Tod in Garmisch
Ein Toter in der Partnachklamm verdirbt dem Hauptkommissar Schwemmer das Abendessen. Wurde der Mann das Opfer einer uralten Familienfehde? War es der Meixner-Bauer, der geschossen hat? Wer ist der rätselhafte Hotelgast, der unter seinen...
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Produktinformationen zu „Tod in Garmisch “
Ein Toter in der Partnachklamm verdirbt dem Hauptkommissar Schwemmer das Abendessen. Wurde der Mann das Opfer einer uralten Familienfehde? War es der Meixner-Bauer, der geschossen hat? Wer ist der rätselhafte Hotelgast, der unter seinen Maßjackets eine Waffe trägt? Wer hat Geld unterschlagen? Wer vergiftet Hunde? Und vor allem: Wer lügt?
Lese-Probe zu „Tod in Garmisch “
Tod in Garmisch von Martin Schüller1
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Als der erste Sonnenstrahl durch die karierten Vorhänge des kleinen Fensters drang, war Magdalena schon wach. Sie lauschte auf die Stimmen der Vögel, das einzige Geräusch an diesem Morgen. Nur Großvaters alter Lada hatte die Stille unterbrochen, als er vor Sonnenaufgang zur Jagd gefahren war. Nun waren bloß noch die Vögel zu hören. Die Ruhe hier oben war immer wieder aufs Neue ein Genuss für sie, auch wenn sie wusste, dass Hias bald den Traktor anlassen und eine Wolke aus rußigen Abgasen durch das offen stehende Fenster blasen würde. Magdalena stand mit einem Lächeln auf. Sie zog die Vorhänge zur Seite. Tatsächlich sah sie Hias bereits über den Hof zur Scheune stapfen. Die Gipfel des Wettersteingebirges strahlten golden in der Morgensonne. Auch nach Jahrzehnten war ihr der Anblick der mächtigen Gipfel nicht gleichgültig. Die Amerikaner mochten behaupten, in God's own country zu leben, dachte sie. Sie waren zumindest nicht die Einzigen. Sie goss die Emailleschüssel halb voll, warf sich wohlig das kalte Wasser ins Gesicht und rubbelte es anschließend trocken. Das Aufstehen fiel ihr hier auf dem Hof viel leichter als in ihrer Wohnung im Hotel. Aber sie konnte es nur selten einrichten, bei ihrer Mutter auf dem Meixner- Hof zu übernachten, und wenn sie ganz ehrlich war, wusste sie ja auch, dass der Aufenthalt hier nicht nur aus angenehmem Aufstehen bestand. Sondern zum Beispiel auch aus dem Frühstück mit ihrer Mutter. Magdalena liebte ihre Familie; ihre Mutter Reserl und ihren Großvater Melchior, den alle nur Maiche nannten; ihren jüngeren Bruder Wastl, obwohl sie wusste, dass er sein Studium in Frankfurt nur als Vorwand für das Leben eines Taugenichts nutzte - ständiger Quell des Streites mit ihrer Mutter, die an ihrem Jüngsten einfach nicht zweifeln wollte. Immer noch sah sie in ihm das Ebenbild ihres geliebten Ehemannes, den ihr ein hinterhältiger Krebs binnen weniger Wochen geraubt hatte. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters vor acht Jahren waren Magdalenas Gefühle für ihre Mutter noch intensiver geworden. Aber leider machte das die Anstrengung nicht wett, die es sie kostete, vor ihrer zweiten Tasse Kaffee eine konzentrierte Unterhaltung zu führen. Und leider hatte ihre Mutter nie die Sensibilität aufgebracht, sie mit ihren Vorträgen zu verschonen, nur weil sie ein Morgenmuffel war. Nach dem Zähneputzen öffnete Magdalena die Tür und stieg die steile Treppe zur Stube hinunter, in der Reserl bereits werkelte. Großvater und Knecht Hias hatten ihr Frühstück natürlich längst beendet. »Endlich, du Langschläfer«, sagte ihre Mutter, ohne sich zu Magdalena umzudrehen. Sie war dabei, das gespülte Geschirr in den alten Schrank aus hellem Eichenholz zu räumen. Ihre Stimme hatte diesen müden Klang, den sie häufig hatte seit Vaters Tod. Meist lag ein Vorwurf darin, als wäre Magdalena für ihre Situation verantwortlich. Magdalena hatte lange gebraucht, sich diesen Klang nicht mehr zu Herzen zu nehmen. Aber gerade morgens fiel es ihr schwer. Sie brummte irgendwas zur Begrüßung. »I wollt gestern Abend ned drüber redn, weil der Maiche dabei war«, sagte Reserl, während sie Kaffee in einen Becher schenkte und ihn Magdalena hinstellte. Magdalena setzte sich auf die Bank vor dem Fenster und griff nach dem Becher. Seine Wärme war angenehm und der Duft vielversprechend. »Ärger?«, fragte sie und nahm einen Schluck. »Maiche hat an Schedlbauer Berni im Wald gtroffn.« »Wohin?«, fragte Magdalena und verfluchte sich sofort für diese dumme Bemerkung. Reserl fuhr zu ihr herum. »Des is überhaupt ned witzig, Lenerl«, sagte sie scharf. »I woaß ja a ned, was er da gsucht hod. Woaßt, was der Maiche getan hod? Mit der Flintn hod er eam aus seim Wald gjagt. Mit der Flintn! Hoffentlich fängt jetzt ned alles von vorn an!« Magdalena stöhnte auf. Das war starker Tobak für diese Uhrzeit. Die Fehde der Meixners und der Schedlbauers gehörte fast schon zur Folklore. Alle Meixners waren froh, dass die Geschichte irgendwann eingeschlafen war - oder besser: fast alle, denn Großvater Maiche hatte sich nie wirklich abgefunden mit dem, was er für eine Niederlage hielt. Berni war einer der Söhne von Sippen oberhaupt Rosemarie Schedlbauer, die jeder nur als Mirl kannte. Und nun waren ausgerechnet die beiden härtesten Kerle der beiden Familien aneinandergeraten. Tatsächlich lagen die Ursprünge dieser Fehde so weit zurück, dass die verschiedensten Versionen davon im Umlauf waren. Magdalena neigte zu der ihres Vaters, wobei es dafür keinen konkreten Grund gab außer dem, dass eben ihr Vater sie erzählt hatte. In dieser Fassung hatte Maiches Schwester Leni einen Antrag von Berni Schedlbauers Großonkel Max mit so drastischen Worten abgelehnt, dass der beleidigte Max die körperliche Auseinandersetzung mit Maiches älterem Bruder Edi gesucht hatte. Der Kampf war dann derartig unentschieden ausgegangen, dass er bei jeder Gelegenheit zwischen allen Mitgliedern der beiden Familien fortgesetzt wurde, auch nach dem Ableben aller direkt Beteiligten. Maiche war damals erst vierzehn gewesen. Magdalena hatte aber auch schon die Version gehört, dass Edi Meixner dem Schedlbauer Max eine kaputte Dreschmaschine verkauft und sich geweigert hatte, sie zurückzunehmen. Magdalenas Vater jedenfalls hatte es geschafft, die Fehde in eine Art Waffenstillstand zu verwandeln, indem er den verblüfften Schedlbauers das Wegerecht für die Zufahrt zu einer ihrer Skischulen zugestand - gegen den heftigen Widerstand seines Vaters Maiche. Die Schedlbauers bekamen eine direkte Zufahrt zu ihrer neuen Geldquelle, und im Gegenzug sagte Konrad Schedlbauer Magdalenas Vater zu, den Streit zu begraben - gegen den Protest seiner Gattin Mirl Schedlbauer, die Maiche Meixner in puncto Sturheit in nichts nachstand.
Das war jetzt neun Jahre her, und die Friedensstifter von damals waren leider beide mittlerweile verstorben. Magdalena nahm noch einen Schluck Kaffee. Die Schedlbauers waren aber auch ein wirklich unangenehmer Haufen geblieben. Außer Vinzenz, dachte sie. »De Schedlbauers san aber a wirklich furchtbare Leut«, sagte Reserl und schnitt eine Scheibe von dem gekümmelten Brot ab. »Außer dem junga, dem Vinz, vielleicht. « »Ja. Aber wenn Großvater in Zukunft jede furchtbare Person mit der Flinte bedroht, kriegen wir eine Menge Spaß«, sagte Magdalena. Sie nahm die Brotscheibe, strich dick Butter darauf und säbelte ein Stück vom Speck ab. »Der wird aber a immer noch sturer«, sagte Reserl. »Des hab i ma ned vorstelln kenna, dass des geht. Und beinah jeden Tag in sein Wald. Sakra, der is fünfundachzge ... Wenigstens hat er den Hund dabei. Aber der Sento werd ja a ned jünger.« Magdalena lachte leise und biss in ihr Speckbrot. Natürlich war Großvater über die Jahre langsamer geworden und die Brille dicker, aber körperlich war er noch sehr gut beieinander. Von seinem Wald würde er jedenfalls nicht lassen, solange sein alter russischer Geländewagen ihn hintrug. »I woaß a gar ned, was der Berni da zum Sucha ghabt hätt«, sagte Reserl. Sie hatte das Geschirr weggeräumt und nahm nun den Korb Kartoffeln heraus, um sie für das Mittagessen vorzubereiten. »Vielleicht will er noch eine Skischule aufmachen und sucht nach einer günstigen Zufahrt«, sagte Magdalena.
