Vampir wegen dir
Der unscheinbare sechzehnjährige Finbar Frame ist in Sachen Mädchen ein absoluter Loser. Als er davon Wind bekommt, dass seine Mitschülerinnen total dem Vampirkult verfallen sind, beschließt er kurzerhand, Vampir zu werden - selbstverständlich ohne den...
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Produktinformationen zu „Vampir wegen dir “
Klappentext zu „Vampir wegen dir “
Der unscheinbare sechzehnjährige Finbar Frame ist in Sachen Mädchen ein absoluter Loser. Als er davon Wind bekommt, dass seine Mitschülerinnen total dem Vampirkult verfallen sind, beschließt er kurzerhand, Vampir zu werden - selbstverständlich ohne den Blutsauger-Part. Finbars Täuschung funktioniert besser als gedacht. Schon bald scharen sich unzählige Möchtegernfreundinnen um den geheimnisvollen Untoten. Aber als Finbar das Mädchen seiner Träume trifft, erkennt er, dass das Leben als Pseudo-Vampir ganz schön kompliziert ist.
Lese-Probe zu „Vampir wegen dir “
Vampir wegen dir von Flynn Meaney Aus dem Englischen von Tanja Ohlsen
Kapitel 1
»Tu es«, verlangte Jenny und sah mich so fest an, als wolle sie
mich an der Mauer hinter mir festnageln. »Mach mich zu einem Vampir.«
Ihr Hals war milchweiß wie eine leere Leinwand oder ein
Ringbuchblock am ersten Schultag. An ihrem Schlüsselbein
prangten ein paar Sommersprossen wie Zielpunkte.Beiß zu,sagten
sie.Genau hier.Eine Vene,zum Bersten gefüllt,trat besonders
stark hervor.DieVena jugularis.Vor zwei Jahren hatte ichgelernt,
dass diese Halsvene das wichtigste Blutgefäß des Körpers ist und
am meisten Blut enthält. Mein Biologielehrer hatte nicht geahnt,
dass dieses Wissen bei mir einmal zur tödlichen Waffe werden
könnte. Doch in den letzten Monaten war genau das geschehen.
Ich muss gestehen, die Gelegenheit war perfekt. Jenny war
ziemlich klein,einen ganzen Kopf kleiner als ich,und wog kaum
fünfzig Kilo. Sie war nicht nur ein leichtes und schwaches Opfer,
sie war ein williges noch dazu.
Auch das Szenarium war perfekt, wie in billigen Horrorfilmen
oder Mary-Shelley-Romanen. Ich stand mit Jenny in einer
dunklen Nebenstraße, inmitten von verstreutem altem Laub,
Müll und einer zerfledderten Taube.Abgesehen von dem kurzen
Aufflackern eines Lichts drei Stockwerke über uns würde uns
nichts und niemand stören. Es gab keine Zeugen.
Allerdings wünschte ich mir sehnlichst, dass jemand vorbeikommen
würde. Touristen mit Südstaatenakzent, die sich verlaufen
hatten, Taschendiebe, irgendjemand. Ich betete geradezu,
dass uns jemand unterbrach. Es kam mir so verrückt vor, dass ich
mit der ganzen Sache angefangen hatte. Mit dieser Lüge.
... mehr
Ich hatte in meinem Leben schon mehrmals einen Punkt
erreicht, an dem ich, egal, was ich tat, einfach nicht gewinnen
konnte. Dies war wieder so einer. Also hoffte ich auf Inspiration,
betete um ein Wunder, fletschte die Zähne, neigte den Kopf und
näherte mich ihrem Hals ...
Doch halt, Augenblick mal. Das ist die falsche Reihenfolge. So
Hört es sich ja an, als sei ich einer von diesen schlimmen Vampiren,
diesen Horrorfilm-Vampiren, die stets auf der Suche nach Opfern
herumschleichen, sie isolieren, ihnen das Blut aussaugen und sie
gegen ihren Willen ebenfalls zu Vampiren machen. In Wirklichkeit
hatte ich in dieser Gasse ebenso viel Angst wie Jenny - und
war noch viel unsicherer als sie. Ich hoffte wirklich, dass jemand
kommen würde - ein Polizist, ein Obdachloser, ein Superheld.
Und ich war genau deshalb so unsicher, weil ich noch nie zuvor
jemanden zum Vampir gemacht hatte.
Nein, so ganz stimmt auch das wieder nicht. Denn schließlich
habe ich mich selbst zu einem Vampir gemacht.
Und im Grunde genommen wurde ich unter ziemlich normalen
Umständen zum Vampir. Nicht normal wie im Falle der
dunklen Gasse oder der gefletschten Zähne und nicht normal
im Sinne von Fantasybüchern und Horrorfilmen. Meine Hände
waren nicht mit blutigen Fesseln gebunden, ich lebte nicht in
einem Keller, in dem die Fenster verdunkelt und die Kreuze
abgehängt waren. Niemand hockte drohend und mit blutigen
Reißzähnen neben meiner entblößten Kehle. Es gab keine zersplitterten
Särge, kein transsilvanisches Schloss, keine tollwütigen
Fledermäuse. Niemand trug ein Cape. Und ich schon gar nicht.
Ich wurde im dritten Waggon eines Zuges in Westchester
County, New York, zum Vampir. Ich war ein katholischer Schuljunge
aus dem Mittleren Westen, aufgewachsen mit Brausepulver
und überfälligen Leihbüchern. Und für mich war es normal, auf
diese Weise zu einem Vampir zu werden, denn ich hatte mir den
doppelten Windsorknoten beigebracht, hatte die Verse von Tupac
Shakurs »Changes« auf Latein gelernt und die Erfahrung gemacht,
dass man mich zusammenschlagen würde, wenn ich einen
doppelten Windsorknoten trug oder Tupac Shakurs »Changes«
in der Öffentlichkeit auf Latein vortrug. Na gut, Letzteres haben
mir wohl eher andere beigebracht. Aber ein Vampir zu werden -
das habe ich ganz allein so gewollt.
In Büchern und Filmen haben die Leute selten die Wahl,
ob sie ein Vampir werden wollen oder nicht. Normalerweise
werden sie gegen einen alten Sarg oder eine Schlossmauer geklemmt
und ausgesaugt, während sie sich entsetzt wehren. Es
tut weh, ein Vampir zu werden. In meinem Fall war es einfach
nur ein notwendiges Übel. Um »freiwillig« zum Vampir zu
werden, muss man schon an der Schwelle des Todes stehen oder
sein erbärmliches menschliches Ich so satthaben, dass man seine
Sterblichkeit für alles Mögliche aufgeben würde, was anders ist.
