Totenmontag
In einem Kellergewölbe liegen die Skelette dreier junger Frauen. Nichts gibt Aufschluss darüber, wieso die Mädchen sterben mussten. Die Polizei kommt nicht weiter und legt den Fall gegen Tempe Brennans Willen zu den Akten. Doch weibliche Intuition und...
In einem Kellergewölbe liegen die Skelette dreier junger Frauen. Nichts gibt Aufschluss darüber, wieso die Mädchen sterben mussten. Die Polizei kommt nicht weiter und legt den Fall gegen Tempe Brennans Willen zu den Akten. Doch weibliche Intuition und modernste Messverfahren führen die Kriminologin immer näher zum Täter. Und der hat schon sein viertes Opfer im Visier.
"Weiter so, Kathy Reichs!"
Bild am Sonntag
Kathy Reichs wurde in Chicago geboren. Sie unterrichtet an der University of North Carolina und ist eine von nun 50 zugelassenen forensischen Anthroplogen in Kanada und den USA.
Auch in englischer Originalsprache erhältlich:
Buch ''Monday Mourning'' (Best.-Nr.: 714864)
Dank neuester Messverfahren gelingt der Kriminologin endlich der Durchbruch: Die drei Frauen wurden nicht etwa vor langer Zeit beerdigt, sondern erst vor kurzem ermordet und beseitigt. Wenig später wird Brennans Wohnung verwüstet, und ihre beste Freundin Anne, auf Besuch aus den USA, verschwindet spurlos. Soll sie das nächste Opfer des Unbekannten werden?
Totenmontag von Kathy Reichs
LESEPROBE
1
Monday, Monday
Can t trust that day
Diese Melodie spielte eben in meinem Kopf, als in dem engenunterirdischen
Raum, in dem ich mich befand, ein Schuss knallte.
Mit weit aufgerissenen Augen sah ich, wie nur einen Meter von mirentfernt
Muskeln, Knochen und Eingeweide gegen Fels klatschten.
Einen Augenblick lang wirkte der verstümmelte Körper wiefestgeklebt
und glitt dann, eine Spur aus Blut und Haaren hinter sich herziehend,
nach unten.
Obwohl ich noch immer kauerte, wirbelte ich herum.
»Assez!« Das reicht!
Sergeant-détective Luc Claudels Brauen zogen sich zu einem Vzusammen.
Er senkte seine Neun-Millimeter, steckte sie aber nicht in denHalfter.
»Ratten. Diese Teufelsbrut.« Claudels Französisch war abgehacktund
nasal, was seine Herkunft aus einem Ort ein Stückchenflussaufwärts
verriet.
»Werfen Sie Steine«, blaffte ich.
»Dieser Mistkerl war groß genug, um sie zurückzuwerfen.«
Das stundenlange Kauern in Kälte und Feuchtigkeit an einemDezembermontag
in Montreal forderte jetzt seinen Tribut. Meine Knieprotestierten,
als ich mich aufrichtete.
»Wo ist Charbonneau?«, fragte ich, während ich zuerst einengestiefelten
Fuß drehte und dann den anderen.
»Befragt den Besitzer. Ich wünsche ihm viel Glück. Der Trottel hat
den IQ von Erbsensuppe.«
»Der Besitzer hat das hier entdeckt?« Ich deutete auf den Bodenhinter
mir.
»Non. Le plombier.«
»Was hatte der Klempner denn im Keller zu tun?«
»Das Genie hat neben der Kloschüssel eine Falltür entdeckt undbeschlossen,
eine Expedition in den Untergrund zu starten, um sich mit denAbwasserrohren
vertraut zu machen.«
Ich dachte an meinen eigenen Abstieg über die wackelige Treppe und
fragte mich, warum jemand dieses Risiko auf sich nehmen sollte.
»Die Knochen lagen auf der Erde?«
»Er sagte, er sei über etwas gestolpert, das aus dem Boden ragte.Dort.«
Claudel deutete mit dem Kinn auf eine flache Senke direkt vor derSüdwand.
