Unschuldig
Die Geschichte einer zerstörten Kindheit
"Eine traurige, empörende Geschichte, die dennoch Mut macht."
THE EVENING HERALD
Audrey ist die einzige Tochter in der Familie Delaney. Doch für das 3-jährige Mädchen endet die unbeschwerte Kindheit, als ihr Vater...
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Produktinformationen zu „Unschuldig “
"Eine traurige, empörende Geschichte, die dennoch Mut macht."
THE EVENING HERALD
Audrey ist die einzige Tochter in der Familie Delaney. Doch für das 3-jährige Mädchen endet die unbeschwerte Kindheit, als ihr Vater beginnt, sie fast jede Nacht zu missbrauchen. Die Kleine kann das Geschehene nicht einordnen, fühlt sich schmutzig, schuldig. In ihrer Pubertät beginnt sie, nach Aufmerksamkeit zu schreien, experimentiert mit Drogen, hat Essstörungen. Doch sie kann mit niemand über ihre Vergangenheit sprechen. Erst als sie schwanger ist, vertraut sie sich ihrem Mann an - und schafft es schließlich, ihren Vater vor Gericht zu bringen.
Lese-Probe zu „Unschuldig “
Unschuldig von Audrey Delaney Aus dem Englischen von Rainer Schmidt
Prolog
Ich saß eines Tages in meinem kleinen pinkfarbenen
Auto und ließ das Radio plärren, damit die Musik meine
Gedanken übertönte und mich in einen Zustand süßer
Selbstvergessenheit versetzte. Ich wollte an nichts denken
und nichts fühlen. Die Musik klang aus, und die Nachrichten
fingen an und drangen langsam in mein Bewusstsein.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, als der Nachrichtensprecher
die wichtigsten Meldungen des Tages verlas. Erst
bei dem Wort »Kindesmissbrauch« schrak ich hoch und
erstarrte. Jede Faser meines Körpers spannte sich an, und
unwillkürlich ballte ich die Fäuste.
Das Wort hatte eine Saite in mir angeschlagen. Ich wollte
es aus meinem Kopf vertreiben und so tun, als hätte ich
es nicht gehört. Aber es war zu spät. Irgendwo in meinem
Kopf war eine Tür aufgestoßen worden - eine Tür, die ich
vor langer Zeit fest verschlossen hatte.
Ich war plötzlich kurzatmig und hatte das Gefühl, in einen
schwarzen Abgrund zu stürzen. Eine kleine Ewigkeit
lang saß ich im Wagen und wartete darauf, dass die Musik
wieder über mich hinwegflutete und die bösen Erinnerungen
wegschwemmte. Aber diesmal funktionierte es
nicht; die Erinnerungen drängten auf mich ein, ungebeten
und unerwünscht.
... mehr
Nach und nach ließ ich zu, dass ich begriff, was diese
Worte bedeuteten. Sexueller Missbrauch. Als ich sie hörte,
war es, als krabbelten tausend Ameisen über meinen
Körper, die mich alle gleichzeitig bissen. Diese Worte bohrten
ein Loch in mein Unterbewusstsein, und giftige Gedanken
sickerten heraus und verbreiteten sich in meinem
Geist. Am liebsten hätte ich den Kopf vor einen meiner
Autoreifen gelegt und jemanden gebeten, darüberzufahren.
Ich wollte nur noch von meinem Elend erlöst werden.
Ich fühlte mich so mies wie noch nie zuvor.
Anfangs leugnete ich jede Verbindung zwischen mir und
diesen hassenswerten Worten. Es war nicht das, was mir
passiert war.
Mein Dad hatte das nicht getan. Mein Dad würde das
niemals tun.
Nein, es war etwas anderes. Was mein Dad getan hatte,
war etwas völlig anderes. Und mein Dad war es sowieso
nicht gewesen. Sondern ich. Es war meine Schuld. An mir
war etwas Schmutziges.
1
Dad war in vieler Hinsicht ein Erfolgsmensch. Er
stammte aus ärmsten Verhältnissen und war in einem
Mietshaus in der Gardiner Street aufgewachsen, die durch
das Herz der nördlichen Dubliner Innenstadt führt.
Mit seinen Eltern und vier Geschwistern teilte er sich
eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern. Sie war kalt und
feucht, und oft reichte das Essen kaum für die ganze Familie.
Es gab nur eine Toilette, die sie mit drei anderen
Stockwerken teilten, und sie besaßen wenig oder gar
nichts. So wurde es mir zumindest erzählt.
Die Gardiner Street hatte damals einen schlechten Ruf,
sie galt als verkommen. Dad war sich seiner Herkunft stets
bewusst. Er schämte sich so sehr dafür, dass er es in der
Regel verschwieg, woher er stammte. Das ging so weit, dass
ich es, als ich heranwuchs, niemandem erzählen durfte,
obwohl meine Großeltern, Nanny und Granddad Delaney,
immer noch dort wohnten.
Dad verließ die Schule mit zwölf Jahren, aber nachdem
er geheiratet hatte, ging er noch einmal aufs College und
wurde Steuerberater. Er war ein Selfmademan, jemand,
der soziale Vorurteile und Armut überwunden und Erfolg
gehabt hatte.
Und erfolgreich war er: Am Ende hatte er ein großes
Haus in Castleknock, einem reichen Vorort am Nordrand
von Dublin, und schnell erwarb er auch die typischen Insignien
des Reichtums: schicke Autos und ein Boot auf
dem Shannon. Uns Kindern bläute er stets ein, wie brillant
er sei: Immer wieder erzählte er, er habe sein Examen
schon nach zwei Jahren gemacht, während alle andern drei
gebraucht hätten.
Aber es war immer nur Dad, der uns das erzählte. Ich
kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand sonst darüber
gesprochen hätte. Wieder und wieder erzählte er mir
und meinen Brüdern, er sei der intelligenteste Mensch,
dem wir je begegnen würden, und ich glaubte ihm.
