Triumph des Himmels
Historischer Roman. Originalausgabe
Einer gewinnt, die anderen verlieren - die Liebe siegt
1925: Die Rallye "Von Triumph zu Triumph" von Paris nach Berlin verspricht, das Ereignis des Jahres zu werden, und zieht eine illustre Fahrerschaft an. Für den Abenteurer Alastair MacAlan ist...
1925: Die Rallye "Von Triumph zu Triumph" von Paris nach Berlin verspricht, das Ereignis des Jahres zu werden, und zieht eine illustre Fahrerschaft an. Für den Abenteurer Alastair MacAlan ist...
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Produktinformationen zu „Triumph des Himmels “
Einer gewinnt, die anderen verlieren - die Liebe siegt
1925: Die Rallye "Von Triumph zu Triumph" von Paris nach Berlin verspricht, das Ereignis des Jahres zu werden, und zieht eine illustre Fahrerschaft an. Für den Abenteurer Alastair MacAlan ist ein Sieg die letzte Hoffnung vor dem endgültigen Abstieg, doch einige andere Teilnehmer haben weit dunklere Motive.
Als die junge Berliner Journalistin Emmalou von der abenteuerlichen Unternehmung erfährt, ist sie wie elektrisiert - sie will das Rennen mit dem Flugzeug begleiten, um mit einem sensationellen Bericht Anerkennung zu finden. Doch bei einem Blick auf die Teilnehmerliste entdeckt sie einen Namen, der alte Erinnerungen in ihr weckt, die sie längst begraben glaubte ...
1925: Die Rallye "Von Triumph zu Triumph" von Paris nach Berlin verspricht, das Ereignis des Jahres zu werden, und zieht eine illustre Fahrerschaft an. Für den Abenteurer Alastair MacAlan ist ein Sieg die letzte Hoffnung vor dem endgültigen Abstieg, doch einige andere Teilnehmer haben weit dunklere Motive.
Als die junge Berliner Journalistin Emmalou von der abenteuerlichen Unternehmung erfährt, ist sie wie elektrisiert - sie will das Rennen mit dem Flugzeug begleiten, um mit einem sensationellen Bericht Anerkennung zu finden. Doch bei einem Blick auf die Teilnehmerliste entdeckt sie einen Namen, der alte Erinnerungen in ihr weckt, die sie längst begraben glaubte ...
Klappentext zu „Triumph des Himmels “
Einer gewinnt, die anderen verlieren - die Liebe siegt. 1925: Die Rallye "Von Triumph zu Triumph" von Paris nach Berlin verspricht, das Ereignis des Jahres zu werden, und zieht eine illustre Fahrerschaft an. Für den Abenteurer Alastair MacAlan ist ein Sieg die letzte Hoffnung vor dem endgültigen Abstieg, doch einige andere Teilnehmer haben weit dunklere Motive. Als die junge Berliner Journalistin Emmalou von der abenteuerlichen Unternehmung erfährt, ist sie wie elektrisiert - sie will das Rennen mit dem Flugzeug begleiten, um mit einem sensationellen Bericht Anerkennung zu finden. Doch bei einem Blick auf die Teilnehmerliste entdeckt sie einen Namen, der alte Erinnerungen in ihr weckt, die sie längst begraben glaubte ...
Lese-Probe zu „Triumph des Himmels “
Triumph des Himmels von Andrea SchachtAUSSCHREIBUNG
1. ANKUNFT IN MARSEILLE
It's a long way to Tipperary,
it's a long way to go.
Soldiers Song
Hinter der langen, schwarzen Rauchfahne des Schleppers flatterte eine Schar Möwen her. Zwei Fischerboote dampften an ihm vorbei, kreischend stürzten die Vögel sich auf die Netze. Weit draußen auf See schob sich ein Frachtschiff auf den Hafen zu.
Alasdair MacAlan lehnte sich an die Reling und sah über das Wasser.
Ein ganzes Meer trennte ihn nun von der Vergangenheit. Und eine ungewisse Zukunft lag vor ihm. Doch er konnte sich nicht überwinden, ihr ins Gesicht zu sehen.
Ein schwerer Seesack wurde zu seinen Füßen abgelegt.
»Sir, es wird Zeit, das Schiff zu verlassen.«
Mac drehte sich langsam um.
Ja, es war Zeit, diese letzte Brücke abzubrechen. Er ließ den Seesack liegen, schlenderte über das Deck auf die andere Seite und betrachtete das lebhafte Geschehen am Kai von Marseille. Unter ihm plätscherte öliges Wasser, der Geruch von verrottendem Tang und von Teer stieg ihm in die Nase. Geschrei, Gedrängel, Gepäckberge, eine blökende Hupe, zwei Hunde, die sich knurrend und kläffend um eine Beute zankten - in dieses Getümmel musste er sich nun wohl auch begeben.
»Sir, wir müssen den Wagen ausladen!«
Wieder wurde ihm der Seesack vor die Füße gelegt. Mac bückte sich und schulterte ihn.
»Verdammt, mir muss es schlechter gehen als vor der Reise«, knurrte er. »Oder hast du Bleibarren hineingepackt, Hans?«
»Es geht Ihnen besser, Sir, aber das Gepäck ist schwerer geworden.«
Wodurch auch immer. Hans hatte so seine eigenen Wege, an Dinge zu kommen.
... mehr
Mac folgte dem knorrigen Mann zum Niedergang, und als sie den Laderaum erreicht hatten, zitterten ihm die Knie. Mochten die Wochen auf See auch erholsam gewesen sein, seine alte Form hatte er noch immer nicht wiedererlangt. Hans wuchtete ihrer beider Gepäck hinten in den Wagen und öffnete ihm die Tür auf der Fahrerseite.
Nur vier weitere Fahrzeuge warteten darauf, über die Stahlplanken an den Kai zu rollen, die Chauffeure in ihren Uniformen lehnten an den Kotflügeln und warteten, dass der Lademeister ihnen das Zeichen gab, die Motoren zu starten. Mac erkannte einen schimmernden Benz, einen Maybach und einen schnittigen Bugatti. Herrenfahrzeuge. Sein Ford war dagegen ein Lasttier. Der Lack war zerkratzt und staubig, aber als er die Zündung einschaltete, schnurrte der Motor, ohne zu zögern, los. Anders als bei dem Bugatti, dessen Lenker sich an der Kurbel abmühen musste.
Hans rückte neben ihn auf den Sitz, und vorsichtig bewegte Mac das Automobil an Land.
Eine modisch gekleidete Dame warf ihm unter dem weißen Glockenhut einen abschätzigen Blick zu. Mac zuckte innerlich mit den Schultern. Sie hatte ihn von Beginn der Reise an mit ihren glutvollen Augen verfolgt, aber er war nicht an einem Flirt interessiert. Auch der Herr im weißen Leinenanzug musterte Macs Fahrzeug mit unverhohlener Arroganz.
Beide ignorierte er genau wie die Gepäckberge am Kai der Joliette und bahnte sich den Weg zur Straße.
»Sehen wir nach, ob André Letellier noch seine Garage führt«, sagte Hans.
»Tun wir das?«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
Hatte er nicht.
Eine Hupe blökte direkt hinter ihnen. Der Bugatti.
Mac löste die Bremse, ließ den Wagen auf die Straße am Kai rollen und holperte über die Schienen der Elektrischen. Unter der gleißenden Mittagssonne zeichnete sich die Silhouette der Kathedrale von Marseille ab, die sich über dem alten Hafen erhob. Sie kamen nur langsam voran, Fußgänger bevölkerten die Straße weit mehr als Automobile. Hoch beladene Pferdegespanne trotteten vor ihnen her, ein mutiger Reiter versuchte sie zu überholen. Unter den Markisen der mehrstöckigen Gebäude saßen Müßiggänger bei Wein oder Kaffee, wurden Waren ausgestellt, bummelten Damen an den Schaufenstern entlang.
»Am alten Hafen, irgendwo links«, sagte Hans.
»Ich weiß.«
Die Hitze trieb ihnen den Schweiß auf die Stirn, und Mac war froh, als sie in die schmalen Gassen des Panier einbiegen konnten. Ja, er erinnerte sich an die Werkstatt, in der er vor über fünf Jahren eine Weile gearbeitet hatte. Er erkannte die Häuser wieder, uralte Gebäude aus einem anderen Jahrhundert, doch belebt und von reger Geschäftigkeit gezeichnet. Wäsche hing zwischen den Fenstern, es flatterten Hosen, Hemden, Laken und Kittel in der leichten Brise, die vom Meer her wehte. Körbe und Säcke standen vor den Eingängen, hier und da döste ein alter Hund im Schatten. Vor einer Toreinfahrt, über der ein rostiges Schild auf die Garage Letellier verwies, hielt er an.
Hämmern und Klirren klangen aus dem Hinterhof und versicherten ihm, dass hier tatsächlich noch gearbeitet wurde. Mochte der Eingang auch schäbig sein, die zunehmende Menge an Automobilen schien dem Mechaniker ein gutes Geschäft zu sichern.
»Pass du auf das Auto auf«, sagte Mac zu Hans und stieg aus. Er trat in den Hof, in dem es nach Schmieröl und Lack, Gummi und Knoblauch roch. Ein Mann schraubte an einem Chassis herum und sah, als Mac sich räusperte, über die Schulter zu ihm hin. Einen Augenblick stutzte er, dann schob er die Kappe aus der Stirn und wischte sich die ölige Hand an einem Lappen ab.
»Monsieur André Letellier?«
»Der Nämliche. Und Sie? Mon Dieu! Sie? Du? MacAlan?«
»Der Nämliche.«
»Nun, das nenne ich eine Überraschung. Genug von Kameldung und Wüstensand?«
»Mehr als genug.«
»Du siehst mager aus.«
Mac hob die Schultern. Er war abgemagert, und selbst das reichliche Essen auf dem Dampfer hatte nur wenige Spuren hinterlassen.
»Suchst du Arbeit?«
»Vielleicht. Aber erst mal brauche ich einen Platz für meinen Wagen.«
»Aha, einen Wagen besitzt Monsieur.«
»Ford, Modell T.«
Letellier rümpfte die Nase.
»Für ein paar Tage. Wir sind eben erst eingetroffen.«
»Bring ihn rein.«
Mac nickte und sah sich um. Unter einem baufälligen Holzschindeldach standen zwei Fahrzeuge von Planen verhüllt. Daneben schien noch Platz für seinen Wagen zu sein. Er verließ den Hof, um mit Hans und dem Ford zurückzukommen. Letellier strich neugierig um ihn herum, als er ausstieg.
»Zwei Tage umsonst, dann zahlst du Miete.«
»In Ordnung. Wir brauchen eine Unterkunft. In der Nähe.«
»Versuch es bei Henriette Malgres. Hat, nachdem ihr Mann auf See geblieben ist, eine Pension aufgemacht. Drüben, Rue du Refuge.«
Hans hatte bereits ihre Seesäcke aus dem Auto gezogen, und wieder schulterte Mac das schwere Gepäck. Als sie die Gasse erreicht hatten, wollten ihm fast die Beine nachgeben, aber er schaffte es bis zu dem Hauseingang, an dem ein Schild auf die Pension hinwies. Er lehnte sich erschöpft an die Wand, und Hans übernahm es, mit der fetten Madame zu verhandeln. Er trug erst seinen, dann auch Macs Seesack die schmalen Steintreppen hoch. Mac folgte ihm leicht keuchend, und im Zimmer angekommen, ließ er sich mit einem Stöhnen auf das Bett fallen.
»Nicht eben Luxus«, bemerkte Hans.
»Nein, aber es reicht mir.«
»Wir hatten schon schlimmere Quartiere.«
Unter halb geschlossenen Lidern sah Mac sich um. Zwei Eisenbetten mit dünnen Matratzen, fadenscheinigen Laken und grauen Decken, ein Waschgeschirr, ein wackeliger Schrank, vor dem Fenster hölzerne Läden, durch die Streifen von Sonnenlicht auf den zerschrammten Holzboden fielen. Von irgendwoher ertönte Gesang, eine Blechtonne schepperte, eine Frau keifte.
Er schloss die Augen, erschöpft von dem Tagewerk.
Hinter Hans fiel die Tür zu. Er würde sich um alles Mögliche kümmern. Essen vielleicht, Waschwasser, Auskünfte.
Einst war er es gewesen, der all diese Dinge übernommen hatte. Doch seit Monaten schon schien jede Kraft aus ihm herausgekrochen zu sein. Und wann immer er versuchte, sich eine Zukunft vorzustellen, wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit.
»Was kommt, das kommt«, hatte Naima oft gesagt. Auch Naima war Vergangenheit.
Er versank in einen leichten Schlaf, der, als er tiefer hineinsank, von beklemmenden Träumen durchzogen wurde. Die Vergangenheit war weit lebendiger als die Gegenwart oder gar die Zukunft.
»Mac, wach auf!« Hans schüttelte ihn an der Schulter. »Mac,
wir sind in Marseille.«
»Ja. Ja, ist gut.«
»Es ist bald Abend, und, verdammt, ich bin hungrig. Nebenan gibt es eine Brasserie, die uns Madame empfiehlt.«
Mac spannte seine Glieder an und setzte sich auf. Ja, hungrig war er auch, und ein Glas Rotwein würde die Schatten vertreiben. Er goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel und klatschte es sich ins Gesicht. Der Abtritt lag ein Stockwerk tiefer und roch nicht eben frisch, aber auch in der Hinsicht hatten sie schon Schlimmeres erlebt. Die Brasserie hingegen roch nach Gewürzen und Gebratenem, dem allgegenwärtigen Knoblauch und Zigarettenrauch. Unter der Markise fanden sie Platz an einem kleinen runden Tisch. Der Garçon brachte ihnen eine Karaffe Wein und eine mit Wasser, und Mac bestellte die angepriesene Bouillabaisse.
»Hafenwasser«, murrte Hans, als die tiefen Teller mit der sämigen Suppe vor ihnen standen.
»Immerhin voller Fische«, meinte Mac und betrachtete die Platte, auf der sich eine üppige Menge Meeresgetier und Gemüse befand. Das Baguette war knusprig und die Rouille appetitanregend scharf. Sie aßen schweigend, tranken ihren Wein, das Wasser und bestellten sich Kaffee.
»Ich habe ein paar Journale besorgt, Mac. Wir sollten sie morgen durchsehen.«
»Du hast sie doch schon studiert. Was gibt es Neues in der Welt?«
»In Genf hat man beschlossen, die chemischen Waffen zu ächten.«
Mac schnaubte.
»Die Franzosen und die Belgier haben das Ruhrgebiet geräumt. «
»Aha.«
»Hindenburg ist deutscher Reichspräsident.«
»Schön für ihn.«
»L'Auto hat eine Rallye ausgeschrieben.«
»Da werden die Schönen und Reichen sich aber freuen.«
»Sicher. Von Triumph zu Triumph. Vom Arc de Triomphe in Paris zum Brandenburger Tor in Berlin.«
»Keine triumphale Strecke«, sagte Mac.
»Nein, aber eine, die du kennst.«
»Und die ich nicht noch einmal fahren möchte.«
Der Kaffee schmeckte ebenso bitter wie die Erinnerung.
Hans schaute einer jungen Frau mit einem kleinen Hund hinterher, deren Hüften sich verlockend wiegten. Mac folgte seinem Blick. Dass sein Begleiter schwieg, wusste er richtig zu deuten. Hans war ein Meister im Auslegen von Ködern.