Sie schloss die Augen und nahm einen Schluck aus ihrem Becher. »Da is der beim Maiche aber grad an den Rechten gratn. Bis heut woaß i ned, wia dei Vater des angstellt hat, dass der Oide den Schedlbauers des Wegrecht geben hat. Muass mi ja a schon zsammreißn, wenn mia de Mirl untn im Ort übern Weg laft. I grüaß immer artig, aber mei Freundin werd die nimmer. Und die Nanni, die Tochter ...« Reserl brach ab. Mit einem Kopfschütteln nahm sie die erste Kartoffel aus dem Korb und begann, sie auf ihre ruhige, sorgfältige Art zu schälen. Magdalena sagte nichts. Nanni war wirklich eine grauenhafte Person. Snobistisch, arrogant und dumm. Und geldgierig. Sie achtete sehr darauf, dass man im Ort genau über sie informiert blieb. Seit einigen Monaten war ihre Verlobung mit Ludwig Allensteiner das eingehend diskutierte Thema. Ludwig war der Sohn von Leopold Allensteiner, dem Besitzer der Kunststofffabrik in Kaltenbrunn, und eigentlich hatte jeder Mitleid mit dem armen Viggerl. Nicht nur, dass er mit seinen neunundvierzig Jahren mehr als zwanzig Jahre älter war als seine Verlobte, er litt auch an einer fast krankhaften Schüchternheit und würde seiner zukünftigen Gattin wohl hilflos ausgeliefert sein. Niemand, der die beiden kannte, zweifelte daran, dass sie ihn nur wegen seines Geldes nahm. »Du hast ja verzählt, der Vinz sei a ganz a Netter«, sagte Reserl. »Obwohl man sich des kaum vorstelln kann. Wo sei Bruder, der Berni, so a Fieser ist. Den hams ja sogar mal verhaftet.« »Großvater auch«, sagte Magdalena. »Ach, was redst denn da! Des is so lang her!« Magdalena griff nach der Thermoskanne und schenkte sich Kaffee nach. Maiche hatte einen der Schedlbauers derart vermöbelt, dass die Polizei eingeschritten war. Es war wirklich lange her, aber es war passiert. Zwei Generationen später war jetzt Berni Schedlbauer der Mann mit dem schlechten Ruf. Sein jüngerer Bruder Vinzenz war von ganz anderem Charakter. Magdalena war in der Schule zwei Klassen unter ihm gewesen und hatte ihn still angehimmelt, immer mit schlechtem Gewissen ihrer Familie gegenüber. Aber er hatte so schöne Augen. Später hatte sich ihre Mädchenverliebtheit zwar gelegt, aber als sie sich ein paar Jahre später in einer Kneipe über den Weg liefen, in Tübingen, wo Magdalena ihre Freundin Daggi besucht hatte, da waren sie am Ende des Abends tatsächlich auf seiner Studentenbude gelandet, wo dann passierte, was in solchen Situationen eben zu passieren pflegt. Aber das musste ihre Mutter nicht unbedingt erfahren. Sie hatten ein schönes Wochenende verlebt, hatten sich lustig gemacht über die sturen Köpfe in ihren Familien, die nicht in der Lage waren, mal über ihren Schatten zu springen. Ein Wochenende, mehr nicht. Er war einfach zu klein, dachte Magdalena. Oder sie war zu groß mit ihren ein sachtundsiebzig. Aber sie hatten immer Respekt füreinander gehabt, auch später. Sie telefonierten noch miteinander, dann und wann. Als Magdalena vorletztes Jahr ihr Hotel eröffnet hatte, war Vinz zur Einweihungsparty gekommen, vorsichtshalber erst spät, als Maiche und Reserl schon gegangen waren. Ein paarmal hatte sie sogar Gleitschirmunterricht für Hotelgäste bei ihm gebucht. Sie sah auf die Uhr. Es wurde Zeit. Sie trank ihren Becher leer und stand auf. »Ich muss los, Mutter.« Sie küsste sie aufs Haar und ging zur Tür. »Dass d' dir den Tag ned schwer werdn lasst«, sagte ihre Mutter und lächelte auf ihre traurige Art. »Wird schon«, antwortete Magdalena, zog ihre Windjacke über und winkte noch mal, bevor sie aus der Stube trat. Draußen blinzelte sie in die Frühlingssonne. Hias trug gerade den Eimer mit dem Hühnerfutter aus der Scheune. Er grüßte sie mit einem respektvollen Nicken. Sie ging zu ihm und wurde dabei von etlichen Hühnern überholt, die sich auf ihre Mahlzeit freuten. Wie alt ist er eigentlich jetzt?, dachte Magdalena. Auf die siebzig musste er zugehen. Aber seine Konstitution war erstaunlich. Er war mit sechsundzwanzig als Knecht auf den Hof gekommen. Über vierzig Jahre sind das, dachte Magdalena. Natürlich hatte der Großvater nicht mehr so viele Kühe wie vor fünfzehn Jahren, als sie noch den Stall ausgebaut hatten, aber für zwei alte Männer gab es immer noch mehr als genug zu tun. Vor allem wenn einer der beiden sich ständig im Wald rumtrieb. »Wie geht es dem Großvater?«, fragte Magdalena. »Nimmt mi nimmer mit auf d' Jogd«, sagte Hias. »Sogd, i schnauf z' laut. Dawei triffd der nur nimmer, mit der neien Bruilln.« Hias verzog den Mund zu seinem typischen schiefen Grinsen. »Mochd nix. Ko i länga schlafa.« »Was war denn das mit dem Schedlbauer Berni?«, fragte Magdalena. Hias zuckte die Achseln. »Wos treibt der se da rum da drobn? Is Meixner-Woid. Des woaß der a.« »Hat der Maiche ihn wirklich mit der Flinte bedroht?« »So hod er's gsogt.« Magdalena nickte ihm zum Abschied zu. »Pfüati«, sagte sie und ging zu ihrem Minivan. So verliefen die Unterhaltungen mit Hias. Er sprach halt nicht gern. Schon gar nicht, wenn er es für unnötig hielt. Als sie gerade einsteigen wollte, rollte Maiches alter Lada auf den Hof. Magdalena sah auf die Uhr; es wurde Zeit für sie, sie musste um acht im Hotel sein. Aber natürlich wollte sie ihren Großvater begrüßen, bevor sie in den Ort fuhr. Als Maiche aus seinem Wagen stieg, war Magdalena sofort klar, dass etwas passiert war. Sie ließ die Tür ihres Wagens wieder zufallen und ging zu ihm hinüber. Ihr Großvater öffnete die Heckklappe, und Sento sprang heraus. Maiche nahm seine Jagdflinte und seinen alten Rucksack aus dem Kofferraum. »Was schaust du so bös?«, fragte Magdalena. Sento, der sonst immer freudig auf Magdalena zugesprungen kam, schien von der düsteren Stimmung seines Herrn angesteckt. Die Rute zwischen den Hinterläufen schlich er sich außer Sicht. Maiche sah Magdalena nicht an. »Wilderer«, knurrte er nur und stapfte auf Hias zu. Magdalena lief neben ihm her. »Wilderer? Und?«, fragte sie.
Er zuckte die Schultern. »Naufbrennt hab i eam eine.« »Was?« Magdalena blieb fassungslos stehen. »Du hast auf einen Menschen geschossen?« »A Wuildara«, wandte Hias ein. Für ihn schien das ein Unterschied zu sein. »In meim Wald«, fügte ihr Großvater noch hinzu. »Und der hod zerscht gschossn. Koane zwoa Meter neben mir hat's eigschlagn.« »Notwehr«, sagte Hias. Maiche brummte nur verächtlich. »I lass ned auf mi schiaßn, scho gar ned in meim Wald.« »Hast du ihn denn getroffen?«, fragte Magdalena. »Glaub scho«, sagte Maiche. »Wissn kann i's fei ned. Is den Hang nunter, zur Klamm. Glebt hat er scho no, glaub i.« Magdalena ließ entgeistert die Schultern sinken. »Glaubst du?«, sagte sie kopfschüttelnd. »Der is nunterglaufa. Und dann hod er si hinter am Fels versteckt.« »Und jetzt?« Maiche winkte ab. »Was scho? Meinst, der geht zur Polizei? Dass sie eam wegn Wilderei drankriegn?« »Wenn er verletzt ist und zum Arzt geht, muss der das melden mit der Schusswunde.« »Schaun mer mal.« Hias trat näher an ihn heran. »Recht hod's scho«, sagte er leise mit einem Seitenblick zum Haus, als wolle er sichergehen, dass sie nicht von Reserl gehört wurden. »Besser war's, wannst nachste Zeit wos anders trogst ois a Flintn.«
Der alte Bauer und sein Knecht sahen sich in die Augen, und schließlich wurde Maiches sturer Blick einsichtig. »Da«, sagte er und hielt Hias das Gewehr hin. »Pack's aber gscheit ei.« Hias nahm die Waffe wortlos an sich und ging zur Scheune. Magdalena ging ihm nach. Er kletterte die Leiter zum Heuboden hinauf. »Wo tust du es hin?«, fragte sie. »In d' Wand an der oidn Heiklappn«, antwortete Hias, ohne zu zögern. »Gut«, sagte Magdalena nur. Dort hätte sie das Gewehr auch versteckt. Ein Stück hohle Wand, das damals durch den Stallausbau entstanden war. »Des passt dem Baurn grod goar ned«, hörte sie Hias von oben sagen, wo er außer Sicht an der Klappe herumhantierte. »Weiß ich auch«, antwortete Magdalena. Eigentlich hatte sie etwas sagen wollen wie »Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen «, aber sie wusste, dass solche Feinheiten von Hias nicht gewürdigt wurden. »Achtest du mit drauf, dass er sie da nicht wieder rausholt? «, fragte sie noch und erhielt als Antwort ein Knurren, das sie als Zustimmung erkannte. »Ich muss jetzt wirklich los«, sagte sie dann. »Und sag Mutter besser nichts davon.« Ihre letzte Bemerkung verdiente sich bei Hias nicht mal mehr ein Knurren, so selbstverständlich war es für ihn, Reserl da rauszuhalten. Großvater war im Haus verschwunden, und sie verzichtete darauf, sich extra von ihm zu verabschieden. Sie stieg in ihren Subaru und fuhr vom Hof die schmale Straße hinab ins Tal. * * * Balthasar Schwemmer unterdrückte ein Kopfschütteln. »Burgl, müssen wir das unbedingt beim Frühstück besprechen? «, fragte er leidend und begann den Artikel im Sportteil des Tagblatts noch einmal von vorn. »Wann denn sonst, Hausl?« »Später am Tag«, brummte Schwemmer in seine Kaffeetasse. »Hast du schon mal versucht, einen Ersten Kriminalhauptkommissar tagsüber ans Telefon zu kriegen? Oder auf seinen Anruf gewartet?« Burgl lachte. »In der Mittagspause. Ich versprech's dir«, seufzte Schwemmer, aber er wusste natürlich, dass seine Frau recht hatte. Es kam immer etwas dazwischen, wenn er Burgl gerade anrufen wollte. Und wenn er dran dachte, war sie nicht da. Natürlich hätte sie ihn auf seinem Handy anrufen können, aber sie wusste und respektierte, wie sehr er es hasste, vor Kollegen private Gespräche zu führen. Also musste die Entscheidung über das Abendessen eben beim Frühstück fallen. Bis zum letzten Jahr hatte es dieses Problem nicht gegeben, da hatte Burgl ihre Praxis betrieben und war froh gewesen, dass er so gern kochte. Aber nun hatte sie die Psychotherapie aufgegeben und lebte das abenteuerliche Leben einer Hausfrau, und ihr liebstes Abenteuer war eben das Kochen. So musste er also jetzt schon beim Frühstück seine festgefügten Vorstellungen von bayerischer und internationaler Küche gegen die frisch erweckte, vorwärtsstürmende kulinarische Entdeckungslust seiner Gattin verteidigen. »Heute Fisch, Hausl?« Burgl hatte es zwar als Frage formuliert, aber wenn sie ihn Hausl nannte, wusste Balthasar Schwemmer, dass sie ohnehin nicht mit Widerworten rechnete. Warum auch?, dachte er. Spricht ja nichts gegen Fisch. »Passt schon«, antwortete er also, ohne den Blick vom Sportteil zu heben. »Schön. Also Fischpflanzerl. Und was dazu?« »Fisch ... was?« Jetzt sah er doch auf. »Bin ich ein Hamburger? « »Hamburger sind aus Fleisch«, antwortete Burgl. »Nein, Hamburger sind aus Hamburg. Und essen Fischfrikadellen. Ständig.« Er hatte im Autoradio auf einer Fahrt zur Staatsanwaltschaft nach München mal ein Stück von einer Hamburger Gruppe gehört, und die Stelle »Dann ess ich auf die Schnelle noch 'ne Fischfrikadelle« war ihm nie mehr aus dem Kopf gegangen. Seitdem stellte er sich vor, dass der Hamburger sich von nichts anderem ernährte. Er hatte allerdings seit seiner Bundeswehrzeit keinen Hamburger mehr kennengelernt. »Was schönes Gebratenes! Forelle! Wie wär's mit Forelle? «, schlug er betont munter vor.
