Vergiss nie deine Sünden
Marissa hat gerade den Verlust ihres tödlich verunglückten Mannes überwunden und sich zum ersten Mal wieder verliebt, als plötzlich grausame Morde in ihrer nächsten Umgebung passieren: Menschen, denen Marissa nur zufällig...
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Produktinformationen zu „Vergiss nie deine Sünden “
Marissa hat gerade den Verlust ihres tödlich verunglückten Mannes überwunden und sich zum ersten Mal wieder verliebt, als plötzlich grausame Morde in ihrer nächsten Umgebung passieren: Menschen, denen Marissa nur zufällig begegnet, werden ihr zuliebe umgebracht. Den Toten wurde die Kehle durchgeschnitten und ein Grußkärtchen auf die Brust gelegt, auf dem "Für Marissa, in Liebe Blake" steht. Marissa hat es mit einem äußerst gefährlichen Verehrer zu tun, der schon viel zu lange auf sie und ihre Kinder gewartet hat. Nun ist es an der Zeit, dass Blake seine Familie zu sich holt ...
Ein nervenaufreibender, prickelnder Thriller!
Lese-Probe zu „Vergiss nie deine Sünden “
Vergiss nie deine Sünden von CARLA CASSIDY1
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Es war ein perfekter Abend. Cass Creek, ein kleiner Vorort von Kansas City, präsentierte sich von seiner besten Seite. Die Bäume standen in voller Blüte, das Gras war üppig, und die Kinder sprühten vor Tatendrang, der sich während des langen Winters in ihnen angestaut hatte. Als Marissa Jamison ihren Sohn zu seinem wöchentlichen Baseballspiel fuhr, entdeckte sie überall Anzeichen des Frühlings, und es kam ihr vor, als könnte sie tief in ihrem Inneren die alljährliche Wiedergeburt der Erde spüren. Der Winter war lang und hart gewesen, doch nun fühlte sie zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes neue Energie durch ihren Körper fließen. Ihr Lampengeschäft florierte, und ihre beiden Kinder schienen den schmerzhaften Verlust ihres Vaters den Umständen entsprechend gut verkraftet zu haben. Endlich würde alles wieder gut werden. Es hatte eine Zeit gegeben, in der die Trauer sie so weit nach unten zog, dass sie befürchtet hatte, niemals wieder aufzutauchen. Doch irgendwie hatte sie es geschafft, diese dunkle und kalte Zeit zu überstehen, und zum ersten Mal seit einem Jahr glaubte sie, dass es damit wirklich zu Ende war. »Mom, können wir nach dem Spiel 'ne Pizza holen?«, fragte Justin, als sie auf den Parkplatz fuhren. »Morgen ist Schule, du kennst die Regeln«, antwortete Marissa. »Wie wäre es, wenn wir stattdessen morgen Abend Pizza essen gingen? Freitags ist im Pizza-Palast Familienabend.« »Und ich nehme eine mit Salami«, meldete sich Jessica, Justins kleine Schwester zu Wort. Marissa lächelte und antwortete: »Ja, du bekommst Salamipizza!« Wegen des großen Andrangs auf dem Sportplatz dauerte es einige Minuten, bis Marissa einen Parkplatz in der Nähe des Baseballfelds gefunden hatte, auf dem Justins Team spielen würde. Während sie in Richtung Tribüne schlenderte, rannten Justin und Jessica los, und ihre blonden Schöpfe leuchteten im Sonnenschein. Eine warme Brise trug ihre aufgeregten Rufe zu ihr. Das Gefühl tiefer Liebe durchdrang Marissas Herz und Seele. Die beiden waren wie zwei Leuchttürme, die sie sicher durch den dunklen Sturm der Trauer geleitet hatten. Ihnen hatte sie es zu verdanken, dass sie die dunkelsten Tage der Hoffnungslosigkeit und des Kummers überstanden hatte. Marissa und Jessica hatten Justins Spiel ungefähr eine halbe Stunde lang verfolgt, als die ersten erwachsenen Spieler eintrafen, die auf dem benachbarten Platz spielen würden. Marissa lächelte, als sie Kip Larson entdeckte, der geradewegs auf sie zusteuerte. Der junge Mann im rotweißen Trikot des örtlichen Feuerwehrteams setzte sich neben Jessica und legte freundschaftlich den Arm um sie. »Wann bist du endlich so groß, dass ich dich heiraten kann?«, sagte er zu der Fünfjährigen, die auf seine übliche Neckerei mit einem Kichern antwortete. »Gegen wen spielt ihr heute?«, erkundigte sich Marissa. »Hendersons Chemische Reinigung. Das sollen ziemlich zähe Burschen sein«, antwortete Kip und sah zum Spielfeld hinüber. »Wie schlägt sich dein Kleiner denn so?« »Im Moment sieht es aus, als würde er sich zu Tode langweilen.« Marissa lächelte, als sie zu ihrem Sohn blickte. In dem Moment trafen drei weitere Feuerwehrmänner ein und gesellten sich zu Marissa und ihrer Tochter. Wie immer wurde der zweifachen Mutter ganz warm ums Herz. Sie wusste, dass die Männer stets etwas früher als nötig kamen, um Justin anzufeuern. John war ebenfalls Feuerwehrmann gewesen. Seit seinem Tod hatten seine Kollegen Justin und Jessica quasi adoptiert und nahmen regen Anteil an ihrem Leben. »Captain Morrison«, begrüßte Marissa den Mittvierziger, den John stets gemocht und bewundert hatte. Michael Morrison war der Captain des Löschzugs.
»Wie ich gehört habe, steht Ihnen ein ziemlich schwerer Gegner ins Haus.« Er lächelte. »Wir haben nur schwere Gegner, aber dieses Jahr brennen wir förmlich darauf, den Titel zu holen.« »Genau wie in den letzten Jahren«, warf Brett Tupelo ein, ebenfalls ein ehemaliger Kollege von John. Als die Feuerwehrmänner in lauten Jubel ausbrachen, weil sich Justins Team einen Punkt erkämpft hatte, dachte Marissa wieder einmal, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass John mit so feinen Männern zusammengearbeitet hatte und dass diese die Familie eines verunglückten Kameraden nicht vergessen hatten.
Er konnte sie wittern. Ihren unverwechselbar frischen Duft nach etwas Zitronigem, den die weiche Frühlingsbrise zu ihm herübertrug, vermischt mit dem Geruch nach kleinen verschwitzten Jungen, frischem Popcorn und den Abgasen der Autos, die auf dem Parkplatz ankamen und von dort wegfuhren. Ihr Duft brachte seinen Bauch zum Rumoren und entfachte dieses unstillbare Verlangen, das ihm so vertraut war wie sein eigener Herzschlag. Der Line Creek Park besaß vier Baseballfelder, die in diesem Augenblick von Spielern verschiedener Altersstufen besetzt waren. Auf dem Feld direkt vor ihm standen die jüngsten Spieler, es waren Jungen im Alter von sechs und sieben Jahren. Aber er war nicht wegen des Spiels gekommen. Er war ihretwegen hier. Ihr schulterlanges blondes Haar schimmerte seidig in der Sonne, und seine Finger schmerzten, so überwältigend war der Wunsch, die Hand auszustrecken und es zu berühren. Noch nicht, sagte er sich. Aber bald, sehr bald. Nichts war berauschender als die süße, brennende Vorfreude. Er beobachtete, wie sie den Kopf neigte, um ihrer Tochter zuzuhören, die ihr etwas erzählte. Das Haar der fünfjährigen Jessica wies denselben Blondton auf wie das ihrer Mutter. Sie war ein kleines, zierliches Mädchen mit zarten Gesichtszügen und großen blauen Augen, das an ein elfenartiges Wesen aus einem Märchen erinnerte. Schließlich riss er den Blick von Mutter und Tochter los und sah hinüber auf das Spielfeld, auf dem der siebenjährige Justin gedankenverloren auf seiner Position stand. Die perfekte Familie. Er wusste alles, was es über sie zu wissen gab. Die kleine Jessica zum Beispiel liebte Salamipizza und Ballett über alles, und Justins Herz schlug für Baseball und Dinosaurier. Er wusste, dass die Kinder jeden Morgen um sieben aufstanden und um halb neun ins Bett gingen. Während er den Blick wieder auf die blonde Frau richtete, spürte er ein Ziehen in der Brust, das von seiner überragenden Liebe zu ihr herrührte, die Tag und Nacht an ihm zehrte. Marissa Jamison. Allein ihr Name reichte aus, um sein Blut in Wallung zu bringen. Ihr so nah wie jetzt zu sein ließ seine Hände zittern und sein Herz so schnell schlagen, dass er einen Augenblick lang den Jubel der Eltern und die Rufe der Trainer nicht mehr hören konnte, sondern nur das Klopfen seines Herzens. Er wusste, dass sie gern ein Glas Wein trank, wenn sie sich ein Schaumbad gönnte, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatte. Er wusste, dass sie ihr kleines Geschäft liebte, in dem sie Tiffanylampen verkaufte, und dass der Tod ihres Ehemanns sie in tiefe Trauer gestürzt hatte. John Jamison war seit mehr als einem Jahr tot, und es war höchste Zeit, dass es mit ihrem Leben wieder aufwärtsging. Er hatte ihr genug Zeit zum Trauern gegeben. Er würde ihr bald schon zeigen, dass er sich um sie kümmern konnte und dass er der Mann war, der ihrem Leben wieder zu Perfektion verhalf. Schließlich liebte er sie schon eine halbe Ewigkeit und wollte doch nur ihr Bestes. Die Ehe mit John war ein Fehler gewesen, den er glücklicherweise korrigiert hatte. Marissa, Jessica und Justin waren die Familie, die eigentlich ihm zustand und die er haben würde, sobald die Zeit dazu reif war.
Schon bald würde sie alles begreifen, und ihre Dankbarkeit würde in Liebe umschlagen, wenn sie ihm ihr Herz schenkte. Er war von Natur aus geduldig, aber nun war es so weit, der süßen Marissa zu beweisen, wie groß seine Liebe für sie war. Nicht mehr lange und er würde die perfekte Familie als seine einfordern können.
2
Das war großartig!« Marissa klopfte ihrem Sohn anerkennend auf die Schulter. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme geschlossen, ließ es aber bleiben, weil sie wusste, dass es ihm in Gegenwart seiner Freunde peinlich war. Er grinste sie an, und das schiefe Lächeln erinnerte Marissa so sehr an John, dass sich ihr Hals zusammenzog. »Hast du gesehen, wie ich den Ball gefangen habe?« »Ich habe dich gesehen«, antwortete Jessica mit der stolzen Stimme einer jüngeren Schwester. »Den letzten Ball hast du super gefangt.« »Gefangen, Mäuschen. Es heißt gefangen«, korrigierte Marissa sie liebevoll, während sie auf ihren Minivan zusteuerte. Wie immer fiel es Marissa schwer, auf dem Weg zum Parkplatz rechts und links mit ansehen zu müssen, wie stolze Väter ihre kleinen Baseballstars ins Auto setzten, um sie nach Hause zu fahren. Marissa war zwar nicht die Einzige, die sich alle Mühe gab, ihren Kindern Vater und Mutter zu sein, doch die meisten Jungen aus Justins Mannschaft kamen aus intakten Familien.
»Hey, Marissa! Klasse gespielt, Justin«, rief Marc Carter quer über den Parkplatz. Marissa winkte zurück, ehe sie die Kinder ins Auto verfrachtete. Marc war ebenfalls alleinerziehend, und Marissa hatte sich im Laufe der letzten Spiele mit ihm angefreundet. »Alle angeschnallt?«, fragte sie und ließ den Motor an. Als beide Kinder bejahten, begann sie, aus der Parklücke zurückzusetzen. Ein wütendes Hupen ließ sie wieder scharf abbremsen. Sie streckte den Kopf aus dem Fenster und entdeckte einen kleinen Wagen direkt hinter sich. »Bist du blind, du dumme Kuh?«, brüllte die junge dunkelhaarige Fahrerin sie durch das heruntergekurbelte Fenster an. »Entschuldigung«, rief Marissa. »Wenn du mich gerammt hättest, wärst du deines Scheißlebens nicht mehr froh geworden, Alte.« Die Fahrerin verabschiedete sich mit ausgestrecktem Mittelfinger von Marissa und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. »Die Frau hat ein schlimmes Wort benutzt«, sagte Jessica mit der Verachtung einer Fünfjährigen. »Ja, das hat sie«, erwiderte Marissa, während sie vorsichtig ausparkte. »Ihre Mutter sollte ihr eine Auszeit geben«, fügte Jessica hinzu. »Sie war böse.« »Du hast vollkommen recht.« Marissa lächelte. Jessica wusste, wovon sie sprach. Während der fünfzehnminütigen Fahrt nach Hause hörte Marissa den beiden Kindern nur mit halbem Ohr zu, die darüber diskutierten, ob ein Hund oder eine Katze das bessere Haustier abgaben. Es spielte keine Rolle, wer den Schlagabtausch gewann, denn sie hatte den beiden unmissverständlich klargemacht, dass ihr vorerst kein Tier ins Haus kam, bis die beiden ein wenig älter waren. »Mom, darf ich vor dem Schlafengehen noch Fangen üben?«, fragte Justin, als sie in die Auffahrt zu ihrem gemütlichen, einstöckigen Haus bogen. »Ich fürchte, du musst in der Badewanne üben, weil es fast schon Schlafenszeit ist und ich deine Käsefüße bis nach hier vorn riechen kann.« Sie lächelte, als sie ihren Sohn kichern hörte. Der Rest des Abends war mit Abläufen erfüllt, die durch ihre Routine etwas Tröstliches hatten. Die drei aßen zu Abend, und anschließend badete Marissa die Kinder und brachte sie mit Gutenachtküssen und einem Abendgebet ins Bett. Wenig später breitete sich eine angenehme Stille im Haus aus. Marissa schenkte sich ein Glas Wein ein und ging in das Badezimmer, das neben ihrem Schlafzimmer lag. Sie ließ sich ein Schaumbad ein, entkleidete sich und tauchte in das herrlich warme Wasser ein. Es hatte Zeiten gegeben, in denen die Stille im Haus ihr fast das Herz gebrochen hätte, weil sie Johns tiefe Stimme so sehr vermisste, dass es kaum zu ertragen war.