Obwohl ich Dad liebte, sah ich schon, als ich noch klein
war, eine unschöne Seite an ihm. Er ließ sich keine Gelegenheit
entgehen, Leute schlechtzumachen. Ständig zog
er über die Eltern meiner Ma her - über Nanny, weil sie
rauchte, über Granddad, weil er halb taub war, und über
uns Kinder, weil wir ihn dauernd anschrien, damit er uns
verstand. Am meisten meckerte er über den Fernseher bei
Nanny und Granddad O'Byrne.
»Der Kasten plärrt ständig auf voller Lautstärke, weil
euer Granddad taub ist. Jeder, der ein paar Manieren hat,
würde ihn abschalten, wenn Gäste kommen«, beschwerte
er sich.
Dad hielt sich stets für einen sehr wichtigen Gast. Er
fand, jeder, den er besuchte, müsste entzückt sein, ihn zu
sehen, und sich die größte Mühe geben, ihm den Aufenthalt
angenehm zu machen.
Die Zeit verging, und je mehr Umgang Dad mit gebil-
deten und erfolgreichen Leuten hatte, desto unangenehmer
wurde er. Aber nicht sein widerwärtiges Benehmen
weckte meine Abneigung. Was ich wirklich hasste, war das,
was er zur Schlafenszeit zu tun pflegte. Und das tat er, solange
ich zurückdenken kann.
***
Allem Anschein nach stimmt es nicht, dass alle Babys
schön sind, denn alle sagen, als ich zur Welt kam, sah ich
aus wie ein gerupftes Huhn mit zu weiter, faltiger Haut.
Ich wurde im Schlafzimmer unseres damaligen Hauses in
Ballsbridge geboren, aber beinahe wäre meine Mutter im
Badezimmer niedergekommen, denn die Tür klemmte,
und nur weil die Hebamme die Tür einschlug, schaffte Ma
es noch rechtzeitig ins Schlafzimmer. So erzählte man es
sich jedenfalls in unserer Familie.
Ich war das erste Mädchen in der Familie, und ich bin
sicher, meine Ma war entzückt, dass mein älterer Bruder
nun eine kleine Schwester haben würde. Er war drei Jahre
alt, als ich zur Welt kam.
Als ich selbst drei Jahre alt war, schenkte Ma mir und
Mark einen kleinen Bruder. Fergus war ein glückliches,
friedliches und ausgesprochen pflegeleichtes Baby.
Meine Kindheitserinnerungen setzen ungefähr bei meinem
dritten Lebensjahr ein. Manche werden sagen, man
kann sich an das, was in diesem frühen Alter passiert ist,
nicht erinnern, aber ich glaube, man kann es. Man weiß
vielleicht nicht mehr, ob es Winter oder Sommer war oder
ob man im Flur oder im Wohnzimmer war, und vielleicht
hat man auch die Einzelheiten vergessen, aber die Gefühle,
die mit den Erlebnissen verbunden waren, prägen sich
ein.
Ich habe sehr klare Erinnerungen an diese frühen Jahre.
Ich kann mich an bestimmte Ereignisse erinnern. Und
wenn Ereignisse mit negativen Gefühlen verbunden sind,
ist es noch schwerer, sie zu vergessen.
Ich weiß nicht, wann genau Dad anfing, abends in mein
Zimmer zu kommen. Sicher weiß ich nur, dass die schlechten
Gefühle begannen, als ich ungefähr drei Jahre alt oder
ein bisschen älter war. Ich war noch sehr klein, als er anfing,
mich zu missbrauchen. Ich habe deutlich das Bild vor
Augen, wie er sich in mein Zimmer schleicht.
Er legte sich immer neben mich ins Bett und erzählte
mir Geschichten aus Grannys Kinderzeit. Wie sie auf dem
Land in einen Feenring geriet und nicht mehr herauskonnte
oder wie Granny auf einer Kuh zur Schule geritten war.
Ich hörte diese Geschichten gern, aber ich hatte es nicht
gern, wenn er seine Hand in mein Höschen schob und
meinen Intimbereich streichelte. Während er erzählte,
fummelten seine Finger ständig an meiner Vagina herum,
und das tat weh.
Lange Zeit dachte ich, es sei normal, dass Väter ihre
Töchter »da unten« berührten; es sei das Gleiche wie ein
Gutenachtkuss oder eine Umarmung. Ich war so geschädigt,
und mein Denken war so verkorkst, dass ich mich
fragte, wie die Väter anderer Kinder es mit ihnen machten,
besonders wenn sie mehr als eine Tochter hatten. Es
war ein ganz normaler Teil meines Lebens.
Der einzige Unterschied zwischen einem Gutenacht-
kuss und dem, was mein Dad tat, bestand darin, dass es
sich nicht schön anfühlte. Es tat weh und fühlte sich
schmutzig an. Ich dachte mir, wenn man sich jedes Mal
die Hände waschen musste, nachdem man auf dem Klo
gewesen war, dann musste »da unten« auf jeden Fall etwas
Schmutziges sein. Das würde auch die Frage beantworten,
weshalb keine meiner Freundinnen je erzählte, dass ihr Vater
sie dort berührte. Also sagte ich auch nichts. So fing es
an. Ich war ein kleines Mädchen, als er begann, meinen
Intimbereich zu berühren, und in den nächsten Jahren
ging es weiter und wurde nach und nach immer schlimmer.
Wenn ich jetzt, als Erwachsene, zurückschaue, sehe
ich, dass ich keine Wahl hatte. Das Umfeld, das unsere Eltern
für uns schaffen, akzeptieren wir als normal, und er
schuf von Anfang an ein Umfeld, das von sexuellem Missbrauch
geprägt war. Er machte mich von klein auf zu seinem
Opfer. Es gab keine Hoffnung für mich.
***
In meinen frühesten Erinnerungen gibt es die meiste Zeit
nur Ma, die beiden Jungen und mich. Dad war sehr selten
zu Hause, und wenn er schlechte Laune hatte, war
das ganze Haus von einer düsteren Atmosphäre erfüllt.