Rückblickend würde ich sagen, dass ich genau diesen Punkt
erreicht hatte, diesen Punkt der Verzweiflung und Enttäuschung.
Und jetzt versuche ich, mich daran zu erinnern, wie ich dorthin
gelangt war.
Vielleicht begann es mit dem Umzug nach New York.
Ich bin in Alexandria, Indiana, aufgewachsen. Na ja, vielleicht
sollte ich nicht sagen »aufgewachsen«. Ich habe dort gewohnt,
bis ich sechzehn war und hoffentlich noch nicht ausgewachsen.
Ich war zwar schon über einen Meter achtzig groß, aber was
Gesichtsbehaarung anging, hinkte ich leicht hinterher, also war
ich vielleicht noch nicht ganz »reif«. Jedenfalls: Alexandria, Indiana.
Der Ruhm der Stadt gründet sich hauptsächlich auf den
Anspruch, den größten Farbball der Welt zu besitzen. Was ein
Farbball ist? Berechtigte Frage. Im Prinzip ist es ein normaler
Baseball mit über 21500 Schichten Farbe. Man kann ihn seit
zwölf Jahren auf den Weihnachtskarten der Familie bewundern -
wir posieren jedes Jahr davor.
Mein Dad war Verkaufsleiter einer Elektronikfirma. Er war wie
einer dieser CIA-Typen, die jeden Tag aus dem Büro nach Hause
kommen und nie darüber sprechen, was sie eigentlich tun. Das
Einzige, was er vom Job mit nach Hause brachte, war seine Liebe
zu technischen Spielereien. Das nervte meine Mutter tierisch, weil
sie einen Horror vor Technik hat und davon ausgeht, dass alles, was
man in die Wand einstöpseln kann, krebserregend ist. Und auch
wenn mein Dad von nichts eine Ahnung hat, hielt ihn offenbar
jemand für clever genug, zum Berater befördert zu werden. So
mussten wir nach New York umziehen. Ein Berater ist offensicht-
lich jemand, der einem bei der Arbeit über die Schulter sieht und
sagt, wie man es besser machen kann. Bei meinem Vater konnte
ich mir das nicht vorstellen. Bei meiner Mutter allerdings ...
Mein Bruder Luke und ich hatten gerade die zehnte Klasse
an einer katholischen Schule absolviert, St. Luke's, ein paar Orte
weiter. Luke spielte im Footballteam der Schule in der Offensive
und war auch noch Aufbauspieler im Basketballteam. Er hatte
in seinem ersten Jahr so gut gespielt, dass ihm die Trainer versprachen,
ihn in die Juniorenmannschaft aufzunehmen. Ich dagegen
wurde zum Herausgeber des Literaturmagazins befördert.
Na gut, das Literaturmagazin der St. Luke's hatte nur eine Auflage
von fünf Exemplaren (für mich, meinen Fachlehrer, meine
Mutter und zwei anonyme Schüler, denen es zu peinlich war, ihre
Namen anzugeben). Immerhin schätzte ich, dass sich der Titel
»Herausgeber des Literaturmagazins« in meinen Collegebewerbungen
gut machen würde.
Aber ich hatte die St. Luke's ziemlich satt. Trotz meiner einflussreichen
Position in Literatur respektierte mich eigentlich
niemand. Schon gar nicht dieser Johnny Frackas, der mich ständig
ärgerte. Alle nannten ihn »Johnny Freckles« (sowohl wegen seiner
eigenen Sommersprossen als auch wegen der seiner Mutter, die
angeblich ihren ganzen Körper bedeckten, was zu mancherlei
Spekulationen führte), und seinen Ärger darüber ließ er für
gewöhnlich am Nächstbesten aus. Dank der geradezu obsessiven
Manie der Schule, alles in alphabetischer Reihenfolge zu tun, war
das für gewöhnlich ich: Finbar Frame. Während der gesamten
neunten Klasse begrüßte mich Johnny Frackas zur ersten Stunde
mit einem »Guten Morgen, Fickbar!«und gackerndem Gelächter.
In der zehnten Klasse wurde ich zu Admiral Fickbar befördert.
Eigentlich hätte ihn das zum Loser machen müssen, denn es war
wohl eine Anspielung auf Admiral Ackbar aus Die Rückkehr der
Jedi-Ritter, aber aus unerfindlichen Gründen brachte es mir gar
nichts, als ich ihn darauf hinwies, dass er meine Person dadurch
aufwertete und nicht wie gewollt herabsetzte. Mein Zwillingsbruder
hätte mich eigentlich davor schützen sollen, immerhin
trug er denselben Nachnamen wie ich und hätte ebenfalls kurz
vor der ersten Stunde anwesend sein sollen. Aber Luke tauchte
nur etwa dreimal im Jahr pünktlich auf, ansonsten sorgten seine
Fußball- und Basketballtrainer dafür, dass er aus allem herausgehalten
wurde. Ich musste mich allein verteidigen.
Der Montagmorgen im zweiten Highschool-Jahr war das
Schlimmste. Die meisten Jungen fingen an, den Führerschein zu
machen, hatten Freundinnen und falsche Ausweise, über die die
Ladenbesitzer nicht mehr lachten. Andere Jungen freuten sich
auf die Wochenenden, auf House-Partys und darauf, Bier-Pong
zu spielen, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen und Mädchen
zu küssen (Letzteres hoffentlich nicht gleichzeitig. Obwohl ich da
schon Sachen gehört habe ...). Bei mir fand nichts dergleichen
statt, nicht einmal das Kotzen.
Es lag nicht daran, dass ich nicht eingeladen wurde. Mein
Bruder Luke lud mich sogar überallhin ein. Jeden Freitagnachmittag
rannte er über den langen Gang zwischen unseren Zimmern
und rief: »Hey, Sean O'Connor hat drei Kisten Bier von
seinem Bruder bekommen. Alle Dosen haben Beulen, aber er
hat das gegoogelt und gemeint, dass wir wahrscheinlich keine
Lebensmittelvergiftung davon kriegen. Komm, trink mit uns!«
Oder: »Maddy Kellers sexy Schwester ist aus Schweden zurück
und schmeißt eine Party. Mit Schwedinnen! Die sind nach
den Brasilianerinnen die heißesten Mädels überhaupt. Du musst
mitkommen Finn. Das wird ir-re!«
Oder: »Hast du die Werbung für den Horrorfilm gesehen,
in der so ein Mädchen vom Disney-Channel ihre Titten zeigt?