»Forelle hatten wir neulich schon«, erhielt er zur Antwort. An »neulich« hatte Schwemmer nur noch eine vage Erinnerung. Und Burgl setzte noch einen drauf. »Wie wär's mit Lauchgemüse zu den Pflanzerln?« Schwemmer gab auf. Er trank seinen Kaffee aus und faltete die Zeitung zusammen. »Schon recht«, sagte er. »Fein!«, freute sich Burgl. »Lauchgemüse süßsauer. Das passt prima.« Schwemmer schaffte es, nicht aufzustöhnen. Von süßsauer war natürlich nicht die Rede gewesen, aber er war um diese Tageszeit einfach noch nicht in der Form, die nötig gewesen wäre, Burgls offensichtlich schon stehende Planung zu ändern. »Wunderbar«, sagte er also, während er aufstand. Er ging zu Burgl und küsste sie auf den Mund. Er sah das Blitzen in ihren Augen, und er wusste, dass sie genau wusste, was sie getan hatte. Und dass er das wusste. Es war einer dieser Momente, in denen sie ihren Humor teilten und in denen er sie wirklich liebte. Er sah ihr in die Augen und lachte, und sie lachte zurück. »Du darfst den Wein aussuchen«, sagte sie lächelnd. »Ja, ja. Und mitbringen«, brummte er. Er küsste sie zum Abschied in den Nacken und ging aus dem Haus. Von gegenüber grüßte ihn die alte Frau Schmitt aus ihrem Küchenfenster, er winkte zurück. Er sah die Straße entlang. Frühlingssonne auf der Zugspitze, ein milder Wind. Erstes Grün und Gelb auf den Büschen in den ordentlichen Vorgärten der schmucken Einfamilienhäuser. Ein paar Kinder schleppten ihre Ranzen zur Schule.
Schwemmer grinste in sich hinein. Lauchgemüse süßsauer, dachte er, la vie est dure. * * * Magdalena stand an dem unbeschrankten Bahnübergang, während der Achtuhrzug nach Mittenwald an ihr vorbeirauschte. Dass dieser Zug sie hier aufhielt, bedeutete, dass sie zu spät ins Hotel kommen würde. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Wie konnte Maiche nur auf einen Menschen schießen? Inständig hoffte sie, dass er nicht getroffen hatte. Er schießt nicht mehr gut, das hatte Hias doch eben noch gesagt, ermutigte sie sich. Maiches Sturheit war immer schwierig gewesen, aber langsam ging sie über das Maß hinaus, mit dem seine Mitmenschen noch umgehen konnten. Altersstarrsinn war das Wort, das ihr einfiel. Ärger mit der Polizei war etwas, für das sie nun überhaupt keine Zeit hatte. Das Hotel kostete sie mehr Kraft, als sie sich eingestehen mochte, und sich um Mutter und Großvater zu kümmern war dann fast mehr, als sie zu leisten imstande war. Sie schalt sich sofort heftig für diesen Gedanken, denn natürlich waren die beiden wichtiger als jedes Hotel, aber dennoch dankte sie dem Herrgott, dass die zwei noch so gut beieinander waren. Und sie wusste: Das konnte sich schnell ändern. Der Zug war vorbei, und sie fuhr zur Bundesstraße hoch. Die Wagenkolonnen an diesem Morgen waren in beide Richtungen schier endlos. Sie hatte das Gefühl, minutenlang an der Einmündung zu stehen, ohne dass sich eine genügend große Lücke auftat. Schließlich verlor sie die Nerven und zwängte sich zwischen zwei ortseinwärts fahrende Autos, was ihr prompt eine gleißende Xenon- Beschimpfung durch einen dunklen 3er-BMW eintrug. Sie fluchte lauthals und nicht druckreif auf dessen Fahrer - eine Möglichkeit, die sie am Autofahren sehr schätzte und ausgiebig zu nutzen pflegte. In den seltenen Fällen, in denen sie Beifahrer hatte, war es dabei schon zu peinlichen Situationen gekommen. Auch deshalb fuhr sie lieber allein. Sie steuerte ihren winzigen Bus durch Partenkirchen, wechselte immer wieder die Spur, aber jeder Wagen, den sie überholte, tauchte bald darauf wieder neben ihr auf. An der Hindenburgstraße bog sie nach Garmisch ab, unterquerte die Bahn und umrundete den Kurpark. Als sie den Wagen auf dem engen Hotelparkplatz abstellte, sah sie, dass sie wirklich zu spät gekommen war. Der Mercedes aus Stuttgart war schon weg. Der Mann hatte ausgecheckt, und sie war nicht da gewesen. Dabei hatte sie sich vor dem Einschlafen am Vorabend noch ein paar kleine Bemerkungen ausgedacht, damit ihr Hotel zusätzlich in guter Erinnerung blieb. Immerhin war der Mann Betriebsratsvorsitzender bei einem Werkzeugmaschinenhersteller. »Betriebsrat bedeutet Gewerkschaft, Gewerkschaft bedeutet Tagung«, hatte ihr der Chef in dem Augsburger Viersternehotel eingebläut, in dem sie ihr erstes Praktikum gemacht hatte. Es war einer dieser Sprüche, die man nie vergaß, egal, wie falsch sie sein mochten.
Sie hatte jedenfalls schon davon geträumt, wie die Spitze der IG-Metall im »Lenas« mit den Chefs von Daimler verhandelte, auch wenn ihre zwölf Zimmer wahrscheinlich nicht einmal für die Sekretärinnen und/ oder Geliebten der Herren gereicht hätten. Jetzt war der Mann jedenfalls weg. Natürlich würde Andi alles fehlerlos erledigt haben. Noch ein Getränk anbieten für die Wartezeit, in der er die (längst fertige) Abrechnung hervorholte. Mit freundlichem Lächeln die Kreditkarte entgegennehmen. Eine Tafel Schokolade für die Fahrt zusammen mit der Quittung überreichen. Das Gepäck zum Wagen bringen und im Kofferraum verstauen. Eine gute Fahrt wünschen. All das würde Andi ohne Grund zur Beanstandung getan haben. Aber so ein kleiner, lockerer Spruch, eine kleine, außergewöhnliche Freundlichkeit zum Abschied, das bekam er einfach nicht hin. Andi Weidinger war seit dem Tag der Eröffnung bei ihr im »Lenas«, und Magdalena wusste, dass sie eher auf die Zentralheizung verzichten konnte als auf ihn, aber seine unsichere, nervöse Art konnte sie manchmal auf die Palme bringen. Außerdem hatte er ein wirklich beklagenswert unglückliches Händchen, wenn es um die Zusammenstellung seiner Kleidung ging. Natürlich war Andi immer gepflegt gekleidet und anständig frisiert, wobei ihr gerade seine Frisur immer ein wenig zu gepflegt vorkam. »Altmodisch « wäre das Wort ihrer Wahl gewesen. Aber speziell seine Hemd-Jacke-Krawatte-Kombinationen erwartete Magdalena jeden Tag aufs Neue mit Schaudern.