Dad verdiente das Geld und bezahlte die Rechnungen,
und Ma kochte, putzte und sorgte für uns alle. Damals
wurde alles von Hand gemacht, und deshalb war die
Hausarbeit zehn Mal schwerer als heute. Ich werde den
Tag nie vergessen, an dem Dad mit einer Waschmaschine
ankam: Von da an brauchten die Frotteewindeln nie
wieder mit der Hand in einem Eimer gewaschen zu werden.
Dad hielt sich für den besten Ehemann der Welt, wenn
er Ma solche modernen Haushaltsgeräte schenkte. Er lächelte
so breit, dass ich mich fragte, warum sein Gesicht
nicht auseinanderbrach. Von da an hatten alle seine Geschenke
mit dem Haushalt zu tun. Natürlich hatte meine
Ma wie die meisten Frauen nichts gegen Geräte, die ihr
das Leben erleichterten, einzuwenden, aber als sie zum Geburtstag
und zu Weihnachten nichts anderes mehr bekam,
war sie vermutlich nicht allzu glücklich.
Ich war ungefähr drei Jahre alt, als wir von Ballsbridge
nach Fairview am nördlichen Rand von Dublin zogen. Das
war 1970. Damals bedeutete das einen Aufstieg.
Das neue Haus war eine Doppelhaushälfte - ein Eckhaus
- mit Garage. Zu beiden Seiten der kleinen Sackgasse
standen zehn Häuser. An unserem Ende der Siedlung
war eine hohe Mauer, hinter der ein Obstgarten lag. Dieser
Garten war ein wunderbarer Ort für uns Kinder. Im
Laufe der Jahre haben die meisten von uns irgendwann bei
dem Pfarrer und seiner Haushälterin, die dort wohnten,
das eine oder andere Mal Äpfel geklaut.
Unser Haus in Fairview war recht ansehnlich. Es hatte,
soweit ich mich erinnere, ein geräumiges Gästezimmer, ein
Wohnzimmer und eine kleine Küche. Meiner Ma gefiel es
sehr, und sie war froh darüber, das alte, feuchte Backstein-
haus in Ballsbridge los zu sein.
Ich fand meine ersten Freundinnen in dieser Siedlung
in Fairview. Ich spähte durch das Gartentor vor dem
Haus auf die Straße hinaus und sah eine Reihe von neu
gierigen kleinen Gesichtern, alle ungefähr in meinem
Alter.
Sie schnatterten durcheinander und stellten mir alle
möglichen Fragen, wie Kinder es tun. Sie waren fasziniert
von meinen blonden Haaren und blauen Augen, und immer
wieder schoben sie ihre dünnen Ärmchen durch das
vergitterte Tor, um mein Haar zu berühren und festzustellen,
ob es nicht nur anders aussah, sondern sich auch
anders anfühlte als ihr eigenes, braunes Haar. Diese Mädchen
sollten zum harten Kern meiner Grundschulbande
werden.
In jenem ersten Sommer in Fairview bestand meine Garderobe
aus winzig kleinen Shorts, Röcken und Kleidchen,
die kaum meinen Slip bedeckten. Dieses Alter der Unschuld
sollte aber nicht lange dauern. Mein Gott, wenn
ich daran denke, wie gut es meinem Vater gefallen haben
muss.
Fairview war eine wunderbare Gegend, um dort aufzuwachsen.
Ich war dort glücklicher als an allen anderen
Wohnorten, trotz allem, was hinter den geschlossenen
Türen unseres Hauses vor sich ging. Ich liebte meine kleinen
Freundinnen. Wir waren eine eng verschworene Gemeinschaft.
Wenn eine große Gruppe von Kindern zusammen
aufwächst, gibt es zwangsläufig hin und wieder
Streit, aber wenn wir uns einmal zankten, waren wir am
nächsten Tag doch wieder Freundinnen. Es gab immer
einen Weg, sich bei den andern wieder beliebt zu machen.
Wenn man demnächst Geburtstag hatte, konnte
man beispielsweise sagen: »Wenn du nicht mehr mit mir
spielen willst, darfst du auch nicht auf meine Feier kom-
men.« Das geschah nicht aus Gemeinheit, es ging vielmehr
darum, seine Überredungskraft zu nutzen. Und was
auch passieren mochte, wir gingen alle auf jeden Kindergeburtstag.
Diese Geburtstagsfeiern waren damals ziemlich schlicht.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich von meinen Freundinnen
teure Geschenke bekommen hätte; ich glaube, wir
haben einander überhaupt nichts geschenkt. Das Aufregende
an einer Feier bestand darin, dass man ein Jahr älter
wurde und so viele Süßigkeiten und Limonade bekam, wie
man herunterbrachte. Wir waren einfach glücklich, wenn
wir miteinander spielen und uns mit süßen Sachen vollstopfen
konnten. Und ob man wollte oder nicht, man bekam
immer ein Stück Geburtstagstorte in eine Serviette gewickelt,
das man mit nach Hause nehmen durfte.
Ma enttäuschte uns nie, wenn es um Torten und Partys
ging. Der Tisch bog sich unter Popcorn, Biskuitschnitten,
bunten Törtchen und - meine Lieblingsleckerei - Schokokonfekt
mit Rice Krispies. Noch heute, als Erwachsene,
finde ich, eine Party ist erst dann eine Party, wenn das
Rice-Krispie-Konfekt auf dem Tisch steht.
Das hochwichtige Ausblasen der Kerzen war der Gipfel
der Aufregung. Meistens schlich sich einer meiner Brüder
hinter mich und pustete sie mit mir zusammen aus; das
bedeutete, dass mein Wunsch nicht in Erfüllung gehen
würde. Wir bekamen uns kurz in die Haare, Ma versuchte,
uns auseinanderzubringen, dann wurden die Kerzen
noch einmal angezündet und meine Brüder scharf verwarnt.
Danach spielten wir alle möglichen Spiele wie »Reise
nach Jerusalem« oder das Statuenspiel, bei dem alle Kinder
in einer Pose erstarren mussten, wenn die Musik unterbrochen
wurde. Nicht selten endeten die Spiele mit Tränen:
Ein Kind weinte, weil es nicht gewonnen hatte, und
schwor Stein und Bein, es habe sich nicht bewegt, obwohl
alle es gesehen hatten.
