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Roman
Bobby Clark ist sechzehn, als er in Calgary von der Highschool fliegt: Er hat eine Schachtel Siegelringe für die Abschlussklasse geklaut. Er folgt kurz entschlossen seinem Bruder Jim in die USA nach Dallas. Jim ist eine große Nummer im Uhren- und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Verkaufen “
Bobby Clark ist sechzehn, als er in Calgary von der Highschool fliegt: Er hat eine Schachtel Siegelringe für die Abschlussklasse geklaut. Er folgt kurz entschlossen seinem Bruder Jim in die USA nach Dallas. Jim ist eine große Nummer im Uhren- und Schmuckbusiness, und dank ihm findet Bobby sofort einen Job. Bobby ist ein Naturtalent. Er wird zu einem der besten Verkäufer der Branche. Skrupellos zieht er Kunden über den Tisch, macht gewaltige Diamantendeals und vertickt gefälschte Rolexe an zwielichtige Mittelsmänner. Sein Mentor ist Mike Bloom, vormals Ezekiel Blumenstein, ein ruhiger und gelassener Mann mit dem Aussehen eines chinesischen Kaisers. Von ihm erfährt Bobby, warum Uhren nur etwas für Männer sind und was ihren eigentlichen Reiz ausmacht. "Die Zeit, Bobby. Eine Uhr erinnert uns an unseren Platz im Universum. Eingeklemmt zwischen den verdammten Sekunden. Während wir hier unsere Runden drehen - im Leben, meine ich -, bekommen wir einen Vorgeschmack auf das, was da noch kommt." Aber Bobby braucht keinen Vorgeschmack mehr: Seine Frau erwartet ein Kind, mit Jims abgerockter Freundin Lisa hat er eine Affäre, die aufzufliegen droht, und von der schönen Polackin hat er sich ordentlich einseifen lassen. Es ist zwei Tage vor Weihnachten, Bobby steht unter Strom und vor einem seiner größten Abschlüsse - Verkaufen ist die Geschichte eines jungen Mannes und seiner Erziehung in den beiden ältesten Leidenschaften, dem Geld und der Liebe. Durch eine dunkle, scharfe Linse zeichnet Clancy Martin die flüchtigen Momente des vermeintlichen Luxus in all seiner berauschenden Vulgarität und findet darin eine Metapher für die verzweifelte Suche der Menschen nach dauerhaftem Glück.
Klappentext zu „Verkaufen “
Bobby Clark ist sechzehn, als er in Calgary von der Highschool fliegt: Er hat eine Schachtel Siegelringe für die Abschlussklasse geklaut. Er folgt kurz entschlossen seinem Bruder Jim in die USA nach Dallas. Jim ist eine große Nummer im Uhren- und Schmuckbusiness, und dank ihm findet Bobby sofort einen Job. Bobby ist ein Naturtalent. Er wird zu einem der besten Verkäufer der Branche. Skrupellos zieht er Kunden über den Tisch, macht gewaltige Diamantendeals und vertickt gefälschte Rolexe an zwielichtige Mittelsmänner. Sein Mentor ist Mike Bloom, vormals Ezekiel Blumenstein, ein ruhiger und gelassener Mann mit dem Aussehen eines chinesischen Kaisers. Von ihm erfährt Bobby, warum Uhren nur etwas für Männer sind und was ihren eigentlichen Reiz ausmacht. Die Zeit, Bobby. Eine Uhr erinnert uns an unseren Platz im Universum. Eingeklemmt zwischen den verdammten Sekunden. Während wir hier unsere Runden drehen - im Leben, meine ich -, bekommen wir einen Vorgeschmack auf das, was da noch kommt." Aber Bobby braucht keinen Vorgeschmack mehr: Seine Frau erwartet ein Kind, mit Jims abgerockter Freundin Lisa hat er eine Affäre, die aufzufliegen droht, und von der schönen Polackin hat er sich ordentlich einseifen lassen. Es ist zwei Tage vor Weihnachten, Bobby steht unter Strom und vor einem seiner größten Abschlüsse ... Verkaufen ist die Geschichte eines jungen Mannes und seiner Erziehung in den beiden ältesten Leidenschaften, dem Geld und der Liebe. Durch eine dunkle, scharfe Linse zeichnet Clancy Martin die flüchtigen Momente des vermeintlichen Luxus in all seiner berauschenden Vulgarität und findet darin eine Metapher für die verzweifelte Suche der Menschen nach dauerhaftem Glück.