Aber andererseits war Andi Weidinger eine Seele von Mensch, und sie hatte es bei einem ersten misslungenen Versuch belassen, ihn zu einem Wechsel des Herrenausstatters zu bewegen, zumal sie den Verdacht hegte, dass es sich bei diesem um seine Mutter handeln könnte. Na gut, dachte Magdalena. Dann eben keine Gewerkschaft. Immerhin war noch die Proktologin aus Zürich da. Und Ärztekongresse waren die Steigerung von Gewerkschaftstagungen. Tatsächlich lächelte sie, als sie aus dem Subaru stieg. Das Lächeln erstarb allerdings, als ein Polizeiwagen forsch neben ihr hielt und zwei uniformierte Beamte ausstiegen. Oh Gott, der Wilderer!, dachte sie. Großvater hat ihn erwischt, und jetzt holen sie mich als Mitwisserin. Aber die beiden Beamten beachteten sie kaum. Der an der Beifahrerseite ausstieg, grüßte sie beiläufig, dann marschierten die beiden ins Hotel. Polizei in ihrem Hotel! Magdalena schüttelte die Erstarrung ab und folgte den beiden. Der hintere hielt ihr höflich die Glastür zum Foyer auf. Sie bedankte sich hastig und eilte zum Tresen, hinter dem ein aschgrauer Andi stand und bei ihrem Anblick nicht zu wissen schien, ob er in Tränen ausbrechen sollte oder nicht. »Polizeiobermeister Kurtmann«, stellte sich der erste der beiden Polizisten vor. »Sie hatten angerufen? Wegen dem Zechpreller?« »Zechpreller?« Magdalena sah Andi konsterniert an, aber der nickte bloß. Polizeiobermeister Kurtmann zog einen Notizblock heraus. »Na, dann erzählen Sie mal«, sagte er. »Moment!« Magdalena drängte sich an dem Beamten vorbei hinter den Tresen. »Dein Handy war aus«, sagte Andi kleinlaut. »Das kann ja gar nicht ...« Magdalena zerrte ihr Handy hervor. Tatsächlich, das Display war erloschen. »Keine Ahnung, warum ...«, murmelte sie und drückte heftig den Einschaltknopf des Gerätes. »Sind Sie hier die Chefin?«, fragte Polizeiobermeister Kurtmann. »Ja«, antwortete Magdalena. »Aber ich weiß von nichts.« »Ihr Name ist also Hase«, frotzelte der andere Polizist, und Polizeiobermeister Kurtmann lachte freundlich. »Darf ich dann mal die Fragen stellen?«, fragte er mit einem mitleidigen Lächeln. »Obwohl es natürlich Ihr Geld ist?« Magdalena ließ ihm mit einer Geste den Vortritt und lauschte Andis umständlichen Antworten auf die ebenso umständlichen Fragen des Polizeiobermeisters. Der Werkzeugmaschinenherstellerbetriebsratsvorsitzen - de hatte in der Früh um fünf beim Nachtportier - also Andi - nach der diensthabenden Nachtapotheke gefragt und auf Andis Angebot, ihm zu besorgen, was immer die Apotheke liefern könne, geantwortet, er fahre lieber selbst. Andi hatte ihm dann die Adresse der Dreitorspitz- Apotheke genannt, und der Mann war in seinen Mercedes gestiegen und losgefahren. »Und das war's dann auch«, endete Andi. »Dann war er weg.« »Und das Gepäck?«, fragten Magdalena und Polizeiobermeister Kurtmann wie aus einem Mund. »Deswegen hab ich mir ja nichts dabei gedacht«, sagte Andi. »Aber sehen Sie selbst ...« Er führte Magdalena und die beiden Beamten die Treppe hinauf in das Zimmer des Gewerkschafters. Es war leer. Mit einem Blick ins Bad stellte Magdalena fest, dass sogar die Handtücher fehlten. Der Schrank und das gartenseitige Fenster standen offen. »Da unten ...«, sagte Andi. Magdalena und Kurtmann sahen hinaus. Auf dem noch taufeuchten Rasen waren Einschlagspuren zu sehen. »Die Koffer hat er aus dem Fenster hinaus, dann ums Haus herum und dann ins Auto«, sagte Andi auf seine unbeholfene Art. »Und was schuldet der Mann Ihnen?« Zum ersten Mal mischte sich der andere Beamte ein. Und stellt die erste wichtige Frage, dachte Magdalena. »Viertausenddreihundertachtundfünfzig Euro«, antwortete sie. »Und dreiundvierzig Cent«, setzte Andi hinzu. Die beiden Polizisten sahen sich an und nickten respektvoll. »Das ist eine Zahl«, sagte der zweite, der nicht Kurtmann hieß, sich aber auch noch nicht vorgestellt hatte. »Der hat aber auch alles gebucht, was wir anbieten«, sagte Magdalena. Bergführer, Hüttenaufenthalte, Gleitschirmunterricht - was immer gewünscht wurde, organisierte das »Lenas« für seine Gäste und ging dabei in Vorleistung. Normalerweise rechnete sich das am Ende. Aber nur normalerweise. Plötzlich hörte Magdalena durch die offene Tür das entfernte »Dingdong« der Tresenglocke im Foyer. Hier oben im ersten Stock war es kaum hörbar, aber seit ihrer Ausbildung war dieser Ton für sie immer so laut wie die Alarmsirene auf einem U-Boot. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und eilte die Treppe hinunter. Auf dem mittleren Absatz bremste sie ab, fuhr sich kontrollierend durch die Haare und schritt dann gesetzt weiter. Vor dem Tresen stand ein Mann. Wenn Magdalena während der Arbeit etwas durch den Kopf ging, dann waren es professionelle Gedanken. Anderes ließ sie nicht zu. (»Genau wie dein Großvater«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie ihr einmal davon erzählt hatte.) Aber dieser Mann lehnte in einer derart lässig-coolen Art am Empfangstresen, dass ihre professionellen Gedanken ihn sofort zu einem Zechpreller stempelten. Sie wusste ja jetzt, wie die aussahen. Obwohl der vorletzte, mit dem sie es zu tun gehabt hatte, ganz anders ausgesehen hatte als der Betriebsratsvorsitzende. Der Mann am Tresen sah ihr freundlich entgegen. Aber in seinem Blick stand zugleich die Botschaft, dass er Freundlichkeit eigentlich nicht nötig hatte. Der Mann konnte auch anders. Er war schlank und einen Kopf größer als Magdalena, was ihr grundsätzlich immer gefiel. Er hatte dichtes, kurz geschnittenes dunkles Haar und trug zu ihrem Bedauern eine sehr dunkle Sonnenbrille. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Sein Anzug wirkte schlicht, aber umwerfend: Der dunkelgraue, leicht grobe Stoff fiel elegant und dabei wie unabsichtlich an ihm herab. Und er trug einen Gehrock, was sie bei den meisten Männern affig fand; aber der Mann machte den Eindruck, als trage er selbstverständlich nie etwas anderes. »Grüß Gott«, sagte Magdalena und trat hinter den Tresen. »Was können wir für Sie tun?« Eigentlich hatte sie diesen Satz wegen übergroßer Abnutzung aus ihrem Repertoire gestrichen. Aber nach einem frühen Vormittag mit einem schießwütigen Großvater und einem Zechpreller hatte sie gerade keine bessere Phrase parat. »Ein Maximenü mit 'ner Cola«, antwortete der Mann denn auch prompt, und Magdalena musste sich zu einem Lächeln zwingen, das weit verkrampfter ausfiel als beabsichtigt. Aber dann nahm der Mann seine Sonnenbrille ab. Als Magdalena in die braunen, von goldenen Sprenkeln durchsetzten Augen blickte, war es ihr egal, ob er ein Zechpreller oder ein Proktologe war. »Entschuldigen Sie den schlechten Scherz bitte; er ist mir so rausgerutscht«, sagte er. »Kant. Jo Kant. Ich hatte reserviert.« »Ja ... natürlich ... Herr Kant aus Düsseldorf.« Magdalena tippte auf dem Tresen-Laptop rum, als brauche sie eine Bestätigung, dabei konnte sie die Reservierungen der nächsten vierzehn Tage im Schlaf daherbeten. »Wir ... hatten Sie so früh nicht erwartet. Ihr Zimmer ist auch schon frei, wir müssen nur noch ... neue Handtücher aufhängen«, sagte sie. »Mögen Sie vielleicht vorher ein Frühstück? « »Gern. Kaffee, Orangensaft, zwei Rühreier mit Schafskäse, Roggenbrot, Butter und eine F.A.Z.« Kant legte seinen Schlüsselbund auf den Tresen. »Und kümmern Sie sich bitte um mein Gepäck. Mein Wagen steht auf dem Parkplatz. Ist nicht zu verfehlen, steht direkt neben dem Streifenwagen. Es ist nicht der Subaru.« * * * EKHK Balthasar Schwemmer schloss die Seitentür der Polizeiinspektion an der Münchener Straße auf und stieg auf seine ruhige Art die Treppe in den ersten Stock hinauf. Er grüßte freundlich eine entgegenkommende Kollegin von den Uniformierten, die ihm respektvoll Platz machte. Oben im Flur wäre er fast mit Oberkommissar Schafmann zusammengestoßen, der aus seinem Büro stürmte und offenbar etwas sehr Wichtiges zu tun hatte. Schafmann warf ihm nur ein flüchtiges »Grüß Gott!« zu und lief den Gang entlang. Schwemmer blickte ihm mäßig interessiert hinterher und sah ihn in der Herrentoilette verschwinden. Er betrat sein Büro. Nachdem er seinen Mantel aufgehängt hatte, öffnete er die Tür zum Vorzimmer und begrüßte Silvia Fuchs, die Sekretärin. »Kaffee?«, fragte Frau Fuchs mit ihrem thüringischen Zungenschlag, und Schwemmer nickte. »Und Schafmann soll mal reinkommen, falls er wieder auftaucht ...«
Er schloss die Tür und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er hatte seinen Stuhl noch nicht richtig zurechtgeschoben, als schon das Telefon klingelte.