Im Rückblick erscheinen mir die Sommer meiner
Kindheit sonniger, wärmer und länger als die heutigen,
aber damals kam es auf das Wetter nicht so sehr an, denn
wir spielten ebenso gern im Haus wie draußen. Wir besuchten
uns gegenseitig, aber oft wartete ich, bis jemand
mich zuerst besuchte. Wenn es draußen regnete, saß ich
auch gern auf der Couch und sah fern. Aber sobald ich
einmal draußen war, brachte man mich nur schwer wieder
ins Haus. Dann fuhr ich mit meinen Freundinnen
Fahrrad, wir übten Seilspringen oder schoben unsere
Puppenwagen durch die Straße, wir spielten Schlagball
oder Verstecken.
***
Ich benahm mich wie ein normales kleines Mädchen, aber
ich war keins. Ich war immer angespannt, und wenn ich
heute auf diese Zeit zurückschaue, glaube ich, ich hatte
Angst. Selbst tagsüber wusste ich nie, was hinter der nächsten
Ecke auf mich lauerte. Ich erinnere mich, wie ich eines
Sonntags mit Dad zur Messe ging. Ma war an diesem
Tag nicht da.
Meine Körpertemperatur stieg, und mein Gesicht begann
zu glühen, als ich sah, wie er hinten in der Kirche
von Fairview in Stellung ging. Zwei kleinere Mädchen
standen hinter ihm. Ich sah, wie er seine gruselige Hand
hinter seinen Rücken schob und eins der Mädchen anfasste.
Ich betete zum Himmel, sie möge nichts sagen. Ich
kannte sie nicht, und dafür war ich Gott dankbar, aber ich
sah, dass er offenbar keine Angst hatte. Für das kleine Mädchen
war die Messe an diesem Tag dagegen ein schreckliches
Erlebnis.
Ich wusste nicht, was ich schlimmer fand: wenn ich sah,
dass er das mit einem anderen Mädchen machte, oder
wenn er es mit mir machte. Wenn er es mit mir machte,
blieb es wenigstens im Verborgenen, aber wenn er es vor
meinen Augen mit jemand anderem machte, war ich starr
vor Schrecken.
Es war das erste Mal, dass ich sah, wie Dad ein anderes
Kind anfasste. Damals wusste ich nicht, warum, aber ich
fühlte mich körperlich krank.
Ich wusste nicht, ob dem Mädchen klar war, was da
mit ihm passierte, aber ich nahm an, dass es sich schmutzig
fühlte, denn so ging es mir immer, wenn er das mit
mir machte. Mein kindlicher Verstand begriff nicht, was
dahintersteckte; ich dachte, so etwas täten Daddys mit
ihren kleinen Töchtern - aber nicht mit anderen Kindern.
Ich weiß noch, dass sie bleich wurde. Gleichzeitig wurde
ich glühend rot, und ich konnte es nicht erwarten, aus
der Kirche hinauszukommen. Ma bestand immer darauf,
dass wir Papiertaschentücher im Ärmel hatten, und auf
dem Weg nach draußen zog ich eins hervor und tauchte
es ins Weihwasserbecken. Ich betupfte mein heißes Ge-
sicht damit, um es abzukühlen und vielleicht auch ein bisschen
von meiner Scham und meinem Entsetzen wegzuwaschen.
Dad spazierte einfach hinaus, als sei nichts passiert.
Anscheinend hatte er seinen Spaß gehabt, und alles
andere war unwichtig.
Ich erinnere mich, dass ich nach der Schule oft müde
war. Dann kam ich nach Hause, legte mich auf die Couch,
und das war's dann: Ich verschlief den ganzen Nachmittag.
Es wurde zu einer Gewohnheit, die während meiner
ganzen Schulzeit anhielt. Nachts fand ich nie viel Schlaf,
und tagsüber konnte ich mich nicht wach halten. Es war
ein Symptom dafür, dass meine innere Uhr völlig durcheinander
war. Die meisten Kinder schliefen gleich ein,
wenn sie zu Bett gegangen waren, ich jedoch nicht. Mir
graute vor dem Zubettgehen, weil ich wusste, dass Dad
bald nachkommen würde.
Anfangs lag ich da und wartete auf ihn, und meine
Muskeln waren starr vor Anspannung. Wenn sich dann
die Tür öffnete, entspannte ich mich - nicht vor Erleichterung,
sondern damit er glaubte, ich würde schlafen,
und mich in Ruhe ließ. Aber das war vergebliche Mühe,
Dad ließ sich davon nicht abhalten. Wenn er mit mir
fertig war, erwachte ich wieder zum Leben und war die
ganze Nacht hellwach. Wie hätte ich auch einschlafen
können? Meine Gedanken waren verseucht von dem Gefühl,
schmutzig zu sein. Stundenlang lag ich wach und
hing düsteren Grübeleien nach.
In den frühen Morgenstunden schlief ich meist ein, nur
um bald darauf wieder geweckt zu werden. Am folgenden
Tag war ich dann so erschöpft, dass ich einen langen Nach-
mittagsschlaf brauchte, um mich psychisch wieder aufzuladen.
***
Meine frühesten Erinnerungen an die Schule stammen aus
der Zeit, als ich sechs Jahre alt war. An den Kindergarten
kann ich mich nicht gut erinnern, wohl aber an das erste
Schuljahr an der St. Mary's National School in Fairview,
und gern denke ich an meine Lehrerin, Mrs Ray, zurück.
Sie war genau die Sorte Lehrerin, die alle Kinder lieben.
Sie hatte viel Verständnis für Kinder, und ich kann mich
nicht erinnern, dass sie jemals mit jemandem geschimpft
hätte. Wenn sie Geburtstag hatte, bekam jedes Kind ein
Geschenk. Ich sehe das gelbe, elastische Haarband noch
vor mir, das sie mir schenkte, damit ich mein blondes Haar
zurückbinden konnte. Dieses Haarband habe ich jahrelang
aufgehoben.