2. DAS BUNTE BLATT
Wer schmeißt denn da mit Lehm?
Der sollte sich was schäm!
Der sollte auch was andres nehm,
als ausgerechnet Lehm.
Claire Waldoff
In Berlin herrschte seit Tagen eine brütende Hitze, und in der Redaktionsbesprechung lähmte sie die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Ich hatte meine Kolumne bereits vorgestellt. Wie üblich hatte der Artikel darüber, wie die sparsame Hausfrau ihr Heim geschmackvoll gestaltet, nur das gleichmütige Nicken des Chefredakteurs bewirkt. Im Augenblick dozierte Jürgen du Plessis über seine feuilletonistischen Ergüsse, die die Schlummerneigung des redaktionellen Publikums noch verstärkten. Die Luft im Raum war schwer und drückend. Der Anzeigenleiter neben mir dünstete den Geruch von gebratenen Zwiebeln aus, der Stift roch nach ranziger Pomade und Schweiß, und Geraldine mir gegenüber steuerte einen mehr als aufdringlich ambrosischen Hauch von My Sin zu dem Duftpotpourri bei. Ich sehnte mich nach einem kühlen Luftzug, einem schattigen Plätzchen im Tiergarten, alternativ einem kühlen Cocktail in einer kleinen Gartenlaube. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass diese Tortur erst in ungefähr einer Stunde beendet sein würde. Meine Gedanken umwölkten sich, wie so oft, wenn Langeweile mich packte. Sie schienen in klebriger Dunkelheit versinken zu wollen und machten mich müde. Ich bemerkte, wie ich allmählich auf meinem Stuhl zusammensank, und als mein Bleistift mit einem leisen Klappern zu Boden fiel, riss ich mich schließlich zusammen.
»Denk einfach an etwas Schönes«, hatte mir einst meine Mutter für solche Fälle geraten. Ein guter Rat, der mir schon einige Male geholfen hatte, aber nicht immer leicht umzusetzen war. Vielleicht half mir die Vorstellung davon, was ich nach Feierabend unternehmen konnte. Darum ging ich in Gedanken schon mal meine Garderobe durch. Den rosa Glockenhut mit den kleinen Röschen, den hatte ich erst zweimal getragen. Ja, und dazu das rosafarbene Seidenkleid, so schön leicht und luftig, es umspielte eben die Knie und hatte einen hübschen Ausschnitt. Wie gemacht für einen warmen Abend. Das war doch etwas Schönes, oder nicht? Auch dass ich an diesem Abend mit einem meiner eifrigsten Anbeter verabredet war. Vielleicht konnte ich ihn zu einem Mondscheinbummel am Wannsee überreden. Oder besser nicht. Der junge Mann neigte zu leidenschaftlichen Wallungen. Nein, mit ihm lieber unter Menschen bleiben. Tiergarten, besser im Tiergarten, und da ...
»Det is keen Sommerloch, det is'n Problem«, drang die markige Stimme des Anzeigenleiters in meine Überlegungen.
Problem hörte sich nicht gut an, versprach aber zumindest Abwechslung vom Einerlei. Ich war seit zwei Jahren beim Bunten Blatt und hatte mir mühsam meine eigene Kolumne erkämpft. Mit mir zusammen waren die beiden einzigen anderen weiblichen Mitarbeiter des Blatts - Geraldine, die Fotografin, und Berte, die Redaktionsleiterin - für den Frauen- teil der Zeitschrift zuständig, und es herrschte ständig eine unterschwellige Stimmung, diesen Bereich zu verkleinern oder gar ganz zu streichen. Wenn der Absatz des Blattes zurückging und nicht genug Anzeigen reinkamen, würde man als Erstes uns einsparen.
»Wir müssen mehr Exklusivberichte bringen«, warf der Auslandsredakteur ein. »Die Lage in Marokko spitzt sich zu. Die Korrespondenzbüros liefern keine brisanten Artikel dazu. Man müsste eine Vor-Ort-Berichterstattung bringen. Und meine China-Reportage ...«
»Wen interessieren Marokko und China, Mann?« Eduard Koch, der Herausgeber, fuhr dem armen Kerl wieder einmal über den Mund. »Etwas aus Berlin. Mord, Skandale, Triumphe. Das hält die Leute wach.«
»Schöne Frauen, schöne Kleider auch«, warf Geraldine ein und schob die Fotografien einiger bekannter Schauspielerinnen über den Tisch.
»Wenn sie ermordet werden, in Skandale verwickelt sind oder Triumphe erzielt haben«, grollte Koch.
»Triumphe!«, betonte Berte und wedelte mit einem Magazin. »Hier hätte ich etwas für einen Exklusivbericht.«
»Was haben Sie da schon wieder ausgegraben?«
»L'Auto, die französische Sportzeitung. Lag bei Ernst auf dem Tisch. Ich schätze, er wollte darüber schreiben. Eine Autorallye wird ausgeschrieben. Paris-Berlin.«
»Mhm. Wann?«
»Beginnt am 26. September am Arc de Triomphe und endet am ersten Oktober mit einem Geschwindigkeitsrennen auf der Avus.«
»Bis dahin ist Ernst noch nicht wiederhergestellt«, grummelte der Anzeigenleiter. »War gestern in der Charité. Hab mit dem Arzt gesprochen. Ernst muss froh sein, wenn er irgendwann wieder sprechen kann.«
Der Sportredakteur hatte vor zwei Tagen einen Autounfall gehabt, und so, wie es aussah, waren seine Blessuren mehr als besorgniserregend.
»Ich übernehme die Berichterstattung«, sagte Berte, und ich zuckte zusammen. Das würde gleich wieder eine dieser Schlammschlachten werden, wie sie seit Monaten zwischen dem Herausgeber und ihr tobten.
»Sie bleiben bei Ihrem Weiberkram.« Eduard Koch wandte sich an den Auslandsredakteur. »Sie übernehmen das. Dann können Sie nach Frankreich reisen.«
»Ich? Ich hab keine Ahnung von Automobilen.«
»Ich schon«, sagte Berte. »Und ich habe ein Automobil. Ich könnte die Rallye begleiten. Mit einem Fotografen zusammen können wir wirklich exklusiv berichten.«
»Kommt nicht in die Tüte.«
»Ist aber eine gute Idee«, meinte der Anzeigenleiter. »Könnte ein paar Reifenhersteller und Autohändler zu Anzeigen überreden.«
»Du Plessis, sind Sie bereit, über diese Rallye zu berichten? «
»Mein Gott, Eduard, über stinkende Motoren, schlammige Straßen und imbezile Motorreiter?«
Geraldine kicherte leise, ich verbiss mir jegliche Reaktion. Jürgen du Plessis war Geraldines Vater und von Schöngeistigkeit durchdrungen.
»Vertagen wir den Punkt«, sagte der Herausgeber und wandte sich an den politischen Redakteur.
Der gehörte zu den Wortgewaltigen, und darum angelte ich mir die französische Zeitung. Hausfrauen die neuesten technischen Hilfsmittel oder Omas Geheimtipps zur Fleckentfernung schmackhaft zu machen, war nicht das langfristige Ziel meiner journalistischen Arbeit. Möglicherweise fand ich in dem Blatt einige Anregungen für eine andere Art von Artikeln. Aber ich wurde enttäuscht, es war ein reines Sportblatt, das über Pferderennen, Kraftsport, Radrennen und Fußballspiele berichtete. Allerdings überflog ich kurz den Artikel zur Rallye. Es war ein Amerikaner, ein Mister Frank Tilmann, seines Zeichens ein Ölbaron, der den Wettkampf aus geschrieben hatte. Mein Französisch war nicht so fließend, dass ich die Details zu verstehen in der Lage gewesen wäre, aber das Prinzip war mir klar. Männer wollten mit ihren Maschinen protzen, wie die Wilden über holprige Landstraßen donnern und freilaufendes Geflügel überfahren, um einen triumphalen Sieg zu erringen. Für einen kleinen Augenblick verstand ich Bertes Wunsch, darüber zu schreiben. Es würde eine aufregende Sache sein, direkt vom Geschehen zu berichten. Bei einer so langen Strecke konnte viel passieren. Nicht nur Unfälle, sondern auch Skandale und Triumphe. Wie der Herausgeber es wünschte.
Berte zupfte mir das französische Blatt aus der Hand. Auch sie witterte ihre Chance. Ihre Augen blitzten kampfbereit, als Eduard Koch die Sitzung für beendet erklärte.
»Auf ein Wort noch, Herr Doktor Koch«, begann sie und folgte ihm in sein Büro.
»O je, das wird wieder ein Gerangel«, meinte Geraldine und hakte sich bei mir unter. »Warum muss sie nur immer Streit anfangen?«
»Ist es Streit, wenn man einen Bericht schreiben möchte?«
»Emma, über eine Autorallye. Ich bitte dich.«
»Na ja, sie fährt selbst ein Auto. Wenn es ihr doch Spaß macht? Dein Vater hat ihr so häufig schon Berichterstattungen konterkariert, weißt du. Er gluckt mit dem Koch zusammen und hetzt gegen sie.«
»Er hat seine eigenen Probleme, der Herr vom Feuilleton. Komm, wir machen Schluss für heute.«
Ich stimmte nur zu gerne zu. Ein warmer Sommerabend lockte, und ein neuer Hut wartete darauf, getragen zu werden. Etwas Schönes eben.
Hoffentlich.
3. FRITZ ERGREIFT DIE FLUCHT
Wenn ick am Fensta steh'
und schlach 'ne Scheibe entzwee',
dann setztet Keile
'ne janze Weile.
Un wenn ick's nochmal tu',
krieje ick no' mehr dazu.
Da mach ick mir nüscht draus
und schlach noch eene aus.
Altberliner Kinderreim
Fritz drückte sich das schmuddelige Taschentuch an die blutende Nase und stolperte in den Hinterhof. Der letzte Schlag, den ihm der Freier seiner Schwester verpasst hatte, machte das Maß endgültig voll. Schon am Morgen hatte der Meister ihn verprügelt, angeblich weil er die dreckige Fensterscheibe zerschlagen hatte. Aber das war der Geselle, dieser Schaute. Und nu war Schluss!
Fritz trat noch einmal heftig nach dem Blecheimer, dass es schepperte, damit ihm wenigstens auch noch der Fuß wehtat, und humpelte durch das Tor auf die Straße. Weg von hier. Weg von der feuchten, stinkenden Wohnung, weg von dem ewigen Kohldunst, weg von der ständig keifenden Mutter und den blökenden Blagen, weg von den schmierigen Suffnasen, die sie mit ranschleppte.
Er wanderte zunächst eine Weile ziellos durch die Straßen, in denen die sommerliche Wärme sich gefangen hatte, und grollte stumm vor sich hin. Erst als er einen Hydranten fand, den die Anwohner aufgedreht hatten, um sich mit dem kalten Wasser abzukühlen, dachte er daran, sich das Gesicht zu waschen. Mit dem nassen Taschentuch fuhr er sich über die schmerzende Nase. Vielleicht war sie gebrochen. Aber das würde wohl heilen. Den Schmerz war er gewöhnt, den knurrenden Magen auch. Von beidem lenkte ihn ein Auto ab, das sich hupend seinen Weg durch die Straße erkämpfte. Mit Kennerblick ordnete er den Wagen als Kraftdroschke der Firma Dürkopp ein. Automobile waren seine Leidenschaft, er kannte fast alle Hersteller und Marken, die Leistungen und technischen Merkmale der Fahrzeuge. Sein größter Traum war es, einmal selbst so eine Kraftmaschine zu steuern.
Was ihn auf den Gedanken brachte, die Elektrische zur Avus zu nehmen. Dort konnte man manchmal die Männer antreffen, die auf der Übungsstrecke ihre Fahrzeuge ausprobierten. Schon oft war er mit dem einen oder anderen ins Gespräch gekommen, und einmal hatten sie ihm sogar erlaubt, sie mit auf die Strecke zu begleiten.
Ja, das würde diesem beschissenen Tag doch noch etwas Glanz verleihen.
Die Elektrische hielt an der Invalidenstraße. Geld hatte er nicht für einen Fahrschein, aber er war flink und geschickt, und bis der Schaffner ihn bemerkt hatte, war er schon bis zum Tiergarten gekommen. Hier musste er allerdings etwas sehr hurtig aussteigen. Vor der Schimpftirade des Schaffners verschloss er seine Ohren.
Allerdings brachte sie Fritz zu Bewusstsein, dass er nichts weiter als die Kleider auf seinem Leib besaß und dass er unter diesen Kleidern einen ausgesprochen knurrenden Magen barg.
Der Duft gebratener Würste verstärkte dieses Gefühl. Er setzte sich also auf eine Bank unter den Bäumen und sann über seine Zukunft nach. Die fernere war klar - er musste weg von hier. Wohin auch immer. Die nähere wurde bestimmt durch seine körperlichen Bedürfnisse: etwas zu essen, etwas zu trinken und ein Schlafplatz für die Nacht.
Alles das war, wie er sehr gut wusste, mit Geld zu erkaufen.
Geld hatte er nicht. Andere schon.
Geld konnte man in fernerer Zukunft verdienen. In der näheren musste man auf andere Maßnahmen zurückgreifen. Keine, die ihm fremd waren. Fritz war bekannt dafür und stolz darauf, dass er über einige Fingerfertigkeit verfügte.
So über seine Lage vergewissert, stellte Fritz seine Planung um. Die Avus konnte warten, der Tiergarten bot für seine derzeitigen Vorhaben einige Möglichkeiten. Zur abendlichen Stunde flanierten zahlreiche Müßiggänger unter den Bäumen des Parks entlang. Mütter mit ihren Kindern waren nicht von Interesse, Passanten mit Hunden auch nicht. Diese Kläffer waren verräterische Geschöpfe. Alte Herren waren schon mehr sein Ziel, aber auch junge verliebte Pärchen. Die dachten meist an überhaupt nichts anderes als an ihre Verliebtheit.
Es dauerte auch nicht lange, bis er ein passendes Paar erspäht hatte. Sie war eine Hübsche, groß und schlank, und unter ihrem rosafarbenen Hut lugten schimmernd braune Locken hervor. Das Kleid, ebenfalls rosa, schimmerte auch, es war wohl Seide und schmiegte sich elegant um ihre Hüften. Wie anders als die aufgeputzten grellen Fummel, die seine Schwestern trugen, wenn sie auf Männerfang gingen. Der Herr trug einen hellen Anzug und einen weißen Hut. Die spitzen Schuhe glänzten frisch gewienert, ein goldener Ring blitzte an seiner Hand auf. Schnieke!
Und noch mehr, die hintere Hosentasche beulte eine Geldbörse aus. Sie blieben an einem Brunnen stehen, und die Hübsche kicherte.
Fritz erhob sich und schlenderte näher. Eine Zeitung lag achtlos fortgeworfen am Wegesrand, er bückte sich danach und hob sie auf. Der feine Pinkel schlang der Dame den Arm um die Tallje, aber sie schubste ihn weg. Noch immer kichernd. Das schien der als Einladung zu verstehen und packte fester zu. Sie wand sich ein bisschen, dann sah sie über die Schulter zu ihm, Fritz hin. Er versuchte, sich den Anschein zu geben, tief in die Zeitungslektüre versunken zu sein. Doch vorsichtig schielte er zu ihr hoch. Und erhaschte ein Augenzwinkern.
Überrascht blickte er auf.