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Als der erste Sonnenstrahl durch die karierten Vorhänge des kleinen Fensters drang, war Magdalena schon wach. Sie lauschte auf die Stimmen der Vögel, das einzige Geräusch an diesem Morgen. Nur Großvaters alter Lada hatte die Stille unterbrochen, als er vor Sonnenaufgang zur Jagd gefahren war. Nun waren bloß noch die Vögel zu hören. Die Ruhe hier oben war immer wieder aufs Neue ein Genuss für sie, auch wenn sie wusste, dass Hias bald den Traktor anlassen und eine Wolke aus rußigen Abgasen durch das offen stehende Fenster blasen würde. Magdalena stand mit einem Lächeln auf. Sie zog die Vorhänge zur Seite. Tatsächlich sah sie Hias bereits über den Hof zur Scheune stapfen. Die Gipfel des Wettersteingebirges strahlten golden in der Morgensonne. Auch nach Jahrzehnten war ihr der Anblick der mächtigen Gipfel nicht gleichgültig. Die Amerikaner mochten behaupten, in God's own country zu leben, dachte sie. Sie waren zumindest nicht die Einzigen. Sie goss die Emailleschüssel halb voll, warf sich wohlig das kalte Wasser ins Gesicht und rubbelte es anschließend trocken. Das Aufstehen fiel ihr hier auf dem Hof viel leichter als in ihrer Wohnung im Hotel. Aber sie konnte es nur selten einrichten, bei ihrer Mutter auf dem Meixner- Hof zu übernachten, und wenn sie ganz ehrlich war, wusste sie ja auch, dass der Aufenthalt hier nicht nur aus angenehmem Aufstehen bestand. Sondern zum Beispiel auch aus dem Frühstück mit ihrer Mutter. Magdalena liebte ihre Familie; ihre Mutter Reserl und ihren Großvater Melchior, den alle nur Maiche nannten; ihren jüngeren Bruder Wastl, obwohl sie wusste, dass er sein Studium in Frankfurt nur als Vorwand für das Leben eines Taugenichts nutzte - ständiger Quell des Streites mit ihrer Mutter, die an ihrem Jüngsten einfach nicht zweifeln wollte. Immer noch sah sie in ihm das Ebenbild ihres geliebten Ehemannes, den ihr ein hinterhältiger Krebs binnen weniger Wochen geraubt hatte. Nach dem plötzlichen Tod des Vaters vor acht Jahren waren Magdalenas Gefühle für ihre Mutter noch intensiver geworden. Aber leider machte das die Anstrengung nicht wett, die es sie kostete, vor ihrer zweiten Tasse Kaffee eine konzentrierte Unterhaltung zu führen. Und leider hatte ihre Mutter nie die Sensibilität aufgebracht, sie mit ihren Vorträgen zu verschonen, nur weil sie ein Morgenmuffel war. Nach dem Zähneputzen öffnete Magdalena die Tür und stieg die steile Treppe zur Stube hinunter, in der Reserl bereits werkelte. Großvater und Knecht Hias hatten ihr Frühstück natürlich längst beendet. »Endlich, du Langschläfer«, sagte ihre Mutter, ohne sich zu Magdalena umzudrehen. Sie war dabei, das gespülte Geschirr in den alten Schrank aus hellem Eichenholz zu räumen. Ihre Stimme hatte diesen müden Klang, den sie häufig hatte seit Vaters Tod. Meist lag ein Vorwurf darin, als wäre Magdalena für ihre Situation verantwortlich. Magdalena hatte lange gebraucht, sich diesen Klang nicht mehr zu Herzen zu nehmen. Aber gerade morgens fiel es ihr schwer. Sie brummte irgendwas zur Begrüßung. »I wollt gestern Abend ned drüber redn, weil der Maiche dabei war«, sagte Reserl, während sie Kaffee in einen Becher schenkte und ihn Magdalena hinstellte. Magdalena setzte sich auf die Bank vor dem Fenster und griff nach dem Becher. Seine Wärme war angenehm und der Duft vielversprechend. »Ärger?«, fragte sie und nahm einen Schluck. »Maiche hat an Schedlbauer Berni im Wald gtroffn.« »Wohin?«, fragte Magdalena und verfluchte sich sofort für diese dumme Bemerkung. Reserl fuhr zu ihr herum. »Des is überhaupt ned witzig, Lenerl«, sagte sie scharf. »I woaß ja a ned, was er da gsucht hod. Woaßt, was der Maiche getan hod? Mit der Flintn hod er eam aus seim Wald gjagt. Mit der Flintn! Hoffentlich fängt jetzt ned alles von vorn an!« Magdalena stöhnte auf. Das war starker Tobak für diese Uhrzeit. Die Fehde der Meixners und der Schedlbauers gehörte fast schon zur Folklore. Alle Meixners waren froh, dass die Geschichte irgendwann eingeschlafen war - oder besser: fast alle, denn Großvater Maiche hatte sich nie wirklich abgefunden mit dem, was er für eine Niederlage hielt. Berni war einer der Söhne von Sippen oberhaupt Rosemarie Schedlbauer, die jeder nur als Mirl kannte. Und nun waren ausgerechnet die beiden härtesten Kerle der beiden Familien aneinandergeraten. Tatsächlich lagen die Ursprünge dieser Fehde so weit zurück, dass die verschiedensten Versionen davon im Umlauf waren. Magdalena neigte zu der ihres Vaters, wobei es dafür keinen konkreten Grund gab außer dem, dass eben ihr Vater sie erzählt hatte. In dieser Fassung hatte Maiches Schwester Leni einen Antrag von Berni Schedlbauers Großonkel Max mit so drastischen Worten abgelehnt, dass der beleidigte Max die körperliche Auseinandersetzung mit Maiches älterem Bruder Edi gesucht hatte. Der Kampf war dann derartig unentschieden ausgegangen, dass er bei jeder Gelegenheit zwischen allen Mitgliedern der beiden Familien fortgesetzt wurde, auch nach dem Ableben aller direkt Beteiligten. Maiche war damals erst vierzehn gewesen. Magdalena hatte aber auch schon die Version gehört, dass Edi Meixner dem Schedlbauer Max eine kaputte Dreschmaschine verkauft und sich geweigert hatte, sie zurückzunehmen. Magdalenas Vater jedenfalls hatte es geschafft, die Fehde in eine Art Waffenstillstand zu verwandeln, indem er den verblüfften Schedlbauers das Wegerecht für die Zufahrt zu einer ihrer Skischulen zugestand - gegen den heftigen Widerstand seines Vaters Maiche. Die Schedlbauers bekamen eine direkte Zufahrt zu ihrer neuen Geldquelle, und im Gegenzug sagte Konrad Schedlbauer Magdalenas Vater zu, den Streit zu begraben - gegen den Protest seiner Gattin Mirl Schedlbauer, die Maiche Meixner in puncto Sturheit in nichts nachstand.
Das war jetzt neun Jahre her, und die Friedensstifter von damals waren leider beide mittlerweile verstorben. Magdalena nahm noch einen Schluck Kaffee. Die Schedlbauers waren aber auch ein wirklich unangenehmer Haufen geblieben. Außer Vinzenz, dachte sie. »De Schedlbauers san aber a wirklich furchtbare Leut«, sagte Reserl und schnitt eine Scheibe von dem gekümmelten Brot ab. »Außer dem junga, dem Vinz, vielleicht. « »Ja. Aber wenn Großvater in Zukunft jede furchtbare Person mit der Flinte bedroht, kriegen wir eine Menge Spaß«, sagte Magdalena. Sie nahm die Brotscheibe, strich dick Butter darauf und säbelte ein Stück vom Speck ab. »Der wird aber a immer noch sturer«, sagte Reserl. »Des hab i ma ned vorstelln kenna, dass des geht. Und beinah jeden Tag in sein Wald. Sakra, der is fünfundachzge ... Wenigstens hat er den Hund dabei. Aber der Sento werd ja a ned jünger.« Magdalena lachte leise und biss in ihr Speckbrot. Natürlich war Großvater über die Jahre langsamer geworden und die Brille dicker, aber körperlich war er noch sehr gut beieinander. Von seinem Wald würde er jedenfalls nicht lassen, solange sein alter russischer Geländewagen ihn hintrug. »I woaß a gar ned, was der Berni da zum Sucha ghabt hätt«, sagte Reserl. Sie hatte das Geschirr weggeräumt und nahm nun den Korb Kartoffeln heraus, um sie für das Mittagessen vorzubereiten. »Vielleicht will er noch eine Skischule aufmachen und sucht nach einer günstigen Zufahrt«, sagte Magdalena.