Doch während der letzten Monate hatte sie sich allmählich an die Stille gewöhnt. Sie schloss die Augen, legte den Kopf auf das Wannenkissen und trank einen Schluck Wein. Es war nicht nur Johns Stimme, die sie vermisste, sondern auch die Intimität seiner Blicke, wenn er sie durch den Raum hinweg angesehen oder wenn sein Oberschenkel sie mitten in der Nacht gestreift hatte, ganz zu schweigen von seinem ureigenen Duft. Sie vermisste den Anblick von zwei Zahnbürsten in dem Keramikbecher am Waschbecken oder wie er den Sportteil der Zeitung morgens auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte und sie sich die Fernbedienung des Fernsehers erkämpfen musste. Sie war dreiunddreißig Jahre alt und hatte durch den tragischen Tod ihres Ehemannes gelernt, dass sie stärker war, als sie je angenommen hatte. Nachdem sie das Glas ausgetrunken hatte, stieg sie aus der Badewanne, denn sie wollte heute relativ früh zu Bett gehen. Morgen war ein wichtiger Tag, da der Frühlingsschlussverkauf begann, und Marissa hoffte, dass möglichst viele Kunden auf der Suche nach Tiffanylampen und Wohnaccessoires in ihr Geschäft kamen. Mit einem Baumwollnachthemd bekleidet, das ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, brachte sie das Glas zurück in die Küche, wo sie es gründlich auswusch. Anschließend ging sie noch einmal in die Kinderzimmer, um nach dem Rechten zu sehen.
Justin lag auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt, so dass er die gesamte Breite der Matratze einnahm. Er war ein guter Junge, hatte ein Herz aus Gold und mochte jeden und alles. Jessica lag eingerollt auf der Seite, ihr Lieblingskuscheltier, ein als Ballerina verkleideter Hase, fest an die Brust gedrückt. Als Marissa so im Türrahmen stand und auf ihre schlafende Tochter blickte, wurde sie urplötzlich von bodenloser, pechschwarzer Angst gepackt. Ein Gefühl, das sie schon manches Mal in der Nacht, wenn die Dunkelheit am schwärzesten war, aus dem Schlaf hatte hochfahren lassen. Es war die Angst einer Mutter, dass ihren Schützlingen etwas zustoßen könnte. Die Furcht, dass, egal wie sehr sie auch aufpasste und welche Vorsichtsmaßnahmen sie ergriff, sie ihre Kinder nicht vor dem Bösen in der Welt beschützen konnte. Das Herz schlug Marissa bis zum Hals, und sie musste schlucken und sich innerlich schütteln, bis die Beklemmung wieder so plötzlich wich, wie sie gekommen war. Im Gegensatz zu anderen Menschen, die ähnliche Ängste mit sich herumtrugen, hatte Marissa bereits am eigenen Leib erfahren, wie schnell sich das Leben von einer Sekunde auf die nächste ändern konnte.
3
Der Anruf ging um Viertel nach neun am Freitagmorgen bei der Notrufzentrale ein. Er wurde von einem öffentlichen Telefon aus getätigt. »Im Penguin Park liegt eine Leiche«, sagte der männliche Anrufer. »Ich schlage vor, Sie schicken umgehend jemanden dorthin. Und zwar, bevor die Kinder aus der Schule kommen und zum Spielen in den Park gehen.« »Dürfte ich Ihren Namen erfahren?«, erkundigte sich die diensthabende Mitarbeiterin. Im selben Moment legte der Anrufer auf. Um neun Uhr zweiundzwanzig befanden sich Detective Luke Hunter und seine Kollegin, Detective Sarah Wilkerson, in einem Zivilfahrzeug auf dem Weg zu dem Spielplatz, der mitten in einem Wohngebiet lag. Sarah Wilkerson hatte erst vor zwei Wochen ihren Dienst bei der Polizei von Cass Creek angetreten. Nach dem Scheitern ihrer Ehe hatte sie sich von Chicago hierher versetzen lassen. Abgesehen davon, dass sie ihren neuen Kollegen erst noch besser kennenlernen musste, wurde sie den Eindruck nicht los, dass er und die anderen nur darauf warteten, dass ihr, der Polizistin aus der Großstadt, ein folgenschwerer Fehler unterlief. »Wieso heißt der Spielplatz eigentlich Penguin Park?«, erkundigte sie sich, um die drückende Stille im Auto zu durchbrechen. Luke Hunter schien zu jenen Männern zu gehören, die sich gern in Schweigen hüllten. Etwas, das Sarah ganz und gar nicht verstehen konnte. »Wart's ab«, antwortete er. Sarah warf Luke einen verstohlenen Blick zu. Im Laufe der letzten beiden Wochen, in denen sie zusammenarbeiteten, hatte sie bereits herausgefunden, dass er Papierkram verabscheute, wie ein Geistesgestörter Auto fuhr und Tacos mit einer doppelten Portion Käse und Sour Cream mochte. Wieder einmal ertappte sie sich dabei, dass sie ihn gern und oft ansah ... zu oft. Als sie sich nur noch zwei Blocks von dem Spielplatz entfernt befanden, wusste Sarah, woher er seinen Namen hatte. Ein riesiger schwarz-weißer Pinguin erhob sich breit grinsend gegen den strahlend blauen Morgenhimmel. Mit seiner roten Fliege um den Hals wirkte er wie ein Wächter, der in der Mitte des Spielplatzes postiert worden war. »Es ist eine Rutsche«, erklärte Luke ihr, während er neben dem Streifenwagen hielt, der bereits vor Ort war. »Die Kinder klettern im Inneren hoch, rutschen an der Außenseite herunter und landen schließlich zu seinen Füßen.« »Dann wollen wir mal nachsehen, was an der Behauptung des Anrufers dran ist«, sagte Sarah. Die beiden Detectives stiegen aus und näherten sich einem jungen Kollegen, der in der Nähe des überdimensional großen Pinguins stand. »Was gibt's?«, fragte Luke. »Eine tote Frau.« Der junge Polizist wirkte ein wenig blass um die Nase. »Ermordet. Ich habe es schon per Funk durchgegeben. Die Jungs von der Spurensicherung müssten jeden Moment eintreffen.« »Haben Sie etwas angefasst?«, wollte Sarah wissen, während sie den Blick umherschweifen ließ. »Nein. Mein Kollege und ich haben uns nur das Innere der Rutsche angesehen.« Er deutete auf den grinsenden Pinguin. »Als wir sie entdeckt haben, sind wir sofort wieder zurückgetreten.« »Wo ist Ihr Kollege jetzt?«, hakte Luke nach. »Auf der anderen Seite der Rutsche. Er bewacht den Eingang.« »Das sollten wir uns besser mal ansehen«, schlug Sarah vor. Gemeinsam setzten sich die beiden in Bewegung. Noch bevor sie den Eingang zu der Rutsche erreicht hatten, schlug Sarah der Gestank des Todes entgegen. Der metallische Geruch von Blut, vermischt mit einer süßlichen Note, die auf die beginnende Zersetzung hinwies.
»Man sollte meinen, dass man sich irgendwann einmal daran gewöhnt«, murmelte Luke. »Ich rede von dem Gestank.« »Daran gewöhnt man sich nie«, antwortete Sarah. In der Vergangenheit hatte es unzählige Nächte gegeben, in denen sie geglaubt hatte, den Geruch mit nach Hause zu nehmen. Es war ihr vorgekommen, als habe er sich nicht nur in ihren Kleidern festgesetzt, sondern als wäre es ihm gelungen, in jede Pore ihres Körpers einzudringen. Eine Zeitlang war sie sogar der Überzeugung gewesen, der Todesgeruch sei dafür verantwortlich, dass ihr Mann sie hatte sitzenlassen. Das Opfer lag rücklings neben der Treppe. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Frau tot oder dass ihr Tod das Ergebnis einer Gewalttat war. Menschen, die eines natürlichen Todes starben, hatten für gewöhnlich keine klaffende Schnittwunde am Hals. Doch es war nicht die Wunde, die Sarah auf den Magen schlug. Es war die Schleife. Eine leuchtend rote Geschenkschleife, die dem Opfer mitten auf die Stirn geklebt worden war. Darauf bedacht, nichts am Tatort zu verändern, zog sich Sarah Latexhandschuhe an und ging stirnrunzelnd neben dem Opfer in die Hocke. Die junge Frau war schätzungsweise zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt. Ihr dunkles Haar lag fächerartig ausgebreitet um ihren Kopf, und Sarah überlegte, ob der Täter es absichtlich so drapiert haben könnte. Sie erhob sich, wohl wissend, dass Luke direkt hinter ihr stand. Sie konnte seinen Atem hören. »Es besteht kein Zweifel daran, dass sie an dieser Stelle getötet wurde«, sagte er. »Das Blut ist überall hingespritzt.« »Soll ich nachsehen, ob sie einen Ausweis bei sich trägt?« »Wir sollten lieber warten, bis die Spurensicherung hier ist. Ich möchte nicht riskieren, dass wir wichtige Spuren verwischen, wenn wir sie bewegen, um an ihre Hosentaschen zu kommen. Ich gehe und sehe mich um, ob irgendwo eine Handtasche oder etwas Ähnliches liegt, das ihr oder dem Täter gehört haben könnte.« Sarah nickte, und Luke verließ den Pinguin. Sarah ging abermals in die Hocke. Die Fingernägel des Opfers waren dunkelviolett lackiert und wirkten nicht, als wären sie eingerissen oder abgebrochen. Vermutlich würden sich weder Hautfetzen noch anderweitige DNA-Spuren unter den Nägeln befinden. Und auch an den Unterarmen und Händen waren keinerlei Kratzspuren oder Verletzungen zu erkennen. Die junge Frau trug verwaschene Jeans und ein grellpinkfarbenes T-Shirt mit dem Werbeaufdruck eines alkoholischen Getränks. Äußerlich betrachtet gab es keine Anzeichen dafür, dass sie sexuell missbraucht worden war. Was Sarah jedoch Kopfzerbrechen bereitete, war die Geschenkschleife. Am liebsten hätte sie sie dem Opfer von der Stirn gerissen. In ihren Augen war sie nicht minder abstoßend wie die Wunde, die ihr das Leben gekostet hatte. Sarah furchte die Stirn und beugte sich ein wenig näher über den Leichnam, als sie plötzlich bemerkte, dass etwas unter der Schleife steckte. Etwas Weißes. Ein Stück Papier? Eine Nachricht? Mit pochendem Herzen zog sie eine Pinzette aus der Tasche, packte das Papier mit der Behutsamkeit einer erfahrenen Chirurgin am äußersten Rand und zog vorsichtig daran. Erst beim zweiten Versuch gab das Papier nach. Es war eine kleine Geschenkkarte, wie man sie häufig an Blumensträußen findet. »Keine Handtasche und auch sonst nichts«, sagte Luke, als er wieder zu ihr stieß. »Was hast du da?« »Unseren ersten Hinweis.« Sarah hielt ihm die Pinzette mit der Karte hin. Für Marissa. In Liebe, Blake. »Ich schlage vor, wir finden erst einmal heraus, wer diese Marissa ist, und fragen sie, wer ihr ein solch groteskes Geschenk machen könnte.«
4
Jessica, hör auf, mit deinem Frühstück zu spielen, und iss auf. Wir müssen in einer Viertelstunde los.« Marissa suchte auf der vollgestellten Arbeitsplatte nach ihrem Autoschlüssel. Sie hätte schwören können, dass sie ihn gestern Abend dort abgelegt hatte. »Mom, ich kann meinen zweiten Turnschuh nicht finden«, rief Justin verzweifelt aus seinem Zimmer. »Sieh mal unter dem Bett nach«, antwortete Marissa. Samstagmorgens herrschte immer ein gewisses Chaos im Haus, wenn Marissa die Kinder fertigmachte, um sie zu ihren Schwiegereltern zu bringen, damit diese auf sie aufpassten, während sie arbeitete. »Beeil dich, Jessica«, wiederholte Marissa und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich den Schlüssel fand. Jessica hielt ihre Frühstücksschüssel an den Mund und schlürfte laut die Müslireste aus. »Fertig«, verkündete sie mit stolzer Stimme und einem Milchbart. »Okay, jetzt ab ins Bad, Zähne putzen.« Als Jessica die Küche verließ, spülte Marissa schnell die Schüsseln der Kinder aus und stellte sie in die Spülmaschine, ehe sie ein Päckchen Hotdogs aus dem Gefrierschrank holte und zum Auftauen auf den Kühlschrank legte. Sie wusste, dass sie am Abend keine große Lust haben würde, ein üppiges Mahl zu zaubern. »Los, kommt«, rief sie von der Haustür aus. Wenige Minuten später waren Marissa und die Kinder auf dem Weg zu Jim und Edith Jamison, die am Stadtrand auf einem drei Hektar großen Grundstück mit einem wunderschönen Wald wohnten. Als sich Marissa damals in John verliebt hatte, hatte sie auch seine Eltern vom ersten Moment an ins Herz geschlossen. Jim und Edith waren bodenständig und unkompliziert und hatten die Frau ihres einzigen Sohns mit offenen Armen aufgenommen. Im Gegensatz zu Edith und Jim hatten sich Marissas Eltern vor Jahren scheiden lassen. Der Kontakt zu ihrem Vater war vollkommen abgerissen, und ihre Mutter hatte vor zwei Jahren einen reichen Witwer geheiratet, war mit ihm nach Florida gezogen und hatte sich einen Lebensstil angeeignet, der nur wenig Raum für Marissa ließ. Das einstöckige Haus von Edith und Jim wirkte mit seinen bunten Blumenampeln, die neben der Haustür baumelten, mehr als einladend. Ein Windrad in Form eines lächelnden Kobolds, dessen Arme sich wie durch Zauberhand in der Morgenbrise bewegten, stand unweit des gepflasterten Weges zum Haus. Kaum war Marissa auf die Einfahrt gebogen und hatte den Motor abgestellt, öffnete sich die Tür, und Edith und Jim traten heraus und sahen mit lächelnden Gesichtern zu, wie ihre Enkelkinder aus dem Auto kletterten. Wie immer wurde Marissa, kaum dass sie ausgestiegen war, von ihrer Schwiegermutter in die Arme geschlossen. »Wie sieht's aus, hast du Zeit für eine Tasse Kaffee?«, fragte die ältere Frau und löste die Umarmung. »Heute leider nicht, aber ein anderes Mal gern«, antwortete Marissa. »Ich nehme dich beim Wort«, antwortete Edith und zerzauste Justin das Haar. »Euer Großvater hat heute viel mit euch vor. Er rechnet fest damit, dass ihr ihm beim Gemüseanbau helft.« Jim grinste die beiden Kinder an. »Ich dachte, wir könnten Rüben pflanzen, damit eure Großmutter im Herbst einen leckeren Rübeneintopf für uns kocht.« »Igitt!«, rief Justin und verzog das Gesicht. »Igitt!«, äffte Jessica ihren älteren Bruder nach. Jim lachte. »Okay, dann eben keine Rüben.