Sie ließ sich jetzt richtig drücken, drehte den Kopf zu dem Mann hin und machte ein Kussmäulchen. Dabei stahl sich ihre Hand unter seine Jacke und hob sie ein wenig an. Genau da, wo die dicke Geldbörse steckte.
Entweder sie kreischte gleich: »Dieb!«, oder sie suchte einen Komplizen. Er streifte dicht an ihnen vorbei, sie ließ sich abknutschen, er zog flugs die Börse und versenkte sie in seinem Hemd. Dann ging er beschwingten Schrittes weiter.
Ein Aufheulen aus männlicher Kehle ließ ihn zusammenzucken. Er schlüpfte hinter einen Baumstamm. Doch nicht Empörung ob des Raubes hatte das Heulen verursacht, sondern ein derber Tritt mit den hochhackigen Schuhen auf die spitzen Treter ließ den feinen Herrn auf einem Bein hüpfen. Das Frollein maß ihn hochmütig und gab ihm wohl auch noch mit Worten zu verstehen, was sie von seiner Schmuserei hielt.
Fritz sah zu, dass er Land gewann.
An einer stillen Ecke setzte er sich ins Gras und begutachtete seine Beute. Fast hundert Mark in Scheinen, einiges Münzgeld, eine Fahrkarte nach Magdeburg.
Das war ein Zeichen des Schicksals, oder?
Jetzt musste er nur noch aufpassen, dass ihm keiner das Geld klaute. Am besten begab er sich zum Bahnhof. Dort würden ihm die Diakonissen von der Bahnhofsmission sicher einen Schlafplatz zuweisen. Aber als Allererstes würde er sich eine Bratwurst kaufen. Und ein Bier bei Aschinger an der Bierquelle!
Fritz, siebzehn Jahre alt, befand sich auf dem Weg ins Glück.
4. NACHTZUG NACH PARIS
I'm a rambler, I'm a gambler, I'm a long way from home.
And if you don't like me, then leave me alone.
I'll eat when I'm hungry, I'll drink when I'm dry,
If the moonshine don't kill me, I'll live 'til I die.
Traditional
Den rechten Arm anheben«, sagte Hans, und Mac folgte seiner Anweisung geduldig. Mit mehreren Stecknadeln zwischen den Lippen zupfte Hans an dem Tweedjackett herum und knurrte dabei leise vor sich hin. Auf dem Bett lagen bereits drei Hosen, eine Weste und vier Hemden, und zwei weitere Jacketts, davon eines aus feinstem schwarzem Wolltuch, hingen auf Drahtbügeln am Schrank. Fast faltenfrei hatten die Sachen den Transport im Seesack überstanden und mussten jetzt noch ein klein wenig an seine hagere Figur angepasst werden. Der Vorbesitzer war ein Mann von hohem Qualitätsanspruch gewesen, stellte Mac fest. Und er würde inzwischen vermutlich mit großem Bedauern in seinen inhaltslosen Schrankkoffer blicken. Mac fragte nicht, auf welche Weise Hans ihn geleert hatte. Aber er musste schon auf dem Dampfer weit mehr an die Zukunft gedacht haben als er selbst. Eine passende Garderobe gehörte dazu.
Seit einer Woche waren sie in Paris, hatten eine billige kleine Pension gefunden und sich eingerichtet. Die Fahrt von Marseille die Rhône entlang hatte Macs Lebensgeister so langsam wieder geweckt. Das sommerlich grüne Land mit seinen alten Dörfern, den Kirchen und kleinen Châteaus war ein lindernder Anblick nach den Jahren staubig grauer, sonnenverbrannter Gebiete, in denen es tagtäglich ums Überleben ging. Das Essen in den Gasthäusern schmeckte ihm wieder, der Wein, abends unter dem Sternenhimmel genossen, schenkte ihm erholsamen Schlaf. In Paris angekommen, hatte er wieder so viel Energie, dass er sich um seine Geldangelegenheiten kümmern konnte. Es war kein Vermögen, das nun auf seinem Konto lag, aber es reichte, um ein paar Monate bescheiden zu überleben. Es reichte auch für das Startgeld. Denn der Köder hatte schließlich gewirkt, er hatte angebissen und sich - mit Hans als seinem Beifahrer - für die Rallye angemeldet. Es mochte sein, dass weit stärkere Fahrzeuge und weit bessere Fahrer seine Konkurrenz waren, aber ihrer beider Vorteil war, dass sie die Strecke zwischen Paris und Berlin kannten. Und er selbst war, und hier war keine falsche Bescheidenheit vonnöten, ein Meister der Motorenkunde. Seinen Ford konnte er mit verbundenen Augen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Er spürte unter seinen Fingern jedes Schräubchen, jeden Flansch, jedes Kabel, wusste, wann sie nachgezogen, befestigt oder geschmiert werden mussten. Es kam bei einer Rallye - anders als bei einem Rennen - nicht auf die Geschwindigkeit an, sondern auf die Ausdauer und die Zuverlässigkeit von Automobil und Fahrer. Wobei - auch hier hatte er seine Kunst eingesetzt - es ihm gelungen war, noch ein paar Pferdestärken mehr aus dem Motor hervorzulocken.
»Bist du bald fertig mit deiner Flickschusterei?«, fragte Mac, als ihm langsam der erhobene Arm schwer wurde.
»Gleich. Da, so, jetzt haben wir es. Mister MacAlan, Sie sind gerüstet für unsere gesellschaftlichen Auftritte.«
»Auf die ich mich besonders freue«, murrte Mac.
»Schöne Frauen, Champagner, erlesenes Essen, komfortable Hotelzimmer.«
»Geschniegelte Leute, dröge Reden, Paparazzi.«
Er nahm die Zeitung auf und blätterte sie durch. Noch immer herrschte der zermürbende Krieg in Marokko. Franzosen und Spanier gingen inzwischen gemeinsam gegen die Rif-Kabylen vor. In Paris war ein Leopard aus dem Zoologischen Garten entwichen, und ein Großaufgebot von Freizeitjägern hatte des Nachts versucht, seiner habhaft zu werden. Dabei waren etliche Jäger zu Schaden gekommen, der Leopard wurde nicht gesehen. Mac schüttelte den Kopf, nur mäßig belustigt. Weder in Marokko noch im Bois de Boulogne waren die Franzosen erfolgreich.
Die anderen Nachrichten überflog er auch, die Wirtschaftsseite hätte er beinahe überblättert, wäre ihm nicht ein kleiner Hinweis ins Auge gefallen.
»Hast du gesehen, dass die Amerikaner in Berlin-Moabit ein Ford-Werk gegründet haben?«
»Ford? In Berlin? Ich dachte, ausländische Fahrzeuge dürfen nicht eingeführt werden.«
»Sie bauen sie aber hier - damit werden sie das Embargo umgehen. Clever.«
»Wir sollten für ein paar Tage nach Berlin reisen, Mac. Könnte doch für dich von Interesse sein.«
Mac seufzte.
Der Entschluss, an der Rallye teilzunehmen, war ihm doch schwergefallen. Seine Lethargie abzuschütteln hatte ihn jeden Morgen erneut beinahe übermenschliche Anstrengung gekostet, aber inzwischen fühlte er sich deutlich tatkräftiger. Natürlich hatte Hans recht, es könnten sich Möglichkeiten in Berlin ergeben. Ab Januar des nächsten Jahres sollte am Westhafen in Moabit die Ford-Herstellung aufgenommen werden. Die vor fünf Jahren erlassene Einfuhrsperre für ausländische Fahrzeuge hatte man gerade am siebzehnten August aufgehoben, und so würde die Tin Lizzy aus den importierten Bausätzen nun auch an der Spree am laufenden Band montiert.
Vielleicht war es wirklich nicht verkehrt, für einige Tage die Hauptstadt zu besuchen und mit den Herren der Ford- Werke in Kontakt zu treten. Sie hatten ja sonst nichts vor.
Zwei Tage später nahmen sie den Zug, der sie über viele langweilige Stunden hinweg nach Berlin brachte. In einer nicht eben noblen Pension fanden sie Unterkunft, und Mac gelang es, schon am nächsten Nachmittag einen Termin bei der Geschäftsführung der Ford-Leute zu erhalten.
Macs britischer Akzent störte die Herren nicht, seine technischen Kenntnisse überzeugten sie, seine Zeugnisse weniger. Aber Mac hatte wieder Kampfgeist entwickelt. Die Wirren des Krieges, der lange Aufenthalt in Marokko, seine Verletzungen durch den Giftgaseinsatz - das brachte er als Begründung dafür vor, dass seine Papiere nicht in der rechten Ordnung waren. Und als er von seiner Teilnahme an der Rallye sprach, begannen die Augen des Akquisitionsmanagers zu leuchten.
Wenn er einen guten Platz, gar einen strafpunktfreien Verlauf mit seinem Modell T erzielen würde, stünden ihm im Berliner Werk alle Türen offen. Zeugnisse hin, Zeugnisse her.
Das Gespräch mit den Amerikanern hatte Mac merklich aufgebaut.
Tags darauf befanden sie sich wieder auf dem Rückweg nach Paris. Sie hatten dazu diesmal zwei Plätze im Nachtzug reserviert. Die Alternative wäre gewesen, in Köln in einem Hotel zu übernachten und am nächsten Tag weiter nach Paris zu fahren. So aber würde die Bahnreise von Berlin bis in die französische Hauptstadt mit allen Zwischenhalten nur gut sechzehn Stunden dauern. Die ersten sieben davon fuhr der Zug durch die Nacht.
Das Zweite-Klasse-Abteil bot Mac und Hans zwei schmale, übereinanderliegende Betten, die tagsüber zu einer Sitzbank zusammengeklappt waren. Sie legten ihre Taschen auf den Polstern ab und schlossen die Tür hinter sich. Mac schob das Fenster bis zur Hälfte hinunter, um die stickige Wärme entweichen zu lassen, und schaute hinaus. Bis ihre Fahrt beginnen würde, war noch eine halbe Stunde Zeit. Auf dem Perron ging es lebhaft zu, Reisende eilten zum Schnellzug nach Wien auf dem Nachbargleis, Gepäckträger kämpften sich mit Koffern und Hutschachteln ab, ein Schaffner ließ seine Trillerpfeife erklingen. Mac schloss hastig das Fenster, denn Rußwolken entströmten der mächtigen Dampflok, die roten Pleuelstangen nahmen ihre Arbeit auf, und die Waggons rollten langsam aus der Halle.
»Das ist schon eine bemerkenswerte Demonstration großer Kraft«, sagte Hans leise. »Eintausendzweihundert Pferdestärken. «
»Aber ein Auto ist weit flexibler. Die Zukunft wird zeigen, ob Kraft oder Wendigkeit siegt.«
Eine Dame in einem hellen Kostüm, einen rundlichen Herrn im Schlepptau, kam mit eiligen Trippelschritten angelaufen, ein behäbiger Gepäckträger mit einem Kofferberg folgte ihnen. Der Herr fuhr ihn ungehalten an, die Dame erklomm die Trittstufen des Waggons. Zwei ältere Damen führten je zwei flauschige weiße Pudel an der Leine, die vor dem Stahlkoloss offensichtlich eine Höllenangst hatten. Heulend und kläffend standen sie vor der Tür und mussten von dem unwilligen Schaffner einzeln hineingetragen werden.
Mac wandte sich von der Szenerie ab und räumte seine Tasche aus.
»Oben oder unten?«
Hans zog eine Münze aus der Börse.
»Kopf oder Zahl?«
Kopf gewann, und Mac nickte zufrieden. Die untere Koje war ihm lieber.
Auf dem Gang war Gepolter zu hören, Türen klappten, die Trillerpfeife ertönte, und mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Langsam, dann immer schneller zog das Bahnhofsinnere an ihnen vorbei, öffnete sich die Halle zu den Gleisanlagen unter freiem Himmel, glitten Häuser und Alleen an ihnen vorbei. Die Dämmerung war herabgesunken, Straßenlaternen leuchteten, Scheinwerfer von Autos huschten vorüber, hinter Fenstern ging das Licht an.
»Gehen wir in den Speisewagen«, schlug Mac vor.
»Geh alleine, ich hab mir Brote eingepackt.«
»Mensch, Hans ...«
»Es schickt sich nicht, dass ich mit Ihnen speise, Sir.«
Mac rollte mit den Augen. Aber Hans hatte recht. Er war Alasdair MacAlan, Hans sein Diener. Zumindest in der Öffentlichkeit.
Der Speisewagen überraschte ihn mit seiner luxuriösen Ausstattung. Weiß gedeckte Tische, an der einen Waggonseite für vier, an der anderen für zwei Personen, warteten auf die Gäste. Einige hatten sich schon eingefunden, und Mac war froh, dass er aus seinem kleinen Fundus von Bekleidung einen präsentablen Nachmittagsanzug gewählt hatte. Ein Kellner wies ihm einen Platz in Fahrtrichtung zu und reichte ihm die Karte. Angeboten wurde ihm darauf ein fünfgängiges Menü, doch auf Rindfleischbrühe, Forelle, Roastbeef, Wildschwein, Kompott und Käseplatte hatte er keinen Appetit. Der Schlaf während der Zugfahrt würde sowieso nicht besonders tief sein, mit einem schweren Essen wollte er seinen Magen nicht belasten. Zudem schreckte ihn das Brimborium, mit dem die Speisen serviert wurden. Aber auf der zweiten Seite bot man Kleingerichte an, und er bestellte sich eine Käseplatte mit Brot und Butter und dazu ein Glas Bier.
Immer mehr Reisende betraten den Speisewagen, und an dem Tisch vor ihm nahmen die junge Dame in dem hellen Kostüm und ihr rundlicher Begleiter Platz. Dessen von feinem Wollstoff bedeckten Rücken konnte Mac offen betrachten, das Gesicht der Frau jedoch heimlich bewundern. Sie hatte eine zarte, helle Haut, sodass die rotgoldenen Locken, die unter ihrem Hut hervorquollen, sicher ihre natürliche Haarfarbe zeigten. Ihre Augen hatte sie irgendwie betont, wie Frauen das eben so machten, und sie wirkten dunkel und von Trauer umschattet. Ihre vollen Lippen schimmerten im Rot reifer Äpfel. Eben studierte sie mit gesenkten Wimpern die Maniküre.
Der Kellner servierte Mac das Bier und stellte Brotkorb und Butterfässchen auf den Tisch. Dann nahm er die Bestellung der beiden Herrschaften auf, die sich für die fünf Gänge entschieden hatten. Danach vertieften sich die beiden in ein Gespräch, das Mac unwillkürlich die Ohren spitzen ließ.
»Ich finde, wir sollten das großzügige Angebot annehmen, Ruidi. Warum nicht? Gute Reifen kosten eine Menge Geld.«
Die Stimme der jungen Dame klang sanft, ein Hauch von Akzent lag darin, möglicherweise stammte sie aus der Schweiz.