Unser Team sieht ihn sich an, komm mit!« Pause. »Es kommen
auch Kettensägen drin vor, Bruderherz.«
Für meinen Bruder, diesen Ausbund an Energie und Optimismus,
waren unglaublich viele Dinge ir-re. Das lag daran, dass ihm
jedes Mal Applaus und Bewunderung entgegenschlugen, wenn er
einen Raum betrat. Für Luke war jede Party an der Highschool
wie ein Auftritt auf dem roten Teppich bei einer Filmpremiere
- und er war Vince Chase aus Entourage. Die Leute stritten
sich darum, wer mit ihm reden und ihm Fragen stellen durfte.
Die Mädchen zupften an seinen Klamotten und baten ihn um
Autogramme, während die Jungen ihn mit seltsamen Spitznamen
anredeten, die sie sich auf dem Footballfeld in ihren Gatorade-
Pausen hatten einfallen lassen. Alle freuten sich, ihn zu sehen.
Ich konnte mir ausmalen, wie Leute wie ... ja, sagen wir,
Johnny Frackas, darauf reagieren würden, wenn ich auf einer
Party der Schwedenmädchen auftauchen und an ihrer Gockelparade
teilnehmen würde. Oder wie sich Sean O'Connor fühlen
würde, wenn irgendein Blödmann ankam und eine seiner kostbaren
verbeulten Bierdosen leer trank. Oder wie sie lachen würden,
wenn ich versuchte, einen Kegstand zu machen (Luke hatte
mich einmal gezwungen, so einen Handstand auf einem Bierfass
zu machen, als unsere Eltern nicht da waren, und seitdem war ich
überzeugt, dass man dazu rumänischer Kunstturner sein musste).
Es lag nicht etwa daran, dass ich keine Schwedinnen oder
Horrorfilme gemocht hätte, und auch nicht daran, dass ich Luke
nicht gemocht hätte. Ich liebte Luke sogar, aber mit den anderen
Idioten vom St. Luke's wollte ich nicht herumhängen.
Luke würde ich natürlich nie erzählen, dass ich Angst davor
hatte, seine Freunde könnten gemein zu mir sein. Zum einen
hatte mein Bruder keine Probleme mit der Gesellschaft, würde
es also gar nicht verstehen. Außerdem nahm er alles wörtlich
und würde wahrscheinlich hingehen und sagen: »Seid ja nicht
gemein zu meinem Bruder!« Was natürlich genau die gegenteilige
Wirkung haben würde.
Also erfand ich für meinen Bruder gelegentlich legitime Ausreden
wie: »Ich bin die Kerle aus der Schule leid.« Manchmal
wurde es etwas lächerlicher, wenn ich zum Beispiel sagte: »Oh,
so ein Bier kann ich echt nicht trinken, ich habe total Schiss vor
einer Lebensmittelvergiftung.«
Und im Falle des Films konnte ich sagen: »Ich habe gehört,
das Mädchen vom Disney-Channel ist in Wirklichkeit ein Transvestit.«
Oder bei der Party: »Echt schade, dass alle Schwedinnen ein
Keuschheitsgelübde abgelegt haben, bis sie fünfundzwanzig sind.
Doch, lies es selbst nach, die Regierung zwingt sie dazu.«
Aber Luke hatte keine Angst vor Lebensmittelvergiftungen,
Geschlechtsverwirrungen oder staatlich erzwungener Abstinenz.
Also zog er los, und ich saß zu Hause, während sich andere Jungen
einen monatelangen Vorsprung an sexuellen Erfahrungen
zulegten. Jeden Montag tauchten diese Jungen ziemlich zermürbt
in der Schule auf und sahen aus, als hätten sie gerade ein paarmal
das Spielfeld umrundet. Und jeden Montag fragte mich Johnny
Frackas: »Na, Fickbar, hast du dieses Wochenende einen Arsch
abgekriegt?«
Gab ich ihm eine passende Antwort? Setzte ich meinen Kopf
und meine Wortgewandtheit ein, um die Mutter aller »Deine
Mutter«-Witze zu erfinden? Zog ich irgendeinen Nutzen aus der
Tatsache, dass Johnny Frackas ein so leichtes Opfer war? Nein.
Niemals. Nicht ein einziges Mal. Ich habe ihm nicht einmal geantwortet.
Ich habe einfach nur dagesessen wie ein Idiot, mit den
schmalen Idiotenschultern gezuckt oder so getan, als würde mich
auf einmal mein Chemiebuch ungeheuer interessieren. Ich habe
nie etwas gesagt. Und das bereue ich.
Ich war also ziemlich froh, von der St. Luke's wegzukommen
und nach New York zu ziehen. Es war eindeutig ein idealer Zeitpunkt
für eine Verwandlung - aber es war nicht New York, das
mich zu einem Vampir gemacht hat.
Vielleicht begann in New York alles mit diesem Mädchen im
Zug. Sie sah mich, sobald ich eingestiegen war, und schlängelte
sich zu mir durch, um sich neben mich zu setzen. Obwohl sie in
einem dicken Taschenbuch las, warf sie mir nach jedem Absatz
einen Seitenblick zu. Sie sah die roten Schwellungen auf meinen
Händen und die Verbände an meinen Armen. Dann sagte sie, sie
wisse, was mir fehle. Und sie schien sich so sicher und war so verständnisvoll,
dass ich ihr zustimmte. Vielleicht musste sich mein
Leben in diesem Augenblick ändern.
Vielleicht war der Wunsch nach Veränderung aber auch schon
sechzehn Jahre und neun Monate früher entstanden, bei der Befruchtung
zweier sehr unterschiedlicher Eier durch zwei sehr
unterschiedliche Spermien. Tut mir leid, dass ich das Sexual-
leben meiner Eltern ins Spiel bringen muss, aber so hat es mit
mir und Luke angefangen. Meine Mutter entließ ein Ei mit
ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrer Energie und ein anderes
mit ihren Bindungsängsten und ihrer Sentimentalität. Und mein
Dad schickte eine seiner Spermien mit seiner Sportlichkeit und
seinem gefälligen Wesen los und eine mit seiner Tendenz, sich
ein ganzes Wochenende lang in seinem Zimmer einzuigeln.
Das coole Sperma fand das coole Ei, und sie hingen zusammen
im coolen Teil des Uterus ab. Die Mauerblümchen fanden sich
irgendwie zwangsläufig und ergaben mich.
Die Ärzte erklärten meiner Mutter, dass sie zweieiige Zwillinge
bekäme. Zwei ganz verschiedene Erbgutsätze. Zwei verschiedene
Kinder. Eines nahm alle Nährstoffe auf und wurde
rund und gesund. Das andere war unterernährt, aber zu müde,
um sich zu wehren. Bis zum heutigen Tag ist es immer noch
fünfundzwanzig Pfund hinter dem anderen zurück. Einer von
uns wurde Luke genannt, der andere Finbar. Schwer zu glauben,
dass mein lebenslanges Pech durch die Wahl dieses Namens nicht
schon irgendwie besiegelt sein sollte.
