Verlag
Übersetzung: Rainer Kersten
Hofmeester hat die Ärmel hochgekrempelt. Um sein Hemd nicht zu bekleckern, trägt er eine Schürze, die er einmal zum Muttertag gekauft hat. Für seine Verhältnisse wirkt er heute männlich. Seit sechs Tagen hat er sich nicht rasiert. Er kam nicht dazu. Gleich nach dem Aufstehen überfielen ihn Gedanken, die ihm noch nie so gekommen waren: Pläne, Erinnerungen an die Kinder, als sie noch kaum krabbeln konnten, Ideen, die ihm zu dieser Morgenstunde brillant erschienen. Gleich will er sich schnell noch rasieren. Repräsentativ und charmant möchte er aussehen. So will er die Gäste empfangen: ein Mann, der nicht umsonst gelebt hat.
Er wird Sushi und Sashimi herumreichen, stilvoll arrangiert auf einem Tablett, das er speziell zu diesem Anlaß in einem Laden für Japanartikel gekauft hat. Er wird mit den Gästen plaudern, sie nebenbei bitten: »Probiert mal den Sashimi vom Tintenfisch.« Ein Vater, der sich diskret im Hintergrund hält, das wird er sein. Das Geheimnis des Elternberufs: diskrete Selbstverleugnung. Elternliebe ist das Opfer, das schweigend gebracht wird. Alle Liebe ist Opfer. Niemand wird ihm etwas anmerken. Ihm ist auch nichts anzumerken. Manche werden ihm zu Tirzas blendendem Zeugnis gratulieren, der eine oder andere eingeladene Lehrer ihn fragen, was Tirza jetzt vorhat, und er wird antworten, das Sashimi-Tablett in der Hand: »Erst mal will sie ein bißchen verreisen. Namibia, Südafrika. Botswana. Dann kommt sie zurück zum Studieren.« Er wird ein vorbildlicher Gastgeber sein, der seine Augen überall hat. Nicht nur Essen und Getränke wird er den Gästen reichen, auch um die Einsamen und Vernachlässigten wird er sich kümmern. Hofmeester wird die unterhalten, die keinen anderen Gesprächspartner haben als ihr Glas oder ihr Sushi. Verschüchterten Gästen seine Gesellschaft anbieten. Und getanzt werden, getanzt werden soll auch.
Hofmeester greift in eine Schüssel mit lauwarmem Reis, knetet ihn, und während er das tut, wirft er einen Blick auf den Rahmen der Flurtür, als sehe er ihn zum ersten Mal. Er bemerkt die abblätternde Farbe, eine abgeschabte Stelle auf der Tapete daneben, gegen die einmal ein Schuh geflogen ist, den Tirza ihm an den Kopf werfen wollte. Zuvor hatte sie »Arschloch« gerufen. Oder danach, das weiß er nicht mehr so genau. Ein Glück, daß die Scheibe in der Tür heil blieb. Er betrachtet den Reis in seiner Hand. In Japan geht alles besser. Hofmeesters Sushi sind formlos. Die Hingabe, mit der er knetet, verwundert ihn, wie er sich über Dummheiten aus seiner Vergangenheit wundert. Die Arten Dummheit, die nicht allzuviel Schaden anrichten.
Er wirft noch einen Blick auf die abblätternde Farbe, sie erinnert ihn an seine Haut. Er hat eine Salbe, doch zum Eincremen ist er seit Tagen nicht mehr gekommen. Den Reis in der Hand, schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, dies Haus, sein Haus zu verkaufen. Erst nimmt er ihn nicht ernst, spielt nur damit, wie mit etwas, das doch nie Wirklichkeit wird. Sich nach dem Tod einfrieren und hundert Jahre später wieder auftauen lassen zum Beispiel. Doch der Gedanke überzeugt ihn immer mehr. Die Zeit ist reif. Wie lang soll er noch warten, und worauf?
Früher hätte er solche Ideen sofort verworfen. Sein Haus war sein Stolz. Der Apfelbaum, den er selbst gepflanzt hatte, sein drittes Kind. Sich von Haus und Apfelbaum zu trennen, wenn das Wasser ihm einmal bis zum Hals stände, war ihm zwar früher auch schon durch den Kopf gegangen, doch war es ihm völlig unmöglich vorgekommen. Es war absurd, geradezu widernatürlich. Wo sollte er mit seiner Familie denn hin? Der Apfelbaum ließ sich nicht mehr verpflanzen. Hofmeester war an dieses Haus gekettet, wie an alles andere. Wenn Freunden und Bekannten zu Hofmeester nichts Freundliches einfiel – was hin und wieder durchaus einmal vorkam –, gab es immer einen, der bemerkte: »Dafür wohnt Jörgen aber an erster Adresse.«
An erster Adresse. Für Hofmeester war das lebenswichtig. Irgendworin mußte Erfolg sich ja zeigen. Meist in der Wohnanschrift. Sobald er die Straße nannte, packte ihn eine gewisse Verbissenheit. Als sei seine ganze Identität, alles, was er war und was ihm etwas bedeutete, in diesem einen Straßennamen samt Hausnummer und Postleitzahl enthalten. Mehr als sein Name, sein Beruf oder sein Magistertitel, den Hofmeester manchmal, ohne der Wahrheit damit Gewalt anzutun, vor seine Initialen setzte, erklärte seine Adresse, wer er war und wer er sein wollte.
Jetzt braucht er diese Adresse nicht mehr. Während er ein Stück Thunfisch über den Reis drapiert, kommt ihm der Gedanke plötzlich wie eine Erlösung vor.
© Diogenes Verlag
Übersetzung: Rainer Kersten
... weniger
Autoren-Porträt von Arnon Grünberg
Arnon Grünberg, 1971 in Amsterdam geboren, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen wie dem Anton-Wachter-Preis, dem AKO-Literaturpreis, dem Libripreis und dem Constantijn-Huygens-Preis für sein Gesamtwerk erhielt Arnon Grünberg 2002 den NRW-Literaturpreis.Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst er einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Arnon Grünberg
- 2008, 572 Seiten, Maße: 12,6 x 18,8 cm, Leinen, Deutsch
- Aus d. Niederländ. v. Rainer Kersten
- Übersetzer: Rainer Kersten
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257066376
- ISBN-13: 9783257066371
Kommentar zu "Tirza"
0 Gebrauchte Artikel zu „Tirza“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Tirza".
Kommentar verfassen