« In dem Wissen, dass ihre Kinder in guten Händen waren, verabschiedete sich Marissa und fuhr zum Einkaufszentrum, in dem ihr kleines Geschäft lag. In Marissas Jugend hatte sich die Oak Tree Mall großer Beliebtheit erfreut, doch war sie in den letzten Jahren dem Abschwung vieler großer Einkaufszentren unterworfen. Läden hatten schließen müssen, weil die Konkurrenz der Einkaufsmeilen zu groß geworden war. Daher hatte die Leitung der Oak Tree Mall die Pacht für neue Mieter gesenkt und versuchte, mit Sonderaktionen alte Käufer zurück- und neue hinzuzugewinnen. Wie jedes Mal, wenn Marissa ihr kleines Geschäft, das »Tiffany Rose«, durch den Seiteneingang betrat, spürte sie einen Anflug von Stolz, in den sich sogleich ein Funken Bedauern mischte, weil erst Johns Tod, vielmehr das Geld aus seiner Lebensversicherung, es ihr ermöglicht hatte, diesen Lebenstraum zu verwirklichen. Das Gitter war noch vor dem Eingang heruntergelassen, als sie herumging, ihre Lampen für den Verkauf einschaltete und sich an dem matten Schein erfreute, der sie wie Juwelen erstrahlen ließ. Zusätzlich zu den Tiffanylampen hatte sie auch Stühle, Sessel, Beistelltische, Gemälde und Textilpflanzen im Angebot. Ihre Ware hatte sie geschmackvoll in Szene gesetzt, und so herrschte im Laden eine Atmosphäre von zurückhaltendem Stil und Klasse. John wäre begeistert, dachte Marissa und fühlte sich von dem Gedanken getröstet. Er hatte sie stets in ihrem Traum unterstützt, eines Tages ein Geschäft zu eröffnen, und zu seinen Lebzeiten hatten sie so manchen Dollar zur Seite gelegt, in der Hoffnung, dass ihr Traum eines Tages in Erfüllung gehen würde. Doch ausgerechnet sein Tod hatte ihn Wirklichkeit werden lassen. Um Punkt zehn zog sie das Sicherheitsgitter hoch, nahm hinter dem Tresen Platz und wartete auf Kunden. Dabei war sie keineswegs untätig, sondern blätterte in Katalogen und markierte jene Artikel, die gut in ihr Sortiment passen würden. Außerdem überlegte sie, welche Artikel sich nicht gut verkauft hatten und ob es sinnvoll war, sie entweder anders zu präsentieren oder im Preis herabzusetzen. Der Vormittag war schnell vergangen. Sie hatte drei Lampen verkauft und sich besonders über eine Kundin gefreut, die bereits zum zweiten Mal bei ihr einkaufte. Zufriedene Kunden, so wusste Marissa, waren Gold wert. Gegen Mittag traf Alison, ihre einzige Festangestellte, ein. Sie war eine elegante, ältere Frau mit schlohweißem Haar und einem individuellen Stil. Auf Alison McCade hätte Marissa nicht mehr verzichten wollen, denn sie war nicht nur eine begnadete Verkäuferin, sondern auch eine Freundin von ihr. »Es lief ein wenig lahm heute Morgen«, sagte Marissa zur Begrüßung. »Warte ab, der Nachmittag wird besser. Das Klaviergeschäft verlost im Foyer Probestunden, und wenn wir Glück haben, verirren sich die Kunden auch zu uns.« »Hoffentlich hast du recht«, antwortete Marissa. »Bitte übernimm du hier vorn, während ich nach hinten gehe und die Lieferung von gestern auspacke.« »Nichts leichter als das«, versicherte ihr Alison. Im hinteren Raum, von dem ein WC abging, befanden sich Regale mit Warenvorräten, ein Computer und eine Mikrowelle, falls sich jemand sein Mittagessen aufwärmen wollte. Zurzeit standen zwei große Kisten mit zerbrechlichen Glasfiguren auf dem Boden, die darauf warteten, ausgepackt zu werden. Während Marissa die Ware auspackte, hörte sie, wie Alison draußen Kunden bediente, und dankte Gott wieder einmal dafür, dass er ihr die ältere Frau geschickt hatte. Auf gewisse Weise war es tröstlich, mit Alison befreundet zu sein, da diese, im Gegensatz zu Marissas anderen Freunden, John nicht gekannt hatte. Sosehr Marissa ihren Ehemann auch geliebt hatte, so tat es bisweilen doch gut, keine Erinnerungen an ihn gemeinsam mit Alison zu haben. Johns und ihre Freunde sprachen entweder viel zu oft von ihm oder erwähnten seinen Namen überhaupt nicht, und so hatte Johns Tod aus diesen Freunden beklommene Bekannte gemacht, und Marissa stellte zunehmend fest, dass sie sich wie eine Außenseiterin vorkam. Sie brauchte fast eine Stunde, bis die neue Ware ausgepackt und elektronisch erfasst war. Dann verließ sie das Geschäft, um im Food-Court des Einkaufszentrums etwas zu Mittag zu essen. Sie entschied sich für einen Salat und eine Diätcola und suchte sich mit ihrem Tablett einen leeren Tisch. Heute war es voller als sonst. Vielleicht hatte Alison recht und die Aktion des Klaviergeschäfts hatte zusätzliche Besucher angelockt. Mehr Besucher bedeuteten auch mehr Umsatz. Sie hatte ihren Salat zur Hälfte gegessen, als sie ihn plötzlich sah. Sein federnder Schritt verriet, dass er mit sich und der Welt, die er seit dreiunddreißig Jahren bewohnte, im Reinen war. Obwohl seit ihrer letzten Begegnung sechzehn Jahre vergangen waren, hatte sie ihn auf Anhieb wiedererkannt. Sein Haar war kürzer, aber noch immer so dunkel und lockig wie damals, als er noch ein Teenager gewesen war. Sie sah, wie sein Blick sie flüchtig streifte und er gerade an ihr vorbeigehen wollte, doch dann blieb er abrupt stehen und sah sie mit weit aufgerissenen Augen überrascht an. »Marissa.« Seine tiefe Stimme setzte einen Strom verrückter Erinnerungen in ihr frei. Er streckte ihr die Hände entgegen, woraufhin sie aufstand und danach griff. Wärme durchströmte sie bei der Berührung. »Marissa Guthrie.« Er nannte sie bei ihrem Mädchennamen, den sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. »Alex Kincaid.« Es war eigenartig, seinen Namen nach all der Zeit wieder in den Mund zu nehmen. »Was, um Himmels willen, machst du hier?« »Ich wohne wieder in Cass Creek.« Er lächelte, und durch sein sexy, träges Lächeln fühlte sie sich in eine Zeit zurückversetzt, an die sie schon lange nicht mehr gedacht hatte.
»Du siehst umwerfend aus«, sagte er, drückte ihre Hände, ließ sie wieder los und bat sie mit einer Geste, sich wieder zu setzen. Als er auf den Stuhl ihr gegenüber glitt, war ihr für den Bruchteil einer Sekunde, als wäre sie wieder sechzehn und würde mit ihm in der Cafeteria ihrer Highschool sitzen. Sie hatte vergessen, wie blau seine Augen waren, nicht das Blau eines Sommerhimmels, sondern eher das der Abenddämmerung. Aus dem hübschen Teenager von damals war ein sehr gutaussehender Mann geworden. »Du musst mir alles über dich erzählen«, sagte er. »Was du machst, wen du geheiratet hast und ob du Kinder hast.« Marissa brach in spontanes Gelächter aus, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. »Aber erst, wenn du mir verrätst, seit wann du zurück bist.« »Seit ungefähr zwei Monaten.« »Allein? Keine Frau? Keine Kinder?« »Nein. Ich bin nicht verheiratet. Meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, mein Vater vor vier Monaten. Ohne sie beide war es an der Zeit, einiges in meinem Leben zu ändern. Und da ich nur gute Erinnerungen an Cass Creek habe, bin ich wieder hergezogen. So, jetzt bist du an der Reihe.« »Ich habe zwei Kinder. Justin ist sieben und Jessica fünf.« »Und dein Mann?« »John ist vor einem Jahr gestorben.«
Alex zuckte kaum merklich zusammen. »Das tut mir leid. Als Alleinerziehende hat man es bestimmt nicht immer leicht.« Marissa lächelte. »Ich habe wundervolle Kinder, die es mir nicht schwermachen«, sagte sie und schob den halbleeren Salatteller von sich. »Was führt dich hier ins Einkaufszentrum?« »Mein Wagen ist gerade in der Werkstatt, und da habe ich mir gedacht, ich nutze die Gelegenheit, um einen Happen zu essen. Wie steht's mit dir? Was machst du hier?« »Mir gehört eines der Geschäfte hier.« Er zog seine dunklen Augenbrauen hoch. »Wirklich? Das ist ja großartig. Was verkaufst du?« Erst jetzt fiel Marissa wieder ein, dass Alex das Talent besaß, seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, er oder sie wären der wichtigste Mensch im gesamten Universum. Es war Teil seines Charmes als Teenager gewesen, und sie fühlte sich auch in diesem Augenblick davon bezaubert. Bereitwillig erzählte sie ihm von ihrem Geschäft und davon, wie sehr sie ihre Arbeit liebte. Im Gegenzug berichtete Alex ihr, dass er sein Geld als Architekt verdiente und gerade an dem neuen Gemeindezentrum arbeitete, das anstelle des alten Kinos errichtet werden sollte. »Gehst du noch joggen?«, fragte sie. »Jeden Morgen.« Er grinste. »Und was macht die hohe Kunst des Pomponwedelns?«
Marissa lachte. »Nicht viel, fürchte ich. Höchstens wenn ich allein bin und zu viele Daiquiris getrunken habe.« Alex hatte damals zu den besten Läufern der Schule gezählt, und Marissa war Cheerleader gewesen. Rückblickend wirkte die Zeit geradezu idyllisch, voller Verheißungen und Hoffnungen für die Zukunft. Wenig später begleitete Alex sie zu ihrem Laden, und währenddessen unterhielten sie sich über dies und das aus den letzten sechzehn Jahren, ohne allzu persönlich zu werden. Marissa war erstaunt, dass Alex noch immer dasselbe Aftershave wie damals benutzte, und der vertraute Geruch setzte eine Flut von Erinnerungen frei. Erinnerungen, wie sie zu langsamer Musik eng umschlungen mit ihm getanzt und das Gesicht an seinem Hals vergraben hatte, an die leidenschaftlichen Küsse, die sie auf der Rückbank seines Autos ausgetauscht hatten und er sie an Stellen berühren durfte, die niemand zuvor erforscht hatte. Alex war Marissas erster fester Freund gewesen, und sie hatte ihn mit jener Intensität geliebt, zu der nur Teenager fähig sind. Sie wusste, dass es verrückt war, aber selbst nach all den Jahren begann ihr Herz schneller zu schlagen, wenn er in der Nähe war. »Was hältst du von einem gemeinsamen Abendessen? «, fragte er, als sie ihr Geschäft erreicht hatten. »Ich möchte alles darüber erfahren, was du seit der Highschool gemacht hast.«
Marissa dachte kurz über seine Worte nach. Es war das erste Mal seit Johns Tod, dass ein alleinstehender, attraktiver Mann sie einlud. Es überraschte sie selbst, wie zurückhaltend sie auf die Einladung zu einem Date reagierte. »Wann?«, fragte sie und stellte erschrocken fest, dass sie durch ihre Frage eingewilligt hatte, sich mit ihm zu treffen. Es ist ja kein richtiges Date, sagte sie sich. Nur ein Treffen von alten Freunden, die sich viel zu erzählen haben. »Heute ... morgen ... wann immer es dir passt.« »Heute geht es nicht. Ich muss erst noch einen Babysitter organisieren.« »Bring deine Kinder doch einfach mit«, antwortete er. »Wir könnten Pizza essen gehen oder etwas unternehmen, das ihnen gefällt.« »Danke für das Angebot, aber ich denke, es wäre besser, wenn jemand auf die beiden aufpasst.« Es kam für Marissa nicht in Frage, dass sie ihre Kinder einem fremden Mann vorstellte, selbst wenn es sich dabei um ihren Exfreund handelte. »Wie sieht es mit morgen Abend aus?« »Gern«, antwortete er und zog eine Visitenkarte aus der Hemdtasche. »Hier steht meine Privatnummer. Wie wäre es, wenn du mich heute Abend oder morgen im Laufe des Tages anrufst, damit wir eine Uhrzeit vereinbaren können?« Als Marissa die Karte entgegennahm, durchzuckte sie die Erkenntnis, dass sie, indem sie sich bereit er klärte, ihn anzurufen und mit ihm auszugehen, einen Riesenschritt nach vorn in ein Leben ohne John tat. »Mrs. Jamison? Marissa Jamison?«, riss eine tiefe Stimme hinter ihr sie aus den Gedanken. Marissa drehte sich um und sah, wie ein Mann und eine Frau aus ihrem Geschäft kamen und sich ihr näherten. »Ja bitte? Ich bin Marissa Jamison.« Sie warf einen flüchtigen Blick durch das Schaufenster zu Alison, die achselzuckend hinter der Kasse stand, um ihr zu signalisieren, dass sie keine Ahnung hatte, was die beiden von ihr wollten. Die schlanke dunkelhaarige Frau zückte ihre Brieftasche und hielt ihr eine Marke unter die Nase. »Ich bin Detective Wilkerson, und dies ist mein Partner Detective Hunter. Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen und möchten Sie bitten, uns auf die Wache zu begleiten.« Marissa spürte, wie Alex einen Schritt näher kam, während sie die Frau verwirrt ansah. »Fragen? Worüber denn?« »Wenn Sie mit uns kommen, können wir alles Nötige auf der Wache klären«, sagte der hochgewachsene blonde Mann. Im Gegensatz zu seiner Kollegin war sein Blick freundlich. »Sie geht nirgends mit Ihnen hin, bis Sie sich nicht ebenfalls ausgewiesen haben«, sagte Alex zu dem Mann. Nickend öffnete der Mann neben Detective Wilkerson das Jackett, so dass nicht nur die Marke an seinem Gürtel, sondern auch seine Einsatzwaffe sichtbar wurde. »Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie mit Ihrem eigenen Wagen fahren. Wir werden Ihnen einfach folgen.« Alex berührte Marissas Arm. »Möchtest du, dass ich mitkomme?« »Nein, schon in Ordnung. Ich bin überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handelt.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Fahr ruhig. Ich rufe dich später an.« Alex zögerte einen Augenblick, ehe er nickte, sich umdrehte und wegging. Marissa sah die beiden Detectives an. »Könnten Sie mir bitte sagen, worum es hier geht? Stecke ich etwa in Schwierigkeiten?« »Haben Sie denn etwas getan, weshalb Sie in Schwierigkeiten stecken könnten?«, fragte Detective Wilkerson, und ihre dunkelbraunen Augen blickten ernst. »Nein ... nicht, dass ich wüsste.« Marissa errötete und war selbst perplex, dass die Anwesenheit zweier Polizisten ausreichte, um ihr ein schlechtes Gewissen zu bereiten. »Sobald wir auf der Wache sind, erklären wir Ihnen alles«, bekräftigte Detective Hunter noch einmal. Marissa nickte, als sie merkte, dass sie ihr nichts sagen würden. »Ich fahre selbst. Ich weiß, wo die Wache ist, und mein Auto befindet sich auf dem Parkplatz am Seiteneingang meines Geschäfts. Ich möchte allerdings noch kurz meiner Assistentin Bescheid sagen.«
Die Detectives warteten, während Marissa sicherging, dass Alison bis zu ihrer Rückkehr zurechtkam. Wenige Minuten später saß Marissa in ihrem Auto und fuhr in Richtung Polizeiwache, die von den Kindern auch Hummelhaus genannt wurde, weil sie gelb und schwarz gestrichen war. Spitznamen waren jedoch im Moment das Letzte, woran Marissa dachte. Was mochten die beiden von ihr wollen? Die verrücktesten Gedanken schossen Marissa durch den Kopf, während sie sich überdeutlich der Tatsache bewusst war, dass ihr der schwarze Sedan der Detectives folgte. Konnte es möglich sein, dass sie Strafzettel bekommen hatte, von denen sie nichts wusste? War sie gefilmt worden, wie sie ein Stoppschild übersehen hatte oder zu schnell gefahren war? Doch im gleichen Augenblick verwarf sie ihre Gedanken wieder. Sie war eine gute, defensive Autofahrerin, die weder Strafzettel ignorierte noch bei Rot über die Ampel raste. Davon abgesehen war es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie wegen eines Verkehrsdelikts von zwei Detectives Besuch bekam. Derartige Angelegenheiten wurden für gewöhnlich auf dem Postweg erledigt. John. Ihre Hände klammerten sich fest um das Lenkrad. Es musste etwas mit John zu tun haben. Vielleicht hatte die Polizei endlich eine Spur und wusste etwas über den Täter, der ihn auf dem Parkplatz des Supermarktes überfahren hatte. Vielleicht hatten sie endlich rekonstruiert, was sich in der Nacht zugetragen hatte.