Sie schloss die Augen und nahm einen Schluck aus ihrem Becher. »Da is der beim Maiche aber grad an den Rechten gratn. Bis heut woaß i ned, wia dei Vater des angstellt hat, dass der Oide den Schedlbauers des Wegrecht geben hat. Muass mi ja a schon zsammreißn, wenn mia de Mirl untn im Ort übern Weg laft. I grüaß immer artig, aber mei Freundin werd die nimmer. Und die Nanni, die Tochter ...« Reserl brach ab. Mit einem Kopfschütteln nahm sie die erste Kartoffel aus dem Korb und begann, sie auf ihre ruhige, sorgfältige Art zu schälen. Magdalena sagte nichts. Nanni war wirklich eine grauenhafte Person. Snobistisch, arrogant und dumm. Und geldgierig. Sie achtete sehr darauf, dass man im Ort genau über sie informiert blieb. Seit einigen Monaten war ihre Verlobung mit Ludwig Allensteiner das eingehend diskutierte Thema. Ludwig war der Sohn von Leopold Allensteiner, dem Besitzer der Kunststofffabrik in Kaltenbrunn, und eigentlich hatte jeder Mitleid mit dem armen Viggerl. Nicht nur, dass er mit seinen neunundvierzig Jahren mehr als zwanzig Jahre älter war als seine Verlobte, er litt auch an einer fast krankhaften Schüchternheit und würde seiner zukünftigen Gattin wohl hilflos ausgeliefert sein. Niemand, der die beiden kannte, zweifelte daran, dass sie ihn nur wegen seines Geldes nahm. »Du hast ja verzählt, der Vinz sei a ganz a Netter«, sagte Reserl. »Obwohl man sich des kaum vorstelln kann. Wo sei Bruder, der Berni, so a Fieser ist. Den hams ja sogar mal verhaftet.« »Großvater auch«, sagte Magdalena. »Ach, was redst denn da! Des is so lang her!« Magdalena griff nach der Thermoskanne und schenkte sich Kaffee nach. Maiche hatte einen der Schedlbauers derart vermöbelt, dass die Polizei eingeschritten war. Es war wirklich lange her, aber es war passiert. Zwei Generationen später war jetzt Berni Schedlbauer der Mann mit dem schlechten Ruf. Sein jüngerer Bruder Vinzenz war von ganz anderem Charakter. Magdalena war in der Schule zwei Klassen unter ihm gewesen und hatte ihn still angehimmelt, immer mit schlechtem Gewissen ihrer Familie gegenüber. Aber er hatte so schöne Augen. Später hatte sich ihre Mädchenverliebtheit zwar gelegt, aber als sie sich ein paar Jahre später in einer Kneipe über den Weg liefen, in Tübingen, wo Magdalena ihre Freundin Daggi besucht hatte, da waren sie am Ende des Abends tatsächlich auf seiner Studentenbude gelandet, wo dann passierte, was in solchen Situationen eben zu passieren pflegt. Aber das musste ihre Mutter nicht unbedingt erfahren. Sie hatten ein schönes Wochenende verlebt, hatten sich lustig gemacht über die sturen Köpfe in ihren Familien, die nicht in der Lage waren, mal über ihren Schatten zu springen. Ein Wochenende, mehr nicht. Er war einfach zu klein, dachte Magdalena. Oder sie war zu groß mit ihren ein sachtundsiebzig. Aber sie hatten immer Respekt füreinander gehabt, auch später. Sie telefonierten noch miteinander, dann und wann. Als Magdalena vorletztes Jahr ihr Hotel eröffnet hatte, war Vinz zur Einweihungsparty gekommen, vorsichtshalber erst spät, als Maiche und Reserl schon gegangen waren. Ein paarmal hatte sie sogar Gleitschirmunterricht für Hotelgäste bei ihm gebucht. Sie sah auf die Uhr. Es wurde Zeit. Sie trank ihren Becher leer und stand auf. »Ich muss los, Mutter.« Sie küsste sie aufs Haar und ging zur Tür. »Dass d' dir den Tag ned schwer werdn lasst«, sagte ihre Mutter und lächelte auf ihre traurige Art. »Wird schon«, antwortete Magdalena, zog ihre Windjacke über und winkte noch mal, bevor sie aus der Stube trat. Draußen blinzelte sie in die Frühlingssonne. Hias trug gerade den Eimer mit dem Hühnerfutter aus der Scheune. Er grüßte sie mit einem respektvollen Nicken. Sie ging zu ihm und wurde dabei von etlichen Hühnern überholt, die sich auf ihre Mahlzeit freuten. Wie alt ist er eigentlich jetzt?, dachte Magdalena. Auf die siebzig musste er zugehen. Aber seine Konstitution war erstaunlich. Er war mit sechsundzwanzig als Knecht auf den Hof gekommen. Über vierzig Jahre sind das, dachte Magdalena. Natürlich hatte der Großvater nicht mehr so viele Kühe wie vor fünfzehn Jahren, als sie noch den Stall ausgebaut hatten, aber für zwei alte Männer gab es immer noch mehr als genug zu tun. Vor allem wenn einer der beiden sich ständig im Wald rumtrieb. »Wie geht es dem Großvater?«, fragte Magdalena. »Nimmt mi nimmer mit auf d' Jogd«, sagte Hias. »Sogd, i schnauf z' laut. Dawei triffd der nur nimmer, mit der neien Bruilln.« Hias verzog den Mund zu seinem typischen schiefen Grinsen. »Mochd nix. Ko i länga schlafa.« »Was war denn das mit dem Schedlbauer Berni?«, fragte Magdalena. Hias zuckte die Achseln. »Wos treibt der se da rum da drobn? Is Meixner-Woid. Des woaß der a.« »Hat der Maiche ihn wirklich mit der Flinte bedroht?« »So hod er's gsogt.« Magdalena nickte ihm zum Abschied zu. »Pfüati«, sagte sie und ging zu ihrem Minivan. So verliefen die Unterhaltungen mit Hias. Er sprach halt nicht gern. Schon gar nicht, wenn er es für unnötig hielt. Als sie gerade einsteigen wollte, rollte Maiches alter Lada auf den Hof. Magdalena sah auf die Uhr; es wurde Zeit für sie, sie musste um acht im Hotel sein. Aber natürlich wollte sie ihren Großvater begrüßen, bevor sie in den Ort fuhr. Als Maiche aus seinem Wagen stieg, war Magdalena sofort klar, dass etwas passiert war. Sie ließ die Tür ihres Wagens wieder zufallen und ging zu ihm hinüber. Ihr Großvater öffnete die Heckklappe, und Sento sprang heraus. Maiche nahm seine Jagdflinte und seinen alten Rucksack aus dem Kofferraum. »Was schaust du so bös?«, fragte Magdalena. Sento, der sonst immer freudig auf Magdalena zugesprungen kam, schien von der düsteren Stimmung seines Herrn angesteckt. Die Rute zwischen den Hinterläufen schlich er sich außer Sicht. Maiche sah Magdalena nicht an. »Wilderer«, knurrte er nur und stapfte auf Hias zu. Magdalena lief neben ihm her. »Wilderer? Und?«, fragte sie.
Er zuckte die Schultern. »Naufbrennt hab i eam eine.« »Was?« Magdalena blieb fassungslos stehen. »Du hast auf einen Menschen geschossen?« »A Wuildara«, wandte Hias ein. Für ihn schien das ein Unterschied zu sein. »In meim Wald«, fügte ihr Großvater noch hinzu. »Und der hod zerscht gschossn. Koane zwoa Meter neben mir hat's eigschlagn.« »Notwehr«, sagte Hias. Maiche brummte nur verächtlich. »I lass ned auf mi schiaßn, scho gar ned in meim Wald.« »Hast du ihn denn getroffen?«, fragte Magdalena. »Glaub scho«, sagte Maiche. »Wissn kann i's fei ned. Is den Hang nunter, zur Klamm. Glebt hat er scho no, glaub i.« Magdalena ließ entgeistert die Schultern sinken. »Glaubst du?«, sagte sie kopfschüttelnd. »Der is nunterglaufa. Und dann hod er si hinter am Fels versteckt.« »Und jetzt?« Maiche winkte ab. »Was scho? Meinst, der geht zur Polizei? Dass sie eam wegn Wilderei drankriegn?« »Wenn er verletzt ist und zum Arzt geht, muss der das melden mit der Schusswunde.« »Schaun mer mal.« Hias trat näher an ihn heran. »Recht hod's scho«, sagte er leise mit einem Seitenblick zum Haus, als wolle er sichergehen, dass sie nicht von Reserl gehört wurden. »Besser war's, wannst nachste Zeit wos anders trogst ois a Flintn.«
Der alte Bauer und sein Knecht sahen sich in die Augen, und schließlich wurde Maiches sturer Blick einsichtig. »Da«, sagte er und hielt Hias das Gewehr hin. »Pack's aber gscheit ei.« Hias nahm die Waffe wortlos an sich und ging zur Scheune. Magdalena ging ihm nach. Er kletterte die Leiter zum Heuboden hinauf. »Wo tust du es hin?«, fragte sie. »In d' Wand an der oidn Heiklappn«, antwortete Hias, ohne zu zögern. »Gut«, sagte Magdalena nur. Dort hätte sie das Gewehr auch versteckt. Ein Stück hohle Wand, das damals durch den Stallausbau entstanden war. »Des passt dem Baurn grod goar ned«, hörte sie Hias von oben sagen, wo er außer Sicht an der Klappe herumhantierte. »Weiß ich auch«, antwortete Magdalena. Eigentlich hatte sie etwas sagen wollen wie »Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen «, aber sie wusste, dass solche Feinheiten von Hias nicht gewürdigt wurden. »Achtest du mit drauf, dass er sie da nicht wieder rausholt? «, fragte sie noch und erhielt als Antwort ein Knurren, das sie als Zustimmung erkannte. »Ich muss jetzt wirklich los«, sagte sie dann. »Und sag Mutter besser nichts davon.« Ihre letzte Bemerkung verdiente sich bei Hias nicht mal mehr ein Knurren, so selbstverständlich war es für ihn, Reserl da rauszuhalten. Großvater war im Haus verschwunden, und sie verzichtete darauf, sich extra von ihm zu verabschieden. Sie stieg in ihren Subaru und fuhr vom Hof die schmale Straße hinab ins Tal. * * * Balthasar Schwemmer unterdrückte ein Kopfschütteln. »Burgl, müssen wir das unbedingt beim Frühstück besprechen? «, fragte er leidend und begann den Artikel im Sportteil des Tagblatts noch einmal von vorn. »Wann denn sonst, Hausl?« »Später am Tag«, brummte Schwemmer in seine Kaffeetasse. »Hast du schon mal versucht, einen Ersten Kriminalhauptkommissar tagsüber ans Telefon zu kriegen? Oder auf seinen Anruf gewartet?« Burgl lachte. »In der Mittagspause. Ich versprech's dir«, seufzte Schwemmer, aber er wusste natürlich, dass seine Frau recht hatte. Es kam immer etwas dazwischen, wenn er Burgl gerade anrufen wollte. Und wenn er dran dachte, war sie nicht da. Natürlich hätte sie ihn auf seinem Handy anrufen können, aber sie wusste und respektierte, wie sehr er es hasste, vor Kollegen private Gespräche zu führen. Also musste die Entscheidung über das Abendessen eben beim Frühstück fallen. Bis zum letzten Jahr hatte es dieses Problem nicht gegeben, da hatte Burgl ihre Praxis betrieben und war froh gewesen, dass er so gern kochte. Aber nun hatte sie die Psychotherapie aufgegeben und lebte das abenteuerliche Leben einer Hausfrau, und ihr liebstes Abenteuer war eben das Kochen. So musste er also jetzt schon beim Frühstück seine festgefügten Vorstellungen von bayerischer und internationaler Küche gegen die frisch erweckte, vorwärtsstürmende kulinarische Entdeckungslust seiner Gattin verteidigen. »Heute Fisch, Hausl?« Burgl hatte es zwar als Frage formuliert, aber wenn sie ihn Hausl nannte, wusste Balthasar Schwemmer, dass sie ohnehin nicht mit Widerworten rechnete. Warum auch?, dachte er. Spricht ja nichts gegen Fisch. »Passt schon«, antwortete er also, ohne den Blick vom Sportteil zu heben. »Schön. Also Fischpflanzerl. Und was dazu?« »Fisch ... was?« Jetzt sah er doch auf. »Bin ich ein Hamburger? « »Hamburger sind aus Fleisch«, antwortete Burgl. »Nein, Hamburger sind aus Hamburg. Und essen Fischfrikadellen. Ständig.« Er hatte im Autoradio auf einer Fahrt zur Staatsanwaltschaft nach München mal ein Stück von einer Hamburger Gruppe gehört, und die Stelle »Dann ess ich auf die Schnelle noch 'ne Fischfrikadelle« war ihm nie mehr aus dem Kopf gegangen. Seitdem stellte er sich vor, dass der Hamburger sich von nichts anderem ernährte. Er hatte allerdings seit seiner Bundeswehrzeit keinen Hamburger mehr kennengelernt. »Was schönes Gebratenes! Forelle! Wie wär's mit Forelle? «, schlug er betont munter vor.