»Hat es rausgezogen. Und dem Besitzer gezeigt. Und gemeinsam waren
sie dann in der örtlichen Bücherei, um in der Anatomiesammlungnachzuschauen,
ob der Knochen von einem Menschen stammen könnte. Haben sich einBuch
mit schönen bunten Bildern geholt, vermutlich weil sie nicht lesen
können.«
Ich wollte eben weiter nachfragen, als über uns etwas klickte.Claudel
und ich schauten hoch, weil wir seinen Partner erwarteten.
Anstelle von Charbonneau sahen wir eine Vogelscheuche von einemMann
in einem knielangen Pullover, ausgebeulten Jeans und schmutzigblauen
Nikes. Ringelschwänzchen quollen unter einem roten Kopftuchhervor.
Der Mann kauerte in der Tür und zielte mit einer Wegwerf-Kodak auf
mich.
Claudels V wurde noch tiefer und seine Papageiennase nochdunkelroter.
»Tabernac!«
Es klickte noch zweimal, dann krabbelte der Mann mit dem Kopftuchzur
Seite.
Claudel steckte seine Halbautomatik in den Halfter und legte dieHand
auf das hölzerne Geländer. »Bis die SIJ kommt, werfen Sie Steine.«
SIJ - Section d Identité Judiciaire. So nennt man inQuebec die Spurensicherung.
Ich sah zu, wie Claudels perfekt gewandeter Hintern durch diekleine
rechteckige Öffnung verschwand. Obwohl es mich reizte, warf ichkeinen
einzigen Stein.
Oben gedämpfte Stimmen, das Poltern von Stiefeln. Hier unten nurdas
Summen des Generators für die Scheinwerfer.
Mit angehaltenem Atem lauschte ich den Schatten um mich herum.
Kein Quieken. Kein Scharren. Kein Pfotengetrippel.
Ich schaute mich schnell um.
Keine Knopfaugen. Keine nackten, schuppigen Schwänze.
Die kleinen Mistkerle formierten sich wahrscheinlich gerade füreine
weitere Offensive.
Auch wenn ich Claudels Problemlösungsstrategie nicht guthieß, ineiner
Sache stimmte ich mit ihm überein. Ich konnte gut ohne die Nagerauskommen.
Froh, dass ich für den Augenblick allein war, konzentrierte ichmich
wieder auf die modrige Kiste zu meinen Füßen. "Dr. Energy s Power
Tonic. Todmüde? Dr. Energy s bringt deine Knochen zum Tanzen".
Diese Knochen nicht mehr, Doc.
Ich starrte den grausigen Inhalt der Kiste an.
Der Großteil des Skeletts war zwar noch mit Dreck verkrustet, doch
einige Knochen waren bereits sauber gebürstet. Ihre Oberflächewirkte
im harten Licht der Strahler kastanienbraun. Ein Schlüsselbein.Rippen.
Ein Becken.
Ein menschlicher Schädel.
Verdammt.
Auch wenn ich es schon ein halbes Dutzend Mal gesagt hatte, konnte
eine Wiederholung nicht schaden. Ich war einen Tag früher vonCharlotte
nach Montreal gekommen, um mich auf eine Gerichtsverhandlung amDienstag
vorzubereiten. Ein Mann war angeklagt, seine Frau ermordet undzerstückelt
zu haben. Ich sollte die Sägespurenanalyse erläutern, die ich anihrem
Skelett vorgenommen hatte. Die Materie war kompliziert, und ichhatte
meine Unterlagen noch einmal durchgehen wollen. Stattdessen frorich
mir hier im Keller einer Pizzabäckerei den Arsch ab.
Schon früh an diesem Morgen hatte Pierre LaManche mich in meinemBüro
besucht. Ich kannte diese Miene und wusste daher sofort, was aufmich
zukam.
Im Keller eines Pizza-Straßenverkaufs habe man Knochen gefunden,sagte
mein Chef. Der Besitzer habe die Polizei gerufen. Die Polizei habe
den Coroner gerufen, den Leichenbeschauer also. Der Coroner habedas
Gerichtsmedizinische Institut angerufen.