Luke wurde für Lob und Bewunderung geboren. Und für
Mädchen. In einem Sommer wurde er acht Mal vom YMCA-
Spielplatz verbannt, weil er von Mädchen geküsst worden war.
Eigentlich war das unfair. Nicht mein Bruder hätte Ärger bekommen
dürfen, er war nur das Opfer. Die Mädchen hatten
schließlich ihn attackiert, nicht umgekehrt. Und so ist es noch
bis heute. In unserer Schule war er der einzige Zehntklässler, der
zum Abschlussball eingeladen wurde. Eine süße Asiatin aus der
All-Saints-Mädchenschule hatte ihn gefragt, ob er sie begleiten
wolle. Und natürlich waren trotz des Namens der Schule nicht
alle Mädchen dort Heilige, das könnt ihr mir glauben. Als mein
Bruder nach Hause kam, hatte er seine geliehenen Hosen verkehrt
herum an.
Die Unterschiede zwischen uns wurden im Alter von zwölf
Jahren ganz offensichtlich. Luke kam von einer Party mit Jungen
und Mädchen in unserer Gemeinde zurück und verkündete
unseren Eltern, dass ihn an diesem Abend drei Mädchen geküsst
hätten. Richtig geküsst. Auf den Mund. Meine Mutter, die
ebenso romantisch wie bakteriophob veranlagt ist, war hin- und
hergerissen zwischen Panik und Neugier. Sie löste das Dilemma,
indem sie meinen Bruder nach allen interessanten Einzelheiten
fragte, während sie ihn zum Arzt brachte, um ihn auf Pfeiffersches
Drüsenfieber untersuchen zu lassen.
Ich hätte auch gerne mehr über diese Küsse gewusst (war einer
vielleicht von dem Mädchen mit dem Rosenkranz und dem
Trägertop?), doch als ich danach fragte, war Luke durch die eifrige
Jagd auf Lakritzschnecken abgelenkt. Und wo, bitte, war ich
gewesen, als im Keller bei der kleinen Mary herumgeknutscht
wurde? Ich war doch auch da. Auf derselben Party .Aber Luke war
im Keller gewesen, und ich hatte oben Henry Kim beim Patience-
legen zugesehen. Übrigens, das Einzige, was noch jämmerlicher
ist, als auf einer Party (selbst in der siebten Klasse) Patiencen zu
legen, ist, dabei zuzusehen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass im
Keller geküsst wurde. Das Küssen verpasste ich immer.
Wenn ich meinen Eltern erzählt hätte, dass ich mit einem
Jungen allein gewesen war, während alle anderen Jungs Mädchen
küssten, hätten sie vielleicht einen falschen Eindruck bekommen,
also zuckte ich nur mit den Schultern, als sie mich fragten: »Und
was ist mit dir, Finbar?«
Nicht, dass ich mich nicht für Mädchen interessieren würde.
Da muss man nur mal den Priester fragen, der sich jeden Monat
meine Beichte anhören darf. Ich interessiere mich sehr für Mädchen.
Jeden Morgen ungefähr sechs Minuten unter der Dusche.
Ich habe einen Geschlechtstrieb wie Bill Clinton. Meiner überstimulierten
Libido muss sogar meine obsessive Liebe zu Büchern
weichen. Genauer gesagt, der Bibliothekarin für Kinderbücher
in der Alexandria-Bibliothek. Sie hat richtig große Brüste. Nein,
nicht groß, riesig. Jede ungefähr so groß wie eine Bowlingkugel
für Erwachsene. Ich schwöre es. Als Folge davon verband ich von
frühester Kindheit an Lesen mit allem, für was der weibliche
Körper steht: Trost, Weichheit, Sinnlichkeit, mütterliche Bindung,
Nahrung, Wohlgefühl ... und Titten.
Da ich nicht viel hinauskomme, spielen sich Liebe und Sex für
mich in Büchern und Filmen ab. Ich habe stellvertretend durch
Heathcliff, Romeo, Rhett Butler, George Clooney, Harrison
Ford und James Bond gelebt. Aus der Sicherheit meines eigenen
Zimmers heraus ist es leicht zu glauben, ich könne mindestens
ebenso charmant und mutig sein wie diese alten Knaben. Auch
meine Mutter findet so etwas in Büchern. Na ja, nicht Sex, sie ist
strenggläubige Katholikin. Aber sie liebt Liebesgeschichten. Wie
ein Bluthund hat sie meine romantische Ader aufgespürt, die ich
zu verbergen versucht hatte. Ich wurde ihr Gefährte, ihr Kumpel
für romantische Komödien, ihr persönlicher Oprah-Buchclub.
Man könnte sagen, ich weiß mehr über die Entwicklung von
Katherine Heigls Haarfarbe, als ein Mann wissen sollte.
Die Frau hat mich in vielerlei Hinsicht verdorben.
Die romantischen Komödien meiner Mutter haben mir vorgegaukelt,
Mädchen wollten Jungen, die nachdenklich, zuver-
lässig und romantisch sind. Sicher, wenn der Film anfängt, trifft
sich das Mädchen mit dem egoistischen Kerl im Maserati. Aber
nach und nach fühlt sie sich zu dem hingezogen, der sich an
ihre Lieblingsblumen erinnert, der sie vom Kostümball abholt,
bei dem sie als Einzige ein Kostüm trägt, und der ihr versichert,
dass ihr interessanter Charakter sie wesentlich attraktiver mache
als ihre Schwester, das Playboy-Model. Das Publikum schmilzt
dahin, wenn der Kerl ihr in einer herzzerreißenden Rede die
wahren Gründe schildert, warum er sie liebt. Dass er gelegentlich
ungeschickt ist und nach Worten sucht, macht ihn nur noch sympathischer.
So könnte ich sein. So bin ich.
Und dennoch: Highschool-Mädchen hassen mich.
Die Jungen, die in der Highschool Mädchen kriegen, sind
diejenigen, die auf die Hupe drücken und den Mädchen in
ihren kurzen Röcken hinterherpfeifen. Es sind die, die beim
Schulfest kleine Wodkafläschchen kippen und versuchen, genug
Mut aufzubringen, den Mädchen an die Wäsche zu gehen. Sie
machen sich beim Footballspielen über Mädchen lustig, die ihre
Hosen in die Stiefel stecken, und speichern Telefonnummern von
Mädchen in ihren Handys unter »Blondine« ab, weil sie so tun, als
hätten sie vergessen, sie nach dem Namen zu fragen, und der sie
auch gar nicht interessiert. Oder weil sie ihn wirklich vergessen
haben. So behandelt Luke Mädchen. Und deshalb bekommt er
sie - und eigentlich, da wir gerade von Mädchen reden, hat es
auch mit einem angefangen.