»Forelle hatten wir neulich schon«, erhielt er zur Antwort. An »neulich« hatte Schwemmer nur noch eine vage Erinnerung. Und Burgl setzte noch einen drauf. »Wie wär's mit Lauchgemüse zu den Pflanzerln?« Schwemmer gab auf. Er trank seinen Kaffee aus und faltete die Zeitung zusammen. »Schon recht«, sagte er. »Fein!«, freute sich Burgl. »Lauchgemüse süßsauer. Das passt prima.« Schwemmer schaffte es, nicht aufzustöhnen. Von süßsauer war natürlich nicht die Rede gewesen, aber er war um diese Tageszeit einfach noch nicht in der Form, die nötig gewesen wäre, Burgls offensichtlich schon stehende Planung zu ändern. »Wunderbar«, sagte er also, während er aufstand. Er ging zu Burgl und küsste sie auf den Mund. Er sah das Blitzen in ihren Augen, und er wusste, dass sie genau wusste, was sie getan hatte. Und dass er das wusste. Es war einer dieser Momente, in denen sie ihren Humor teilten und in denen er sie wirklich liebte. Er sah ihr in die Augen und lachte, und sie lachte zurück. »Du darfst den Wein aussuchen«, sagte sie lächelnd. »Ja, ja. Und mitbringen«, brummte er. Er küsste sie zum Abschied in den Nacken und ging aus dem Haus. Von gegenüber grüßte ihn die alte Frau Schmitt aus ihrem Küchenfenster, er winkte zurück. Er sah die Straße entlang. Frühlingssonne auf der Zugspitze, ein milder Wind. Erstes Grün und Gelb auf den Büschen in den ordentlichen Vorgärten der schmucken Einfamilienhäuser. Ein paar Kinder schleppten ihre Ranzen zur Schule.
Schwemmer grinste in sich hinein. Lauchgemüse süßsauer, dachte er, la vie est dure. * * * Magdalena stand an dem unbeschrankten Bahnübergang, während der Achtuhrzug nach Mittenwald an ihr vorbeirauschte. Dass dieser Zug sie hier aufhielt, bedeutete, dass sie zu spät ins Hotel kommen würde. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Wie konnte Maiche nur auf einen Menschen schießen? Inständig hoffte sie, dass er nicht getroffen hatte. Er schießt nicht mehr gut, das hatte Hias doch eben noch gesagt, ermutigte sie sich. Maiches Sturheit war immer schwierig gewesen, aber langsam ging sie über das Maß hinaus, mit dem seine Mitmenschen noch umgehen konnten. Altersstarrsinn war das Wort, das ihr einfiel. Ärger mit der Polizei war etwas, für das sie nun überhaupt keine Zeit hatte. Das Hotel kostete sie mehr Kraft, als sie sich eingestehen mochte, und sich um Mutter und Großvater zu kümmern war dann fast mehr, als sie zu leisten imstande war. Sie schalt sich sofort heftig für diesen Gedanken, denn natürlich waren die beiden wichtiger als jedes Hotel, aber dennoch dankte sie dem Herrgott, dass die zwei noch so gut beieinander waren. Und sie wusste: Das konnte sich schnell ändern. Der Zug war vorbei, und sie fuhr zur Bundesstraße hoch. Die Wagenkolonnen an diesem Morgen waren in beide Richtungen schier endlos. Sie hatte das Gefühl, minutenlang an der Einmündung zu stehen, ohne dass sich eine genügend große Lücke auftat. Schließlich verlor sie die Nerven und zwängte sich zwischen zwei ortseinwärts fahrende Autos, was ihr prompt eine gleißende Xenon- Beschimpfung durch einen dunklen 3er-BMW eintrug. Sie fluchte lauthals und nicht druckreif auf dessen Fahrer - eine Möglichkeit, die sie am Autofahren sehr schätzte und ausgiebig zu nutzen pflegte. In den seltenen Fällen, in denen sie Beifahrer hatte, war es dabei schon zu peinlichen Situationen gekommen. Auch deshalb fuhr sie lieber allein. Sie steuerte ihren winzigen Bus durch Partenkirchen, wechselte immer wieder die Spur, aber jeder Wagen, den sie überholte, tauchte bald darauf wieder neben ihr auf. An der Hindenburgstraße bog sie nach Garmisch ab, unterquerte die Bahn und umrundete den Kurpark. Als sie den Wagen auf dem engen Hotelparkplatz abstellte, sah sie, dass sie wirklich zu spät gekommen war. Der Mercedes aus Stuttgart war schon weg. Der Mann hatte ausgecheckt, und sie war nicht da gewesen. Dabei hatte sie sich vor dem Einschlafen am Vorabend noch ein paar kleine Bemerkungen ausgedacht, damit ihr Hotel zusätzlich in guter Erinnerung blieb. Immerhin war der Mann Betriebsratsvorsitzender bei einem Werkzeugmaschinenhersteller. »Betriebsrat bedeutet Gewerkschaft, Gewerkschaft bedeutet Tagung«, hatte ihr der Chef in dem Augsburger Viersternehotel eingebläut, in dem sie ihr erstes Praktikum gemacht hatte. Es war einer dieser Sprüche, die man nie vergaß, egal, wie falsch sie sein mochten.
Sie hatte jedenfalls schon davon geträumt, wie die Spitze der IG-Metall im »Lenas« mit den Chefs von Daimler verhandelte, auch wenn ihre zwölf Zimmer wahrscheinlich nicht einmal für die Sekretärinnen und/ oder Geliebten der Herren gereicht hätten. Jetzt war der Mann jedenfalls weg. Natürlich würde Andi alles fehlerlos erledigt haben. Noch ein Getränk anbieten für die Wartezeit, in der er die (längst fertige) Abrechnung hervorholte. Mit freundlichem Lächeln die Kreditkarte entgegennehmen. Eine Tafel Schokolade für die Fahrt zusammen mit der Quittung überreichen. Das Gepäck zum Wagen bringen und im Kofferraum verstauen. Eine gute Fahrt wünschen. All das würde Andi ohne Grund zur Beanstandung getan haben. Aber so ein kleiner, lockerer Spruch, eine kleine, außergewöhnliche Freundlichkeit zum Abschied, das bekam er einfach nicht hin. Andi Weidinger war seit dem Tag der Eröffnung bei ihr im »Lenas«, und Magdalena wusste, dass sie eher auf die Zentralheizung verzichten konnte als auf ihn, aber seine unsichere, nervöse Art konnte sie manchmal auf die Palme bringen. Außerdem hatte er ein wirklich beklagenswert unglückliches Händchen, wenn es um die Zusammenstellung seiner Kleidung ging. Natürlich war Andi immer gepflegt gekleidet und anständig frisiert, wobei ihr gerade seine Frisur immer ein wenig zu gepflegt vorkam. »Altmodisch « wäre das Wort ihrer Wahl gewesen. Aber speziell seine Hemd-Jacke-Krawatte-Kombinationen erwartete Magdalena jeden Tag aufs Neue mit Schaudern.