LaManche wollte, dass ich der Sache nachging.
»Heute?«
»S il vous plaît.«
»Ich muss morgen in den Zeugenstand.«
»Der Pétit-Prozess?«
Ich nickte.
»Die Überreste sind wahrscheinlich die eines Tiers«, sagteLaManche
in seinem präzisen Pariser Französisch. »Es sollte nicht langedauern.«
»Wo?« Ich griff nach einem Notizblock.
LaManche las die Adresse von dem Zettel in seiner Hand ab. RueSte.
Catherine, einige Blocks östlich des Centre-ville.
CUM-Revier.
Claudel.
Der Gedanke, mit Claudel arbeiten zu müssen, war der Grund für das
erste »Verdammt« dieses Vormittags gewesen.
Es gibt einige kleinstädtische Dienststellen in der Umgebung derInselstadt
Montreal, aber die beiden Hauptakteure bei der Strafverfolgungsind
die SQ und die CUM. La Sûreté du Québecist die Provinzbehörde. Die
SQ hat auf dem flachen Land das Sagen und in Orten, die keineeigene
städtische Dienststelle haben. Die Police de la Communauté Urbaine
de Montreal, oder CUM, ist die Großstadtpolizei. Die Insel gehört
der CUM.
Luc Claudel und Michel Charbonneau sind Detectives bei derAbteilung
Schwerverbrechen der CUM. Als forensische Anthropologin für dieProvinz
Quebec habe ich im Lauf der Jahre mit beiden gearbeitet. MitCharbonneau
war es immer ein Vergnügen. Luc Claudel ist zwar ein guterPolizist,
hat aber die Geduld eines Knallfrosches, das Einfühlungsvermögenvon
Vlad dem Pfähler und eine beharrliche Skepsis, was den Wert derforensischen
Anthropologie angeht.
Schicke Garderobe, zugegeben.
Dr. Energy s Kiste war bereits voller Knochen gewesen, als ichzwei
Stunden zuvor hier im Keller angekommen war. Obwohl Claudel mirviele
Details erst noch liefern musste, nahm ich an, dass der Besitzerder
Knochensammler gewesen war, vielleicht mit der Unterstützung desglücklosen
Klempners. Meine Aufgabe war es gewesen, zu bestimmen, ob dieÜberreste
menschlichen Ursprungs waren.
Sie waren es.
Diese Feststellung hatte zum zweiten »Verdammt« dieses Morgensgeführt.
Meine nächste Aufgabe war es gewesen, herauszufinden, ob in derRuhestätte
unter dem Kellerboden sonst noch jemand lag. Dazu hatte ich dreiErkundungstechniken
benutzt.
Ein schräges Ableuchten des Kellerbodens mit einer Taschenlampe hatte
Vertiefungen im Erdreich gezeigt. Behutsames Stochern mit einerSonde
hatte Widerstände unter jeder Vertiefung ergeben, was auf Objekte
unter der Oberfläche hindeutete. Versuchsgrabungen hattenmenschliche
Knochen an den Tag gebracht.
Das hatte die Aussichten auf ein entspanntes Durchsehen derPétit-Akten
dramatisch verschlechtert.
Claudel und Charbonneau hatten mit »Verdammt« Nummer drei bis fünf
reagiert, als sie meine Einschätzung hörten. Zur Verstärkunghatten
sie noch ein paar Quebecer Flüche hinzugefügt.
Wir hatten die SIJ gerufen. Die Spurensicherungsroutine lief an.Scheinwerfer
wurden aufgestellt. Fotos wurden geschossen. Während Claudel undCharbonneau
den Besitzer und seinen Gehilfen befragten, wurde einBodendurchdringungsradar
durch den Keller gezogen. Das BDR zeigte Störungen, die in etwazehn
Zentimeter Tiefe in jeder der beiden Senken begannen. Ansonstenwar
der Keller sauber.