Bobby Clark ist sechzehn, als er in Calgary von der Highschool fliegt: Er hat eine Schachtel Siegelringe für die Abschlussklasse geklaut. Er folgt kurz entschlossen seinem Bruder Jim in die USA nach Dallas. Jim ist eine große Nummer im Uhren- und Schmuckbusiness, und dank ihm findet Bobby sofort einen Job. Bobby ist ein Naturtalent. Er wird zu einem der besten Verkäufer der Branche. Skrupellos zieht er Kunden über den Tisch, macht gewaltige Diamantendeals und vertickt gefälschte Rolexe an zwielichtige Mittelsmänner. Sein Mentor ist Mike Bloom, vormals Ezekiel Blumenstein, ein ruhiger und gelassener Mann mit dem Aussehen eines chinesischen Kaisers. Von ihm erfährt Bobby, warum Uhren nur etwas für Männer sind und was ihren eigentlichen Reiz ausmacht. "Die Zeit, Bobby. Eine Uhr erinnert uns an unseren Platz im Universum. Eingeklemmt zwischen den verdammten Sekunden. Während wir hier unsere Runden drehen - im Leben, meine ich -, bekommen wir einen Vorgeschmack auf das, was da noch kommt." Aber Bobby braucht keinen Vorgeschmack mehr: Seine Frau erwartet ein Kind, mit Jims abgerockter Freundin Lisa hat er eine Affäre, die aufzufliegen droht, und von der schönen Polackin hat er sich ordentlich einseifen lassen. Es ist zwei Tage vor Weihnachten, Bobby steht unter Strom und vor einem seiner größten Abschlüsse ... Verkaufen ist die Geschichte eines jungen Mannes und seiner Erziehung in den beiden ältesten Leidenschaften, dem Geld und der Liebe. Durch eine dunkle, scharfe Linse zeichnet Clancy Martin die flüchtigen Momente des vermeintlichen Luxus in all seiner berauschenden Vulgarität und findet darin eine Metapher für die verzweifelte Suche der Menschen nach dauerhaftem Glück.
Lese-Probe zu „Verkaufen “
Clancy Martin, VerkaufenAus dem Amerikanischen von Robin DetjeBERLIN VERLAGRoman
ERSTER TEIL
Wenn man unserem Vater glaubt, haben sie Jim schon dabei erwischt, wie er sich mit den schwarzen Mikimotoperlen meiner Großmutter herausputzte, als er gerade mal zwei Jahre alt war. Ich zog Schmuck zum ersten Mal an jenem Morgen in Betracht, an dem ich meiner Mutter den Ehering stahl. Er war aus Weißgold. Ein hundert Jahrealter Jugendstilring mit elf Diamanten in zwei Reihen oben, winzigen Rosetten an beiden Seiten, in deren Mitte je ein Granat, als Rubin verkauft, und handgearbeiteten Schneckenverzierungen auf der inneren Ringschiene, wo die Haut auflag. Das war der letzteWertgegenstand, den sie noch besaß. Sie nahm ihn nie ab. Aber da lag er, auf dem Fensterbrett über der Spüle in der Küche, neben einer gelben und grünen Pflanze, die sie zog.
Ich brauchte das Geld. Meine Freundin verließ mich für einen Ladenschwengel namens Andrew, einen Basketball-Angreifer von der Highschool, und ich wusste, dass ich sie zurückkaufen konnte. Also nahm ich den Ring und steckte ihn ein. Ich zog den roten Gummistöpsel aus dem Abfluss, damit meine Mutter glaubte, der Ring sei in der Kanalisation gelandet. Sicherheitshalber ließ ich noch das Wasser laufen, um ihn runterzuspülen. Vielleicht saß sie nebenan und konnte mich hören.