»Ich weiß nicht, Liebes. Künstlicher Kautschuk hat keinen guten Ruf. Nicht elastisch genug, sagt man.«
»Ja, aber Herr Thalheimer hat uns doch versichert, dass sie sehr robust sind und praktisch nie kaputt gehen. Und du weißt doch, wie lästig das Radwechseln ist.«
»Das ist natürlich für dich ein Argument.«
»Ruidi, du machst dir auch nicht gerne die Finger schmutzig. Lass es uns einfach versuchen. Wir können unsere anderen Reifen einfach mit dem Gepäck zu den Haltepunkten bringen lassen und, wenn nötig, dort aufziehen.«
»Das ist gegen das Reglement, Doro.«
»Ach was, Reglement. Das ist doch eine Juxfahrt, das hast du selbst gesagt.«
Der Käseteller wurde vor Mac abgestellt, und er ergriff ein Brötchen, um es aufzuschneiden. Das Paar vor ihm schien offenbar auch an der Rallye teilnehmen zu wollen, wenngleich wohl ohne großen Ehrgeiz. Eine Juxfahrt. Nun ja, auf manchen Strecken würde ihnen vermutlich das Lachen vergehen - durch die Eifel und durch das Bergische Land waren die Straßen recht fordernd. Viel bemerkenswerter aber erschien ihm die Tatsache, dass der Reifenfabrikant Thalheimer offenbar großzügig seine Produkte verschenkte. Eine Werbemaßnahme für seine Reifen aus Synthesekautschuk? Warum nicht? Alle Hersteller, ob für Automobile, Zündkerzen, elektrische Beleuchtung oder Schmieröl warben mit den Erfolgen ihrer Produkte bei Rennen und Rallyes, warum nicht auch ein Reifenhersteller?
Die junge Dame widmete sich nun der Vorspeise, und als Mac sein Bier an die Lippen führte, sah sie plötzlich auf. Sie hatte dunkle, wunderschöne Augen, und ihr Blick berührte ihn seltsam. Langsam hob er sein Glas zu einem Salut. Ihre Wimpern flatterten leicht, dann widmete sie sich wieder ihrer Suppe.
Mac lächelte in sich hinein. So lange schon hatte er nicht mehr das Flirtspiel mit einer schönen Frau begonnen. Es musste ein weiteres Zeichen seiner Genesung sein, dass er dieses sanfte Ziehen wieder verspürte.
Das Essen schmeckte auch besser als seit Langem, der Camembert war reif und würzig, der Gruyère mild und nussig, das Brot knusprig und das Bier kühl.
Noch ein weiteres Mal fühlte er die traurig schönen Augen auf sich ruhen und hielt ihren Blick für eine kleine Weile gefangen. Dann aber beendete er sein Mahl mit einem Kaffee und zog sich mit einem höflichen Gruß zurück.
Doro hatte er vermutlich nicht zum letzten Mal gesehen.
Die Rallye gewann immer neue erfreuliche Aspekte.
Hans hatte das Abteil schon umgebaut, und Mac berichtete ihm, während er seine Kleider gegen den Pyjama tauschte, von der Unterhaltung, die er belauscht hatte.
»Kann ja sein, dass die Chemiker inzwischen etwas an dem Kunstkautschuk getan haben, aber ich würde ein solches Angebot nicht annehmen«, meinte Hans. »Diese Dunlops mit dem Cordmaterial machen mir einen ganz guten Eindruck. Ich habe keine Lust, nach jeder Schotterstrecke die Reifen zu flicken.«
»Wir werden ja sehen, wie sich die Dinger halten.«
Hans gähnte und fragte: »Was dagegen, wenn ich jetzt das Licht ausmache?«
Mac verneinte und streckte sich auf seinem Lager aus. Die Vorhänge vor dem Fenster ließen sie beide offen, und gelegentlich flackerte ein Licht von einer verlassenen Haltestelle hinein. Das monotone Geräusch der Räder auf den Gleisen, das leichte Ruckeln und Schwanken des Wagens störte Mac nicht. Er hatte gelernt zu schlafen, wann immer es möglich war. Kurz bevor er in den Schlummer sank, dachte er an die Chancen, die sich für ihn auftaten. Alles in allem war der Ford T ein Glücksfall. Er hatte ihn von Beginn an selbst gepflegt und gewissenhaft gewartet. Oft war er nicht gefahren worden, Abd el Krim hatte häufiger den Renault und den Turcat- Mery benutzt, um über die staubigen Pisten Marokkos zu reisen. Staubig, voller Geröll, sonnendurchglüht, die Häuser einfache Hütten aus Lehm, schmutzig weiß getüncht, mit offenen Fensterluken. Oben auf den flachen Dächern folgten ihnen die Blicke der verschleierten Frauen. Dann das leere Land, durch das sich die Straße wand, verdorrt das Gras, hier ein ausgebrannter Lastkraftwagen, dort verkohlte Wegweiser.
»Wir müssen hier abbiegen«, sagte Doktor Trautmann, und so nahmen sie die gepflasterte Straße. Vom Feuer geschwärzte, zerschossene Bäume, aufgerissene Erde, Krater von Granaten und Bomben, wohin man schaute. Dann ein Posten, ein graues Zelt. Doktor Trautmann wies sich aus. Man winkte sie durch. Der Arzt verließ das Auto. Er selbst blieb sitzen, wartete. In der Ferne dröhnten die Geschütze, ein Verband Flugzeuge tauchte am Himmel auf.
Ein Pferdegespann wurde von einem zerlumpten Mann herangeführt.
Er sah, ungläubig zunächst, dann mit wachsendem Grauen auf die Last, die der Leiterwagen geladen hatte.
Männer, blutend, zerrissenes Fleisch, abgetrennte Gliedmaßen.
Sanitäter traten an den Wagen, hoben die Verwundeten auf Tragen.
»Du, steig aus und hilf uns«, sagte einer.
Er folgte ihm, und sein Magen verkrampfte sich. Jemand zog einen Leib von der Ladefläche, ein anderer nickte.
»Lebt noch.«
Als der Mann auf der Trage lag, sah er, dass ihm das halbe Gesicht fehlte.
Und dann begannen die Schreie ...
Mac erwachte zitternd, die Hände um die Decke gekrallt, die Kiefer zusammengepresst. Das Atmen wollte nicht gelingen, zentnerschwer lag ihm ein Gewicht auf der Brust. Er keuchte.
Die Räder unter ihm kreischten über eine Weiche.
Langsam, ganz mühselig löste er seine verkrampften Muskeln. Gequält sog er die Luft ein, zwang sich dazu, weiter zu atmen.
Als das einigermaßen wieder ging, setzte er sich auf und rieb sich das Gesicht. Über ihm im Bett schnarchte Hans leise.
Lautlos erhob er sich, schob die Abteiltür auf und trat auf den Gang. Er brauchte Bewegung, Raum, Luft. Wie ein alter Mann schleppte er sich zum Waggonende, öffnete die Tür, überquerte den zugigen Bereich zum nächsten Wagen. D- Zug - Durchgangszug - nannten sie es, weil man ihn über die ganze Länge hinweg durchwandern konnte. Am Speisewagen, jetzt dunkel und leer, kehrte er um. Ein müder Schaffner fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Er antwortete, er sei auf der Suche nach der Toilette.
Dort wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser und starrte den Mann mit den eingefallenen Wangen im Spiegel an. Der Bartschatten lag über seinem Kinn, und seine Augen wirkten wie eingesunken.
Panikträume.
Sie kamen wieder und wieder.
Den Rest der Nacht würde er wach bleiben.
Langsam ging er durch den Gang zurück zu seinem Abteil.
Und stieß auf eine weiße Gestalt, die auf einem der Klappsitze hockte und in die Nacht hinausstarrte. Kurze rote Locken reichten ihr bis zum Hals, das Batisthemd hatte nur dünne Träger, und unter dem feinen Stoff zeichnete sich eine wohlgeformte Figur ab.
Das Wiedersehen mit der traurigen Schönen kam eher, als er gedacht hatte.
Sie bemerkte ihn wohl, drehte sich erschrocken um und hielt die Hand an die Lippen. Dann ließ sie sie sinken und sagte: »Oh. Sie?«
Im Pyjama mochte eine höfliche Verbeugung albern wirken. Er deutete nur ein Nicken an und wollte an ihr vorbeigehen.
»Sie können auch nicht schlafen?«, murmelte sie und sah zu ihm hoch. Die Schminke um ihre Augen war verschwunden, und so sahen sie noch verletzlicher und trauriger aus. Er blieb stehen.
»Es gibt bessere Nächte«, antwortete er leise.
»Ja, die gibt es. Und die dritte Stunde weckt trübe Gedanken. «
»Und ruhelose Geister.«
»Doro, Doro Obeli.«
»Alasdair MacAlan.«
»Sie reisen alleine?«
»Mit meinem Begleiter, Leibdiener, Beifahrer.«
»Mich begleitet mein Bruder, Ruidi Obeli. Er saß mit dem Rücken zu Ihnen.«
Konversation im Nachtzug in Nachtkleidung auf dem kühlen Gang - das Ungewöhnliche begann Mac zu reizen. Auch die schöne Doro - so appetitlich in ihrem dünnen Hemd, dessen Träger über ihre runde Schulter gerutscht war.
»Hat Ihnen das Menü gemundet?«
»Durchaus, aber Sie waren klüger. Zwei Gänge hätten gereicht. « Dann lächelte sie. »Aber der Rotwein schmeckte mir. Wohin geht Ihre Reise?«
»Nach Köln und von dort nach Paris.«
»So wie die unsere.« Sie erhob sich und schaute in die vorbeifliegende Nacht. »Wo mögen wir hier sein?«
»Keine Ahnung. Wir werden darauf warten müssen, dass der Zug durch einen Bahnhof fährt, und versuchen, das Schild zu lesen. Ist es wichtig, wo wir uns befinden?«
»Nein, nein, eigentlich nicht.« Ihre Hand legte sich auf seinen Arm, und sie blickte ihn mit seltsamer Eindringlichkeit an. »Wer sind Ihre ruhelosen Geister, Mister MacAlan?«, flüsterte sie. »Warum haben Sie sie aus dem Schlaf gerissen?«
Es war die seltsame Vertrautheit, die ihn umfing, die Geräusche des Zuges, die Stille in dem Waggon, das kleine gelbliche Licht der Notbeleuchtung an der Decke, das kaum reichte, ihr Mienenspiel zu erkennen. Doch es schimmerte in ihren großen, traurigen Augen, und, Gott, was vergab er sich denn, wenn er ihr die Wahrheit sagte?
»Die Geister der Toten und Verwundeten«, murmelte er, und auf ihren bloßen Armen erschien eine Gänsehaut.
»Soldat?«
Er lehnte sich an das Fenster und sah zu ihr hinab.
»Ihre trüben Gedanken?«
»Galten dem Mann, der mich betrogen und verlassen hat.« Sie seufzte. »Mein Bruder glaubt, dass Reisen die Wunden heilt.«
»Abstand gewinnen kann helfen, aber Geister und Gedanken können sich beharrlich anklammern.«
»Verscheuchen Sie sie, Mister«, sagte Doro und stand auf. Nahe war sie ihm, und ein leichter Duft von Vanille und Patchouli umgab sie. Ihre Brüste drückten sich an seinen Arm, und er zog sie an sich. Ihre Lippen waren warm und weich und vertrieben die Geister. Weckten jedoch andere, beinahe vergessene. Vorsichtig schob er sie ein Stückchen von sich.
»Verführerisch, Doro. Unendlich verführerisch. Aber in meinem Abteil schnarcht Hans und in deinem vermutlich dein Bruder.«
»Leider.« Sie schmiegte sich wieder an ihn, und er sehnte sich nach warmem weichem Fleisch, nach seidiger Haut und dunklen, lockenden Tiefen. Es war lange her ...
»Nicht, Doro. Nicht jetzt und nicht hier. Aber wir werden uns wiedersehen. In Paris. Oder an jedem beliebigen Ort zwischen Paris und Berlin.«
Ihr Kopf zuckte hoch.
»Du nimmst an der Rallye teil?«
»Ja.«
»Wie wunderbar. Ja, wir werden uns wiedersehen.«
»... und darum gehen wir nun beide wieder in unsere Betten. «
»Und träumen ...«
Sie küsste ihn noch einmal, wand sich dann geschickt aus seinen Armen und schob die Abteiltür auf.
Mac tat es bei seinem Abteil und legte sich wieder auf sein Bett. Die nächtliche Begegnung hatte tatsächlich die ruhelosen Geister gebannt. Er dachte an den duftenden Körper in seinem Arm und schlief darüber ein.
5. ZUKUNFTSPLÄNE
Ich fliege durch die Welt,
und wo mir was gefällt,
geb ich mit Hand und Mund
gern meinen Beifall kund.
Otto Antonius
Geraldine kam in mein Zimmer gestürmt und warf sich auf das Bett.
»Berte ist verrückt geworden.«
Ich sah von dem zerfledderten Hauswirtschaftsbuch auf, das ich nach Themen für die Frauenkolumne durchforstet hatte.
»Berte ist eine überaus vernünftige Frau. Wieso sollte sie plötzlich verrückt werden?«
»Sie hat unserem Chef die Kündigung auf den Tisch geschmettert, weil er sie nicht über diese blöde Rallye berichten lassen will.«
»Das ist nicht verrückt. Du weißt doch, was der Koch und
- entschuldige - auch dein Vater ihr ständig für Schwierigkeiten machen.« Das Haus, in dem ich seit fünf Jahren ein Zimmer bewohnte, gehörte Jürgen du Plessis und seiner Gattin Lioba. Es blieb nicht aus, dass ich die permanenten Sticheleien des Feuilletonisten gegen die Redakteurin des Frauenteils mit anhören musste. Ich hatte mir angewöhnt, dazu zu schweigen, um den Frieden zu wahren, aber oft kochte der Ärger in mir hoch. Ich hatte es Berte zu verdanken, dass ich die Stelle bei der Zeitschrift erhalten hatte.
»Ja, Papa hat wieder rumgegiftet. Aber was passiert mit uns, wenn sie die Zeitung verlässt?«
»Dann gibt es entweder keine Berichte mehr über die neueste Mode, die Frauenbildung und die Haushaltsführung, oder es gibt eine neue Redakteurin. Bewirb dich doch, Gerry.«
»Um Himmels willen. Ich bin Fotografin, das Schreiben überlass ich anderen. Aber du ...«
Einen Moment schwankte meine Loyalität Berte gegenüber. Es wäre eine Chance, endlich über die Fleckentferner und die Bügelhilfen hinauszukommen. Aber ich würde trotz allem in der Redaktion festsitzen und lediglich Korrespondentenberichte auswerten.
»Nein, ich habe keinen Ehrgeiz, ihre Stelle zu übernehmen. Nicht beim Bunten Blatt.«
»Wenn du es nicht machst, werden sie uns nach kurzer Zeit auch raussetzen. Und du kannst wieder als Zimmermädchen arbeiten.«
Das war allerdings auch eine ernüchternde Aussicht.
Ohne Berte würde es tatsächlich hart für mich werden. Oft genug hatte ich die Kämpfe zwischen ihr und dem Herausgeber Koch mitverfolgt, der ihre Beiträge entweder nicht drucken wollte oder sie zu zensieren versuchte.
»Ich für meinen Teil werde mich mal umhören, ob es bei der Berliner Illustrirten nicht noch ein paar Aufträge für mich gibt«, meinte Geraldine und streckte ihre langen, seidenbestrumpften Beine aus. »Oder ganz woanders. Es ist vielleicht an der Zeit, dieses heimelige Haus zu verlassen.«
Sie stand auf und tänzelte aus der Tür.
Mhm.
War es tatsächlich an der Zeit für Veränderungen?
Copyright © 2014 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Mac folgte dem knorrigen Mann zum Niedergang, und als sie den Laderaum erreicht hatten, zitterten ihm die Knie. Mochten die Wochen auf See auch erholsam gewesen sein, seine alte Form hatte er noch immer nicht wiedererlangt. Hans wuchtete ihrer beider Gepäck hinten in den Wagen und öffnete ihm die Tür auf der Fahrerseite.