Während Claudel mit seiner Halbautomatik den Rattenfänger spielte,
machten die SIJ-Techniker Pause, und ich baute zwei simple,quadratische
Gitternetze. Ich band eben die letzte Schnur an den letztenPflock,
als Claudel seine Rambo-Nummer mit den Ratten abzog.
Und jetzt? Warten, bis die Spurensicherung zurückkommt?
Bestimmt.
Mit der Foto- und Videoausrüstung der SIJ fotografierte und filmte
ich. Dann rieb ich mir Durchblutung in die Hände, zog meineHandschuhe
wieder an und begann, im Planquadrat 1-A mit einer Kelle Erdeabzutragen.
Beim Graben überkam mich die gewohnte Tatortanspannung. Diegeschärften
Sinne. Die intensive Neugier. Was, wenn es nichts ist? Was, wennes
doch etwas ist?
Die Ängstlichkeit.
Was, wenn ich grundlegend wichtiges Material zu Krümeln trete?
Ich dachte an andere Ausgrabungen. Andere Tote. Ein Möchtegern-Heiliger
in einer ausgebrannten Kirche. Ein kopfloser Teenager in einerBiker-Bude.
Von Kugeln durchsiebte Junkies in einem Grab an einem Bachufer.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon grub, als dasSpurensicherungsteam
zurückkehrte. Der Größere der beiden hatte einen Styroporbecher in
der Hand. Ich versuchte, mich an seinen Namen zu erinnern.
Wurzel. Racine. Lang und dünn wie eine Wurzel. Meine Eselsbrückenfunktionierten.
René Racine. Netter Kerl. Wir hatten schoneine Hand voll Tatorte miteinander
bearbeitet. Sein kleinerer Partner war Pierre Gilbert. Ich kannte
ihn schon ein Jahrzehnt.
Während ich an lauwarmem Kaffee nippte, erläuterte ich, was ich in
ihrer Abwesenheit getan hatte. Dann bat ich Gilbert, zu filmen und
den Abraum in Eimern wegzutragen, und Racine, zu sieben.
Zurück zum Gitternetz.
Nachdem ich in 1-A gut sieben Zentimeter abgetragen hatte, wandteich
mich 1-B zu. Dann 1-C und 1-D.
Nichts als Erde.
Okay. Das BDR zeigte eine Abweichung, die in zehn Zentimeter Tiefe
begann.
Ich grub weiter.
Meine Finger und Zehen wurden taub. Ich fror bis ins Mark. Ichverlor
jedes Zeitgefühl.
Gilbert trug Eimer mit Erde von meinem Gitternetz zum Sieb. Racine
warf die Erde durch die Maschen. Hin und wieder machte Gilbert ein
Foto. Als ich das gesamte erste Gitternetz etwa sieben Zentimeter
tief abgetragen hatte, fing ich wieder bei Planquadrat 1-A an. Bei
einer Tiefe von fünfzehn Zentimetern wechselte ich zum nächstenPlanquadrat.
Ich hatte gerade zweimal in Planquadrat 1-B gekratzt, als mir eine
farbliche Veränderung des Erdreichs auffiel. Ich bat Gilbert,einen
Scheinwerfer neu auszurichten.
Ein Blick, und mein Blutdruck schnellte in die Höhe.
»Bingo.«
Gilbert kauerte sich neben mich. Racine kam ebenfalls dazu.
»Quoi?«, fragte Gilbert. Was?
Ich fuhr mit der Spitze meiner Kelle um den Klecks, der in 1-Beinsickerte.
»Die Erde ist dunkler«, bemerkte Racine.
»Verfärbung deutet auf Zersetzung hin«, erläuterte ich.
Beide Techniker starrten mich an.
Ich zeigte auf die Planquadrate 1-C und 1-D. »Irgendjemand oderirgendetwas
geht dort unten den Weg alles Irdischen.«
»Soll ich Claudel Bescheid sagen?«, fragte Gilbert.