Die Pfandleihe meines Vertrauens lag an der Seventeenth Avenue, zwei Straßen von meiner alten Highschool. Woody’s Cash Canada. Auf einem Schild im Schaufenster stand: Wir kaufen Bruchgold
... mehr
. Der Laden war unten in einem dreigeschossigen Haus mit einem Friseur im ersten Stock und einem Billardsalon ganz oben. Man hatte uns streng verboten, in diesen Billardsalon zu gehen. Natürlich hätte ich eine Pfandleihe weiter weg von Zuhause nehmen sollen, aber so schlau war ich damals noch nicht. Der Friseur war im ersten Stock, und auf den hölzernen Couchtischen neben den Stühlen, wo man wartete, lagen stapelweise Cheri-, Fox-, Club Confidential- und andere Hochglanz-Pornohefte. Manche Männer blätterten darin, während sie sich die Haare schneiden ließen. Als mein Bruder und ich klein waren, hatte ich Angst, diese Zeitschriften anzugucken, dann, als ich älter war und alleine hinging, tat ich so, als würden sie mich nicht interessieren.
Woody’s war eine Pfandleihe von der echten Sorte, der, die ich mit der Zeit zu schätzen lernen würde: drei Schaukästen voller Schmuck, mit echten Schnäppchen bei Schweizer Uhren kleinerer Marken, amerikanischen 585er und 750er Rot- und Kupfergold- Gehäusen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, Jugendstil- Hamiltons und Gruens und seltenen Antikstücken – das war die Sorte Laden, wo man vielleicht sogar eine echte Perle oder einen unentdeckten Tsavorit-Granat aufstöbern konnte oder einen wirklich guten alten Orange-Citrin – versteckt unter Müll wie Goldkettchen und blauen Topasanhängern und Amethystringen.
»Macht nicht viel her, ich weiß. Ist wohl bloß ein alter Ring.«
»So schlecht ist der gar nicht. Schauen wir mal, was er wiegt. Ist das Platin? Oder bloß Weißgold?«
»Keine Ahnung. Was ist Platin?«
Das war nicht die Art Frage, die man als Verkäufer stellen durfte.
»Aber ich weiß, dass das Diamanten sind. Die müssen was wert sein.«
»Sieh sie dir mal unter der Lupe an. Voller Karbon. Siehst du diese schwarzen Flecke? Die nennt man Karbon. Das ist es auch. Kohlenstoffmoleküle, die nie auskristallisiert sind. Verunreinigungen. Schaden richtig dem Wert. Und lauter Einschlüssehabensie auch. Innere Unreinheiten. Aber wenigstens keine Sprünge. Das ist schon was. Wenn sie Sprünge hätten, würde ich die Finger davon lassen. Zu riskant.«
Er verstand sein Geschäft. Hat ihn nicht mal dampfgereinigt, nicht mal geputzt. Vor uns lagen sechzig Jahre Schmutz, Haare und Hautschuppen.
Er gab mir dreihundert Dollar für den Ring, was ungefähr hinkam. Von seiner Warte aus.
»Ich verkaufe ihn echt ungern. Ein Erbstück, wissen Sie. MeineOma.«
»Ich kann ihn in Zahlung nehmen«, sagte er. »Das ist ein gutes Pfand, keine Frage. Beim Verpfänden schneide ich normalerweise besser ab. Aber bei diesem hier rate ich dir, ihn gleich zu verkaufen.«
Ich wünschte, da hätte ich gesagt, dass er einem Freund gehört. Falls er meine Eltern anrief oder so.
»Aber da ist dieses Mädchen.«
»Liebe ist ein guter Grund. Der beste Grund. Denk mal drüber nach. Deshalb hat deine Oma ihn dir vererbt. Sie hat nicht geglaubt, dass du ihn tragen würdest, oder? Nein. Er war für ein Mädchen. Wenn du ihn dem Mädchen zuliebe verkaufen musst, dann hätte sie das so gewollt. Frauen verstehen so was. Worauf es ankommt und worauf nicht. Du müsstest mal die ganzen Liebesgeschichten hören, die man mir hier im Laden erzählt. Nirgendwo lernt man mehr über die Liebe als in einer Pfandleihe.«
Er nahm den Ring mit nach hinten. »Deine Oma hatte guten Schmuckgeschmack«, sagte er, nachdem er mich ausgezahlt hatte. »Der wird nicht lange hier liegen.«
Gut so, dachte ich.