Nur vier weitere Fahrzeuge warteten darauf, über die Stahlplanken an den Kai zu rollen, die Chauffeure in ihren Uniformen lehnten an den Kotflügeln und warteten, dass der Lademeister ihnen das Zeichen gab, die Motoren zu starten. Mac erkannte einen schimmernden Benz, einen Maybach und einen schnittigen Bugatti. Herrenfahrzeuge. Sein Ford war dagegen ein Lasttier. Der Lack war zerkratzt und staubig, aber als er die Zündung einschaltete, schnurrte der Motor, ohne zu zögern, los. Anders als bei dem Bugatti, dessen Lenker sich an der Kurbel abmühen musste.
Hans rückte neben ihn auf den Sitz, und vorsichtig bewegte Mac das Automobil an Land.
Eine modisch gekleidete Dame warf ihm unter dem weißen Glockenhut einen abschätzigen Blick zu. Mac zuckte innerlich mit den Schultern. Sie hatte ihn von Beginn der Reise an mit ihren glutvollen Augen verfolgt, aber er war nicht an einem Flirt interessiert. Auch der Herr im weißen Leinenanzug musterte Macs Fahrzeug mit unverhohlener Arroganz.
Beide ignorierte er genau wie die Gepäckberge am Kai der Joliette und bahnte sich den Weg zur Straße.
»Sehen wir nach, ob André Letellier noch seine Garage führt«, sagte Hans.
»Tun wir das?«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
Hatte er nicht.
Eine Hupe blökte direkt hinter ihnen. Der Bugatti.
Mac löste die Bremse, ließ den Wagen auf die Straße am Kai rollen und holperte über die Schienen der Elektrischen. Unter der gleißenden Mittagssonne zeichnete sich die Silhouette der Kathedrale von Marseille ab, die sich über dem alten Hafen erhob. Sie kamen nur langsam voran, Fußgänger bevölkerten die Straße weit mehr als Automobile. Hoch beladene Pferdegespanne trotteten vor ihnen her, ein mutiger Reiter versuchte sie zu überholen. Unter den Markisen der mehrstöckigen Gebäude saßen Müßiggänger bei Wein oder Kaffee, wurden Waren ausgestellt, bummelten Damen an den Schaufenstern entlang.
»Am alten Hafen, irgendwo links«, sagte Hans.
»Ich weiß.«
Die Hitze trieb ihnen den Schweiß auf die Stirn, und Mac war froh, als sie in die schmalen Gassen des Panier einbiegen konnten. Ja, er erinnerte sich an die Werkstatt, in der er vor über fünf Jahren eine Weile gearbeitet hatte. Er erkannte die Häuser wieder, uralte Gebäude aus einem anderen Jahrhundert, doch belebt und von reger Geschäftigkeit gezeichnet. Wäsche hing zwischen den Fenstern, es flatterten Hosen, Hemden, Laken und Kittel in der leichten Brise, die vom Meer her wehte. Körbe und Säcke standen vor den Eingängen, hier und da döste ein alter Hund im Schatten. Vor einer Toreinfahrt, über der ein rostiges Schild auf die Garage Letellier verwies, hielt er an.
Hämmern und Klirren klangen aus dem Hinterhof und versicherten ihm, dass hier tatsächlich noch gearbeitet wurde. Mochte der Eingang auch schäbig sein, die zunehmende Menge an Automobilen schien dem Mechaniker ein gutes Geschäft zu sichern.
»Pass du auf das Auto auf«, sagte Mac zu Hans und stieg aus. Er trat in den Hof, in dem es nach Schmieröl und Lack, Gummi und Knoblauch roch. Ein Mann schraubte an einem Chassis herum und sah, als Mac sich räusperte, über die Schulter zu ihm hin. Einen Augenblick stutzte er, dann schob er die Kappe aus der Stirn und wischte sich die ölige Hand an einem Lappen ab.
»Monsieur André Letellier?«
»Der Nämliche. Und Sie? Mon Dieu! Sie? Du? MacAlan?«
»Der Nämliche.«
»Nun, das nenne ich eine Überraschung. Genug von Kameldung und Wüstensand?«
»Mehr als genug.«
»Du siehst mager aus.«
Mac hob die Schultern. Er war abgemagert, und selbst das reichliche Essen auf dem Dampfer hatte nur wenige Spuren hinterlassen.
»Suchst du Arbeit?«
»Vielleicht. Aber erst mal brauche ich einen Platz für meinen Wagen.«
»Aha, einen Wagen besitzt Monsieur.«
»Ford, Modell T.«
Letellier rümpfte die Nase.
»Für ein paar Tage. Wir sind eben erst eingetroffen.«
»Bring ihn rein.«
Mac nickte und sah sich um. Unter einem baufälligen Holzschindeldach standen zwei Fahrzeuge von Planen verhüllt. Daneben schien noch Platz für seinen Wagen zu sein. Er verließ den Hof, um mit Hans und dem Ford zurückzukommen. Letellier strich neugierig um ihn herum, als er ausstieg.
»Zwei Tage umsonst, dann zahlst du Miete.«
»In Ordnung. Wir brauchen eine Unterkunft. In der Nähe.«
»Versuch es bei Henriette Malgres. Hat, nachdem ihr Mann auf See geblieben ist, eine Pension aufgemacht. Drüben, Rue du Refuge.«
Hans hatte bereits ihre Seesäcke aus dem Auto gezogen, und wieder schulterte Mac das schwere Gepäck. Als sie die Gasse erreicht hatten, wollten ihm fast die Beine nachgeben, aber er schaffte es bis zu dem Hauseingang, an dem ein Schild auf die Pension hinwies. Er lehnte sich erschöpft an die Wand, und Hans übernahm es, mit der fetten Madame zu verhandeln. Er trug erst seinen, dann auch Macs Seesack die schmalen Steintreppen hoch. Mac folgte ihm leicht keuchend, und im Zimmer angekommen, ließ er sich mit einem Stöhnen auf das Bett fallen.
»Nicht eben Luxus«, bemerkte Hans.
»Nein, aber es reicht mir.«
»Wir hatten schon schlimmere Quartiere.«
Unter halb geschlossenen Lidern sah Mac sich um. Zwei Eisenbetten mit dünnen Matratzen, fadenscheinigen Laken und grauen Decken, ein Waschgeschirr, ein wackeliger Schrank, vor dem Fenster hölzerne Läden, durch die Streifen von Sonnenlicht auf den zerschrammten Holzboden fielen. Von irgendwoher ertönte Gesang, eine Blechtonne schepperte, eine Frau keifte.
Er schloss die Augen, erschöpft von dem Tagewerk.
Hinter Hans fiel die Tür zu. Er würde sich um alles Mögliche kümmern. Essen vielleicht, Waschwasser, Auskünfte.
Einst war er es gewesen, der all diese Dinge übernommen hatte. Doch seit Monaten schon schien jede Kraft aus ihm herausgekrochen zu sein. Und wann immer er versuchte, sich eine Zukunft vorzustellen, wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit.
»Was kommt, das kommt«, hatte Naima oft gesagt. Auch Naima war Vergangenheit.
Er versank in einen leichten Schlaf, der, als er tiefer hineinsank, von beklemmenden Träumen durchzogen wurde. Die Vergangenheit war weit lebendiger als die Gegenwart oder gar die Zukunft.
»Mac, wach auf!« Hans schüttelte ihn an der Schulter. »Mac,
wir sind in Marseille.«
»Ja. Ja, ist gut.«
»Es ist bald Abend, und, verdammt, ich bin hungrig. Nebenan gibt es eine Brasserie, die uns Madame empfiehlt.«
Mac spannte seine Glieder an und setzte sich auf. Ja, hungrig war er auch, und ein Glas Rotwein würde die Schatten vertreiben. Er goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel und klatschte es sich ins Gesicht. Der Abtritt lag ein Stockwerk tiefer und roch nicht eben frisch, aber auch in der Hinsicht hatten sie schon Schlimmeres erlebt. Die Brasserie hingegen roch nach Gewürzen und Gebratenem, dem allgegenwärtigen Knoblauch und Zigarettenrauch. Unter der Markise fanden sie Platz an einem kleinen runden Tisch. Der Garçon brachte ihnen eine Karaffe Wein und eine mit Wasser, und Mac bestellte die angepriesene Bouillabaisse.
»Hafenwasser«, murrte Hans, als die tiefen Teller mit der sämigen Suppe vor ihnen standen.
»Immerhin voller Fische«, meinte Mac und betrachtete die Platte, auf der sich eine üppige Menge Meeresgetier und Gemüse befand. Das Baguette war knusprig und die Rouille appetitanregend scharf. Sie aßen schweigend, tranken ihren Wein, das Wasser und bestellten sich Kaffee.
»Ich habe ein paar Journale besorgt, Mac. Wir sollten sie morgen durchsehen.«
»Du hast sie doch schon studiert. Was gibt es Neues in der Welt?«
»In Genf hat man beschlossen, die chemischen Waffen zu ächten.«
Mac schnaubte.
»Die Franzosen und die Belgier haben das Ruhrgebiet geräumt. «
»Aha.«
»Hindenburg ist deutscher Reichspräsident.«
»Schön für ihn.«
»L'Auto hat eine Rallye ausgeschrieben.«
»Da werden die Schönen und Reichen sich aber freuen.«
»Sicher. Von Triumph zu Triumph. Vom Arc de Triomphe in Paris zum Brandenburger Tor in Berlin.«
»Keine triumphale Strecke«, sagte Mac.
»Nein, aber eine, die du kennst.«
»Und die ich nicht noch einmal fahren möchte.«
Der Kaffee schmeckte ebenso bitter wie die Erinnerung.
Hans schaute einer jungen Frau mit einem kleinen Hund hinterher, deren Hüften sich verlockend wiegten. Mac folgte seinem Blick. Dass sein Begleiter schwieg, wusste er richtig zu deuten. Hans war ein Meister im Auslegen von Ködern.
2. DAS BUNTE BLATT
Wer schmeißt denn da mit Lehm?
Der sollte sich was schäm!
Der sollte auch was andres nehm,
als ausgerechnet Lehm.
Claire Waldoff
In Berlin herrschte seit Tagen eine brütende Hitze, und in der Redaktionsbesprechung lähmte sie die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Ich hatte meine Kolumne bereits vorgestellt. Wie üblich hatte der Artikel darüber, wie die sparsame Hausfrau ihr Heim geschmackvoll gestaltet, nur das gleichmütige Nicken des Chefredakteurs bewirkt. Im Augenblick dozierte Jürgen du Plessis über seine feuilletonistischen Ergüsse, die die Schlummerneigung des redaktionellen Publikums noch verstärkten. Die Luft im Raum war schwer und drückend. Der Anzeigenleiter neben mir dünstete den Geruch von gebratenen Zwiebeln aus, der Stift roch nach ranziger Pomade und Schweiß, und Geraldine mir gegenüber steuerte einen mehr als aufdringlich ambrosischen Hauch von My Sin zu dem Duftpotpourri bei. Ich sehnte mich nach einem kühlen Luftzug, einem schattigen Plätzchen im Tiergarten, alternativ einem kühlen Cocktail in einer kleinen Gartenlaube. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass diese Tortur erst in ungefähr einer Stunde beendet sein würde. Meine Gedanken umwölkten sich, wie so oft, wenn Langeweile mich packte. Sie schienen in klebriger Dunkelheit versinken zu wollen und machten mich müde. Ich bemerkte, wie ich allmählich auf meinem Stuhl zusammensank, und als mein Bleistift mit einem leisen Klappern zu Boden fiel, riss ich mich schließlich zusammen.
»Denk einfach an etwas Schönes«, hatte mir einst meine Mutter für solche Fälle geraten. Ein guter Rat, der mir schon einige Male geholfen hatte, aber nicht immer leicht umzusetzen war. Vielleicht half mir die Vorstellung davon, was ich nach Feierabend unternehmen konnte. Darum ging ich in Gedanken schon mal meine Garderobe durch. Den rosa Glockenhut mit den kleinen Röschen, den hatte ich erst zweimal getragen. Ja, und dazu das rosafarbene Seidenkleid, so schön leicht und luftig, es umspielte eben die Knie und hatte einen hübschen Ausschnitt. Wie gemacht für einen warmen Abend. Das war doch etwas Schönes, oder nicht? Auch dass ich an diesem Abend mit einem meiner eifrigsten Anbeter verabredet war. Vielleicht konnte ich ihn zu einem Mondscheinbummel am Wannsee überreden. Oder besser nicht. Der junge Mann neigte zu leidenschaftlichen Wallungen. Nein, mit ihm lieber unter Menschen bleiben. Tiergarten, besser im Tiergarten, und da ...
»Det is keen Sommerloch, det is'n Problem«, drang die markige Stimme des Anzeigenleiters in meine Überlegungen.
Problem hörte sich nicht gut an, versprach aber zumindest Abwechslung vom Einerlei. Ich war seit zwei Jahren beim Bunten Blatt und hatte mir mühsam meine eigene Kolumne erkämpft. Mit mir zusammen waren die beiden einzigen anderen weiblichen Mitarbeiter des Blatts - Geraldine, die Fotografin, und Berte, die Redaktionsleiterin - für den Frauen- teil der Zeitschrift zuständig, und es herrschte ständig eine unterschwellige Stimmung, diesen Bereich zu verkleinern oder gar ganz zu streichen. Wenn der Absatz des Blattes zurückging und nicht genug Anzeigen reinkamen, würde man als Erstes uns einsparen.
»Wir müssen mehr Exklusivberichte bringen«, warf der Auslandsredakteur ein. »Die Lage in Marokko spitzt sich zu. Die Korrespondenzbüros liefern keine brisanten Artikel dazu. Man müsste eine Vor-Ort-Berichterstattung bringen. Und meine China-Reportage ...«
»Wen interessieren Marokko und China, Mann?« Eduard Koch, der Herausgeber, fuhr dem armen Kerl wieder einmal über den Mund. »Etwas aus Berlin. Mord, Skandale, Triumphe. Das hält die Leute wach.«
»Schöne Frauen, schöne Kleider auch«, warf Geraldine ein und schob die Fotografien einiger bekannter Schauspielerinnen über den Tisch.
»Wenn sie ermordet werden, in Skandale verwickelt sind oder Triumphe erzielt haben«, grollte Koch.
»Triumphe!«, betonte Berte und wedelte mit einem Magazin. »Hier hätte ich etwas für einen Exklusivbericht.«
»Was haben Sie da schon wieder ausgegraben?«
»L'Auto, die französische Sportzeitung. Lag bei Ernst auf dem Tisch. Ich schätze, er wollte darüber schreiben. Eine Autorallye wird ausgeschrieben. Paris-Berlin.«
»Mhm. Wann?«
»Beginnt am 26. September am Arc de Triomphe und endet am ersten Oktober mit einem Geschwindigkeitsrennen auf der Avus.«
»Bis dahin ist Ernst noch nicht wiederhergestellt«, grummelte der Anzeigenleiter. »War gestern in der Charité. Hab mit dem Arzt gesprochen. Ernst muss froh sein, wenn er irgendwann wieder sprechen kann.«
Der Sportredakteur hatte vor zwei Tagen einen Autounfall gehabt, und so, wie es aussah, waren seine Blessuren mehr als besorgniserregend.