Aber andererseits war Andi Weidinger eine Seele von Mensch, und sie hatte es bei einem ersten misslungenen Versuch belassen, ihn zu einem Wechsel des Herrenausstatters zu bewegen, zumal sie den Verdacht hegte, dass es sich bei diesem um seine Mutter handeln könnte. Na gut, dachte Magdalena. Dann eben keine Gewerkschaft. Immerhin war noch die Proktologin aus Zürich da. Und Ärztekongresse waren die Steigerung von Gewerkschaftstagungen. Tatsächlich lächelte sie, als sie aus dem Subaru stieg. Das Lächeln erstarb allerdings, als ein Polizeiwagen forsch neben ihr hielt und zwei uniformierte Beamte ausstiegen. Oh Gott, der Wilderer!, dachte sie. Großvater hat ihn erwischt, und jetzt holen sie mich als Mitwisserin. Aber die beiden Beamten beachteten sie kaum. Der an der Beifahrerseite ausstieg, grüßte sie beiläufig, dann marschierten die beiden ins Hotel. Polizei in ihrem Hotel! Magdalena schüttelte die Erstarrung ab und folgte den beiden. Der hintere hielt ihr höflich die Glastür zum Foyer auf. Sie bedankte sich hastig und eilte zum Tresen, hinter dem ein aschgrauer Andi stand und bei ihrem Anblick nicht zu wissen schien, ob er in Tränen ausbrechen sollte oder nicht. »Polizeiobermeister Kurtmann«, stellte sich der erste der beiden Polizisten vor. »Sie hatten angerufen? Wegen dem Zechpreller?« »Zechpreller?« Magdalena sah Andi konsterniert an, aber der nickte bloß. Polizeiobermeister Kurtmann zog einen Notizblock heraus. »Na, dann erzählen Sie mal«, sagte er. »Moment!« Magdalena drängte sich an dem Beamten vorbei hinter den Tresen. »Dein Handy war aus«, sagte Andi kleinlaut. »Das kann ja gar nicht ...« Magdalena zerrte ihr Handy hervor. Tatsächlich, das Display war erloschen. »Keine Ahnung, warum ...«, murmelte sie und drückte heftig den Einschaltknopf des Gerätes. »Sind Sie hier die Chefin?«, fragte Polizeiobermeister Kurtmann. »Ja«, antwortete Magdalena. »Aber ich weiß von nichts.« »Ihr Name ist also Hase«, frotzelte der andere Polizist, und Polizeiobermeister Kurtmann lachte freundlich. »Darf ich dann mal die Fragen stellen?«, fragte er mit einem mitleidigen Lächeln. »Obwohl es natürlich Ihr Geld ist?« Magdalena ließ ihm mit einer Geste den Vortritt und lauschte Andis umständlichen Antworten auf die ebenso umständlichen Fragen des Polizeiobermeisters. Der Werkzeugmaschinenherstellerbetriebsratsvorsitzen - de hatte in der Früh um fünf beim Nachtportier - also Andi - nach der diensthabenden Nachtapotheke gefragt und auf Andis Angebot, ihm zu besorgen, was immer die Apotheke liefern könne, geantwortet, er fahre lieber selbst. Andi hatte ihm dann die Adresse der Dreitorspitz- Apotheke genannt, und der Mann war in seinen Mercedes gestiegen und losgefahren. »Und das war's dann auch«, endete Andi. »Dann war er weg.« »Und das Gepäck?«, fragten Magdalena und Polizeiobermeister Kurtmann wie aus einem Mund. »Deswegen hab ich mir ja nichts dabei gedacht«, sagte Andi. »Aber sehen Sie selbst ...« Er führte Magdalena und die beiden Beamten die Treppe hinauf in das Zimmer des Gewerkschafters. Es war leer. Mit einem Blick ins Bad stellte Magdalena fest, dass sogar die Handtücher fehlten. Der Schrank und das gartenseitige Fenster standen offen. »Da unten ...«, sagte Andi. Magdalena und Kurtmann sahen hinaus. Auf dem noch taufeuchten Rasen waren Einschlagspuren zu sehen. »Die Koffer hat er aus dem Fenster hinaus, dann ums Haus herum und dann ins Auto«, sagte Andi auf seine unbeholfene Art. »Und was schuldet der Mann Ihnen?« Zum ersten Mal mischte sich der andere Beamte ein. Und stellt die erste wichtige Frage, dachte Magdalena. »Viertausenddreihundertachtundfünfzig Euro«, antwortete sie. »Und dreiundvierzig Cent«, setzte Andi hinzu. Die beiden Polizisten sahen sich an und nickten respektvoll. »Das ist eine Zahl«, sagte der zweite, der nicht Kurtmann hieß, sich aber auch noch nicht vorgestellt hatte. »Der hat aber auch alles gebucht, was wir anbieten«, sagte Magdalena. Bergführer, Hüttenaufenthalte, Gleitschirmunterricht - was immer gewünscht wurde, organisierte das »Lenas« für seine Gäste und ging dabei in Vorleistung. Normalerweise rechnete sich das am Ende. Aber nur normalerweise. Plötzlich hörte Magdalena durch die offene Tür das entfernte »Dingdong« der Tresenglocke im Foyer. Hier oben im ersten Stock war es kaum hörbar, aber seit ihrer Ausbildung war dieser Ton für sie immer so laut wie die Alarmsirene auf einem U-Boot. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie und eilte die Treppe hinunter. Auf dem mittleren Absatz bremste sie ab, fuhr sich kontrollierend durch die Haare und schritt dann gesetzt weiter. Vor dem Tresen stand ein Mann. Wenn Magdalena während der Arbeit etwas durch den Kopf ging, dann waren es professionelle Gedanken. Anderes ließ sie nicht zu. (»Genau wie dein Großvater«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie ihr einmal davon erzählt hatte.) Aber dieser Mann lehnte in einer derart lässig-coolen Art am Empfangstresen, dass ihre professionellen Gedanken ihn sofort zu einem Zechpreller stempelten. Sie wusste ja jetzt, wie die aussahen. Obwohl der vorletzte, mit dem sie es zu tun gehabt hatte, ganz anders ausgesehen hatte als der Betriebsratsvorsitzende. Der Mann am Tresen sah ihr freundlich entgegen. Aber in seinem Blick stand zugleich die Botschaft, dass er Freundlichkeit eigentlich nicht nötig hatte. Der Mann konnte auch anders. Er war schlank und einen Kopf größer als Magdalena, was ihr grundsätzlich immer gefiel. Er hatte dichtes, kurz geschnittenes dunkles Haar und trug zu ihrem Bedauern eine sehr dunkle Sonnenbrille. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Sein Anzug wirkte schlicht, aber umwerfend: Der dunkelgraue, leicht grobe Stoff fiel elegant und dabei wie unabsichtlich an ihm herab. Und er trug einen Gehrock, was sie bei den meisten Männern affig fand; aber der Mann machte den Eindruck, als trage er selbstverständlich nie etwas anderes. »Grüß Gott«, sagte Magdalena und trat hinter den Tresen. »Was können wir für Sie tun?« Eigentlich hatte sie diesen Satz wegen übergroßer Abnutzung aus ihrem Repertoire gestrichen. Aber nach einem frühen Vormittag mit einem schießwütigen Großvater und einem Zechpreller hatte sie gerade keine bessere Phrase parat. »Ein Maximenü mit 'ner Cola«, antwortete der Mann denn auch prompt, und Magdalena musste sich zu einem Lächeln zwingen, das weit verkrampfter ausfiel als beabsichtigt. Aber dann nahm der Mann seine Sonnenbrille ab. Als Magdalena in die braunen, von goldenen Sprenkeln durchsetzten Augen blickte, war es ihr egal, ob er ein Zechpreller oder ein Proktologe war. »Entschuldigen Sie den schlechten Scherz bitte; er ist mir so rausgerutscht«, sagte er. »Kant. Jo Kant. Ich hatte reserviert.« »Ja ... natürlich ... Herr Kant aus Düsseldorf.« Magdalena tippte auf dem Tresen-Laptop rum, als brauche sie eine Bestätigung, dabei konnte sie die Reservierungen der nächsten vierzehn Tage im Schlaf daherbeten. »Wir ... hatten Sie so früh nicht erwartet. Ihr Zimmer ist auch schon frei, wir müssen nur noch ... neue Handtücher aufhängen«, sagte sie. »Mögen Sie vielleicht vorher ein Frühstück? « »Gern. Kaffee, Orangensaft, zwei Rühreier mit Schafskäse, Roggenbrot, Butter und eine F.A.Z.« Kant legte seinen Schlüsselbund auf den Tresen. »Und kümmern Sie sich bitte um mein Gepäck. Mein Wagen steht auf dem Parkplatz. Ist nicht zu verfehlen, steht direkt neben dem Streifenwagen. Es ist nicht der Subaru.« * * * EKHK Balthasar Schwemmer schloss die Seitentür der Polizeiinspektion an der Münchener Straße auf und stieg auf seine ruhige Art die Treppe in den ersten Stock hinauf. Er grüßte freundlich eine entgegenkommende Kollegin von den Uniformierten, die ihm respektvoll Platz machte. Oben im Flur wäre er fast mit Oberkommissar Schafmann zusammengestoßen, der aus seinem Büro stürmte und offenbar etwas sehr Wichtiges zu tun hatte. Schafmann warf ihm nur ein flüchtiges »Grüß Gott!« zu und lief den Gang entlang. Schwemmer blickte ihm mäßig interessiert hinterher und sah ihn in der Herrentoilette verschwinden. Er betrat sein Büro. Nachdem er seinen Mantel aufgehängt hatte, öffnete er die Tür zum Vorzimmer und begrüßte Silvia Fuchs, die Sekretärin. »Kaffee?«, fragte Frau Fuchs mit ihrem thüringischen Zungenschlag, und Schwemmer nickte. »Und Schafmann soll mal reinkommen, falls er wieder auftaucht ...«
Er schloss die Tür und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er hatte seinen Stuhl noch nicht richtig zurechtgeschoben, als schon das Telefon klingelte.
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Autoren-Porträt von Martin Schüller
Martin Schüller, Jahrgang 1960, kam über die Musik zum Schreiben. Von Martin Schüller erschienen bisher sechs Kriminalromane. Mit Tod in Garmisch siedelte der gebürtige Rheinländer erstmals eine Geschichte in Oberbayern an.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Schüller
- 2012, 1, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652495
- ISBN-13: 9783863652494
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