Die Schule machte mir großen Spaß, trotz allem, was
zu Hause mit mir passierte.
Meine Hausaufgaben schaffte ich immer, und bald liebte
ich das Lesen und Schreiben. Mathematik fiel mir ziemlich
leicht, und so war ich alles in allem eine gute Schülerin.
Schon in der ersten Klasse hing ich an Mrs Rays Lippen
und tat, was ich konnte, um ihr zu gefallen. Alle Aufmerksamkeit,
die sie mir schenkte, war wie ein Sonnenstrahl in
meinem Leben. Wenn sie meine Hausarbeit mit einem roten
Stift abhakte - was »Sehr gut« bedeutete -, war ich im
siebten Himmel. Aber im Laufe des Jahres reichte ihre Anerkennung
nicht mehr aus, um mich glücklich zu machen.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.weltbild.de
Copyright der Originalausgabe © 2008 by Audrey Delaney
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg
Übersetzung: Rainer Schmidt
Projektleitung: librisco consult, München
Redaktion: Carmen Dollhäubl, Augsburg
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Umschlagmotiv: © Audrey Delaney
Satz: Dirk Risch, Berlin
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-372-7
2013 2012 2011 2010
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
Nach und nach ließ ich zu, dass ich begriff, was diese
Worte bedeuteten. Sexueller Missbrauch. Als ich sie hörte,
war es, als krabbelten tausend Ameisen über meinen
Körper, die mich alle gleichzeitig bissen. Diese Worte bohrten
ein Loch in mein Unterbewusstsein, und giftige Gedanken
sickerten heraus und verbreiteten sich in meinem
Geist. Am liebsten hätte ich den Kopf vor einen meiner
Autoreifen gelegt und jemanden gebeten, darüberzufahren.
Ich wollte nur noch von meinem Elend erlöst werden.
Ich fühlte mich so mies wie noch nie zuvor.
Anfangs leugnete ich jede Verbindung zwischen mir und
diesen hassenswerten Worten. Es war nicht das, was mir
passiert war.
Mein Dad hatte das nicht getan. Mein Dad würde das
niemals tun.
Nein, es war etwas anderes. Was mein Dad getan hatte,
war etwas völlig anderes. Und mein Dad war es sowieso
nicht gewesen. Sondern ich. Es war meine Schuld. An mir
war etwas Schmutziges.
1
Dad war in vieler Hinsicht ein Erfolgsmensch. Er
stammte aus ärmsten Verhältnissen und war in einem
Mietshaus in der Gardiner Street aufgewachsen, die durch
das Herz der nördlichen Dubliner Innenstadt führt.
Mit seinen Eltern und vier Geschwistern teilte er sich
eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern. Sie war kalt und
feucht, und oft reichte das Essen kaum für die ganze Familie.
Es gab nur eine Toilette, die sie mit drei anderen
Stockwerken teilten, und sie besaßen wenig oder gar
nichts. So wurde es mir zumindest erzählt.
Die Gardiner Street hatte damals einen schlechten Ruf,
sie galt als verkommen. Dad war sich seiner Herkunft stets
bewusst. Er schämte sich so sehr dafür, dass er es in der
Regel verschwieg, woher er stammte. Das ging so weit, dass
ich es, als ich heranwuchs, niemandem erzählen durfte,
obwohl meine Großeltern, Nanny und Granddad Delaney,
immer noch dort wohnten.
Dad verließ die Schule mit zwölf Jahren, aber nachdem
er geheiratet hatte, ging er noch einmal aufs College und
wurde Steuerberater. Er war ein Selfmademan, jemand,
der soziale Vorurteile und Armut überwunden und Erfolg
gehabt hatte.
Und erfolgreich war er: Am Ende hatte er ein großes
Haus in Castleknock, einem reichen Vorort am Nordrand
von Dublin, und schnell erwarb er auch die typischen Insignien
des Reichtums: schicke Autos und ein Boot auf
dem Shannon. Uns Kindern bläute er stets ein, wie brillant
er sei: Immer wieder erzählte er, er habe sein Examen
schon nach zwei Jahren gemacht, während alle andern drei
gebraucht hätten.
Aber es war immer nur Dad, der uns das erzählte. Ich
kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand sonst darüber
gesprochen hätte. Wieder und wieder erzählte er mir
und meinen Brüdern, er sei der intelligenteste Mensch,
dem wir je begegnen würden, und ich glaubte ihm.
Obwohl ich Dad liebte, sah ich schon, als ich noch klein
war, eine unschöne Seite an ihm. Er ließ sich keine Gelegenheit
entgehen, Leute schlechtzumachen. Ständig zog
er über die Eltern meiner Ma her - über Nanny, weil sie
rauchte, über Granddad, weil er halb taub war, und über
uns Kinder, weil wir ihn dauernd anschrien, damit er uns
verstand. Am meisten meckerte er über den Fernseher bei
Nanny und Granddad O'Byrne.
»Der Kasten plärrt ständig auf voller Lautstärke, weil
euer Granddad taub ist. Jeder, der ein paar Manieren hat,
würde ihn abschalten, wenn Gäste kommen«, beschwerte
er sich.
Dad hielt sich stets für einen sehr wichtigen Gast. Er
fand, jeder, den er besuchte, müsste entzückt sein, ihn zu
sehen, und sich die größte Mühe geben, ihm den Aufenthalt
angenehm zu machen.
Die Zeit verging, und je mehr Umgang Dad mit gebil-
deten und erfolgreichen Leuten hatte, desto unangenehmer
wurde er. Aber nicht sein widerwärtiges Benehmen
weckte meine Abneigung. Was ich wirklich hasste, war das,
was er zur Schlafenszeit zu tun pflegte. Und das tat er, solange
ich zurückdenken kann.
***
Allem Anschein nach stimmt es nicht, dass alle Babys
schön sind, denn alle sagen, als ich zur Welt kam, sah ich
aus wie ein gerupftes Huhn mit zu weiter, faltiger Haut.