»Ich übernehme die Berichterstattung«, sagte Berte, und ich zuckte zusammen. Das würde gleich wieder eine dieser Schlammschlachten werden, wie sie seit Monaten zwischen dem Herausgeber und ihr tobten.
»Sie bleiben bei Ihrem Weiberkram.« Eduard Koch wandte sich an den Auslandsredakteur. »Sie übernehmen das. Dann können Sie nach Frankreich reisen.«
»Ich? Ich hab keine Ahnung von Automobilen.«
»Ich schon«, sagte Berte. »Und ich habe ein Automobil. Ich könnte die Rallye begleiten. Mit einem Fotografen zusammen können wir wirklich exklusiv berichten.«
»Kommt nicht in die Tüte.«
»Ist aber eine gute Idee«, meinte der Anzeigenleiter. »Könnte ein paar Reifenhersteller und Autohändler zu Anzeigen überreden.«
»Du Plessis, sind Sie bereit, über diese Rallye zu berichten? «
»Mein Gott, Eduard, über stinkende Motoren, schlammige Straßen und imbezile Motorreiter?«
Geraldine kicherte leise, ich verbiss mir jegliche Reaktion. Jürgen du Plessis war Geraldines Vater und von Schöngeistigkeit durchdrungen.
»Vertagen wir den Punkt«, sagte der Herausgeber und wandte sich an den politischen Redakteur.
Der gehörte zu den Wortgewaltigen, und darum angelte ich mir die französische Zeitung. Hausfrauen die neuesten technischen Hilfsmittel oder Omas Geheimtipps zur Fleckentfernung schmackhaft zu machen, war nicht das langfristige Ziel meiner journalistischen Arbeit. Möglicherweise fand ich in dem Blatt einige Anregungen für eine andere Art von Artikeln. Aber ich wurde enttäuscht, es war ein reines Sportblatt, das über Pferderennen, Kraftsport, Radrennen und Fußballspiele berichtete. Allerdings überflog ich kurz den Artikel zur Rallye. Es war ein Amerikaner, ein Mister Frank Tilmann, seines Zeichens ein Ölbaron, der den Wettkampf aus geschrieben hatte. Mein Französisch war nicht so fließend, dass ich die Details zu verstehen in der Lage gewesen wäre, aber das Prinzip war mir klar. Männer wollten mit ihren Maschinen protzen, wie die Wilden über holprige Landstraßen donnern und freilaufendes Geflügel überfahren, um einen triumphalen Sieg zu erringen. Für einen kleinen Augenblick verstand ich Bertes Wunsch, darüber zu schreiben. Es würde eine aufregende Sache sein, direkt vom Geschehen zu berichten. Bei einer so langen Strecke konnte viel passieren. Nicht nur Unfälle, sondern auch Skandale und Triumphe. Wie der Herausgeber es wünschte.
Berte zupfte mir das französische Blatt aus der Hand. Auch sie witterte ihre Chance. Ihre Augen blitzten kampfbereit, als Eduard Koch die Sitzung für beendet erklärte.
»Auf ein Wort noch, Herr Doktor Koch«, begann sie und folgte ihm in sein Büro.
»O je, das wird wieder ein Gerangel«, meinte Geraldine und hakte sich bei mir unter. »Warum muss sie nur immer Streit anfangen?«
»Ist es Streit, wenn man einen Bericht schreiben möchte?«
»Emma, über eine Autorallye. Ich bitte dich.«
»Na ja, sie fährt selbst ein Auto. Wenn es ihr doch Spaß macht? Dein Vater hat ihr so häufig schon Berichterstattungen konterkariert, weißt du. Er gluckt mit dem Koch zusammen und hetzt gegen sie.«
»Er hat seine eigenen Probleme, der Herr vom Feuilleton. Komm, wir machen Schluss für heute.«
Ich stimmte nur zu gerne zu. Ein warmer Sommerabend lockte, und ein neuer Hut wartete darauf, getragen zu werden. Etwas Schönes eben.
Hoffentlich.
3. FRITZ ERGREIFT DIE FLUCHT
Wenn ick am Fensta steh'
und schlach 'ne Scheibe entzwee',
dann setztet Keile
'ne janze Weile.
Un wenn ick's nochmal tu',
krieje ick no' mehr dazu.
Da mach ick mir nüscht draus
und schlach noch eene aus.
Altberliner Kinderreim
Fritz drückte sich das schmuddelige Taschentuch an die blutende Nase und stolperte in den Hinterhof. Der letzte Schlag, den ihm der Freier seiner Schwester verpasst hatte, machte das Maß endgültig voll. Schon am Morgen hatte der Meister ihn verprügelt, angeblich weil er die dreckige Fensterscheibe zerschlagen hatte. Aber das war der Geselle, dieser Schaute. Und nu war Schluss!
Fritz trat noch einmal heftig nach dem Blecheimer, dass es schepperte, damit ihm wenigstens auch noch der Fuß wehtat, und humpelte durch das Tor auf die Straße. Weg von hier. Weg von der feuchten, stinkenden Wohnung, weg von dem ewigen Kohldunst, weg von der ständig keifenden Mutter und den blökenden Blagen, weg von den schmierigen Suffnasen, die sie mit ranschleppte.
Er wanderte zunächst eine Weile ziellos durch die Straßen, in denen die sommerliche Wärme sich gefangen hatte, und grollte stumm vor sich hin. Erst als er einen Hydranten fand, den die Anwohner aufgedreht hatten, um sich mit dem kalten Wasser abzukühlen, dachte er daran, sich das Gesicht zu waschen. Mit dem nassen Taschentuch fuhr er sich über die schmerzende Nase. Vielleicht war sie gebrochen. Aber das würde wohl heilen. Den Schmerz war er gewöhnt, den knurrenden Magen auch. Von beidem lenkte ihn ein Auto ab, das sich hupend seinen Weg durch die Straße erkämpfte. Mit Kennerblick ordnete er den Wagen als Kraftdroschke der Firma Dürkopp ein. Automobile waren seine Leidenschaft, er kannte fast alle Hersteller und Marken, die Leistungen und technischen Merkmale der Fahrzeuge. Sein größter Traum war es, einmal selbst so eine Kraftmaschine zu steuern.
Was ihn auf den Gedanken brachte, die Elektrische zur Avus zu nehmen. Dort konnte man manchmal die Männer antreffen, die auf der Übungsstrecke ihre Fahrzeuge ausprobierten. Schon oft war er mit dem einen oder anderen ins Gespräch gekommen, und einmal hatten sie ihm sogar erlaubt, sie mit auf die Strecke zu begleiten.
Ja, das würde diesem beschissenen Tag doch noch etwas Glanz verleihen.
Die Elektrische hielt an der Invalidenstraße. Geld hatte er nicht für einen Fahrschein, aber er war flink und geschickt, und bis der Schaffner ihn bemerkt hatte, war er schon bis zum Tiergarten gekommen. Hier musste er allerdings etwas sehr hurtig aussteigen. Vor der Schimpftirade des Schaffners verschloss er seine Ohren.
Allerdings brachte sie Fritz zu Bewusstsein, dass er nichts weiter als die Kleider auf seinem Leib besaß und dass er unter diesen Kleidern einen ausgesprochen knurrenden Magen barg.
Der Duft gebratener Würste verstärkte dieses Gefühl. Er setzte sich also auf eine Bank unter den Bäumen und sann über seine Zukunft nach. Die fernere war klar - er musste weg von hier. Wohin auch immer. Die nähere wurde bestimmt durch seine körperlichen Bedürfnisse: etwas zu essen, etwas zu trinken und ein Schlafplatz für die Nacht.
Alles das war, wie er sehr gut wusste, mit Geld zu erkaufen.
Geld hatte er nicht. Andere schon.
Geld konnte man in fernerer Zukunft verdienen. In der näheren musste man auf andere Maßnahmen zurückgreifen. Keine, die ihm fremd waren. Fritz war bekannt dafür und stolz darauf, dass er über einige Fingerfertigkeit verfügte.
So über seine Lage vergewissert, stellte Fritz seine Planung um. Die Avus konnte warten, der Tiergarten bot für seine derzeitigen Vorhaben einige Möglichkeiten. Zur abendlichen Stunde flanierten zahlreiche Müßiggänger unter den Bäumen des Parks entlang. Mütter mit ihren Kindern waren nicht von Interesse, Passanten mit Hunden auch nicht. Diese Kläffer waren verräterische Geschöpfe. Alte Herren waren schon mehr sein Ziel, aber auch junge verliebte Pärchen. Die dachten meist an überhaupt nichts anderes als an ihre Verliebtheit.
Es dauerte auch nicht lange, bis er ein passendes Paar erspäht hatte. Sie war eine Hübsche, groß und schlank, und unter ihrem rosafarbenen Hut lugten schimmernd braune Locken hervor. Das Kleid, ebenfalls rosa, schimmerte auch, es war wohl Seide und schmiegte sich elegant um ihre Hüften. Wie anders als die aufgeputzten grellen Fummel, die seine Schwestern trugen, wenn sie auf Männerfang gingen. Der Herr trug einen hellen Anzug und einen weißen Hut. Die spitzen Schuhe glänzten frisch gewienert, ein goldener Ring blitzte an seiner Hand auf. Schnieke!
Und noch mehr, die hintere Hosentasche beulte eine Geldbörse aus. Sie blieben an einem Brunnen stehen, und die Hübsche kicherte.
Fritz erhob sich und schlenderte näher. Eine Zeitung lag achtlos fortgeworfen am Wegesrand, er bückte sich danach und hob sie auf. Der feine Pinkel schlang der Dame den Arm um die Tallje, aber sie schubste ihn weg. Noch immer kichernd. Das schien der als Einladung zu verstehen und packte fester zu. Sie wand sich ein bisschen, dann sah sie über die Schulter zu ihm, Fritz hin. Er versuchte, sich den Anschein zu geben, tief in die Zeitungslektüre versunken zu sein. Doch vorsichtig schielte er zu ihr hoch. Und erhaschte ein Augenzwinkern.
Überrascht blickte er auf.
Sie ließ sich jetzt richtig drücken, drehte den Kopf zu dem Mann hin und machte ein Kussmäulchen. Dabei stahl sich ihre Hand unter seine Jacke und hob sie ein wenig an. Genau da, wo die dicke Geldbörse steckte.
Entweder sie kreischte gleich: »Dieb!«, oder sie suchte einen Komplizen. Er streifte dicht an ihnen vorbei, sie ließ sich abknutschen, er zog flugs die Börse und versenkte sie in seinem Hemd. Dann ging er beschwingten Schrittes weiter.
Ein Aufheulen aus männlicher Kehle ließ ihn zusammenzucken. Er schlüpfte hinter einen Baumstamm. Doch nicht Empörung ob des Raubes hatte das Heulen verursacht, sondern ein derber Tritt mit den hochhackigen Schuhen auf die spitzen Treter ließ den feinen Herrn auf einem Bein hüpfen. Das Frollein maß ihn hochmütig und gab ihm wohl auch noch mit Worten zu verstehen, was sie von seiner Schmuserei hielt.
Fritz sah zu, dass er Land gewann.
An einer stillen Ecke setzte er sich ins Gras und begutachtete seine Beute. Fast hundert Mark in Scheinen, einiges Münzgeld, eine Fahrkarte nach Magdeburg.
Das war ein Zeichen des Schicksals, oder?
Jetzt musste er nur noch aufpassen, dass ihm keiner das Geld klaute. Am besten begab er sich zum Bahnhof. Dort würden ihm die Diakonissen von der Bahnhofsmission sicher einen Schlafplatz zuweisen. Aber als Allererstes würde er sich eine Bratwurst kaufen. Und ein Bier bei Aschinger an der Bierquelle!
Fritz, siebzehn Jahre alt, befand sich auf dem Weg ins Glück.
4. NACHTZUG NACH PARIS
I'm a rambler, I'm a gambler, I'm a long way from home.
And if you don't like me, then leave me alone.
I'll eat when I'm hungry, I'll drink when I'm dry,
If the moonshine don't kill me, I'll live 'til I die.
Traditional
Den rechten Arm anheben«, sagte Hans, und Mac folgte seiner Anweisung geduldig. Mit mehreren Stecknadeln zwischen den Lippen zupfte Hans an dem Tweedjackett herum und knurrte dabei leise vor sich hin. Auf dem Bett lagen bereits drei Hosen, eine Weste und vier Hemden, und zwei weitere Jacketts, davon eines aus feinstem schwarzem Wolltuch, hingen auf Drahtbügeln am Schrank. Fast faltenfrei hatten die Sachen den Transport im Seesack überstanden und mussten jetzt noch ein klein wenig an seine hagere Figur angepasst werden. Der Vorbesitzer war ein Mann von hohem Qualitätsanspruch gewesen, stellte Mac fest. Und er würde inzwischen vermutlich mit großem Bedauern in seinen inhaltslosen Schrankkoffer blicken. Mac fragte nicht, auf welche Weise Hans ihn geleert hatte. Aber er musste schon auf dem Dampfer weit mehr an die Zukunft gedacht haben als er selbst. Eine passende Garderobe gehörte dazu.
Seit einer Woche waren sie in Paris, hatten eine billige kleine Pension gefunden und sich eingerichtet. Die Fahrt von Marseille die Rhône entlang hatte Macs Lebensgeister so langsam wieder geweckt. Das sommerlich grüne Land mit seinen alten Dörfern, den Kirchen und kleinen Châteaus war ein lindernder Anblick nach den Jahren staubig grauer, sonnenverbrannter Gebiete, in denen es tagtäglich ums Überleben ging. Das Essen in den Gasthäusern schmeckte ihm wieder, der Wein, abends unter dem Sternenhimmel genossen, schenkte ihm erholsamen Schlaf. In Paris angekommen, hatte er wieder so viel Energie, dass er sich um seine Geldangelegenheiten kümmern konnte. Es war kein Vermögen, das nun auf seinem Konto lag, aber es reichte, um ein paar Monate bescheiden zu überleben. Es reichte auch für das Startgeld. Denn der Köder hatte schließlich gewirkt, er hatte angebissen und sich - mit Hans als seinem Beifahrer - für die Rallye angemeldet. Es mochte sein, dass weit stärkere Fahrzeuge und weit bessere Fahrer seine Konkurrenz waren, aber ihrer beider Vorteil war, dass sie die Strecke zwischen Paris und Berlin kannten. Und er selbst war, und hier war keine falsche Bescheidenheit vonnöten, ein Meister der Motorenkunde. Seinen Ford konnte er mit verbundenen Augen auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Er spürte unter seinen Fingern jedes Schräubchen, jeden Flansch, jedes Kabel, wusste, wann sie nachgezogen, befestigt oder geschmiert werden mussten. Es kam bei einer Rallye - anders als bei einem Rennen - nicht auf die Geschwindigkeit an, sondern auf die Ausdauer und die Zuverlässigkeit von Automobil und Fahrer. Wobei - auch hier hatte er seine Kunst eingesetzt - es ihm gelungen war, noch ein paar Pferdestärken mehr aus dem Motor hervorzulocken.
»Bist du bald fertig mit deiner Flickschusterei?«, fragte Mac, als ihm langsam der erhobene Arm schwer wurde.
»Gleich. Da, so, jetzt haben wir es. Mister MacAlan, Sie sind gerüstet für unsere gesellschaftlichen Auftritte.«
»Auf die ich mich besonders freue«, murrte Mac.