Genau so hat es angefangen.
Mit Celine.
1. Auflage
© 2011 INK
verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH,
Gertrudenstraße 30-36,50667 Köln
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Flynn Meaney
Originalverlag: Poppy, an imprint of Little, Brown and Company
Originaltitel: BLOODTHIRSTY
Übersetzung aus dem Englischen: Tanja Ohlsen
Die Übersetzung des Sonetts 29 von William Shakespeare auf Seite 250
stammt von Karl Bernhard aus: Die Sonette des William Shakespeare.
Englisch und Deutsch. Nachgedichtet von Karl Bernhard, © Insel Verlag,
Frankfurt am Main, 1989
Umschlag: Kathrin Schüler, Berlin
unter Verwendung eines Fotos von Corbis © M. Deutsch/zefa/Corbis
und eines Motivs von © Anton Senkou-Melnik@istockphoto
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck/Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86396-008-7
www.egmont-ink.de
Ich hatte in meinem Leben schon mehrmals einen Punkt
erreicht, an dem ich, egal, was ich tat, einfach nicht gewinnen
konnte. Dies war wieder so einer. Also hoffte ich auf Inspiration,
betete um ein Wunder, fletschte die Zähne, neigte den Kopf und
näherte mich ihrem Hals ...
Doch halt, Augenblick mal. Das ist die falsche Reihenfolge. So
Hört es sich ja an, als sei ich einer von diesen schlimmen Vampiren,
diesen Horrorfilm-Vampiren, die stets auf der Suche nach Opfern
herumschleichen, sie isolieren, ihnen das Blut aussaugen und sie
gegen ihren Willen ebenfalls zu Vampiren machen. In Wirklichkeit
hatte ich in dieser Gasse ebenso viel Angst wie Jenny - und
war noch viel unsicherer als sie. Ich hoffte wirklich, dass jemand
kommen würde - ein Polizist, ein Obdachloser, ein Superheld.
Und ich war genau deshalb so unsicher, weil ich noch nie zuvor
jemanden zum Vampir gemacht hatte.
Nein, so ganz stimmt auch das wieder nicht. Denn schließlich
habe ich mich selbst zu einem Vampir gemacht.
Und im Grunde genommen wurde ich unter ziemlich normalen
Umständen zum Vampir. Nicht normal wie im Falle der
dunklen Gasse oder der gefletschten Zähne und nicht normal
im Sinne von Fantasybüchern und Horrorfilmen. Meine Hände
waren nicht mit blutigen Fesseln gebunden, ich lebte nicht in
einem Keller, in dem die Fenster verdunkelt und die Kreuze
abgehängt waren. Niemand hockte drohend und mit blutigen
Reißzähnen neben meiner entblößten Kehle. Es gab keine zersplitterten
Särge, kein transsilvanisches Schloss, keine tollwütigen
Fledermäuse. Niemand trug ein Cape. Und ich schon gar nicht.
Ich wurde im dritten Waggon eines Zuges in Westchester
County, New York, zum Vampir. Ich war ein katholischer Schuljunge
aus dem Mittleren Westen, aufgewachsen mit Brausepulver
und überfälligen Leihbüchern. Und für mich war es normal, auf
diese Weise zu einem Vampir zu werden, denn ich hatte mir den
doppelten Windsorknoten beigebracht, hatte die Verse von Tupac
Shakurs »Changes« auf Latein gelernt und die Erfahrung gemacht,
dass man mich zusammenschlagen würde, wenn ich einen
doppelten Windsorknoten trug oder Tupac Shakurs »Changes«
in der Öffentlichkeit auf Latein vortrug. Na gut, Letzteres haben
mir wohl eher andere beigebracht. Aber ein Vampir zu werden -
das habe ich ganz allein so gewollt.
In Büchern und Filmen haben die Leute selten die Wahl,
ob sie ein Vampir werden wollen oder nicht. Normalerweise
werden sie gegen einen alten Sarg oder eine Schlossmauer geklemmt
und ausgesaugt, während sie sich entsetzt wehren. Es
tut weh, ein Vampir zu werden. In meinem Fall war es einfach
nur ein notwendiges Übel. Um »freiwillig« zum Vampir zu
werden, muss man schon an der Schwelle des Todes stehen oder
sein erbärmliches menschliches Ich so satthaben, dass man seine
Sterblichkeit für alles Mögliche aufgeben würde, was anders ist.
Rückblickend würde ich sagen, dass ich genau diesen Punkt
erreicht hatte, diesen Punkt der Verzweiflung und Enttäuschung.
Und jetzt versuche ich, mich daran zu erinnern, wie ich dorthin
gelangt war.
Vielleicht begann es mit dem Umzug nach New York.
Ich bin in Alexandria, Indiana, aufgewachsen. Na ja, vielleicht
sollte ich nicht sagen »aufgewachsen«. Ich habe dort gewohnt,
bis ich sechzehn war und hoffentlich noch nicht ausgewachsen.
Ich war zwar schon über einen Meter achtzig groß, aber was
Gesichtsbehaarung anging, hinkte ich leicht hinterher, also war
ich vielleicht noch nicht ganz »reif«. Jedenfalls: Alexandria, Indiana.
Der Ruhm der Stadt gründet sich hauptsächlich auf den
Anspruch, den größten Farbball der Welt zu besitzen. Was ein
Farbball ist? Berechtigte Frage. Im Prinzip ist es ein normaler
Baseball mit über 21500 Schichten Farbe. Man kann ihn seit
zwölf Jahren auf den Weihnachtskarten der Familie bewundern -
wir posieren jedes Jahr davor.
Mein Dad war Verkaufsleiter einer Elektronikfirma. Er war wie
einer dieser CIA-Typen, die jeden Tag aus dem Büro nach Hause
kommen und nie darüber sprechen, was sie eigentlich tun. Das
Einzige, was er vom Job mit nach Hause brachte, war seine Liebe
zu technischen Spielereien. Das nervte meine Mutter tierisch, weil
sie einen Horror vor Technik hat und davon ausgeht, dass alles, was
man in die Wand einstöpseln kann, krebserregend ist. Und auch
wenn mein Dad von nichts eine Ahnung hat, hielt ihn offenbar
jemand für clever genug, zum Berater befördert zu werden. So
mussten wir nach New York umziehen. Ein Berater ist offensicht-
lich jemand, der einem bei der Arbeit über die Schulter sieht und
sagt, wie man es besser machen kann. Bei meinem Vater konnte
ich mir das nicht vorstellen. Bei meiner Mutter allerdings ...