Ich wurde im Schlafzimmer unseres damaligen Hauses in
Ballsbridge geboren, aber beinahe wäre meine Mutter im
Badezimmer niedergekommen, denn die Tür klemmte,
und nur weil die Hebamme die Tür einschlug, schaffte Ma
es noch rechtzeitig ins Schlafzimmer. So erzählte man es
sich jedenfalls in unserer Familie.
Ich war das erste Mädchen in der Familie, und ich bin
sicher, meine Ma war entzückt, dass mein älterer Bruder
nun eine kleine Schwester haben würde. Er war drei Jahre
alt, als ich zur Welt kam.
Als ich selbst drei Jahre alt war, schenkte Ma mir und
Mark einen kleinen Bruder. Fergus war ein glückliches,
friedliches und ausgesprochen pflegeleichtes Baby.
Meine Kindheitserinnerungen setzen ungefähr bei meinem
dritten Lebensjahr ein. Manche werden sagen, man
kann sich an das, was in diesem frühen Alter passiert ist,
nicht erinnern, aber ich glaube, man kann es. Man weiß
vielleicht nicht mehr, ob es Winter oder Sommer war oder
ob man im Flur oder im Wohnzimmer war, und vielleicht
hat man auch die Einzelheiten vergessen, aber die Gefühle,
die mit den Erlebnissen verbunden waren, prägen sich
ein.
Ich habe sehr klare Erinnerungen an diese frühen Jahre.
Ich kann mich an bestimmte Ereignisse erinnern. Und
wenn Ereignisse mit negativen Gefühlen verbunden sind,
ist es noch schwerer, sie zu vergessen.
Ich weiß nicht, wann genau Dad anfing, abends in mein
Zimmer zu kommen. Sicher weiß ich nur, dass die schlechten
Gefühle begannen, als ich ungefähr drei Jahre alt oder
ein bisschen älter war. Ich war noch sehr klein, als er anfing,
mich zu missbrauchen. Ich habe deutlich das Bild vor
Augen, wie er sich in mein Zimmer schleicht.
Er legte sich immer neben mich ins Bett und erzählte
mir Geschichten aus Grannys Kinderzeit. Wie sie auf dem
Land in einen Feenring geriet und nicht mehr herauskonnte
oder wie Granny auf einer Kuh zur Schule geritten war.
Ich hörte diese Geschichten gern, aber ich hatte es nicht
gern, wenn er seine Hand in mein Höschen schob und
meinen Intimbereich streichelte. Während er erzählte,
fummelten seine Finger ständig an meiner Vagina herum,
und das tat weh.
Lange Zeit dachte ich, es sei normal, dass Väter ihre
Töchter »da unten« berührten; es sei das Gleiche wie ein
Gutenachtkuss oder eine Umarmung. Ich war so geschädigt,
und mein Denken war so verkorkst, dass ich mich
fragte, wie die Väter anderer Kinder es mit ihnen machten,
besonders wenn sie mehr als eine Tochter hatten. Es
war ein ganz normaler Teil meines Lebens.
Der einzige Unterschied zwischen einem Gutenacht-
kuss und dem, was mein Dad tat, bestand darin, dass es
sich nicht schön anfühlte. Es tat weh und fühlte sich
schmutzig an. Ich dachte mir, wenn man sich jedes Mal
die Hände waschen musste, nachdem man auf dem Klo
gewesen war, dann musste »da unten« auf jeden Fall etwas
Schmutziges sein. Das würde auch die Frage beantworten,
weshalb keine meiner Freundinnen je erzählte, dass ihr Vater
sie dort berührte. Also sagte ich auch nichts. So fing es
an. Ich war ein kleines Mädchen, als er begann, meinen
Intimbereich zu berühren, und in den nächsten Jahren
ging es weiter und wurde nach und nach immer schlimmer.
Wenn ich jetzt, als Erwachsene, zurückschaue, sehe
ich, dass ich keine Wahl hatte. Das Umfeld, das unsere Eltern
für uns schaffen, akzeptieren wir als normal, und er
schuf von Anfang an ein Umfeld, das von sexuellem Missbrauch
geprägt war. Er machte mich von klein auf zu seinem
Opfer. Es gab keine Hoffnung für mich.
***
In meinen frühesten Erinnerungen gibt es die meiste Zeit
nur Ma, die beiden Jungen und mich. Dad war sehr selten
zu Hause, und wenn er schlechte Laune hatte, war
das ganze Haus von einer düsteren Atmosphäre erfüllt.
Dad verdiente das Geld und bezahlte die Rechnungen,
und Ma kochte, putzte und sorgte für uns alle. Damals
wurde alles von Hand gemacht, und deshalb war die
Hausarbeit zehn Mal schwerer als heute. Ich werde den
Tag nie vergessen, an dem Dad mit einer Waschmaschine
ankam: Von da an brauchten die Frotteewindeln nie
wieder mit der Hand in einem Eimer gewaschen zu werden.
Dad hielt sich für den besten Ehemann der Welt, wenn
er Ma solche modernen Haushaltsgeräte schenkte. Er lächelte
so breit, dass ich mich fragte, warum sein Gesicht
nicht auseinanderbrach. Von da an hatten alle seine Geschenke
mit dem Haushalt zu tun. Natürlich hatte meine
Ma wie die meisten Frauen nichts gegen Geräte, die ihr
das Leben erleichterten, einzuwenden, aber als sie zum Geburtstag
und zu Weihnachten nichts anderes mehr bekam,
war sie vermutlich nicht allzu glücklich.
Ich war ungefähr drei Jahre alt, als wir von Ballsbridge
nach Fairview am nördlichen Rand von Dublin zogen. Das
war 1970. Damals bedeutete das einen Aufstieg.
Das neue Haus war eine Doppelhaushälfte - ein Eckhaus
- mit Garage. Zu beiden Seiten der kleinen Sackgasse
standen zehn Häuser. An unserem Ende der Siedlung
war eine hohe Mauer, hinter der ein Obstgarten lag. Dieser
Garten war ein wunderbarer Ort für uns Kinder. Im
Laufe der Jahre haben die meisten von uns irgendwann bei
dem Pfarrer und seiner Haushälterin, die dort wohnten,
das eine oder andere Mal Äpfel geklaut.