»Schöne Frauen, Champagner, erlesenes Essen, komfortable Hotelzimmer.«
»Geschniegelte Leute, dröge Reden, Paparazzi.«
Er nahm die Zeitung auf und blätterte sie durch. Noch immer herrschte der zermürbende Krieg in Marokko. Franzosen und Spanier gingen inzwischen gemeinsam gegen die Rif-Kabylen vor. In Paris war ein Leopard aus dem Zoologischen Garten entwichen, und ein Großaufgebot von Freizeitjägern hatte des Nachts versucht, seiner habhaft zu werden. Dabei waren etliche Jäger zu Schaden gekommen, der Leopard wurde nicht gesehen. Mac schüttelte den Kopf, nur mäßig belustigt. Weder in Marokko noch im Bois de Boulogne waren die Franzosen erfolgreich.
Die anderen Nachrichten überflog er auch, die Wirtschaftsseite hätte er beinahe überblättert, wäre ihm nicht ein kleiner Hinweis ins Auge gefallen.
»Hast du gesehen, dass die Amerikaner in Berlin-Moabit ein Ford-Werk gegründet haben?«
»Ford? In Berlin? Ich dachte, ausländische Fahrzeuge dürfen nicht eingeführt werden.«
»Sie bauen sie aber hier - damit werden sie das Embargo umgehen. Clever.«
»Wir sollten für ein paar Tage nach Berlin reisen, Mac. Könnte doch für dich von Interesse sein.«
Mac seufzte.
Der Entschluss, an der Rallye teilzunehmen, war ihm doch schwergefallen. Seine Lethargie abzuschütteln hatte ihn jeden Morgen erneut beinahe übermenschliche Anstrengung gekostet, aber inzwischen fühlte er sich deutlich tatkräftiger. Natürlich hatte Hans recht, es könnten sich Möglichkeiten in Berlin ergeben. Ab Januar des nächsten Jahres sollte am Westhafen in Moabit die Ford-Herstellung aufgenommen werden. Die vor fünf Jahren erlassene Einfuhrsperre für ausländische Fahrzeuge hatte man gerade am siebzehnten August aufgehoben, und so würde die Tin Lizzy aus den importierten Bausätzen nun auch an der Spree am laufenden Band montiert.
Vielleicht war es wirklich nicht verkehrt, für einige Tage die Hauptstadt zu besuchen und mit den Herren der Ford- Werke in Kontakt zu treten. Sie hatten ja sonst nichts vor.
Zwei Tage später nahmen sie den Zug, der sie über viele langweilige Stunden hinweg nach Berlin brachte. In einer nicht eben noblen Pension fanden sie Unterkunft, und Mac gelang es, schon am nächsten Nachmittag einen Termin bei der Geschäftsführung der Ford-Leute zu erhalten.
Macs britischer Akzent störte die Herren nicht, seine technischen Kenntnisse überzeugten sie, seine Zeugnisse weniger. Aber Mac hatte wieder Kampfgeist entwickelt. Die Wirren des Krieges, der lange Aufenthalt in Marokko, seine Verletzungen durch den Giftgaseinsatz - das brachte er als Begründung dafür vor, dass seine Papiere nicht in der rechten Ordnung waren. Und als er von seiner Teilnahme an der Rallye sprach, begannen die Augen des Akquisitionsmanagers zu leuchten.
Wenn er einen guten Platz, gar einen strafpunktfreien Verlauf mit seinem Modell T erzielen würde, stünden ihm im Berliner Werk alle Türen offen. Zeugnisse hin, Zeugnisse her.
Das Gespräch mit den Amerikanern hatte Mac merklich aufgebaut.
Tags darauf befanden sie sich wieder auf dem Rückweg nach Paris. Sie hatten dazu diesmal zwei Plätze im Nachtzug reserviert. Die Alternative wäre gewesen, in Köln in einem Hotel zu übernachten und am nächsten Tag weiter nach Paris zu fahren. So aber würde die Bahnreise von Berlin bis in die französische Hauptstadt mit allen Zwischenhalten nur gut sechzehn Stunden dauern. Die ersten sieben davon fuhr der Zug durch die Nacht.
Das Zweite-Klasse-Abteil bot Mac und Hans zwei schmale, übereinanderliegende Betten, die tagsüber zu einer Sitzbank zusammengeklappt waren. Sie legten ihre Taschen auf den Polstern ab und schlossen die Tür hinter sich. Mac schob das Fenster bis zur Hälfte hinunter, um die stickige Wärme entweichen zu lassen, und schaute hinaus. Bis ihre Fahrt beginnen würde, war noch eine halbe Stunde Zeit. Auf dem Perron ging es lebhaft zu, Reisende eilten zum Schnellzug nach Wien auf dem Nachbargleis, Gepäckträger kämpften sich mit Koffern und Hutschachteln ab, ein Schaffner ließ seine Trillerpfeife erklingen. Mac schloss hastig das Fenster, denn Rußwolken entströmten der mächtigen Dampflok, die roten Pleuelstangen nahmen ihre Arbeit auf, und die Waggons rollten langsam aus der Halle.
»Das ist schon eine bemerkenswerte Demonstration großer Kraft«, sagte Hans leise. »Eintausendzweihundert Pferdestärken. «
»Aber ein Auto ist weit flexibler. Die Zukunft wird zeigen, ob Kraft oder Wendigkeit siegt.«
Eine Dame in einem hellen Kostüm, einen rundlichen Herrn im Schlepptau, kam mit eiligen Trippelschritten angelaufen, ein behäbiger Gepäckträger mit einem Kofferberg folgte ihnen. Der Herr fuhr ihn ungehalten an, die Dame erklomm die Trittstufen des Waggons. Zwei ältere Damen führten je zwei flauschige weiße Pudel an der Leine, die vor dem Stahlkoloss offensichtlich eine Höllenangst hatten. Heulend und kläffend standen sie vor der Tür und mussten von dem unwilligen Schaffner einzeln hineingetragen werden.
Mac wandte sich von der Szenerie ab und räumte seine Tasche aus.
»Oben oder unten?«
Hans zog eine Münze aus der Börse.
»Kopf oder Zahl?«
Kopf gewann, und Mac nickte zufrieden. Die untere Koje war ihm lieber.
Auf dem Gang war Gepolter zu hören, Türen klappten, die Trillerpfeife ertönte, und mit einem Ruck setzte sich der Zug in Bewegung. Langsam, dann immer schneller zog das Bahnhofsinnere an ihnen vorbei, öffnete sich die Halle zu den Gleisanlagen unter freiem Himmel, glitten Häuser und Alleen an ihnen vorbei. Die Dämmerung war herabgesunken, Straßenlaternen leuchteten, Scheinwerfer von Autos huschten vorüber, hinter Fenstern ging das Licht an.
»Gehen wir in den Speisewagen«, schlug Mac vor.
»Geh alleine, ich hab mir Brote eingepackt.«
»Mensch, Hans ...«
»Es schickt sich nicht, dass ich mit Ihnen speise, Sir.«
Mac rollte mit den Augen. Aber Hans hatte recht. Er war Alasdair MacAlan, Hans sein Diener. Zumindest in der Öffentlichkeit.
Der Speisewagen überraschte ihn mit seiner luxuriösen Ausstattung. Weiß gedeckte Tische, an der einen Waggonseite für vier, an der anderen für zwei Personen, warteten auf die Gäste. Einige hatten sich schon eingefunden, und Mac war froh, dass er aus seinem kleinen Fundus von Bekleidung einen präsentablen Nachmittagsanzug gewählt hatte. Ein Kellner wies ihm einen Platz in Fahrtrichtung zu und reichte ihm die Karte. Angeboten wurde ihm darauf ein fünfgängiges Menü, doch auf Rindfleischbrühe, Forelle, Roastbeef, Wildschwein, Kompott und Käseplatte hatte er keinen Appetit. Der Schlaf während der Zugfahrt würde sowieso nicht besonders tief sein, mit einem schweren Essen wollte er seinen Magen nicht belasten. Zudem schreckte ihn das Brimborium, mit dem die Speisen serviert wurden. Aber auf der zweiten Seite bot man Kleingerichte an, und er bestellte sich eine Käseplatte mit Brot und Butter und dazu ein Glas Bier.
Immer mehr Reisende betraten den Speisewagen, und an dem Tisch vor ihm nahmen die junge Dame in dem hellen Kostüm und ihr rundlicher Begleiter Platz. Dessen von feinem Wollstoff bedeckten Rücken konnte Mac offen betrachten, das Gesicht der Frau jedoch heimlich bewundern. Sie hatte eine zarte, helle Haut, sodass die rotgoldenen Locken, die unter ihrem Hut hervorquollen, sicher ihre natürliche Haarfarbe zeigten. Ihre Augen hatte sie irgendwie betont, wie Frauen das eben so machten, und sie wirkten dunkel und von Trauer umschattet. Ihre vollen Lippen schimmerten im Rot reifer Äpfel. Eben studierte sie mit gesenkten Wimpern die Maniküre.
Der Kellner servierte Mac das Bier und stellte Brotkorb und Butterfässchen auf den Tisch. Dann nahm er die Bestellung der beiden Herrschaften auf, die sich für die fünf Gänge entschieden hatten. Danach vertieften sich die beiden in ein Gespräch, das Mac unwillkürlich die Ohren spitzen ließ.
»Ich finde, wir sollten das großzügige Angebot annehmen, Ruidi. Warum nicht? Gute Reifen kosten eine Menge Geld.«
Die Stimme der jungen Dame klang sanft, ein Hauch von Akzent lag darin, möglicherweise stammte sie aus der Schweiz.
»Ich weiß nicht, Liebes. Künstlicher Kautschuk hat keinen guten Ruf. Nicht elastisch genug, sagt man.«
»Ja, aber Herr Thalheimer hat uns doch versichert, dass sie sehr robust sind und praktisch nie kaputt gehen. Und du weißt doch, wie lästig das Radwechseln ist.«
»Das ist natürlich für dich ein Argument.«
»Ruidi, du machst dir auch nicht gerne die Finger schmutzig. Lass es uns einfach versuchen. Wir können unsere anderen Reifen einfach mit dem Gepäck zu den Haltepunkten bringen lassen und, wenn nötig, dort aufziehen.«
»Das ist gegen das Reglement, Doro.«
»Ach was, Reglement. Das ist doch eine Juxfahrt, das hast du selbst gesagt.«
Der Käseteller wurde vor Mac abgestellt, und er ergriff ein Brötchen, um es aufzuschneiden. Das Paar vor ihm schien offenbar auch an der Rallye teilnehmen zu wollen, wenngleich wohl ohne großen Ehrgeiz. Eine Juxfahrt. Nun ja, auf manchen Strecken würde ihnen vermutlich das Lachen vergehen - durch die Eifel und durch das Bergische Land waren die Straßen recht fordernd. Viel bemerkenswerter aber erschien ihm die Tatsache, dass der Reifenfabrikant Thalheimer offenbar großzügig seine Produkte verschenkte. Eine Werbemaßnahme für seine Reifen aus Synthesekautschuk? Warum nicht? Alle Hersteller, ob für Automobile, Zündkerzen, elektrische Beleuchtung oder Schmieröl warben mit den Erfolgen ihrer Produkte bei Rennen und Rallyes, warum nicht auch ein Reifenhersteller?
Die junge Dame widmete sich nun der Vorspeise, und als Mac sein Bier an die Lippen führte, sah sie plötzlich auf. Sie hatte dunkle, wunderschöne Augen, und ihr Blick berührte ihn seltsam. Langsam hob er sein Glas zu einem Salut. Ihre Wimpern flatterten leicht, dann widmete sie sich wieder ihrer Suppe.
Mac lächelte in sich hinein. So lange schon hatte er nicht mehr das Flirtspiel mit einer schönen Frau begonnen. Es musste ein weiteres Zeichen seiner Genesung sein, dass er dieses sanfte Ziehen wieder verspürte.
Das Essen schmeckte auch besser als seit Langem, der Camembert war reif und würzig, der Gruyère mild und nussig, das Brot knusprig und das Bier kühl.
Noch ein weiteres Mal fühlte er die traurig schönen Augen auf sich ruhen und hielt ihren Blick für eine kleine Weile gefangen. Dann aber beendete er sein Mahl mit einem Kaffee und zog sich mit einem höflichen Gruß zurück.
Doro hatte er vermutlich nicht zum letzten Mal gesehen.
Die Rallye gewann immer neue erfreuliche Aspekte.
Hans hatte das Abteil schon umgebaut, und Mac berichtete ihm, während er seine Kleider gegen den Pyjama tauschte, von der Unterhaltung, die er belauscht hatte.
»Kann ja sein, dass die Chemiker inzwischen etwas an dem Kunstkautschuk getan haben, aber ich würde ein solches Angebot nicht annehmen«, meinte Hans. »Diese Dunlops mit dem Cordmaterial machen mir einen ganz guten Eindruck. Ich habe keine Lust, nach jeder Schotterstrecke die Reifen zu flicken.«
»Wir werden ja sehen, wie sich die Dinger halten.«
Hans gähnte und fragte: »Was dagegen, wenn ich jetzt das Licht ausmache?«
Mac verneinte und streckte sich auf seinem Lager aus. Die Vorhänge vor dem Fenster ließen sie beide offen, und gelegentlich flackerte ein Licht von einer verlassenen Haltestelle hinein. Das monotone Geräusch der Räder auf den Gleisen, das leichte Ruckeln und Schwanken des Wagens störte Mac nicht. Er hatte gelernt zu schlafen, wann immer es möglich war. Kurz bevor er in den Schlummer sank, dachte er an die Chancen, die sich für ihn auftaten. Alles in allem war der Ford T ein Glücksfall. Er hatte ihn von Beginn an selbst gepflegt und gewissenhaft gewartet. Oft war er nicht gefahren worden, Abd el Krim hatte häufiger den Renault und den Turcat- Mery benutzt, um über die staubigen Pisten Marokkos zu reisen. Staubig, voller Geröll, sonnendurchglüht, die Häuser einfache Hütten aus Lehm, schmutzig weiß getüncht, mit offenen Fensterluken. Oben auf den flachen Dächern folgten ihnen die Blicke der verschleierten Frauen. Dann das leere Land, durch das sich die Straße wand, verdorrt das Gras, hier ein ausgebrannter Lastkraftwagen, dort verkohlte Wegweiser.
»Wir müssen hier abbiegen«, sagte Doktor Trautmann, und so nahmen sie die gepflasterte Straße. Vom Feuer geschwärzte, zerschossene Bäume, aufgerissene Erde, Krater von Granaten und Bomben, wohin man schaute. Dann ein Posten, ein graues Zelt. Doktor Trautmann wies sich aus. Man winkte sie durch. Der Arzt verließ das Auto. Er selbst blieb sitzen, wartete. In der Ferne dröhnten die Geschütze, ein Verband Flugzeuge tauchte am Himmel auf.
Ein Pferdegespann wurde von einem zerlumpten Mann herangeführt.
Er sah, ungläubig zunächst, dann mit wachsendem Grauen auf die Last, die der Leiterwagen geladen hatte.
Männer, blutend, zerrissenes Fleisch, abgetrennte Gliedmaßen.
Sanitäter traten an den Wagen, hoben die Verwundeten auf Tragen.
»Du, steig aus und hilf uns«, sagte einer.
Er folgte ihm, und sein Magen verkrampfte sich. Jemand zog einen Leib von der Ladefläche, ein anderer nickte.