Mein Bruder Luke und ich hatten gerade die zehnte Klasse
an einer katholischen Schule absolviert, St. Luke's, ein paar Orte
weiter. Luke spielte im Footballteam der Schule in der Offensive
und war auch noch Aufbauspieler im Basketballteam. Er hatte
in seinem ersten Jahr so gut gespielt, dass ihm die Trainer versprachen,
ihn in die Juniorenmannschaft aufzunehmen. Ich dagegen
wurde zum Herausgeber des Literaturmagazins befördert.
Na gut, das Literaturmagazin der St. Luke's hatte nur eine Auflage
von fünf Exemplaren (für mich, meinen Fachlehrer, meine
Mutter und zwei anonyme Schüler, denen es zu peinlich war, ihre
Namen anzugeben). Immerhin schätzte ich, dass sich der Titel
»Herausgeber des Literaturmagazins« in meinen Collegebewerbungen
gut machen würde.
Aber ich hatte die St. Luke's ziemlich satt. Trotz meiner einflussreichen
Position in Literatur respektierte mich eigentlich
niemand. Schon gar nicht dieser Johnny Frackas, der mich ständig
ärgerte. Alle nannten ihn »Johnny Freckles« (sowohl wegen seiner
eigenen Sommersprossen als auch wegen der seiner Mutter, die
angeblich ihren ganzen Körper bedeckten, was zu mancherlei
Spekulationen führte), und seinen Ärger darüber ließ er für
gewöhnlich am Nächstbesten aus. Dank der geradezu obsessiven
Manie der Schule, alles in alphabetischer Reihenfolge zu tun, war
das für gewöhnlich ich: Finbar Frame. Während der gesamten
neunten Klasse begrüßte mich Johnny Frackas zur ersten Stunde
mit einem »Guten Morgen, Fickbar!«und gackerndem Gelächter.
In der zehnten Klasse wurde ich zu Admiral Fickbar befördert.
Eigentlich hätte ihn das zum Loser machen müssen, denn es war
wohl eine Anspielung auf Admiral Ackbar aus Die Rückkehr der
Jedi-Ritter, aber aus unerfindlichen Gründen brachte es mir gar
nichts, als ich ihn darauf hinwies, dass er meine Person dadurch
aufwertete und nicht wie gewollt herabsetzte. Mein Zwillingsbruder
hätte mich eigentlich davor schützen sollen, immerhin
trug er denselben Nachnamen wie ich und hätte ebenfalls kurz
vor der ersten Stunde anwesend sein sollen. Aber Luke tauchte
nur etwa dreimal im Jahr pünktlich auf, ansonsten sorgten seine
Fußball- und Basketballtrainer dafür, dass er aus allem herausgehalten
wurde. Ich musste mich allein verteidigen.
Der Montagmorgen im zweiten Highschool-Jahr war das
Schlimmste. Die meisten Jungen fingen an, den Führerschein zu
machen, hatten Freundinnen und falsche Ausweise, über die die
Ladenbesitzer nicht mehr lachten. Andere Jungen freuten sich
auf die Wochenenden, auf House-Partys und darauf, Bier-Pong
zu spielen, sich die Seele aus dem Leib zu kotzen und Mädchen
zu küssen (Letzteres hoffentlich nicht gleichzeitig. Obwohl ich da
schon Sachen gehört habe ...). Bei mir fand nichts dergleichen
statt, nicht einmal das Kotzen.
Es lag nicht daran, dass ich nicht eingeladen wurde. Mein
Bruder Luke lud mich sogar überallhin ein. Jeden Freitagnachmittag
rannte er über den langen Gang zwischen unseren Zimmern
und rief: »Hey, Sean O'Connor hat drei Kisten Bier von
seinem Bruder bekommen. Alle Dosen haben Beulen, aber er
hat das gegoogelt und gemeint, dass wir wahrscheinlich keine
Lebensmittelvergiftung davon kriegen. Komm, trink mit uns!«
Oder: »Maddy Kellers sexy Schwester ist aus Schweden zurück
und schmeißt eine Party. Mit Schwedinnen! Die sind nach
den Brasilianerinnen die heißesten Mädels überhaupt. Du musst
mitkommen Finn. Das wird ir-re!«
Oder: »Hast du die Werbung für den Horrorfilm gesehen,
in der so ein Mädchen vom Disney-Channel ihre Titten zeigt?
Unser Team sieht ihn sich an, komm mit!« Pause. »Es kommen
auch Kettensägen drin vor, Bruderherz.«
Für meinen Bruder, diesen Ausbund an Energie und Optimismus,
waren unglaublich viele Dinge ir-re. Das lag daran, dass ihm
jedes Mal Applaus und Bewunderung entgegenschlugen, wenn er
einen Raum betrat. Für Luke war jede Party an der Highschool
wie ein Auftritt auf dem roten Teppich bei einer Filmpremiere
- und er war Vince Chase aus Entourage. Die Leute stritten
sich darum, wer mit ihm reden und ihm Fragen stellen durfte.
Die Mädchen zupften an seinen Klamotten und baten ihn um
Autogramme, während die Jungen ihn mit seltsamen Spitznamen
anredeten, die sie sich auf dem Footballfeld in ihren Gatorade-
Pausen hatten einfallen lassen. Alle freuten sich, ihn zu sehen.
Ich konnte mir ausmalen, wie Leute wie ... ja, sagen wir,
Johnny Frackas, darauf reagieren würden, wenn ich auf einer
Party der Schwedenmädchen auftauchen und an ihrer Gockelparade
teilnehmen würde. Oder wie sich Sean O'Connor fühlen
würde, wenn irgendein Blödmann ankam und eine seiner kostbaren
verbeulten Bierdosen leer trank. Oder wie sie lachen würden,
wenn ich versuchte, einen Kegstand zu machen (Luke hatte
mich einmal gezwungen, so einen Handstand auf einem Bierfass
zu machen, als unsere Eltern nicht da waren, und seitdem war ich
überzeugt, dass man dazu rumänischer Kunstturner sein musste).
Es lag nicht etwa daran, dass ich keine Schwedinnen oder
Horrorfilme gemocht hätte, und auch nicht daran, dass ich Luke
nicht gemocht hätte. Ich liebte Luke sogar, aber mit den anderen
Idioten vom St. Luke's wollte ich nicht herumhängen.
Luke würde ich natürlich nie erzählen, dass ich Angst davor
hatte, seine Freunde könnten gemein zu mir sein. Zum einen
hatte mein Bruder keine Probleme mit der Gesellschaft, würde
es also gar nicht verstehen. Außerdem nahm er alles wörtlich
und würde wahrscheinlich hingehen und sagen: »Seid ja nicht
gemein zu meinem Bruder!« Was natürlich genau die gegenteilige
Wirkung haben würde.