Unser Haus in Fairview war recht ansehnlich. Es hatte,
soweit ich mich erinnere, ein geräumiges Gästezimmer, ein
Wohnzimmer und eine kleine Küche. Meiner Ma gefiel es
sehr, und sie war froh darüber, das alte, feuchte Backstein-
haus in Ballsbridge los zu sein.
Ich fand meine ersten Freundinnen in dieser Siedlung
in Fairview. Ich spähte durch das Gartentor vor dem
Haus auf die Straße hinaus und sah eine Reihe von neu
gierigen kleinen Gesichtern, alle ungefähr in meinem
Alter.
Sie schnatterten durcheinander und stellten mir alle
möglichen Fragen, wie Kinder es tun. Sie waren fasziniert
von meinen blonden Haaren und blauen Augen, und immer
wieder schoben sie ihre dünnen Ärmchen durch das
vergitterte Tor, um mein Haar zu berühren und festzustellen,
ob es nicht nur anders aussah, sondern sich auch
anders anfühlte als ihr eigenes, braunes Haar. Diese Mädchen
sollten zum harten Kern meiner Grundschulbande
werden.
In jenem ersten Sommer in Fairview bestand meine Garderobe
aus winzig kleinen Shorts, Röcken und Kleidchen,
die kaum meinen Slip bedeckten. Dieses Alter der Unschuld
sollte aber nicht lange dauern. Mein Gott, wenn
ich daran denke, wie gut es meinem Vater gefallen haben
muss.
Fairview war eine wunderbare Gegend, um dort aufzuwachsen.
Ich war dort glücklicher als an allen anderen
Wohnorten, trotz allem, was hinter den geschlossenen
Türen unseres Hauses vor sich ging. Ich liebte meine kleinen
Freundinnen. Wir waren eine eng verschworene Gemeinschaft.
Wenn eine große Gruppe von Kindern zusammen
aufwächst, gibt es zwangsläufig hin und wieder
Streit, aber wenn wir uns einmal zankten, waren wir am
nächsten Tag doch wieder Freundinnen. Es gab immer
einen Weg, sich bei den andern wieder beliebt zu machen.
Wenn man demnächst Geburtstag hatte, konnte
man beispielsweise sagen: »Wenn du nicht mehr mit mir
spielen willst, darfst du auch nicht auf meine Feier kom-
men.« Das geschah nicht aus Gemeinheit, es ging vielmehr
darum, seine Überredungskraft zu nutzen. Und was
auch passieren mochte, wir gingen alle auf jeden Kindergeburtstag.
Diese Geburtstagsfeiern waren damals ziemlich schlicht.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich von meinen Freundinnen
teure Geschenke bekommen hätte; ich glaube, wir
haben einander überhaupt nichts geschenkt. Das Aufregende
an einer Feier bestand darin, dass man ein Jahr älter
wurde und so viele Süßigkeiten und Limonade bekam, wie
man herunterbrachte. Wir waren einfach glücklich, wenn
wir miteinander spielen und uns mit süßen Sachen vollstopfen
konnten. Und ob man wollte oder nicht, man bekam
immer ein Stück Geburtstagstorte in eine Serviette gewickelt,
das man mit nach Hause nehmen durfte.
Ma enttäuschte uns nie, wenn es um Torten und Partys
ging. Der Tisch bog sich unter Popcorn, Biskuitschnitten,
bunten Törtchen und - meine Lieblingsleckerei - Schokokonfekt
mit Rice Krispies. Noch heute, als Erwachsene,
finde ich, eine Party ist erst dann eine Party, wenn das
Rice-Krispie-Konfekt auf dem Tisch steht.
Das hochwichtige Ausblasen der Kerzen war der Gipfel
der Aufregung. Meistens schlich sich einer meiner Brüder
hinter mich und pustete sie mit mir zusammen aus; das
bedeutete, dass mein Wunsch nicht in Erfüllung gehen
würde. Wir bekamen uns kurz in die Haare, Ma versuchte,
uns auseinanderzubringen, dann wurden die Kerzen
noch einmal angezündet und meine Brüder scharf verwarnt.
Danach spielten wir alle möglichen Spiele wie »Reise
nach Jerusalem« oder das Statuenspiel, bei dem alle Kinder
in einer Pose erstarren mussten, wenn die Musik unterbrochen
wurde. Nicht selten endeten die Spiele mit Tränen:
Ein Kind weinte, weil es nicht gewonnen hatte, und
schwor Stein und Bein, es habe sich nicht bewegt, obwohl
alle es gesehen hatten.
Im Rückblick erscheinen mir die Sommer meiner
Kindheit sonniger, wärmer und länger als die heutigen,
aber damals kam es auf das Wetter nicht so sehr an, denn
wir spielten ebenso gern im Haus wie draußen. Wir besuchten
uns gegenseitig, aber oft wartete ich, bis jemand
mich zuerst besuchte. Wenn es draußen regnete, saß ich
auch gern auf der Couch und sah fern. Aber sobald ich
einmal draußen war, brachte man mich nur schwer wieder
ins Haus. Dann fuhr ich mit meinen Freundinnen
Fahrrad, wir übten Seilspringen oder schoben unsere
Puppenwagen durch die Straße, wir spielten Schlagball
oder Verstecken.
***
Ich benahm mich wie ein normales kleines Mädchen, aber
ich war keins. Ich war immer angespannt, und wenn ich
heute auf diese Zeit zurückschaue, glaube ich, ich hatte
Angst. Selbst tagsüber wusste ich nie, was hinter der nächsten
Ecke auf mich lauerte. Ich erinnere mich, wie ich eines
Sonntags mit Dad zur Messe ging. Ma war an diesem
Tag nicht da.