Ohne eine gehörige Portion Zufall wären Sarah und Luke noch immer auf der Suche nach der Frau namens Marissa, denn ohne einen Nachnamen waren die herkömmlichen Methoden der Datenüberprüfung reine Zeitverschwendung. Die Identität des Opfers hingegen hatten sie binnen weniger Stunden nach dem Fund der Leiche ermittelt. Der Wagen der jungen Frau, auf dessen Beifahrersitz sich ihre Handtasche samt Ausweispapieren befunden hatte, hatte gegenüber des Parks im Halteverbot gestanden. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Jennifer Walsh zweiundzwanzig Jahre alt und mit Kokain vollgepumpt gewesen. Sie hatte in einem heruntergekommenen Appartement gelebt und gelegentlich in einem Minisupermarkt bei ihr um die Ecke gejobbt. Die beiden Detectives hatten Jennifers Eltern und Kollegen vernommen, aber keiner von ihnen hatte Licht in den Fall bringen können. Daher suchten sie noch nach möglichen Freunden von Jennifer. Und dann, heute Morgen - Sarah und Luke hatten an ihrem Schreibtisch gesessen - hatte sich ihr Kollege Guy Woodson zu ihnen gesellt, um einen Plausch zu halten. Luke hatte erwähnt, wie frustrierend es war, dass sie diese Marissa nicht finden konnten, woraufhin Guy stirnrunzelnd geantwortet hatte: »Marissa. Marissa. Warum kommt mir der Name so bekannt vor?« Dann hatte er mit den Fingern geschnippt. »Der Feuerwehrmann. « »Welcher Feuerwehrmann?«, hatte Sarah gefragt. »Tödlicher Unfall mit Fahrerflucht, ist ungefähr ein Jahr her. Er hieß Johnson ... Jackson ... nein, Jamison. Genau. John Jamison. Ich glaube, seine Frau hieß Marissa.« Luke machte nicht einmal Anstalten, einen Block zu zücken. In den zwei Wochen, die er nun schon mit Sarah zusammenarbeitete, war ihm nicht entgangen, dass seine neue Kollegin viel redete und jedes noch so unwichtige Detail aufschrieb, was ihm entgegenkam, denn er hasste es, sich Notizen zu machen. Marissa Jamisons Telefonnummer herauszufinden war ein Kinderspiel gewesen. Ein Anruf bei ihr zu Hause hatte ihn mit der Ansage des Anrufbeantworters verbunden, die ihn zu einem Besuch in einem Geschäft namens »Tiffany Rose« einlud. Rasch waren sie dorthin aufgebrochen, mit dem Ergebnis, dass Marissa Jamison nun in einem der Verhörräume saß und auf sie wartete. Luke wandte sich zu Sarah um, die sich gerade einen Becher Kaffee einschenkte. Seine neue Partnerin faszinierte ihn mit ihren knabenhaft schmalen Hüften, den kleinen Brüsten und den intelligenten Augen, die nur so vor Energie strotzten. Er wusste, dass sie fast vierzig war, fand jedoch, dass sie durch ihren Kurzhaarschnitt und die vielen Sommersprossen um einiges jünger wirkte. Sie hatte ihm bislang nicht viel von ihrem Privatleben offenbart. Anfänglich hatte er gedacht, sie wäre Lesbierin, doch als sie etwas von einer Scheidung gemurmelt und er beobachtet hatte, wie sie Männer ansah, hatte er seine ursprüngliche Meinung geändert. Er mochte sie, obwohl sie es mit ihrer Gewissenhaftigkeit oft übertrieb und zuweilen schroff und halsstarrig sein konnte. Doch darüber hinaus vertraute er ihr, und in einer Welt des Verbrechens war dies am wichtigsten. »Bereit?«, fragte er und klemmte sich die Jennifer Walsh- Akte unter den Arm. Sie nickte, und er folgte ihr in den Raum, in dem Marissa auf sie wartete. Marissa Jamison hatte die Hände auf dem Tisch zusammengefaltet und sah mit besorgtem Blick zu ihnen auf. Sie war hübsch. Blondes Haar, blaue Augen und fein geschnittene Gesichtszüge. Jener Typ Frau, nach denen sich Männer die Finger leckten und der anderen Frauen ein Dorn im Auge war. »Möchten Sie vielleicht etwas trinken, bevor wir anfangen? «, durchbrach Luke die Stille. »Ein Kaffee oder ein Wasser?« Sarah sah ihn so entgeistert an, als hätte er gerade einem Gefangenen den Schlüssel für die Handschellen angeboten. Es war eindeutig, dass sie beschlossen hatte, den Part der bösen Polizistin zu spielen, womit ihm die Rolle des Guten zufiel. »Nein danke, ich brauche nichts. Ich möchte einfach nur erfahren, warum ich eigentlich hier bin«, antwortete Marissa. »Weil wir Ihnen einige Fragen stellen möchten.« Sarah nahm Luke die Akte ab und setzte sich an das andere Ende des Tischs. Luke ließ sich neben Marissa nieder und überließ seiner Partnerin die Gesprächsführung. Sie nahm ein Blatt Papier aus der Akte und schob es Marissa über den Tisch zu. »Kennen Sie diese Frau?« Luke wusste, dass es sich um eine Kopie des Fotos von Jennifer Walshs Führerschein handelte, und beobachtete, wie Marissa das Blatt in die Hände nahm, es sich ansah und wieder hinlegte. »Nein«, antwortete sie. »Ich kenne sie nicht. Warum? « Sie furchte die Stirn und betrachtete das Foto ein weiteres Mal. »Moment mal ... vielleicht ...« Sarah beugte sich vor, während sich Luke in seinem Stuhl aufrichtete. »Vielleicht was?«, fragte Sarah. »Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich glaube, ich habe sie schon einmal gesehen.« »Wann?«, fragte Luke. »Was ist mit ihr?«, wollte Marissa wissen. »Beantworten Sie erst seine Frage«, entgegnete Sarah. Mit furchterfülltem Blick sah Marissa erst zu Sarah und dann zu Luke. »Auf dem Parkplatz am Line Creek Park. Donnerstagabend.« Ihr Blick glitt abermals über das Foto. »Ich glaube, diese Frau und ich hatten eine kurze, eher unschöne Begegnung.«
»Eine unschöne Begegnung? Was genau meinen Sie damit?«, wollte Sarah mit durchdringendem Blick wissen. »Nur eine Bagatelle. Ich habe beim Rückwärtsausparken ihren Wagen übersehen, weil er im toten Winkel stand. Als sie gehupt hat, habe ich sofort gebremst. Aber sie war fuchsteufelswild und hat mich laut beschimpft. « »Was ist dann passiert?«, wollte Luke wissen, in dessen Stimme eine Freundlichkeit mitschwang, die seiner Partnerin fremd zu sein schien. Sarah tat, als hätte sich Marissa Jamison eines Verbrechens schuldig gemacht. »Nichts«, antwortete Marissa. »Sie ist abgerauscht, und ich bin nach Hause gefahren.« Sie warf einen weiteren Blick auf das Foto. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das wirklich die Frau ist.« »Hat irgendjemand den Vorfall mitbekommen?« Sarah stand auf, als hielte sie nichts mehr länger auf ihrem Stuhl. »Ich weiß es nicht ... womöglich. Bitte, können Sie mir nicht endlich sagen, worum es hier eigentlich geht?« »Ich werde Ihnen sagen, worum es geht.« Sarah schlug die Akte auf, zog ein Foto heraus, lief um den Tisch herum und knallte es vor Marissa auf den Tisch. Marissa schnappte hörbar nach Luft. Luke hatte geahnt, dass sie ihr eine Aufnahme vom Tatort präsentierte, wusste aber auch, dass ein für die Ermittlungen wichtiges Detail nicht zu sehen sein würde - die rote Schleife. Sie hatten entschieden, die Schleife und die Botschaft an der Leiche der Öffentlichkeit zunächst vorzuenthalten. Sie brauchte etwas, anhand dessen sich ein Täter möglicherweise verraten könnte. »Es geht um Mord, Mrs. Jamison. Kurz nach Ihrer ›unschönen Begegnung‹ mit Jessica Walsh hatte diese mit ihrem Leben bezahlen müssen.« Mit diesen Worten kehrte Sarah zu ihrem Stuhl zurück. Marissa erhob sich, das Gesicht kreidebleich, und drehte das Foto um. »Wie können Sie es wagen, mir so etwas ohne jegliche Vorwarnung zu zeigen?«, sagte sie und zeigte zum ersten Mal Anzeichen von Wut. »Wo waren Sie Donnerstagabend, nachdem Sie den Line Creek Park verlassen haben?«, überging Sarah Marissas Einwurf. »Zu Hause bei meinen Kindern.« Marissas Blick glitt von Sarah zu Luke. »Das ist doch verrückt. Sie glauben doch wohl nicht, dass ich irgendetwas mit dem Mord an dieser Frau zu tun habe?« Sarah schlug die Akte abermals auf, und Luke sah, wie Marissa zusammenzuckte, als befürchtete sie den nächsten Schock. »Leider haben wir Grund zur Annahme, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben oder uns wenigstens einen wichtigen Hinweis geben könnten«, fuhr sie unbeirrt fort und überreichte Marissa das letzte Blatt aus dem Ordner. »Dies ist eine Kopie der Karte, die wir an der Leiche gefunden haben.«
Luke hatte gedacht, dass Marissas Gesicht ohnehin schon kreidebleich war, doch während sie die Karte las, verlor es noch mehr an Farbe. »Das ist doch absurd. Ich verstehe das nicht. Ich kennen niemanden namens Blake.« »Wie es aber aussieht, kennt jemand namens Blake Sie«, erwiderte Sarah. Marissa rieb sich die Stirn, als würde sie von entsetzlichen Kopfschmerzen geplagt. »Es muss sich um einen grässlichen Irrtum, einen Zufall handeln. Ich kenne niemanden, der zu so etwas fähig wäre.« »Mrs. Jamison, wir brauchen eine Liste aller Personen, die mit Ihnen im Park waren«, sagte Luke sanft. Marissa hob den Blick und sah ihn an, als hätte er sie gerade darum gebeten, ihr sämtliche Pflanzennamen der Welt aufzulisten. »Der Park war brechend voll, alle Spielfelder waren belegt. Ich kann nicht ... ich ...« »Versuchen Sie es einfach«, antwortete Luke ruhig. »Außerdem halten wir die Information über die Karte streng unter Verschluss. Es ist Ihnen untersagt, mit irgendjemandem darüber zu reden«, ergänzte Sarah. Marissa, der der Schrecken noch immer ins Gesicht geschrieben stand, nickte schwach. »Kann ich jetzt gehen?« Es war ihr anzusehen, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich von hier wegzukommen. Luke sah Sarah an, ehe er nickte. Dann erhoben sich alle drei zeitgleich, und Marissa steuerte auf die Tür zu.
»Mrs. Jamison«, rief Sarah sie noch einmal zurück. »Mag sein, dass Sie niemanden kennen, der zu einem Mord fähig wäre, aber fest steht, dass Jennifer Walsh ermordet wurde, kurz nachdem sie Sie in aller Öffentlichkeit beschimpft hat. Ich schlage vor, Sie denken noch einmal gründlich über die Menschen in Ihrem näheren Umfeld nach.« »Und ich schlage vor, Sie suchen nach einer anderen Marissa, weil ich definitiv nichts mit diesem Fall zu tun haben kann«, entgegnete Marissa mit fester Stimme, drehte sich um und verließ den Raum. »Das hat keinen Sinn«, sagte Luke, als die beiden allein waren. »Sie weiß nichts über den Mord.« Sarah hob eine dunkle Augenbraue. »Wie kommst du darauf?« »Nur so ein Gefühl. Als du ihr das Foto gezeigt hast, ist sie fast in Ohnmacht gefallen. Nenn es meinetwegen männliche Intuition.« »Ach ja, und weil sie wie eine Prinzessin aus einem Märchen aussieht, kann sie unmöglich etwas mit dem Mord zu tun haben«, entgegnete Sarah mit scharfer Stimme. »Vermutlich ist sie genau der Typ Frau, der in dein Beuteschema passt. Blond, große Brüste und blaue Augen.« Luke sah verdutzt auf. »Sie hatte große Brüste? Verdammt, ist mir gar nicht aufgefallen. Ich achte mehr auf Beine.« »Jetzt will ich dir mal etwas sagen, Luke Hunter. Wenn es eines gibt, das ich in meinem bisherigen Leben gelernt habe, dann dass nicht nur hässliche Frauen töten. Hübsche kleine Blondinen mit großen Brüsten kommen als Täterin genauso in Frage. Marissa Jamison steht nach wie vor auf meiner Verdächtigenliste, und du tätest besser daran, sie nicht so eilfertig von deiner zu streichen.« Mit diesen Worten verließ Sarah das Verhörzimmer und warf die Tür kräftiger als nötig hinter sich ins Schloss. Luke kratzte sich am Kopf und fragte sich, welche Laus ihr über die Leber gelaufen war.