»Der freut sich bestimmt.«
Vier Stunden später waren meine Hände und Füße steif gefroren.Obwohl
ich eine Zipfelmütze auf dem Kopf und einen Schal um den Halshatte,
zitterte ich in meinem superabsorbierenden, isolierbeschichtetenMikrofaser-Parka,
für den Kanuk eigentlich Schutz bis zu einer Temperatur von minus
vierzig Grad garantierte.
Gilbert ging im Keller herum und fotografierte und filmte ausverschiedenen
Blickwinkeln. Racine schaute zu, die behandschuhten Hände unterdie
Achseln geklemmt. Beide schienen sich in ihren arktistauglichenOveralls
ziemlich behaglich zu fühlen.
Die beiden Detectives, Claudel und Charbonneau, standennebeneinander,
die Füße gespreizt, die Hände vor den Genitalien gefaltet. Beidetrugen
schwarze Wollmäntel und schwarze Lederhandschuhe. Aber keinermachte
ein fröhliches Gesicht.
Acht tote Ratten zierten die Wände.
Die Grube des Klempners und die beiden Vertiefungen waren bis zueiner
Tiefe von sechzig Zentimetern abgegraben. Erstere hatte nocheinige
verstreute Knochen preisgegeben, die der Klempner und der Besitzer
übersehen hatten. Die beiden anderen Löcher erzählten eine ganzandere
Geschichte.
Das Skelett unter Gitternetz eins lag in Fötalhaltung da. Es warunbekleidet,
im Sieb war kein einziges Artefakt aufgetaucht.
Die Person unter Gitternetz zwei war vor dem Vergrabeneingewickelt
und verschnürt worden. Die Teile, die wir sehen konnten, wirktenebenfalls
völlig skelettiert.
Nachdem ich die letzten Erdpartikel von dem Bündel gebürstethatte,
legte ich meinen Pinsel weg, stand auf und stampfte mit den Füßen,
um sie aufzutauen.
»Ist das eine Decke?« Charbonneaus Stimme klang heiser vor Kälte.
»Sieht eher aus wie Leder«, sagte ich.
Er deutete mit dem Daumen auf Dr. Energy s Patienten.
»Ist das der Rest von dem Kerl in der Kiste?«
Sergeant-détective Michel Charbonneau stammteaus Chicoutimi, einer
Stadt sechs Stunden den St. Lawrence flussaufwärts in einerRegion,
die als Saguenay bekannt war. Bevor er zur CUM kam, hatte ermehrere
Jahre auf den Ölfeldern im westlichen Texas gearbeitet. Stolz auf
seine Cowboy-Jugend, sprach Charbonneau mit mir immer in meinerMuttersprache.
Sein Englisch war gut, auch wenn er manchmal die falschen Silbenbetonte
und seine Formulierungen so mit Slang durchsetzt waren, dass maneinen
Zehn-Gallonen-Stetson damit hätte füllen können.
»Wollen wir s hoffen.«
»Sie hoffen es?« Eine kleine Atemwolke wehte aus Claudels Mund.
»Ja, Monsieur Claudel. Ich hoffe es.«
Claudel kniff die Lippen zusammen, blieb aber stumm.
Als Gilbert genügend Fotos von den verpackten Überrestengeschossen
hatte, kniete ich mich hin und zupfte an einer Ecke des Leders. Es
riss.
Ich ersetzte meine warmen Wollfäustlinge durch Gummihandschuhe,beugte
mich wieder über das Bündel und machte mich daran, eine Eckeabzulösen,
dann behutsam die Schichten zu trennen, anzuheben und aufzurollen.
Nachdem ich die obere Schicht komplett nach links abgewickelthatte,
machte ich mich an die untere. An einigen Stellen hafteten Fasern
am Knochen. Vor Kälte und Nervosität zitternd, löste ich mit demSkalpell
verfaultes Leder vom darunter liegenden Knochen.
»Was ist das weiße Zeug?«, fragte Racine.
»Adipocire.«
»Adipocire?«, wiederholte er.