Meine Körpertemperatur stieg, und mein Gesicht begann
zu glühen, als ich sah, wie er hinten in der Kirche
von Fairview in Stellung ging. Zwei kleinere Mädchen
standen hinter ihm. Ich sah, wie er seine gruselige Hand
hinter seinen Rücken schob und eins der Mädchen anfasste.
Ich betete zum Himmel, sie möge nichts sagen. Ich
kannte sie nicht, und dafür war ich Gott dankbar, aber ich
sah, dass er offenbar keine Angst hatte. Für das kleine Mädchen
war die Messe an diesem Tag dagegen ein schreckliches
Erlebnis.
Ich wusste nicht, was ich schlimmer fand: wenn ich sah,
dass er das mit einem anderen Mädchen machte, oder
wenn er es mit mir machte. Wenn er es mit mir machte,
blieb es wenigstens im Verborgenen, aber wenn er es vor
meinen Augen mit jemand anderem machte, war ich starr
vor Schrecken.
Es war das erste Mal, dass ich sah, wie Dad ein anderes
Kind anfasste. Damals wusste ich nicht, warum, aber ich
fühlte mich körperlich krank.
Ich wusste nicht, ob dem Mädchen klar war, was da
mit ihm passierte, aber ich nahm an, dass es sich schmutzig
fühlte, denn so ging es mir immer, wenn er das mit
mir machte. Mein kindlicher Verstand begriff nicht, was
dahintersteckte; ich dachte, so etwas täten Daddys mit
ihren kleinen Töchtern - aber nicht mit anderen Kindern.
Ich weiß noch, dass sie bleich wurde. Gleichzeitig wurde
ich glühend rot, und ich konnte es nicht erwarten, aus
der Kirche hinauszukommen. Ma bestand immer darauf,
dass wir Papiertaschentücher im Ärmel hatten, und auf
dem Weg nach draußen zog ich eins hervor und tauchte
es ins Weihwasserbecken. Ich betupfte mein heißes Ge-
sicht damit, um es abzukühlen und vielleicht auch ein bisschen
von meiner Scham und meinem Entsetzen wegzuwaschen.
Dad spazierte einfach hinaus, als sei nichts passiert.
Anscheinend hatte er seinen Spaß gehabt, und alles
andere war unwichtig.
Ich erinnere mich, dass ich nach der Schule oft müde
war. Dann kam ich nach Hause, legte mich auf die Couch,
und das war's dann: Ich verschlief den ganzen Nachmittag.
Es wurde zu einer Gewohnheit, die während meiner
ganzen Schulzeit anhielt. Nachts fand ich nie viel Schlaf,
und tagsüber konnte ich mich nicht wach halten. Es war
ein Symptom dafür, dass meine innere Uhr völlig durcheinander
war. Die meisten Kinder schliefen gleich ein,
wenn sie zu Bett gegangen waren, ich jedoch nicht. Mir
graute vor dem Zubettgehen, weil ich wusste, dass Dad
bald nachkommen würde.
Anfangs lag ich da und wartete auf ihn, und meine
Muskeln waren starr vor Anspannung. Wenn sich dann
die Tür öffnete, entspannte ich mich - nicht vor Erleichterung,
sondern damit er glaubte, ich würde schlafen,
und mich in Ruhe ließ. Aber das war vergebliche Mühe,
Dad ließ sich davon nicht abhalten. Wenn er mit mir
fertig war, erwachte ich wieder zum Leben und war die
ganze Nacht hellwach. Wie hätte ich auch einschlafen
können? Meine Gedanken waren verseucht von dem Gefühl,
schmutzig zu sein. Stundenlang lag ich wach und
hing düsteren Grübeleien nach.
In den frühen Morgenstunden schlief ich meist ein, nur
um bald darauf wieder geweckt zu werden. Am folgenden
Tag war ich dann so erschöpft, dass ich einen langen Nach-
mittagsschlaf brauchte, um mich psychisch wieder aufzuladen.
***
Meine frühesten Erinnerungen an die Schule stammen aus
der Zeit, als ich sechs Jahre alt war. An den Kindergarten
kann ich mich nicht gut erinnern, wohl aber an das erste
Schuljahr an der St. Mary's National School in Fairview,
und gern denke ich an meine Lehrerin, Mrs Ray, zurück.
Sie war genau die Sorte Lehrerin, die alle Kinder lieben.
Sie hatte viel Verständnis für Kinder, und ich kann mich
nicht erinnern, dass sie jemals mit jemandem geschimpft
hätte. Wenn sie Geburtstag hatte, bekam jedes Kind ein
Geschenk. Ich sehe das gelbe, elastische Haarband noch
vor mir, das sie mir schenkte, damit ich mein blondes Haar
zurückbinden konnte. Dieses Haarband habe ich jahrelang
aufgehoben.
Die Schule machte mir großen Spaß, trotz allem, was
zu Hause mit mir passierte.
Meine Hausaufgaben schaffte ich immer, und bald liebte
ich das Lesen und Schreiben. Mathematik fiel mir ziemlich
leicht, und so war ich alles in allem eine gute Schülerin.
Schon in der ersten Klasse hing ich an Mrs Rays Lippen
und tat, was ich konnte, um ihr zu gefallen. Alle Aufmerksamkeit,
die sie mir schenkte, war wie ein Sonnenstrahl in
meinem Leben. Wenn sie meine Hausarbeit mit einem roten
Stift abhakte - was »Sehr gut« bedeutete -, war ich im
siebten Himmel. Aber im Laufe des Jahres reichte ihre Anerkennung
nicht mehr aus, um mich glücklich zu machen.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.weltbild.de
Copyright der Originalausgabe © 2008 by Audrey Delaney
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Augsburg
Übersetzung: Rainer Schmidt
Projektleitung: librisco consult, München
Redaktion: Carmen Dollhäubl, Augsburg
Umschlaggestaltung: Maria Seidel, Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising
Umschlagmotiv: © Audrey Delaney
Satz: Dirk Risch, Berlin
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-372-7
2013 2012 2011 2010
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
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Bibliographische Angaben
- Autor: AUDREY DELANEY
- 237 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800372X
- ISBN-13: 9783868003727
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