Übersetzung: Nicole Friedrich
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Es war ein perfekter Abend. Cass Creek, ein kleiner Vorort von Kansas City, präsentierte sich von seiner besten Seite. Die Bäume standen in voller Blüte, das Gras war üppig, und die Kinder sprühten vor Tatendrang, der sich während des langen Winters in ihnen angestaut hatte. Als Marissa Jamison ihren Sohn zu seinem wöchentlichen Baseballspiel fuhr, entdeckte sie überall Anzeichen des Frühlings, und es kam ihr vor, als könnte sie tief in ihrem Inneren die alljährliche Wiedergeburt der Erde spüren. Der Winter war lang und hart gewesen, doch nun fühlte sie zum ersten Mal seit dem Tod ihres Mannes neue Energie durch ihren Körper fließen. Ihr Lampengeschäft florierte, und ihre beiden Kinder schienen den schmerzhaften Verlust ihres Vaters den Umständen entsprechend gut verkraftet zu haben. Endlich würde alles wieder gut werden. Es hatte eine Zeit gegeben, in der die Trauer sie so weit nach unten zog, dass sie befürchtet hatte, niemals wieder aufzutauchen. Doch irgendwie hatte sie es geschafft, diese dunkle und kalte Zeit zu überstehen, und zum ersten Mal seit einem Jahr glaubte sie, dass es damit wirklich zu Ende war. »Mom, können wir nach dem Spiel 'ne Pizza holen?«, fragte Justin, als sie auf den Parkplatz fuhren. »Morgen ist Schule, du kennst die Regeln«, antwortete Marissa. »Wie wäre es, wenn wir stattdessen morgen Abend Pizza essen gingen? Freitags ist im Pizza-Palast Familienabend.« »Und ich nehme eine mit Salami«, meldete sich Jessica, Justins kleine Schwester zu Wort. Marissa lächelte und antwortete: »Ja, du bekommst Salamipizza!« Wegen des großen Andrangs auf dem Sportplatz dauerte es einige Minuten, bis Marissa einen Parkplatz in der Nähe des Baseballfelds gefunden hatte, auf dem Justins Team spielen würde. Während sie in Richtung Tribüne schlenderte, rannten Justin und Jessica los, und ihre blonden Schöpfe leuchteten im Sonnenschein. Eine warme Brise trug ihre aufgeregten Rufe zu ihr. Das Gefühl tiefer Liebe durchdrang Marissas Herz und Seele. Die beiden waren wie zwei Leuchttürme, die sie sicher durch den dunklen Sturm der Trauer geleitet hatten. Ihnen hatte sie es zu verdanken, dass sie die dunkelsten Tage der Hoffnungslosigkeit und des Kummers überstanden hatte. Marissa und Jessica hatten Justins Spiel ungefähr eine halbe Stunde lang verfolgt, als die ersten erwachsenen Spieler eintrafen, die auf dem benachbarten Platz spielen würden. Marissa lächelte, als sie Kip Larson entdeckte, der geradewegs auf sie zusteuerte. Der junge Mann im rotweißen Trikot des örtlichen Feuerwehrteams setzte sich neben Jessica und legte freundschaftlich den Arm um sie. »Wann bist du endlich so groß, dass ich dich heiraten kann?«, sagte er zu der Fünfjährigen, die auf seine übliche Neckerei mit einem Kichern antwortete. »Gegen wen spielt ihr heute?«, erkundigte sich Marissa. »Hendersons Chemische Reinigung. Das sollen ziemlich zähe Burschen sein«, antwortete Kip und sah zum Spielfeld hinüber. »Wie schlägt sich dein Kleiner denn so?« »Im Moment sieht es aus, als würde er sich zu Tode langweilen.« Marissa lächelte, als sie zu ihrem Sohn blickte. In dem Moment trafen drei weitere Feuerwehrmänner ein und gesellten sich zu Marissa und ihrer Tochter. Wie immer wurde der zweifachen Mutter ganz warm ums Herz. Sie wusste, dass die Männer stets etwas früher als nötig kamen, um Justin anzufeuern. John war ebenfalls Feuerwehrmann gewesen. Seit seinem Tod hatten seine Kollegen Justin und Jessica quasi adoptiert und nahmen regen Anteil an ihrem Leben. »Captain Morrison«, begrüßte Marissa den Mittvierziger, den John stets gemocht und bewundert hatte. Michael Morrison war der Captain des Löschzugs.
»Wie ich gehört habe, steht Ihnen ein ziemlich schwerer Gegner ins Haus.« Er lächelte. »Wir haben nur schwere Gegner, aber dieses Jahr brennen wir förmlich darauf, den Titel zu holen.« »Genau wie in den letzten Jahren«, warf Brett Tupelo ein, ebenfalls ein ehemaliger Kollege von John. Als die Feuerwehrmänner in lauten Jubel ausbrachen, weil sich Justins Team einen Punkt erkämpft hatte, dachte Marissa wieder einmal, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass John mit so feinen Männern zusammengearbeitet hatte und dass diese die Familie eines verunglückten Kameraden nicht vergessen hatten.
Er konnte sie wittern. Ihren unverwechselbar frischen Duft nach etwas Zitronigem, den die weiche Frühlingsbrise zu ihm herübertrug, vermischt mit dem Geruch nach kleinen verschwitzten Jungen, frischem Popcorn und den Abgasen der Autos, die auf dem Parkplatz ankamen und von dort wegfuhren. Ihr Duft brachte seinen Bauch zum Rumoren und entfachte dieses unstillbare Verlangen, das ihm so vertraut war wie sein eigener Herzschlag. Der Line Creek Park besaß vier Baseballfelder, die in diesem Augenblick von Spielern verschiedener Altersstufen besetzt waren. Auf dem Feld direkt vor ihm standen die jüngsten Spieler, es waren Jungen im Alter von sechs und sieben Jahren. Aber er war nicht wegen des Spiels gekommen. Er war ihretwegen hier. Ihr schulterlanges blondes Haar schimmerte seidig in der Sonne, und seine Finger schmerzten, so überwältigend war der Wunsch, die Hand auszustrecken und es zu berühren. Noch nicht, sagte er sich. Aber bald, sehr bald. Nichts war berauschender als die süße, brennende Vorfreude. Er beobachtete, wie sie den Kopf neigte, um ihrer Tochter zuzuhören, die ihr etwas erzählte. Das Haar der fünfjährigen Jessica wies denselben Blondton auf wie das ihrer Mutter. Sie war ein kleines, zierliches Mädchen mit zarten Gesichtszügen und großen blauen Augen, das an ein elfenartiges Wesen aus einem Märchen erinnerte. Schließlich riss er den Blick von Mutter und Tochter los und sah hinüber auf das Spielfeld, auf dem der siebenjährige Justin gedankenverloren auf seiner Position stand. Die perfekte Familie. Er wusste alles, was es über sie zu wissen gab. Die kleine Jessica zum Beispiel liebte Salamipizza und Ballett über alles, und Justins Herz schlug für Baseball und Dinosaurier. Er wusste, dass die Kinder jeden Morgen um sieben aufstanden und um halb neun ins Bett gingen. Während er den Blick wieder auf die blonde Frau richtete, spürte er ein Ziehen in der Brust, das von seiner überragenden Liebe zu ihr herrührte, die Tag und Nacht an ihm zehrte. Marissa Jamison. Allein ihr Name reichte aus, um sein Blut in Wallung zu bringen. Ihr so nah wie jetzt zu sein ließ seine Hände zittern und sein Herz so schnell schlagen, dass er einen Augenblick lang den Jubel der Eltern und die Rufe der Trainer nicht mehr hören konnte, sondern nur das Klopfen seines Herzens. Er wusste, dass sie gern ein Glas Wein trank, wenn sie sich ein Schaumbad gönnte, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatte. Er wusste, dass sie ihr kleines Geschäft liebte, in dem sie Tiffanylampen verkaufte, und dass der Tod ihres Ehemanns sie in tiefe Trauer gestürzt hatte. John Jamison war seit mehr als einem Jahr tot, und es war höchste Zeit, dass es mit ihrem Leben wieder aufwärtsging. Er hatte ihr genug Zeit zum Trauern gegeben. Er würde ihr bald schon zeigen, dass er sich um sie kümmern konnte und dass er der Mann war, der ihrem Leben wieder zu Perfektion verhalf. Schließlich liebte er sie schon eine halbe Ewigkeit und wollte doch nur ihr Bestes. Die Ehe mit John war ein Fehler gewesen, den er glücklicherweise korrigiert hatte. Marissa, Jessica und Justin waren die Familie, die eigentlich ihm zustand und die er haben würde, sobald die Zeit dazu reif war.
Schon bald würde sie alles begreifen, und ihre Dankbarkeit würde in Liebe umschlagen, wenn sie ihm ihr Herz schenkte. Er war von Natur aus geduldig, aber nun war es so weit, der süßen Marissa zu beweisen, wie groß seine Liebe für sie war. Nicht mehr lange und er würde die perfekte Familie als seine einfordern können.
2
Das war großartig!« Marissa klopfte ihrem Sohn anerkennend auf die Schulter. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme geschlossen, ließ es aber bleiben, weil sie wusste, dass es ihm in Gegenwart seiner Freunde peinlich war. Er grinste sie an, und das schiefe Lächeln erinnerte Marissa so sehr an John, dass sich ihr Hals zusammenzog. »Hast du gesehen, wie ich den Ball gefangen habe?« »Ich habe dich gesehen«, antwortete Jessica mit der stolzen Stimme einer jüngeren Schwester. »Den letzten Ball hast du super gefangt.« »Gefangen, Mäuschen. Es heißt gefangen«, korrigierte Marissa sie liebevoll, während sie auf ihren Minivan zusteuerte. Wie immer fiel es Marissa schwer, auf dem Weg zum Parkplatz rechts und links mit ansehen zu müssen, wie stolze Väter ihre kleinen Baseballstars ins Auto setzten, um sie nach Hause zu fahren. Marissa war zwar nicht die Einzige, die sich alle Mühe gab, ihren Kindern Vater und Mutter zu sein, doch die meisten Jungen aus Justins Mannschaft kamen aus intakten Familien.
»Hey, Marissa! Klasse gespielt, Justin«, rief Marc Carter quer über den Parkplatz. Marissa winkte zurück, ehe sie die Kinder ins Auto verfrachtete. Marc war ebenfalls alleinerziehend, und Marissa hatte sich im Laufe der letzten Spiele mit ihm angefreundet. »Alle angeschnallt?«, fragte sie und ließ den Motor an. Als beide Kinder bejahten, begann sie, aus der Parklücke zurückzusetzen. Ein wütendes Hupen ließ sie wieder scharf abbremsen. Sie streckte den Kopf aus dem Fenster und entdeckte einen kleinen Wagen direkt hinter sich. »Bist du blind, du dumme Kuh?«, brüllte die junge dunkelhaarige Fahrerin sie durch das heruntergekurbelte Fenster an. »Entschuldigung«, rief Marissa. »Wenn du mich gerammt hättest, wärst du deines Scheißlebens nicht mehr froh geworden, Alte.« Die Fahrerin verabschiedete sich mit ausgestrecktem Mittelfinger von Marissa und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. »Die Frau hat ein schlimmes Wort benutzt«, sagte Jessica mit der Verachtung einer Fünfjährigen. »Ja, das hat sie«, erwiderte Marissa, während sie vorsichtig ausparkte. »Ihre Mutter sollte ihr eine Auszeit geben«, fügte Jessica hinzu. »Sie war böse.« »Du hast vollkommen recht.« Marissa lächelte. Jessica wusste, wovon sie sprach. Während der fünfzehnminütigen Fahrt nach Hause hörte Marissa den beiden Kindern nur mit halbem Ohr zu, die darüber diskutierten, ob ein Hund oder eine Katze das bessere Haustier abgaben. Es spielte keine Rolle, wer den Schlagabtausch gewann, denn sie hatte den beiden unmissverständlich klargemacht, dass ihr vorerst kein Tier ins Haus kam, bis die beiden ein wenig älter waren. »Mom, darf ich vor dem Schlafengehen noch Fangen üben?«, fragte Justin, als sie in die Auffahrt zu ihrem gemütlichen, einstöckigen Haus bogen. »Ich fürchte, du musst in der Badewanne üben, weil es fast schon Schlafenszeit ist und ich deine Käsefüße bis nach hier vorn riechen kann.« Sie lächelte, als sie ihren Sohn kichern hörte. Der Rest des Abends war mit Abläufen erfüllt, die durch ihre Routine etwas Tröstliches hatten. Die drei aßen zu Abend, und anschließend badete Marissa die Kinder und brachte sie mit Gutenachtküssen und einem Abendgebet ins Bett. Wenig später breitete sich eine angenehme Stille im Haus aus. Marissa schenkte sich ein Glas Wein ein und ging in das Badezimmer, das neben ihrem Schlafzimmer lag. Sie ließ sich ein Schaumbad ein, entkleidete sich und tauchte in das herrlich warme Wasser ein. Es hatte Zeiten gegeben, in denen die Stille im Haus ihr fast das Herz gebrochen hätte, weil sie Johns tiefe Stimme so sehr vermisste, dass es kaum zu ertragen war.
Doch während der letzten Monate hatte sie sich allmählich an die Stille gewöhnt. Sie schloss die Augen, legte den Kopf auf das Wannenkissen und trank einen Schluck Wein. Es war nicht nur Johns Stimme, die sie vermisste, sondern auch die Intimität seiner Blicke, wenn er sie durch den Raum hinweg angesehen oder wenn sein Oberschenkel sie mitten in der Nacht gestreift hatte, ganz zu schweigen von seinem ureigenen Duft. Sie vermisste den Anblick von zwei Zahnbürsten in dem Keramikbecher am Waschbecken oder wie er den Sportteil der Zeitung morgens auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte und sie sich die Fernbedienung des Fernsehers erkämpfen musste. Sie war dreiunddreißig Jahre alt und hatte durch den tragischen Tod ihres Ehemannes gelernt, dass sie stärker war, als sie je angenommen hatte. Nachdem sie das Glas ausgetrunken hatte, stieg sie aus der Badewanne, denn sie wollte heute relativ früh zu Bett gehen. Morgen war ein wichtiger Tag, da der Frühlingsschlussverkauf begann, und Marissa hoffte, dass möglichst viele Kunden auf der Suche nach Tiffanylampen und Wohnaccessoires in ihr Geschäft kamen. Mit einem Baumwollnachthemd bekleidet, das ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, brachte sie das Glas zurück in die Küche, wo sie es gründlich auswusch. Anschließend ging sie noch einmal in die Kinderzimmer, um nach dem Rechten zu sehen.