Also erfand ich für meinen Bruder gelegentlich legitime Ausreden
wie: »Ich bin die Kerle aus der Schule leid.« Manchmal
wurde es etwas lächerlicher, wenn ich zum Beispiel sagte: »Oh,
so ein Bier kann ich echt nicht trinken, ich habe total Schiss vor
einer Lebensmittelvergiftung.«
Und im Falle des Films konnte ich sagen: »Ich habe gehört,
das Mädchen vom Disney-Channel ist in Wirklichkeit ein Transvestit.«
Oder bei der Party: »Echt schade, dass alle Schwedinnen ein
Keuschheitsgelübde abgelegt haben, bis sie fünfundzwanzig sind.
Doch, lies es selbst nach, die Regierung zwingt sie dazu.«
Aber Luke hatte keine Angst vor Lebensmittelvergiftungen,
Geschlechtsverwirrungen oder staatlich erzwungener Abstinenz.
Also zog er los, und ich saß zu Hause, während sich andere Jungen
einen monatelangen Vorsprung an sexuellen Erfahrungen
zulegten. Jeden Montag tauchten diese Jungen ziemlich zermürbt
in der Schule auf und sahen aus, als hätten sie gerade ein paarmal
das Spielfeld umrundet. Und jeden Montag fragte mich Johnny
Frackas: »Na, Fickbar, hast du dieses Wochenende einen Arsch
abgekriegt?«
Gab ich ihm eine passende Antwort? Setzte ich meinen Kopf
und meine Wortgewandtheit ein, um die Mutter aller »Deine
Mutter«-Witze zu erfinden? Zog ich irgendeinen Nutzen aus der
Tatsache, dass Johnny Frackas ein so leichtes Opfer war? Nein.
Niemals. Nicht ein einziges Mal. Ich habe ihm nicht einmal geantwortet.
Ich habe einfach nur dagesessen wie ein Idiot, mit den
schmalen Idiotenschultern gezuckt oder so getan, als würde mich
auf einmal mein Chemiebuch ungeheuer interessieren. Ich habe
nie etwas gesagt. Und das bereue ich.
Ich war also ziemlich froh, von der St. Luke's wegzukommen
und nach New York zu ziehen. Es war eindeutig ein idealer Zeitpunkt
für eine Verwandlung - aber es war nicht New York, das
mich zu einem Vampir gemacht hat.
Vielleicht begann in New York alles mit diesem Mädchen im
Zug. Sie sah mich, sobald ich eingestiegen war, und schlängelte
sich zu mir durch, um sich neben mich zu setzen. Obwohl sie in
einem dicken Taschenbuch las, warf sie mir nach jedem Absatz
einen Seitenblick zu. Sie sah die roten Schwellungen auf meinen
Händen und die Verbände an meinen Armen. Dann sagte sie, sie
wisse, was mir fehle. Und sie schien sich so sicher und war so verständnisvoll,
dass ich ihr zustimmte. Vielleicht musste sich mein
Leben in diesem Augenblick ändern.
Vielleicht war der Wunsch nach Veränderung aber auch schon
sechzehn Jahre und neun Monate früher entstanden, bei der Befruchtung
zweier sehr unterschiedlicher Eier durch zwei sehr
unterschiedliche Spermien. Tut mir leid, dass ich das Sexual-
leben meiner Eltern ins Spiel bringen muss, aber so hat es mit
mir und Luke angefangen. Meine Mutter entließ ein Ei mit
ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrer Energie und ein anderes
mit ihren Bindungsängsten und ihrer Sentimentalität. Und mein
Dad schickte eine seiner Spermien mit seiner Sportlichkeit und
seinem gefälligen Wesen los und eine mit seiner Tendenz, sich
ein ganzes Wochenende lang in seinem Zimmer einzuigeln.
Das coole Sperma fand das coole Ei, und sie hingen zusammen
im coolen Teil des Uterus ab. Die Mauerblümchen fanden sich
irgendwie zwangsläufig und ergaben mich.
Die Ärzte erklärten meiner Mutter, dass sie zweieiige Zwillinge
bekäme. Zwei ganz verschiedene Erbgutsätze. Zwei verschiedene
Kinder. Eines nahm alle Nährstoffe auf und wurde
rund und gesund. Das andere war unterernährt, aber zu müde,
um sich zu wehren. Bis zum heutigen Tag ist es immer noch
fünfundzwanzig Pfund hinter dem anderen zurück. Einer von
uns wurde Luke genannt, der andere Finbar. Schwer zu glauben,
dass mein lebenslanges Pech durch die Wahl dieses Namens nicht
schon irgendwie besiegelt sein sollte.
Luke wurde für Lob und Bewunderung geboren. Und für
Mädchen. In einem Sommer wurde er acht Mal vom YMCA-
Spielplatz verbannt, weil er von Mädchen geküsst worden war.
Eigentlich war das unfair. Nicht mein Bruder hätte Ärger bekommen
dürfen, er war nur das Opfer. Die Mädchen hatten
schließlich ihn attackiert, nicht umgekehrt. Und so ist es noch
bis heute. In unserer Schule war er der einzige Zehntklässler, der
zum Abschlussball eingeladen wurde. Eine süße Asiatin aus der
All-Saints-Mädchenschule hatte ihn gefragt, ob er sie begleiten
wolle. Und natürlich waren trotz des Namens der Schule nicht
alle Mädchen dort Heilige, das könnt ihr mir glauben. Als mein
Bruder nach Hause kam, hatte er seine geliehenen Hosen verkehrt
herum an.
Die Unterschiede zwischen uns wurden im Alter von zwölf
Jahren ganz offensichtlich. Luke kam von einer Party mit Jungen
und Mädchen in unserer Gemeinde zurück und verkündete
unseren Eltern, dass ihn an diesem Abend drei Mädchen geküsst
hätten. Richtig geküsst. Auf den Mund. Meine Mutter, die
ebenso romantisch wie bakteriophob veranlagt ist, war hin- und
hergerissen zwischen Panik und Neugier. Sie löste das Dilemma,
indem sie meinen Bruder nach allen interessanten Einzelheiten
fragte, während sie ihn zum Arzt brachte, um ihn auf Pfeiffersches
Drüsenfieber untersuchen zu lassen.