»Leichenwachs«, antwortete ich, obwohl ich nicht in der Stimmungfür
eine Chemiestunde war. »Fettsäuren und Kalziumseifen aus Muskel-oder
Fettgewebe, die eine chemische Veränderung durchmachen,normalerweise
nach einer langen Verweildauer in der Erde oder im Wasser.«
»Warum ist das nicht auch auf dem anderen Skelett?«
»Weiß ich nicht.«
Ich hörte, wie Claudel Luft durch die Lippen blies. Ich ignorierte
ihn.
Fünfzehn Minuten später hatte ich die untere Schicht vollständigabgelöst
und ausgebreitet, und das Skelett lag nun frei vor uns.
Der Schädel war zwar beschädigt, aber unübersehbar vorhanden.
»Drei Köpfe, drei Personen.« Charbonneau stellte dasOffensichtliche
fest.
»Tabernouche«, sagte Claudel.
»Verdammt«, sagte ich.
Gilbert und Racine blieben stumm.
»Irgendeine Idee, was wir hier haben, Doc?«, fragte Charbonneau.
Ich richtete mich ächzend auf. Acht Augen folgten mir zu Dr.Energy s
Kiste.
Nacheinander holte ich die beiden Beckenhälften und den Schädelheraus
und untersuchte sie.
Dann ging ich zum ersten Loch, kniete mich hin und entnahm unduntersuchte
dieselben Skelettteile.
O Gott.
Ich legte diese Knochen wieder zurück, kroch zum zweiten Loch,kniete
mich darüber und betrachtete die Schädelfragmente.
Nein. Nicht schon wieder. Die universellen Opfer.
Behutsam löste ich die rechte Beckenhälfte.
Atemwolken blähten sich vor fünf Gesichtern.
Ich ging in die Hocke und bürstete Erde von der Schambeinfuge.
Und spürte, wie es kalt wurde in meiner Brust.
Drei Frauen. Fast noch Mädchen.
2
Als ich am Dienstagmorgen zum Wetterbericht aufwachte, wusste ich,
dass mich eine mörderische Kälte erwartete. Nicht diefeucht-kühlen
zehn Grad plus, über die wir in North Carolina im Januargelegentlich
jammern. Ich meine arktische Kälte im zweistelligen Minusbereich.
Kälte nach dem Motto: Hör auf, dich zu bewegen, und du stirbst und
wirst von Wölfen gefressen.
Ich liebe Montreal. Ich liebe den gut zweihundertfünfzig Meterhohen
Berg, den alten Hafen, Little Italy, Chinatown, dasSchwulenviertel,
die Stahl- und Glaswolkenkratzer des Centre-ville, dieverwinkelten
Viertel mit ihren Gassen und Steinhäusern und unmöglichen Treppen.
Montreal ist ein schizoider Raufbold, der beständig mit sichselbst
über Kreuz ist. Anglophon gegen frankophon. Separatistisch gegenföderalistisch.
Katholisch gegen protestantisch. Alt gegen neu. Ich genieße denkulinarischen
Multikulturalismus der Stadt: Empanada, Falafel, Poutin, Kong Pao.
Hurley s Irish Pub, Katsura, L Express,Fairmont Bagel, Trattoria
Trastevere.
Ich nehme teil an der endlosen Reihe von Festivals in dieserStadt,
Le Festival International de Jazz, Les FêtesGourmandes Internationales,
Le Festival des Films du Monde, das Käferkosten-Festival imInsektarium.
Ich kaufe ein in den Läden an der Ste. Catherine, auf denFreiluftmärkten
an der Jean-Talon und der Atwater, in den Antiquitätenläden an der
Notre-Dame. Ich besuche Museen, mache Picknicks in den Parks,fahre
auf den Wegen am Canal Lachine Fahrrad. Ich genieße das alles.
Was ich nicht genieße, ist das Klima von November bis Mai.
Eins muss ich zugeben. Ich habe zu lange im Süden gelebt. Ichfriere
nicht gern. Ich habe keine Geduld mit Eis und Schnee. Behalteteure
Stiefel und euer Labello und die Eishotels. Was ich brauche, sind
Shorts und Sandalen und Lichtschutzfaktor dreißig.