Justin lag auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt, so dass er die gesamte Breite der Matratze einnahm. Er war ein guter Junge, hatte ein Herz aus Gold und mochte jeden und alles. Jessica lag eingerollt auf der Seite, ihr Lieblingskuscheltier, ein als Ballerina verkleideter Hase, fest an die Brust gedrückt. Als Marissa so im Türrahmen stand und auf ihre schlafende Tochter blickte, wurde sie urplötzlich von bodenloser, pechschwarzer Angst gepackt. Ein Gefühl, das sie schon manches Mal in der Nacht, wenn die Dunkelheit am schwärzesten war, aus dem Schlaf hatte hochfahren lassen. Es war die Angst einer Mutter, dass ihren Schützlingen etwas zustoßen könnte. Die Furcht, dass, egal wie sehr sie auch aufpasste und welche Vorsichtsmaßnahmen sie ergriff, sie ihre Kinder nicht vor dem Bösen in der Welt beschützen konnte. Das Herz schlug Marissa bis zum Hals, und sie musste schlucken und sich innerlich schütteln, bis die Beklemmung wieder so plötzlich wich, wie sie gekommen war. Im Gegensatz zu anderen Menschen, die ähnliche Ängste mit sich herumtrugen, hatte Marissa bereits am eigenen Leib erfahren, wie schnell sich das Leben von einer Sekunde auf die nächste ändern konnte.
3
Der Anruf ging um Viertel nach neun am Freitagmorgen bei der Notrufzentrale ein. Er wurde von einem öffentlichen Telefon aus getätigt. »Im Penguin Park liegt eine Leiche«, sagte der männliche Anrufer. »Ich schlage vor, Sie schicken umgehend jemanden dorthin. Und zwar, bevor die Kinder aus der Schule kommen und zum Spielen in den Park gehen.« »Dürfte ich Ihren Namen erfahren?«, erkundigte sich die diensthabende Mitarbeiterin. Im selben Moment legte der Anrufer auf. Um neun Uhr zweiundzwanzig befanden sich Detective Luke Hunter und seine Kollegin, Detective Sarah Wilkerson, in einem Zivilfahrzeug auf dem Weg zu dem Spielplatz, der mitten in einem Wohngebiet lag. Sarah Wilkerson hatte erst vor zwei Wochen ihren Dienst bei der Polizei von Cass Creek angetreten. Nach dem Scheitern ihrer Ehe hatte sie sich von Chicago hierher versetzen lassen. Abgesehen davon, dass sie ihren neuen Kollegen erst noch besser kennenlernen musste, wurde sie den Eindruck nicht los, dass er und die anderen nur darauf warteten, dass ihr, der Polizistin aus der Großstadt, ein folgenschwerer Fehler unterlief. »Wieso heißt der Spielplatz eigentlich Penguin Park?«, erkundigte sie sich, um die drückende Stille im Auto zu durchbrechen. Luke Hunter schien zu jenen Männern zu gehören, die sich gern in Schweigen hüllten. Etwas, das Sarah ganz und gar nicht verstehen konnte. »Wart's ab«, antwortete er. Sarah warf Luke einen verstohlenen Blick zu. Im Laufe der letzten beiden Wochen, in denen sie zusammenarbeiteten, hatte sie bereits herausgefunden, dass er Papierkram verabscheute, wie ein Geistesgestörter Auto fuhr und Tacos mit einer doppelten Portion Käse und Sour Cream mochte. Wieder einmal ertappte sie sich dabei, dass sie ihn gern und oft ansah ... zu oft. Als sie sich nur noch zwei Blocks von dem Spielplatz entfernt befanden, wusste Sarah, woher er seinen Namen hatte. Ein riesiger schwarz-weißer Pinguin erhob sich breit grinsend gegen den strahlend blauen Morgenhimmel. Mit seiner roten Fliege um den Hals wirkte er wie ein Wächter, der in der Mitte des Spielplatzes postiert worden war. »Es ist eine Rutsche«, erklärte Luke ihr, während er neben dem Streifenwagen hielt, der bereits vor Ort war. »Die Kinder klettern im Inneren hoch, rutschen an der Außenseite herunter und landen schließlich zu seinen Füßen.« »Dann wollen wir mal nachsehen, was an der Behauptung des Anrufers dran ist«, sagte Sarah. Die beiden Detectives stiegen aus und näherten sich einem jungen Kollegen, der in der Nähe des überdimensional großen Pinguins stand. »Was gibt's?«, fragte Luke. »Eine tote Frau.« Der junge Polizist wirkte ein wenig blass um die Nase. »Ermordet. Ich habe es schon per Funk durchgegeben. Die Jungs von der Spurensicherung müssten jeden Moment eintreffen.« »Haben Sie etwas angefasst?«, wollte Sarah wissen, während sie den Blick umherschweifen ließ. »Nein. Mein Kollege und ich haben uns nur das Innere der Rutsche angesehen.« Er deutete auf den grinsenden Pinguin. »Als wir sie entdeckt haben, sind wir sofort wieder zurückgetreten.« »Wo ist Ihr Kollege jetzt?«, hakte Luke nach. »Auf der anderen Seite der Rutsche. Er bewacht den Eingang.« »Das sollten wir uns besser mal ansehen«, schlug Sarah vor. Gemeinsam setzten sich die beiden in Bewegung. Noch bevor sie den Eingang zu der Rutsche erreicht hatten, schlug Sarah der Gestank des Todes entgegen. Der metallische Geruch von Blut, vermischt mit einer süßlichen Note, die auf die beginnende Zersetzung hinwies.
»Man sollte meinen, dass man sich irgendwann einmal daran gewöhnt«, murmelte Luke. »Ich rede von dem Gestank.« »Daran gewöhnt man sich nie«, antwortete Sarah. In der Vergangenheit hatte es unzählige Nächte gegeben, in denen sie geglaubt hatte, den Geruch mit nach Hause zu nehmen. Es war ihr vorgekommen, als habe er sich nicht nur in ihren Kleidern festgesetzt, sondern als wäre es ihm gelungen, in jede Pore ihres Körpers einzudringen. Eine Zeitlang war sie sogar der Überzeugung gewesen, der Todesgeruch sei dafür verantwortlich, dass ihr Mann sie hatte sitzenlassen. Das Opfer lag rücklings neben der Treppe. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Frau tot oder dass ihr Tod das Ergebnis einer Gewalttat war. Menschen, die eines natürlichen Todes starben, hatten für gewöhnlich keine klaffende Schnittwunde am Hals. Doch es war nicht die Wunde, die Sarah auf den Magen schlug. Es war die Schleife. Eine leuchtend rote Geschenkschleife, die dem Opfer mitten auf die Stirn geklebt worden war. Darauf bedacht, nichts am Tatort zu verändern, zog sich Sarah Latexhandschuhe an und ging stirnrunzelnd neben dem Opfer in die Hocke. Die junge Frau war schätzungsweise zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt. Ihr dunkles Haar lag fächerartig ausgebreitet um ihren Kopf, und Sarah überlegte, ob der Täter es absichtlich so drapiert haben könnte. Sie erhob sich, wohl wissend, dass Luke direkt hinter ihr stand. Sie konnte seinen Atem hören. »Es besteht kein Zweifel daran, dass sie an dieser Stelle getötet wurde«, sagte er. »Das Blut ist überall hingespritzt.« »Soll ich nachsehen, ob sie einen Ausweis bei sich trägt?« »Wir sollten lieber warten, bis die Spurensicherung hier ist. Ich möchte nicht riskieren, dass wir wichtige Spuren verwischen, wenn wir sie bewegen, um an ihre Hosentaschen zu kommen. Ich gehe und sehe mich um, ob irgendwo eine Handtasche oder etwas Ähnliches liegt, das ihr oder dem Täter gehört haben könnte.« Sarah nickte, und Luke verließ den Pinguin. Sarah ging abermals in die Hocke. Die Fingernägel des Opfers waren dunkelviolett lackiert und wirkten nicht, als wären sie eingerissen oder abgebrochen. Vermutlich würden sich weder Hautfetzen noch anderweitige DNA-Spuren unter den Nägeln befinden. Und auch an den Unterarmen und Händen waren keinerlei Kratzspuren oder Verletzungen zu erkennen. Die junge Frau trug verwaschene Jeans und ein grellpinkfarbenes T-Shirt mit dem Werbeaufdruck eines alkoholischen Getränks. Äußerlich betrachtet gab es keine Anzeichen dafür, dass sie sexuell missbraucht worden war. Was Sarah jedoch Kopfzerbrechen bereitete, war die Geschenkschleife. Am liebsten hätte sie sie dem Opfer von der Stirn gerissen. In ihren Augen war sie nicht minder abstoßend wie die Wunde, die ihr das Leben gekostet hatte. Sarah furchte die Stirn und beugte sich ein wenig näher über den Leichnam, als sie plötzlich bemerkte, dass etwas unter der Schleife steckte. Etwas Weißes. Ein Stück Papier? Eine Nachricht? Mit pochendem Herzen zog sie eine Pinzette aus der Tasche, packte das Papier mit der Behutsamkeit einer erfahrenen Chirurgin am äußersten Rand und zog vorsichtig daran. Erst beim zweiten Versuch gab das Papier nach. Es war eine kleine Geschenkkarte, wie man sie häufig an Blumensträußen findet. »Keine Handtasche und auch sonst nichts«, sagte Luke, als er wieder zu ihr stieß. »Was hast du da?« »Unseren ersten Hinweis.« Sarah hielt ihm die Pinzette mit der Karte hin. Für Marissa. In Liebe, Blake. »Ich schlage vor, wir finden erst einmal heraus, wer diese Marissa ist, und fragen sie, wer ihr ein solch groteskes Geschenk machen könnte.«
4
Jessica, hör auf, mit deinem Frühstück zu spielen, und iss auf. Wir müssen in einer Viertelstunde los.« Marissa suchte auf der vollgestellten Arbeitsplatte nach ihrem Autoschlüssel. Sie hätte schwören können, dass sie ihn gestern Abend dort abgelegt hatte. »Mom, ich kann meinen zweiten Turnschuh nicht finden«, rief Justin verzweifelt aus seinem Zimmer. »Sieh mal unter dem Bett nach«, antwortete Marissa. Samstagmorgens herrschte immer ein gewisses Chaos im Haus, wenn Marissa die Kinder fertigmachte, um sie zu ihren Schwiegereltern zu bringen, damit diese auf sie aufpassten, während sie arbeitete. »Beeil dich, Jessica«, wiederholte Marissa und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich den Schlüssel fand. Jessica hielt ihre Frühstücksschüssel an den Mund und schlürfte laut die Müslireste aus. »Fertig«, verkündete sie mit stolzer Stimme und einem Milchbart. »Okay, jetzt ab ins Bad, Zähne putzen.« Als Jessica die Küche verließ, spülte Marissa schnell die Schüsseln der Kinder aus und stellte sie in die Spülmaschine, ehe sie ein Päckchen Hotdogs aus dem Gefrierschrank holte und zum Auftauen auf den Kühlschrank legte. Sie wusste, dass sie am Abend keine große Lust haben würde, ein üppiges Mahl zu zaubern. »Los, kommt«, rief sie von der Haustür aus. Wenige Minuten später waren Marissa und die Kinder auf dem Weg zu Jim und Edith Jamison, die am Stadtrand auf einem drei Hektar großen Grundstück mit einem wunderschönen Wald wohnten. Als sich Marissa damals in John verliebt hatte, hatte sie auch seine Eltern vom ersten Moment an ins Herz geschlossen. Jim und Edith waren bodenständig und unkompliziert und hatten die Frau ihres einzigen Sohns mit offenen Armen aufgenommen. Im Gegensatz zu Edith und Jim hatten sich Marissas Eltern vor Jahren scheiden lassen. Der Kontakt zu ihrem Vater war vollkommen abgerissen, und ihre Mutter hatte vor zwei Jahren einen reichen Witwer geheiratet, war mit ihm nach Florida gezogen und hatte sich einen Lebensstil angeeignet, der nur wenig Raum für Marissa ließ. Das einstöckige Haus von Edith und Jim wirkte mit seinen bunten Blumenampeln, die neben der Haustür baumelten, mehr als einladend. Ein Windrad in Form eines lächelnden Kobolds, dessen Arme sich wie durch Zauberhand in der Morgenbrise bewegten, stand unweit des gepflasterten Weges zum Haus. Kaum war Marissa auf die Einfahrt gebogen und hatte den Motor abgestellt, öffnete sich die Tür, und Edith und Jim traten heraus und sahen mit lächelnden Gesichtern zu, wie ihre Enkelkinder aus dem Auto kletterten. Wie immer wurde Marissa, kaum dass sie ausgestiegen war, von ihrer Schwiegermutter in die Arme geschlossen. »Wie sieht's aus, hast du Zeit für eine Tasse Kaffee?«, fragte die ältere Frau und löste die Umarmung. »Heute leider nicht, aber ein anderes Mal gern«, antwortete Marissa. »Ich nehme dich beim Wort«, antwortete Edith und zerzauste Justin das Haar. »Euer Großvater hat heute viel mit euch vor. Er rechnet fest damit, dass ihr ihm beim Gemüseanbau helft.« Jim grinste die beiden Kinder an. »Ich dachte, wir könnten Rüben pflanzen, damit eure Großmutter im Herbst einen leckeren Rübeneintopf für uns kocht.« »Igitt!«, rief Justin und verzog das Gesicht. »Igitt!«, äffte Jessica ihren älteren Bruder nach. Jim lachte. »Okay, dann eben keine Rüben.« In dem Wissen, dass ihre Kinder in guten Händen waren, verabschiedete sich Marissa und fuhr zum Einkaufszentrum, in dem ihr kleines Geschäft lag. In Marissas Jugend hatte sich die Oak Tree Mall großer Beliebtheit erfreut, doch war sie in den letzten Jahren dem Abschwung vieler großer Einkaufszentren unterworfen. Läden hatten schließen müssen, weil die Konkurrenz der Einkaufsmeilen zu groß geworden war. Daher hatte die Leitung der Oak Tree Mall die Pacht für neue Mieter gesenkt und versuchte, mit Sonderaktionen alte Käufer zurück- und neue hinzuzugewinnen. Wie jedes Mal, wenn Marissa ihr kleines Geschäft, das »Tiffany Rose«, durch den Seiteneingang betrat, spürte sie einen Anflug von Stolz, in den sich sogleich ein Funken Bedauern mischte, weil erst Johns Tod, vielmehr das Geld aus seiner Lebensversicherung, es ihr ermöglicht hatte, diesen Lebenstraum zu verwirklichen. Das Gitter war noch vor dem Eingang heruntergelassen, als sie herumging, ihre Lampen für den Verkauf einschaltete und sich an dem matten Schein erfreute, der sie wie Juwelen erstrahlen ließ. Zusätzlich zu den Tiffanylampen hatte sie auch Stühle, Sessel, Beistelltische, Gemälde und Textilpflanzen im Angebot. Ihre Ware hatte sie geschmackvoll in Szene gesetzt, und so herrschte im Laden eine Atmosphäre von zurückhaltendem Stil und Klasse. John wäre begeistert, dachte Marissa und fühlte sich von dem Gedanken getröstet. Er hatte sie stets in ihrem Traum unterstützt, eines Tages ein Geschäft zu eröffnen, und zu seinen Lebzeiten hatten sie so manchen Dollar zur Seite gelegt, in der Hoffnung, dass ihr Traum eines Tages in Erfüllung gehen würde. Doch ausgerechnet sein Tod hatte ihn Wirklichkeit werden lassen. Um Punkt zehn zog sie das Sicherheitsgitter hoch, nahm hinter dem Tresen Platz und wartete auf Kunden. Dabei war sie keineswegs untätig, sondern blätterte in Katalogen und markierte jene Artikel, die gut in ihr Sortiment passen würden. Außerdem überlegte sie, welche Artikel sich nicht gut verkauft hatten und ob es sinnvoll war, sie entweder anders zu präsentieren oder im Preis herabzusetzen. Der Vormittag war schnell vergangen. Sie hatte drei Lampen verkauft und sich besonders über eine Kundin gefreut, die bereits zum zweiten Mal bei ihr einkaufte. Zufriedene Kunden, so wusste Marissa, waren Gold wert. Gegen Mittag traf Alison, ihre einzige Festangestellte, ein. Sie war eine elegante, ältere Frau mit schlohweißem Haar und einem individuellen Stil. Auf Alison McCade hätte Marissa nicht mehr verzichten wollen, denn sie war nicht nur eine begnadete Verkäuferin, sondern auch eine Freundin von ihr. »Es lief ein wenig lahm heute Morgen«, sagte Marissa zur Begrüßung. »Warte ab, der Nachmittag wird besser. Das Klaviergeschäft verlost im Foyer Probestunden, und wenn wir Glück haben, verirren sich die Kunden auch zu uns.