»Lebt noch.«
Als der Mann auf der Trage lag, sah er, dass ihm das halbe Gesicht fehlte.
Und dann begannen die Schreie ...
Mac erwachte zitternd, die Hände um die Decke gekrallt, die Kiefer zusammengepresst. Das Atmen wollte nicht gelingen, zentnerschwer lag ihm ein Gewicht auf der Brust. Er keuchte.
Die Räder unter ihm kreischten über eine Weiche.
Langsam, ganz mühselig löste er seine verkrampften Muskeln. Gequält sog er die Luft ein, zwang sich dazu, weiter zu atmen.
Als das einigermaßen wieder ging, setzte er sich auf und rieb sich das Gesicht. Über ihm im Bett schnarchte Hans leise.
Lautlos erhob er sich, schob die Abteiltür auf und trat auf den Gang. Er brauchte Bewegung, Raum, Luft. Wie ein alter Mann schleppte er sich zum Waggonende, öffnete die Tür, überquerte den zugigen Bereich zum nächsten Wagen. D- Zug - Durchgangszug - nannten sie es, weil man ihn über die ganze Länge hinweg durchwandern konnte. Am Speisewagen, jetzt dunkel und leer, kehrte er um. Ein müder Schaffner fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Er antwortete, er sei auf der Suche nach der Toilette.
Dort wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser und starrte den Mann mit den eingefallenen Wangen im Spiegel an. Der Bartschatten lag über seinem Kinn, und seine Augen wirkten wie eingesunken.
Panikträume.
Sie kamen wieder und wieder.
Den Rest der Nacht würde er wach bleiben.
Langsam ging er durch den Gang zurück zu seinem Abteil.
Und stieß auf eine weiße Gestalt, die auf einem der Klappsitze hockte und in die Nacht hinausstarrte. Kurze rote Locken reichten ihr bis zum Hals, das Batisthemd hatte nur dünne Träger, und unter dem feinen Stoff zeichnete sich eine wohlgeformte Figur ab.
Das Wiedersehen mit der traurigen Schönen kam eher, als er gedacht hatte.
Sie bemerkte ihn wohl, drehte sich erschrocken um und hielt die Hand an die Lippen. Dann ließ sie sie sinken und sagte: »Oh. Sie?«
Im Pyjama mochte eine höfliche Verbeugung albern wirken. Er deutete nur ein Nicken an und wollte an ihr vorbeigehen.
»Sie können auch nicht schlafen?«, murmelte sie und sah zu ihm hoch. Die Schminke um ihre Augen war verschwunden, und so sahen sie noch verletzlicher und trauriger aus. Er blieb stehen.
»Es gibt bessere Nächte«, antwortete er leise.
»Ja, die gibt es. Und die dritte Stunde weckt trübe Gedanken. «
»Und ruhelose Geister.«
»Doro, Doro Obeli.«
»Alasdair MacAlan.«
»Sie reisen alleine?«
»Mit meinem Begleiter, Leibdiener, Beifahrer.«
»Mich begleitet mein Bruder, Ruidi Obeli. Er saß mit dem Rücken zu Ihnen.«
Konversation im Nachtzug in Nachtkleidung auf dem kühlen Gang - das Ungewöhnliche begann Mac zu reizen. Auch die schöne Doro - so appetitlich in ihrem dünnen Hemd, dessen Träger über ihre runde Schulter gerutscht war.
»Hat Ihnen das Menü gemundet?«
»Durchaus, aber Sie waren klüger. Zwei Gänge hätten gereicht. « Dann lächelte sie. »Aber der Rotwein schmeckte mir. Wohin geht Ihre Reise?«
»Nach Köln und von dort nach Paris.«
»So wie die unsere.« Sie erhob sich und schaute in die vorbeifliegende Nacht. »Wo mögen wir hier sein?«
»Keine Ahnung. Wir werden darauf warten müssen, dass der Zug durch einen Bahnhof fährt, und versuchen, das Schild zu lesen. Ist es wichtig, wo wir uns befinden?«
»Nein, nein, eigentlich nicht.« Ihre Hand legte sich auf seinen Arm, und sie blickte ihn mit seltsamer Eindringlichkeit an. »Wer sind Ihre ruhelosen Geister, Mister MacAlan?«, flüsterte sie. »Warum haben Sie sie aus dem Schlaf gerissen?«
Es war die seltsame Vertrautheit, die ihn umfing, die Geräusche des Zuges, die Stille in dem Waggon, das kleine gelbliche Licht der Notbeleuchtung an der Decke, das kaum reichte, ihr Mienenspiel zu erkennen. Doch es schimmerte in ihren großen, traurigen Augen, und, Gott, was vergab er sich denn, wenn er ihr die Wahrheit sagte?
»Die Geister der Toten und Verwundeten«, murmelte er, und auf ihren bloßen Armen erschien eine Gänsehaut.
»Soldat?«
Er lehnte sich an das Fenster und sah zu ihr hinab.
»Ihre trüben Gedanken?«
»Galten dem Mann, der mich betrogen und verlassen hat.« Sie seufzte. »Mein Bruder glaubt, dass Reisen die Wunden heilt.«
»Abstand gewinnen kann helfen, aber Geister und Gedanken können sich beharrlich anklammern.«
»Verscheuchen Sie sie, Mister«, sagte Doro und stand auf. Nahe war sie ihm, und ein leichter Duft von Vanille und Patchouli umgab sie. Ihre Brüste drückten sich an seinen Arm, und er zog sie an sich. Ihre Lippen waren warm und weich und vertrieben die Geister. Weckten jedoch andere, beinahe vergessene. Vorsichtig schob er sie ein Stückchen von sich.
»Verführerisch, Doro. Unendlich verführerisch. Aber in meinem Abteil schnarcht Hans und in deinem vermutlich dein Bruder.«
»Leider.« Sie schmiegte sich wieder an ihn, und er sehnte sich nach warmem weichem Fleisch, nach seidiger Haut und dunklen, lockenden Tiefen. Es war lange her ...
»Nicht, Doro. Nicht jetzt und nicht hier. Aber wir werden uns wiedersehen. In Paris. Oder an jedem beliebigen Ort zwischen Paris und Berlin.«
Ihr Kopf zuckte hoch.
»Du nimmst an der Rallye teil?«
»Ja.«
»Wie wunderbar. Ja, wir werden uns wiedersehen.«
»... und darum gehen wir nun beide wieder in unsere Betten. «
»Und träumen ...«
Sie küsste ihn noch einmal, wand sich dann geschickt aus seinen Armen und schob die Abteiltür auf.
Mac tat es bei seinem Abteil und legte sich wieder auf sein Bett. Die nächtliche Begegnung hatte tatsächlich die ruhelosen Geister gebannt. Er dachte an den duftenden Körper in seinem Arm und schlief darüber ein.
5. ZUKUNFTSPLÄNE
Ich fliege durch die Welt,
und wo mir was gefällt,
geb ich mit Hand und Mund
gern meinen Beifall kund.
Otto Antonius
Geraldine kam in mein Zimmer gestürmt und warf sich auf das Bett.
»Berte ist verrückt geworden.«
Ich sah von dem zerfledderten Hauswirtschaftsbuch auf, das ich nach Themen für die Frauenkolumne durchforstet hatte.
»Berte ist eine überaus vernünftige Frau. Wieso sollte sie plötzlich verrückt werden?«
»Sie hat unserem Chef die Kündigung auf den Tisch geschmettert, weil er sie nicht über diese blöde Rallye berichten lassen will.«
»Das ist nicht verrückt. Du weißt doch, was der Koch und
- entschuldige - auch dein Vater ihr ständig für Schwierigkeiten machen.« Das Haus, in dem ich seit fünf Jahren ein Zimmer bewohnte, gehörte Jürgen du Plessis und seiner Gattin Lioba. Es blieb nicht aus, dass ich die permanenten Sticheleien des Feuilletonisten gegen die Redakteurin des Frauenteils mit anhören musste. Ich hatte mir angewöhnt, dazu zu schweigen, um den Frieden zu wahren, aber oft kochte der Ärger in mir hoch. Ich hatte es Berte zu verdanken, dass ich die Stelle bei der Zeitschrift erhalten hatte.
»Ja, Papa hat wieder rumgegiftet. Aber was passiert mit uns, wenn sie die Zeitung verlässt?«
»Dann gibt es entweder keine Berichte mehr über die neueste Mode, die Frauenbildung und die Haushaltsführung, oder es gibt eine neue Redakteurin. Bewirb dich doch, Gerry.«
»Um Himmels willen. Ich bin Fotografin, das Schreiben überlass ich anderen. Aber du ...«
Einen Moment schwankte meine Loyalität Berte gegenüber. Es wäre eine Chance, endlich über die Fleckentferner und die Bügelhilfen hinauszukommen. Aber ich würde trotz allem in der Redaktion festsitzen und lediglich Korrespondentenberichte auswerten.
»Nein, ich habe keinen Ehrgeiz, ihre Stelle zu übernehmen. Nicht beim Bunten Blatt.«
»Wenn du es nicht machst, werden sie uns nach kurzer Zeit auch raussetzen. Und du kannst wieder als Zimmermädchen arbeiten.«
Das war allerdings auch eine ernüchternde Aussicht.
Ohne Berte würde es tatsächlich hart für mich werden. Oft genug hatte ich die Kämpfe zwischen ihr und dem Herausgeber Koch mitverfolgt, der ihre Beiträge entweder nicht drucken wollte oder sie zu zensieren versuchte.
»Ich für meinen Teil werde mich mal umhören, ob es bei der Berliner Illustrirten nicht noch ein paar Aufträge für mich gibt«, meinte Geraldine und streckte ihre langen, seidenbestrumpften Beine aus. »Oder ganz woanders. Es ist vielleicht an der Zeit, dieses heimelige Haus zu verlassen.«
Sie stand auf und tänzelte aus der Tür.
Mhm.
War es tatsächlich an der Zeit für Veränderungen?
Copyright © 2014 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Andrea Schacht
Andrea Schacht war lange Jahre als Wirtschaftsingenieurin und Unternehmensberaterin tätig, hat dann jedoch ihren seit Jugendtagen gehegten Traum verwirklicht, Schriftstellerin zu werden. Ihre historischen Romane um die scharfzüngige Kölner Begine Almut Bossart gewannen auf Anhieb die Herzen von Lesern und Buchhändlern. Mit "Die elfte Jungfrau" kletterte Andrea Schacht erstmals auf die SPIEGEL-Bestsellerliste, die sie seither mit schöner Regelmäßigkeit immer neu erobert. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in der Nähe von Bonn.
Autoren-Interview mit Andrea Schacht
Eine kurze Biografie von Andrea SchachtAndrea Schacht: Abitur, Studium Ingenieurwissenschaft/Betriebswirtschaft, Tätigkeit im industriellen Großanlagenbau, Controlling. Ab 1993 selbstständig als Unternehmensberaterin, ab 1996 freiberufliche Autorin. Wohnort in Wachtberg bei Godesberg mit Mann und zwei Katzen.
Würden Sie uns ein wenig über sich erzählen - Ihre Hobbys, Lebenssituation, Ihren Traum vom Glück, was Sie ärgert, welche Gabe Sie gerne besäßen ...?
Andrea Schacht: Mein Beruf ist mein Hobby, ich habe mein Glück im Schreiben gefunden. Wenn ich Bewegung brauche, wandere ich durch den Wald vor meiner Haustür oder tanze mit meinem Mann Standard und Latein.
Wie kamen Sie zum Schreiben?
Andrea Schacht: Bevor ich anfange zu schreiben, habe ich mir die gesamte Geschichte bereits in Gedanken und in Träumen schon erzählt. Ich führe gerne die notwendigen Recherchen durch und strukturiere den Plot gründlich. Auch meine Figuren lerne ich im Vorfeld bereits gut kennen. Doch wenn ich beginne, das Werk auszuformulieren, passiert es mir immer häufiger, dass sich ein ungeplanter Charakter einschleicht und auf seine Weise zu leben beginnt. Das sind für mich immer die wunderbarsten Momente.
Wie finden Sie Ihre Themen?
Andrea Schacht: Ich pflücke meine Ideen von den Ästen der Bäume im Wald. Es gibt soooo viele ...
Haben Sie eine Lieblingsfigur?
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Andrea Schacht: Im „Triumph des Himmels" ist es Fritz. Der junge Mann war eigentlich nur für eine kleine, kommentierende Nebenrolle geplant, aber als er das erste Mal seinen Mund aufmachte, war ich verloren. Fritz berlinert - irgendwo im Dunkel meines Unbewussten lebt meine Großmutter weiter, die diesen rauen Dialekt beherrschte. Ohne dass ich es wollte, schlich sich Fritz, zunächst als Unglücksrabe, in die Geschichte, um sich von Zeile zu Zeile ans Licht zu arbeiten. Fritz, ein ungebrochener Optimist, verriet mir, dass es sein größter Traum sei, einmal im Auto über die Avus zu donnern. Wer bin ich, dass ich ihm diesen Wunsch verweigern konnte? Und so wird aus dem Unglücksraben ein junger Held auf dem Weg ins Glück - raubeinig, großschnäuzig, herzensgut und voller Lebensfreude.
Was lesen Sie selber gerne?
Andrea Schacht: Fast alles, das nicht langweilig ist
Wer sind Ihre Lieblingsautoren?
Andrea Schacht: Dorothy Sayers, Herman Wouk
Wer ist Ihr liebster Romanheld?
Andrea Schacht: Schnuppel
Welche Organisation oder welches Projekt würden Sie gerne unterstützen - oder tun dies bereits?
Andrea Schacht: Den BUND, ich bin - wie nicht anders zu erwarten - eine Waldkatzen-Patin
Andrea Schacht: Im „Triumph des Himmels" ist es Fritz. Der junge Mann war eigentlich nur für eine kleine, kommentierende Nebenrolle geplant, aber als er das erste Mal seinen Mund aufmachte, war ich verloren. Fritz berlinert - irgendwo im Dunkel meines Unbewussten lebt meine Großmutter weiter, die diesen rauen Dialekt beherrschte. Ohne dass ich es wollte, schlich sich Fritz, zunächst als Unglücksrabe, in die Geschichte, um sich von Zeile zu Zeile ans Licht zu arbeiten. Fritz, ein ungebrochener Optimist, verriet mir, dass es sein größter Traum sei, einmal im Auto über die Avus zu donnern. Wer bin ich, dass ich ihm diesen Wunsch verweigern konnte? Und so wird aus dem Unglücksraben ein junger Held auf dem Weg ins Glück - raubeinig, großschnäuzig, herzensgut und voller Lebensfreude.
Was lesen Sie selber gerne?
Andrea Schacht: Fast alles, das nicht langweilig ist
Wer sind Ihre Lieblingsautoren?
Andrea Schacht: Dorothy Sayers, Herman Wouk
Wer ist Ihr liebster Romanheld?
Andrea Schacht: Schnuppel
Welche Organisation oder welches Projekt würden Sie gerne unterstützen - oder tun dies bereits?
Andrea Schacht: Den BUND, ich bin - wie nicht anders zu erwarten - eine Waldkatzen-Patin
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Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Schacht
- 2014, 1, 576 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764504595
- ISBN-13: 9783764504595
- Erscheinungsdatum: 24.03.2014
Rezension zu „Triumph des Himmels “
"Andrea Schacht hat einmal mehr eine Figur geschaffen, die ihrer Zeit voraus ist. Eine tollkühne Frau in einer tollen Geschichte." Auf einen Blick
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