Ich hätte auch gerne mehr über diese Küsse gewusst (war einer
vielleicht von dem Mädchen mit dem Rosenkranz und dem
Trägertop?), doch als ich danach fragte, war Luke durch die eifrige
Jagd auf Lakritzschnecken abgelenkt. Und wo, bitte, war ich
gewesen, als im Keller bei der kleinen Mary herumgeknutscht
wurde? Ich war doch auch da. Auf derselben Party .Aber Luke war
im Keller gewesen, und ich hatte oben Henry Kim beim Patience-
legen zugesehen. Übrigens, das Einzige, was noch jämmerlicher
ist, als auf einer Party (selbst in der siebten Klasse) Patiencen zu
legen, ist, dabei zuzusehen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass im
Keller geküsst wurde. Das Küssen verpasste ich immer.
Wenn ich meinen Eltern erzählt hätte, dass ich mit einem
Jungen allein gewesen war, während alle anderen Jungs Mädchen
küssten, hätten sie vielleicht einen falschen Eindruck bekommen,
also zuckte ich nur mit den Schultern, als sie mich fragten: »Und
was ist mit dir, Finbar?«
Nicht, dass ich mich nicht für Mädchen interessieren würde.
Da muss man nur mal den Priester fragen, der sich jeden Monat
meine Beichte anhören darf. Ich interessiere mich sehr für Mädchen.
Jeden Morgen ungefähr sechs Minuten unter der Dusche.
Ich habe einen Geschlechtstrieb wie Bill Clinton. Meiner überstimulierten
Libido muss sogar meine obsessive Liebe zu Büchern
weichen. Genauer gesagt, der Bibliothekarin für Kinderbücher
in der Alexandria-Bibliothek. Sie hat richtig große Brüste. Nein,
nicht groß, riesig. Jede ungefähr so groß wie eine Bowlingkugel
für Erwachsene. Ich schwöre es. Als Folge davon verband ich von
frühester Kindheit an Lesen mit allem, für was der weibliche
Körper steht: Trost, Weichheit, Sinnlichkeit, mütterliche Bindung,
Nahrung, Wohlgefühl ... und Titten.
Da ich nicht viel hinauskomme, spielen sich Liebe und Sex für
mich in Büchern und Filmen ab. Ich habe stellvertretend durch
Heathcliff, Romeo, Rhett Butler, George Clooney, Harrison
Ford und James Bond gelebt. Aus der Sicherheit meines eigenen
Zimmers heraus ist es leicht zu glauben, ich könne mindestens
ebenso charmant und mutig sein wie diese alten Knaben. Auch
meine Mutter findet so etwas in Büchern. Na ja, nicht Sex, sie ist
strenggläubige Katholikin. Aber sie liebt Liebesgeschichten. Wie
ein Bluthund hat sie meine romantische Ader aufgespürt, die ich
zu verbergen versucht hatte. Ich wurde ihr Gefährte, ihr Kumpel
für romantische Komödien, ihr persönlicher Oprah-Buchclub.
Man könnte sagen, ich weiß mehr über die Entwicklung von
Katherine Heigls Haarfarbe, als ein Mann wissen sollte.
Die Frau hat mich in vielerlei Hinsicht verdorben.
Die romantischen Komödien meiner Mutter haben mir vorgegaukelt,
Mädchen wollten Jungen, die nachdenklich, zuver-
lässig und romantisch sind. Sicher, wenn der Film anfängt, trifft
sich das Mädchen mit dem egoistischen Kerl im Maserati. Aber
nach und nach fühlt sie sich zu dem hingezogen, der sich an
ihre Lieblingsblumen erinnert, der sie vom Kostümball abholt,
bei dem sie als Einzige ein Kostüm trägt, und der ihr versichert,
dass ihr interessanter Charakter sie wesentlich attraktiver mache
als ihre Schwester, das Playboy-Model. Das Publikum schmilzt
dahin, wenn der Kerl ihr in einer herzzerreißenden Rede die
wahren Gründe schildert, warum er sie liebt. Dass er gelegentlich
ungeschickt ist und nach Worten sucht, macht ihn nur noch sympathischer.
So könnte ich sein. So bin ich.
Und dennoch: Highschool-Mädchen hassen mich.
Die Jungen, die in der Highschool Mädchen kriegen, sind
diejenigen, die auf die Hupe drücken und den Mädchen in
ihren kurzen Röcken hinterherpfeifen. Es sind die, die beim
Schulfest kleine Wodkafläschchen kippen und versuchen, genug
Mut aufzubringen, den Mädchen an die Wäsche zu gehen. Sie
machen sich beim Footballspielen über Mädchen lustig, die ihre
Hosen in die Stiefel stecken, und speichern Telefonnummern von
Mädchen in ihren Handys unter »Blondine« ab, weil sie so tun, als
hätten sie vergessen, sie nach dem Namen zu fragen, und der sie
auch gar nicht interessiert. Oder weil sie ihn wirklich vergessen
haben. So behandelt Luke Mädchen. Und deshalb bekommt er
sie - und eigentlich, da wir gerade von Mädchen reden, hat es
auch mit einem angefangen.
Genau so hat es angefangen.
Mit Celine.
1. Auflage
© 2011 INK
verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH,
Gertrudenstraße 30-36,50667 Köln
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Flynn Meaney
Originalverlag: Poppy, an imprint of Little, Brown and Company
Originaltitel: BLOODTHIRSTY
Übersetzung aus dem Englischen: Tanja Ohlsen
Die Übersetzung des Sonetts 29 von William Shakespeare auf Seite 250
stammt von Karl Bernhard aus: Die Sonette des William Shakespeare.
Englisch und Deutsch. Nachgedichtet von Karl Bernhard, © Insel Verlag,
Frankfurt am Main, 1989
Umschlag: Kathrin Schüler, Berlin
unter Verwendung eines Fotos von Corbis © M. Deutsch/zefa/Corbis
und eines Motivs von © Anton Senkou-Melnik@istockphoto
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck/Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86396-008-7
www.egmont-ink.de
... weniger
Autoren-Porträt von Flynn Meaney
Flynn Meaney wurde zu ihrem Debütroman von der Bemerkung einer Freundin inspiriert, die meinte: Jetzt, wo Vampire so angesagt sind, können wir uns endlich den Selbstbräuner sparen. Erstaunlich, was für einen Einfluss auf einmal dieser ganze Vampirkult auf die schmächtigen, blassen Teenager hat, die während der Baywatch-Jahre lange Durststrecken durchlitten haben! Die Autorin lebt in Mamaroneck, New York. Sie hat ein Studium an der Universität Notre Dame absolviert und ist zurzeit am Hunter College für Kreatives Schreiben und Poesie eingeschrieben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Flynn Meaney
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2011, 1. Aufl., 256 Seiten, Maße: 15,3 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Ohlsen, Tanja
- Übersetzer: Tanja Ohlsen
- Verlag: Ink
- ISBN-10: 3863960084
- ISBN-13: 9783863960087
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