« »Hoffentlich hast du recht«, antwortete Marissa. »Bitte übernimm du hier vorn, während ich nach hinten gehe und die Lieferung von gestern auspacke.« »Nichts leichter als das«, versicherte ihr Alison. Im hinteren Raum, von dem ein WC abging, befanden sich Regale mit Warenvorräten, ein Computer und eine Mikrowelle, falls sich jemand sein Mittagessen aufwärmen wollte. Zurzeit standen zwei große Kisten mit zerbrechlichen Glasfiguren auf dem Boden, die darauf warteten, ausgepackt zu werden. Während Marissa die Ware auspackte, hörte sie, wie Alison draußen Kunden bediente, und dankte Gott wieder einmal dafür, dass er ihr die ältere Frau geschickt hatte. Auf gewisse Weise war es tröstlich, mit Alison befreundet zu sein, da diese, im Gegensatz zu Marissas anderen Freunden, John nicht gekannt hatte. Sosehr Marissa ihren Ehemann auch geliebt hatte, so tat es bisweilen doch gut, keine Erinnerungen an ihn gemeinsam mit Alison zu haben. Johns und ihre Freunde sprachen entweder viel zu oft von ihm oder erwähnten seinen Namen überhaupt nicht, und so hatte Johns Tod aus diesen Freunden beklommene Bekannte gemacht, und Marissa stellte zunehmend fest, dass sie sich wie eine Außenseiterin vorkam. Sie brauchte fast eine Stunde, bis die neue Ware ausgepackt und elektronisch erfasst war. Dann verließ sie das Geschäft, um im Food-Court des Einkaufszentrums etwas zu Mittag zu essen. Sie entschied sich für einen Salat und eine Diätcola und suchte sich mit ihrem Tablett einen leeren Tisch. Heute war es voller als sonst. Vielleicht hatte Alison recht und die Aktion des Klaviergeschäfts hatte zusätzliche Besucher angelockt. Mehr Besucher bedeuteten auch mehr Umsatz. Sie hatte ihren Salat zur Hälfte gegessen, als sie ihn plötzlich sah. Sein federnder Schritt verriet, dass er mit sich und der Welt, die er seit dreiunddreißig Jahren bewohnte, im Reinen war. Obwohl seit ihrer letzten Begegnung sechzehn Jahre vergangen waren, hatte sie ihn auf Anhieb wiedererkannt. Sein Haar war kürzer, aber noch immer so dunkel und lockig wie damals, als er noch ein Teenager gewesen war. Sie sah, wie sein Blick sie flüchtig streifte und er gerade an ihr vorbeigehen wollte, doch dann blieb er abrupt stehen und sah sie mit weit aufgerissenen Augen überrascht an. »Marissa.« Seine tiefe Stimme setzte einen Strom verrückter Erinnerungen in ihr frei. Er streckte ihr die Hände entgegen, woraufhin sie aufstand und danach griff. Wärme durchströmte sie bei der Berührung. »Marissa Guthrie.« Er nannte sie bei ihrem Mädchennamen, den sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. »Alex Kincaid.« Es war eigenartig, seinen Namen nach all der Zeit wieder in den Mund zu nehmen. »Was, um Himmels willen, machst du hier?« »Ich wohne wieder in Cass Creek.« Er lächelte, und durch sein sexy, träges Lächeln fühlte sie sich in eine Zeit zurückversetzt, an die sie schon lange nicht mehr gedacht hatte.
»Du siehst umwerfend aus«, sagte er, drückte ihre Hände, ließ sie wieder los und bat sie mit einer Geste, sich wieder zu setzen. Als er auf den Stuhl ihr gegenüber glitt, war ihr für den Bruchteil einer Sekunde, als wäre sie wieder sechzehn und würde mit ihm in der Cafeteria ihrer Highschool sitzen. Sie hatte vergessen, wie blau seine Augen waren, nicht das Blau eines Sommerhimmels, sondern eher das der Abenddämmerung. Aus dem hübschen Teenager von damals war ein sehr gutaussehender Mann geworden. »Du musst mir alles über dich erzählen«, sagte er. »Was du machst, wen du geheiratet hast und ob du Kinder hast.« Marissa brach in spontanes Gelächter aus, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. »Aber erst, wenn du mir verrätst, seit wann du zurück bist.« »Seit ungefähr zwei Monaten.« »Allein? Keine Frau? Keine Kinder?« »Nein. Ich bin nicht verheiratet. Meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, mein Vater vor vier Monaten. Ohne sie beide war es an der Zeit, einiges in meinem Leben zu ändern. Und da ich nur gute Erinnerungen an Cass Creek habe, bin ich wieder hergezogen. So, jetzt bist du an der Reihe.« »Ich habe zwei Kinder. Justin ist sieben und Jessica fünf.« »Und dein Mann?« »John ist vor einem Jahr gestorben.«
Alex zuckte kaum merklich zusammen. »Das tut mir leid. Als Alleinerziehende hat man es bestimmt nicht immer leicht.« Marissa lächelte. »Ich habe wundervolle Kinder, die es mir nicht schwermachen«, sagte sie und schob den halbleeren Salatteller von sich. »Was führt dich hier ins Einkaufszentrum?« »Mein Wagen ist gerade in der Werkstatt, und da habe ich mir gedacht, ich nutze die Gelegenheit, um einen Happen zu essen. Wie steht's mit dir? Was machst du hier?« »Mir gehört eines der Geschäfte hier.« Er zog seine dunklen Augenbrauen hoch. »Wirklich? Das ist ja großartig. Was verkaufst du?« Erst jetzt fiel Marissa wieder ein, dass Alex das Talent besaß, seinem Gegenüber das Gefühl zu geben, er oder sie wären der wichtigste Mensch im gesamten Universum. Es war Teil seines Charmes als Teenager gewesen, und sie fühlte sich auch in diesem Augenblick davon bezaubert. Bereitwillig erzählte sie ihm von ihrem Geschäft und davon, wie sehr sie ihre Arbeit liebte. Im Gegenzug berichtete Alex ihr, dass er sein Geld als Architekt verdiente und gerade an dem neuen Gemeindezentrum arbeitete, das anstelle des alten Kinos errichtet werden sollte. »Gehst du noch joggen?«, fragte sie. »Jeden Morgen.« Er grinste. »Und was macht die hohe Kunst des Pomponwedelns?«
Marissa lachte. »Nicht viel, fürchte ich. Höchstens wenn ich allein bin und zu viele Daiquiris getrunken habe.« Alex hatte damals zu den besten Läufern der Schule gezählt, und Marissa war Cheerleader gewesen. Rückblickend wirkte die Zeit geradezu idyllisch, voller Verheißungen und Hoffnungen für die Zukunft. Wenig später begleitete Alex sie zu ihrem Laden, und währenddessen unterhielten sie sich über dies und das aus den letzten sechzehn Jahren, ohne allzu persönlich zu werden. Marissa war erstaunt, dass Alex noch immer dasselbe Aftershave wie damals benutzte, und der vertraute Geruch setzte eine Flut von Erinnerungen frei. Erinnerungen, wie sie zu langsamer Musik eng umschlungen mit ihm getanzt und das Gesicht an seinem Hals vergraben hatte, an die leidenschaftlichen Küsse, die sie auf der Rückbank seines Autos ausgetauscht hatten und er sie an Stellen berühren durfte, die niemand zuvor erforscht hatte. Alex war Marissas erster fester Freund gewesen, und sie hatte ihn mit jener Intensität geliebt, zu der nur Teenager fähig sind. Sie wusste, dass es verrückt war, aber selbst nach all den Jahren begann ihr Herz schneller zu schlagen, wenn er in der Nähe war. »Was hältst du von einem gemeinsamen Abendessen? «, fragte er, als sie ihr Geschäft erreicht hatten. »Ich möchte alles darüber erfahren, was du seit der Highschool gemacht hast.«
Marissa dachte kurz über seine Worte nach. Es war das erste Mal seit Johns Tod, dass ein alleinstehender, attraktiver Mann sie einlud. Es überraschte sie selbst, wie zurückhaltend sie auf die Einladung zu einem Date reagierte. »Wann?«, fragte sie und stellte erschrocken fest, dass sie durch ihre Frage eingewilligt hatte, sich mit ihm zu treffen. Es ist ja kein richtiges Date, sagte sie sich. Nur ein Treffen von alten Freunden, die sich viel zu erzählen haben. »Heute ... morgen ... wann immer es dir passt.« »Heute geht es nicht. Ich muss erst noch einen Babysitter organisieren.« »Bring deine Kinder doch einfach mit«, antwortete er. »Wir könnten Pizza essen gehen oder etwas unternehmen, das ihnen gefällt.« »Danke für das Angebot, aber ich denke, es wäre besser, wenn jemand auf die beiden aufpasst.« Es kam für Marissa nicht in Frage, dass sie ihre Kinder einem fremden Mann vorstellte, selbst wenn es sich dabei um ihren Exfreund handelte. »Wie sieht es mit morgen Abend aus?« »Gern«, antwortete er und zog eine Visitenkarte aus der Hemdtasche. »Hier steht meine Privatnummer. Wie wäre es, wenn du mich heute Abend oder morgen im Laufe des Tages anrufst, damit wir eine Uhrzeit vereinbaren können?« Als Marissa die Karte entgegennahm, durchzuckte sie die Erkenntnis, dass sie, indem sie sich bereit er klärte, ihn anzurufen und mit ihm auszugehen, einen Riesenschritt nach vorn in ein Leben ohne John tat. »Mrs. Jamison? Marissa Jamison?«, riss eine tiefe Stimme hinter ihr sie aus den Gedanken. Marissa drehte sich um und sah, wie ein Mann und eine Frau aus ihrem Geschäft kamen und sich ihr näherten. »Ja bitte? Ich bin Marissa Jamison.« Sie warf einen flüchtigen Blick durch das Schaufenster zu Alison, die achselzuckend hinter der Kasse stand, um ihr zu signalisieren, dass sie keine Ahnung hatte, was die beiden von ihr wollten. Die schlanke dunkelhaarige Frau zückte ihre Brieftasche und hielt ihr eine Marke unter die Nase. »Ich bin Detective Wilkerson, und dies ist mein Partner Detective Hunter. Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen und möchten Sie bitten, uns auf die Wache zu begleiten.« Marissa spürte, wie Alex einen Schritt näher kam, während sie die Frau verwirrt ansah. »Fragen? Worüber denn?« »Wenn Sie mit uns kommen, können wir alles Nötige auf der Wache klären«, sagte der hochgewachsene blonde Mann. Im Gegensatz zu seiner Kollegin war sein Blick freundlich. »Sie geht nirgends mit Ihnen hin, bis Sie sich nicht ebenfalls ausgewiesen haben«, sagte Alex zu dem Mann. Nickend öffnete der Mann neben Detective Wilkerson das Jackett, so dass nicht nur die Marke an seinem Gürtel, sondern auch seine Einsatzwaffe sichtbar wurde. »Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie mit Ihrem eigenen Wagen fahren. Wir werden Ihnen einfach folgen.« Alex berührte Marissas Arm. »Möchtest du, dass ich mitkomme?« »Nein, schon in Ordnung. Ich bin überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handelt.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Fahr ruhig. Ich rufe dich später an.« Alex zögerte einen Augenblick, ehe er nickte, sich umdrehte und wegging. Marissa sah die beiden Detectives an. »Könnten Sie mir bitte sagen, worum es hier geht? Stecke ich etwa in Schwierigkeiten?« »Haben Sie denn etwas getan, weshalb Sie in Schwierigkeiten stecken könnten?«, fragte Detective Wilkerson, und ihre dunkelbraunen Augen blickten ernst. »Nein ... nicht, dass ich wüsste.« Marissa errötete und war selbst perplex, dass die Anwesenheit zweier Polizisten ausreichte, um ihr ein schlechtes Gewissen zu bereiten. »Sobald wir auf der Wache sind, erklären wir Ihnen alles«, bekräftigte Detective Hunter noch einmal. Marissa nickte, als sie merkte, dass sie ihr nichts sagen würden. »Ich fahre selbst. Ich weiß, wo die Wache ist, und mein Auto befindet sich auf dem Parkplatz am Seiteneingang meines Geschäfts. Ich möchte allerdings noch kurz meiner Assistentin Bescheid sagen.«
Die Detectives warteten, während Marissa sicherging, dass Alison bis zu ihrer Rückkehr zurechtkam. Wenige Minuten später saß Marissa in ihrem Auto und fuhr in Richtung Polizeiwache, die von den Kindern auch Hummelhaus genannt wurde, weil sie gelb und schwarz gestrichen war. Spitznamen waren jedoch im Moment das Letzte, woran Marissa dachte. Was mochten die beiden von ihr wollen? Die verrücktesten Gedanken schossen Marissa durch den Kopf, während sie sich überdeutlich der Tatsache bewusst war, dass ihr der schwarze Sedan der Detectives folgte. Konnte es möglich sein, dass sie Strafzettel bekommen hatte, von denen sie nichts wusste? War sie gefilmt worden, wie sie ein Stoppschild übersehen hatte oder zu schnell gefahren war? Doch im gleichen Augenblick verwarf sie ihre Gedanken wieder. Sie war eine gute, defensive Autofahrerin, die weder Strafzettel ignorierte noch bei Rot über die Ampel raste. Davon abgesehen war es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie wegen eines Verkehrsdelikts von zwei Detectives Besuch bekam. Derartige Angelegenheiten wurden für gewöhnlich auf dem Postweg erledigt. John. Ihre Hände klammerten sich fest um das Lenkrad. Es musste etwas mit John zu tun haben. Vielleicht hatte die Polizei endlich eine Spur und wusste etwas über den Täter, der ihn auf dem Parkplatz des Supermarktes überfahren hatte. Vielleicht hatten sie endlich rekonstruiert, was sich in der Nacht zugetragen hatte.