Mein Kater, Birdie, teilt diese Meinung. Als ich mich aufsetzte,stand
auch er auf, machte einen Buckel und vergrub sich dann wiederunter
der Decke. Mit einem Lächeln sah ich, wie sein Körper sich zueiner
dichten, runden Masse zusammenrollte. Birdie, mein einziger undtreuer
Zimmergenosse.
»Ich kann dich gut verstehen, Bird«, sagte ich und schaltete denRadiowecker
aus.
Der Kater rollte sich noch enger zusammen.
© Random House
Übersetzung: Klaus Berr
Autoren-Porträt von Kathy Reichs
KathyReichs, 1950 in Chicago geboren, arbeitet als forensische Anthropologin an dengerichtsmedizinischen Instituten in Montreal und Charlotte, als Gutachterin fürdie Vereinten Nationen und das US-Verteidigungsministerium und unterrichtet ander FBI-Akademie in Quantico, Virginia. Bereits ihrerster Roman "Tote lügen nicht" wurde in 15 Sprachen übersetzt - ein großer,internationaler Erfolg, den sie zuletzt mit dem Spiegel-Bestseller"Knochenlese" sogar noch steigern konnte. Ihr sechster Roman mit Tempe Brennan, "Mit Haut und Haar" (89667) erschien im März2004 im Blessing Verlag und stürmte ebenfalls sofort dieSpiegel-Bestsellerliste.
Interview mit Kathy Reichs
Wie Ihre Heldin im Buch sind auchSie von Beruf Gerichtsmedizinerin. Worin genau besteht Ihre Arbeit?
MeineArbeit besteht darin, dem Pathologen zu helfen, wenn der Körper beispielsweiseverbrannt, verwest, verstümmelt, mumifiziert oder skelettiertist. Meistens beschäftige ich mit zwei Fragen: Wer ist der Tote? Was ist mitihm passiert?
Könnteman sagen, wie in dem Witz, dass Pathologen alles wissen, aber zu spät?
Vielleicht,obwohl wir bei weitem nicht alles wissen. Nur die Geschichten, die die Knochenerzählen.
"Mit Haut und Haar" istnichts für nervenschwache Leser. Müssen Krimis heutzutage besonders brutalsein, um Erfolg zu haben?
Überhauptnicht. Wenn meine Bücher eine Botschaft haben, dann die, dass Gewalt real istund Leid verursacht. Leid für das Opfer, Leid für seine Familie und Freunde undLeid für diejenigen, die mit den Toten arbeiten. Ich denke darüber nach, wasich tue, wenn ich mit den Toten arbeite, und zwar für die Lebenden.
Sie müssen viel Fanpost bekommen haben nach Erscheinen von "Mit Haut undHaar". Was hat Ihren Lesern besonders gefallen?
In denLeserbriefen kommt zum Ausdruck, dass sie die Hauptfigur TemperenceBrennan mögen, dass ihnen der Schauplatz besonders gefällt, in "Mit Hautund Haar" ist das North Carolina, und dass sie sich gut unterhalten fühlenvon den spannungsvollen Momenten, die meine Geschichten durchziehen.
Ist Schreiben ein Mittel für Sie, diegrausamen Erfahrungen zu verarbeiten, die sie als Gerichtsmedizinerin machen?
Vielleicht,obwohl das nicht der Grund ist, weshalb ich schreibe. Ich mag es, meineWissenschaft mit meinen Lesern zu teilen und ihnen einen Einblick zu geben indie reale Welt eines Gerichtsmediziners. Und ich habe Freude an der Welt derLiteratur - einer so anderen Welt als der von Verbrechen und Labor.
- Autor: Kathy Reichs
- 2004, 3. Aufl., 383 Seiten, Maße: 13,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Klaus Berr
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672487
- ISBN-13: 9783896672483
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Totenmontag".
Kommentar verfassen