Ohne eine gehörige Portion Zufall wären Sarah und Luke noch immer auf der Suche nach der Frau namens Marissa, denn ohne einen Nachnamen waren die herkömmlichen Methoden der Datenüberprüfung reine Zeitverschwendung. Die Identität des Opfers hingegen hatten sie binnen weniger Stunden nach dem Fund der Leiche ermittelt. Der Wagen der jungen Frau, auf dessen Beifahrersitz sich ihre Handtasche samt Ausweispapieren befunden hatte, hatte gegenüber des Parks im Halteverbot gestanden. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Jennifer Walsh zweiundzwanzig Jahre alt und mit Kokain vollgepumpt gewesen. Sie hatte in einem heruntergekommenen Appartement gelebt und gelegentlich in einem Minisupermarkt bei ihr um die Ecke gejobbt. Die beiden Detectives hatten Jennifers Eltern und Kollegen vernommen, aber keiner von ihnen hatte Licht in den Fall bringen können. Daher suchten sie noch nach möglichen Freunden von Jennifer. Und dann, heute Morgen - Sarah und Luke hatten an ihrem Schreibtisch gesessen - hatte sich ihr Kollege Guy Woodson zu ihnen gesellt, um einen Plausch zu halten. Luke hatte erwähnt, wie frustrierend es war, dass sie diese Marissa nicht finden konnten, woraufhin Guy stirnrunzelnd geantwortet hatte: »Marissa. Marissa. Warum kommt mir der Name so bekannt vor?« Dann hatte er mit den Fingern geschnippt. »Der Feuerwehrmann. « »Welcher Feuerwehrmann?«, hatte Sarah gefragt. »Tödlicher Unfall mit Fahrerflucht, ist ungefähr ein Jahr her. Er hieß Johnson ... Jackson ... nein, Jamison. Genau. John Jamison. Ich glaube, seine Frau hieß Marissa.« Luke machte nicht einmal Anstalten, einen Block zu zücken. In den zwei Wochen, die er nun schon mit Sarah zusammenarbeitete, war ihm nicht entgangen, dass seine neue Kollegin viel redete und jedes noch so unwichtige Detail aufschrieb, was ihm entgegenkam, denn er hasste es, sich Notizen zu machen. Marissa Jamisons Telefonnummer herauszufinden war ein Kinderspiel gewesen. Ein Anruf bei ihr zu Hause hatte ihn mit der Ansage des Anrufbeantworters verbunden, die ihn zu einem Besuch in einem Geschäft namens »Tiffany Rose« einlud. Rasch waren sie dorthin aufgebrochen, mit dem Ergebnis, dass Marissa Jamison nun in einem der Verhörräume saß und auf sie wartete. Luke wandte sich zu Sarah um, die sich gerade einen Becher Kaffee einschenkte. Seine neue Partnerin faszinierte ihn mit ihren knabenhaft schmalen Hüften, den kleinen Brüsten und den intelligenten Augen, die nur so vor Energie strotzten. Er wusste, dass sie fast vierzig war, fand jedoch, dass sie durch ihren Kurzhaarschnitt und die vielen Sommersprossen um einiges jünger wirkte. Sie hatte ihm bislang nicht viel von ihrem Privatleben offenbart. Anfänglich hatte er gedacht, sie wäre Lesbierin, doch als sie etwas von einer Scheidung gemurmelt und er beobachtet hatte, wie sie Männer ansah, hatte er seine ursprüngliche Meinung geändert. Er mochte sie, obwohl sie es mit ihrer Gewissenhaftigkeit oft übertrieb und zuweilen schroff und halsstarrig sein konnte. Doch darüber hinaus vertraute er ihr, und in einer Welt des Verbrechens war dies am wichtigsten. »Bereit?«, fragte er und klemmte sich die Jennifer Walsh- Akte unter den Arm. Sie nickte, und er folgte ihr in den Raum, in dem Marissa auf sie wartete. Marissa Jamison hatte die Hände auf dem Tisch zusammengefaltet und sah mit besorgtem Blick zu ihnen auf. Sie war hübsch. Blondes Haar, blaue Augen und fein geschnittene Gesichtszüge. Jener Typ Frau, nach denen sich Männer die Finger leckten und der anderen Frauen ein Dorn im Auge war. »Möchten Sie vielleicht etwas trinken, bevor wir anfangen? «, durchbrach Luke die Stille. »Ein Kaffee oder ein Wasser?« Sarah sah ihn so entgeistert an, als hätte er gerade einem Gefangenen den Schlüssel für die Handschellen angeboten. Es war eindeutig, dass sie beschlossen hatte, den Part der bösen Polizistin zu spielen, womit ihm die Rolle des Guten zufiel. »Nein danke, ich brauche nichts. Ich möchte einfach nur erfahren, warum ich eigentlich hier bin«, antwortete Marissa. »Weil wir Ihnen einige Fragen stellen möchten.« Sarah nahm Luke die Akte ab und setzte sich an das andere Ende des Tischs. Luke ließ sich neben Marissa nieder und überließ seiner Partnerin die Gesprächsführung. Sie nahm ein Blatt Papier aus der Akte und schob es Marissa über den Tisch zu. »Kennen Sie diese Frau?« Luke wusste, dass es sich um eine Kopie des Fotos von Jennifer Walshs Führerschein handelte, und beobachtete, wie Marissa das Blatt in die Hände nahm, es sich ansah und wieder hinlegte. »Nein«, antwortete sie. »Ich kenne sie nicht. Warum? « Sie furchte die Stirn und betrachtete das Foto ein weiteres Mal. »Moment mal ... vielleicht ...« Sarah beugte sich vor, während sich Luke in seinem Stuhl aufrichtete. »Vielleicht was?«, fragte Sarah. »Ich kenne sie nicht persönlich, aber ich glaube, ich habe sie schon einmal gesehen.« »Wann?«, fragte Luke. »Was ist mit ihr?«, wollte Marissa wissen. »Beantworten Sie erst seine Frage«, entgegnete Sarah. Mit furchterfülltem Blick sah Marissa erst zu Sarah und dann zu Luke. »Auf dem Parkplatz am Line Creek Park. Donnerstagabend.« Ihr Blick glitt abermals über das Foto. »Ich glaube, diese Frau und ich hatten eine kurze, eher unschöne Begegnung.«
»Eine unschöne Begegnung? Was genau meinen Sie damit?«, wollte Sarah mit durchdringendem Blick wissen. »Nur eine Bagatelle. Ich habe beim Rückwärtsausparken ihren Wagen übersehen, weil er im toten Winkel stand. Als sie gehupt hat, habe ich sofort gebremst. Aber sie war fuchsteufelswild und hat mich laut beschimpft. « »Was ist dann passiert?«, wollte Luke wissen, in dessen Stimme eine Freundlichkeit mitschwang, die seiner Partnerin fremd zu sein schien. Sarah tat, als hätte sich Marissa Jamison eines Verbrechens schuldig gemacht. »Nichts«, antwortete Marissa. »Sie ist abgerauscht, und ich bin nach Hause gefahren.« Sie warf einen weiteren Blick auf das Foto. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das wirklich die Frau ist.« »Hat irgendjemand den Vorfall mitbekommen?« Sarah stand auf, als hielte sie nichts mehr länger auf ihrem Stuhl. »Ich weiß es nicht ... womöglich. Bitte, können Sie mir nicht endlich sagen, worum es hier eigentlich geht?« »Ich werde Ihnen sagen, worum es geht.« Sarah schlug die Akte auf, zog ein Foto heraus, lief um den Tisch herum und knallte es vor Marissa auf den Tisch. Marissa schnappte hörbar nach Luft. Luke hatte geahnt, dass sie ihr eine Aufnahme vom Tatort präsentierte, wusste aber auch, dass ein für die Ermittlungen wichtiges Detail nicht zu sehen sein würde - die rote Schleife. Sie hatten entschieden, die Schleife und die Botschaft an der Leiche der Öffentlichkeit zunächst vorzuenthalten. Sie brauchte etwas, anhand dessen sich ein Täter möglicherweise verraten könnte. »Es geht um Mord, Mrs. Jamison. Kurz nach Ihrer ›unschönen Begegnung‹ mit Jessica Walsh hatte diese mit ihrem Leben bezahlen müssen.« Mit diesen Worten kehrte Sarah zu ihrem Stuhl zurück. Marissa erhob sich, das Gesicht kreidebleich, und drehte das Foto um. »Wie können Sie es wagen, mir so etwas ohne jegliche Vorwarnung zu zeigen?«, sagte sie und zeigte zum ersten Mal Anzeichen von Wut. »Wo waren Sie Donnerstagabend, nachdem Sie den Line Creek Park verlassen haben?«, überging Sarah Marissas Einwurf. »Zu Hause bei meinen Kindern.« Marissas Blick glitt von Sarah zu Luke. »Das ist doch verrückt. Sie glauben doch wohl nicht, dass ich irgendetwas mit dem Mord an dieser Frau zu tun habe?« Sarah schlug die Akte abermals auf, und Luke sah, wie Marissa zusammenzuckte, als befürchtete sie den nächsten Schock. »Leider haben wir Grund zur Annahme, dass Sie etwas mit der Sache zu tun haben oder uns wenigstens einen wichtigen Hinweis geben könnten«, fuhr sie unbeirrt fort und überreichte Marissa das letzte Blatt aus dem Ordner. »Dies ist eine Kopie der Karte, die wir an der Leiche gefunden haben.«
Luke hatte gedacht, dass Marissas Gesicht ohnehin schon kreidebleich war, doch während sie die Karte las, verlor es noch mehr an Farbe. »Das ist doch absurd. Ich verstehe das nicht. Ich kennen niemanden namens Blake.« »Wie es aber aussieht, kennt jemand namens Blake Sie«, erwiderte Sarah. Marissa rieb sich die Stirn, als würde sie von entsetzlichen Kopfschmerzen geplagt. »Es muss sich um einen grässlichen Irrtum, einen Zufall handeln. Ich kenne niemanden, der zu so etwas fähig wäre.« »Mrs. Jamison, wir brauchen eine Liste aller Personen, die mit Ihnen im Park waren«, sagte Luke sanft. Marissa hob den Blick und sah ihn an, als hätte er sie gerade darum gebeten, ihr sämtliche Pflanzennamen der Welt aufzulisten. »Der Park war brechend voll, alle Spielfelder waren belegt. Ich kann nicht ... ich ...« »Versuchen Sie es einfach«, antwortete Luke ruhig. »Außerdem halten wir die Information über die Karte streng unter Verschluss. Es ist Ihnen untersagt, mit irgendjemandem darüber zu reden«, ergänzte Sarah. Marissa, der der Schrecken noch immer ins Gesicht geschrieben stand, nickte schwach. »Kann ich jetzt gehen?« Es war ihr anzusehen, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als endlich von hier wegzukommen. Luke sah Sarah an, ehe er nickte. Dann erhoben sich alle drei zeitgleich, und Marissa steuerte auf die Tür zu.
»Mrs. Jamison«, rief Sarah sie noch einmal zurück. »Mag sein, dass Sie niemanden kennen, der zu einem Mord fähig wäre, aber fest steht, dass Jennifer Walsh ermordet wurde, kurz nachdem sie Sie in aller Öffentlichkeit beschimpft hat. Ich schlage vor, Sie denken noch einmal gründlich über die Menschen in Ihrem näheren Umfeld nach.« »Und ich schlage vor, Sie suchen nach einer anderen Marissa, weil ich definitiv nichts mit diesem Fall zu tun haben kann«, entgegnete Marissa mit fester Stimme, drehte sich um und verließ den Raum. »Das hat keinen Sinn«, sagte Luke, als die beiden allein waren. »Sie weiß nichts über den Mord.« Sarah hob eine dunkle Augenbraue. »Wie kommst du darauf?« »Nur so ein Gefühl. Als du ihr das Foto gezeigt hast, ist sie fast in Ohnmacht gefallen. Nenn es meinetwegen männliche Intuition.« »Ach ja, und weil sie wie eine Prinzessin aus einem Märchen aussieht, kann sie unmöglich etwas mit dem Mord zu tun haben«, entgegnete Sarah mit scharfer Stimme. »Vermutlich ist sie genau der Typ Frau, der in dein Beuteschema passt. Blond, große Brüste und blaue Augen.« Luke sah verdutzt auf. »Sie hatte große Brüste? Verdammt, ist mir gar nicht aufgefallen. Ich achte mehr auf Beine.« »Jetzt will ich dir mal etwas sagen, Luke Hunter. Wenn es eines gibt, das ich in meinem bisherigen Leben gelernt habe, dann dass nicht nur hässliche Frauen töten. Hübsche kleine Blondinen mit großen Brüsten kommen als Täterin genauso in Frage. Marissa Jamison steht nach wie vor auf meiner Verdächtigenliste, und du tätest besser daran, sie nicht so eilfertig von deiner zu streichen.« Mit diesen Worten verließ Sarah das Verhörzimmer und warf die Tür kräftiger als nötig hinter sich ins Schloss. Luke kratzte sich am Kopf und fragte sich, welche Laus ihr über die Leber gelaufen war.
Übersetzung: Nicole Friedrich
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Carla Cassidy
Carla Cassidy hat mehr als 70 Bestsellerromane veröffentlicht, viele davon preisgekrönt. Sie lebt mit ihrem Mann in Kansas City, Missouri. Bibliographische Angaben
- Autor: Carla Cassidy
- 2013, 1, 400 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652215
- ISBN-13: 9783863652210
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