Heute würde dieser Ring im Einzelhandel siebzehn-, achtzehntausend bringen, aber damals werden es wohl dreitausend gewesen sein, denke ich.
John Strickland, der bei Woody’s das Sagen hatte, war ein alterKnacker und gehörte nicht zu meinen Freunden, aber er hatte mir schon ein paar Sachen abgekauft, darunter eine Walnussholzkiste mit Silberbesteck, die ich bei einer wirklichen Freundin zu Hause in der Kommode gefunden hatte. Eigentlich nicht bei der Freundin zu Hause, sondern die Freundin war da Babysitten, und wir sind da aufgelaufen und wollten uns aus der Hausbar bedienen und ein Video gucken. Während das Popcorn poppte, spazierte ich ins Esszimmer und entdeckte das Besteck. Meine Freundin Tina, der Babysitter, kam um die Ecke und erwischte mich. Aber ich hattees nicht angerührt. Ich hatte bloß eine Schublade aufgezogen. Also konnte sie nichts sagen. Sie blickte mich strafend an und fragte: »Was machst du da, Bobby?« Ich erklärte ihr, dass ich nach einer Schüssel für das Popcorn suchte. Bevor wir gingen, nach mehreren Drinks, während sie in einer Ecke den anderen Freund von mir küsste, bin ich wieder hin und mit der schweren Besteckkiste im Arm rausgerannt. So verlor ich zwei Freunde. Aber ich war nicht bereit, mir Vorwürfe zu machen. Sie haben nicht aufgepasst. Sie hätten uns allen dreien den Verlust ersparen können, wenn sie es versucht hätten.
Oft, abends, als ich zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre alt war, im Winter, wenn es schneite, bin ich raus aus unserem Viertel und den Hügel nach Mount Royal raufgeklettert, um da durch die Straßen zu spazieren und in die erleuchteten Fenster der Häuser zu gucken. Man kennt das doch: wenn es ganz kalt und still ist, leise rieselt der Schnee, kreiselt im Licht der Straßenlaternen, und in den Häusern rührt es sich ruhig oder froh, als würden die Leute essen und lachen, und ihre Lampen an den Fenstern glitzern wie Gold und Juwelen. Ich hörte den Schnee unter meinen Turnschuhen knirschen und wühlte die Arme tiefer in meine Jacke. Diese Häuser waren gigantisch: drei, vier, fünf Mal so groß wie unseres, mit größeren und schnelleren Autos, Gärten wie Fußballfeldern, und sie waren aus Stein oder Ziegeln, und trotzdem sahen sie einladend aus, dort war es warm, das sah man gleich. Mein Vater war in so einem Haus aufgewachsen. Meine Mutter dagegen war in einer Mietwohnung groß geworden.
Wenn wir zu Weihnachten unten in Florida waren, sagte mein Vater mir immer: »Du kannst ein Armutsbewusstsein haben, Sohnemann, wie deine Mutter, oder ein Wohlstandsbewusstsein. Liegt ganz bei dir. Es gibt Menschen, die sind für die Armut bestimmt. Deine Mutter und dieser Trottel, den sie geheiratet hat. Die können nicht anders.« Das war der Grund für diese Ausflüge. An meinem Wohlstandsbewusstsein zu arbeiten.
Aller Jahre der Übung zum Trotz war ich nie gut im Klauen, und als sie mich von der Highschool warfen, war das Klauen der Grund. Eine Schachtel Siegelringe für die Abschlussklasse. Als ich sie in der Pfandleihe hatte – nach der Sache mit dem Ring meiner Mutter benutzte ich eine andere, einen düsteren, verwinkelten Laden beim Alberta Liquor Store am Südrand der Innenstadt, wo man auf dem Gehsteig immer über ein paar betrunkene Indianer stolperte und es streng nach menschlichem Urin stank –, entpuppten sie sich als Blechattrappen. Messing und Eisen, dünn mit 375er Gold und Silber überzogen.
Der Schuldirektor Mr Robinson und der Highschool-Wachmann waren seit eineinhalb Jahren hinter mir her gewesen, da hatten sie jetzt einen Vorwand, Detektiv zu spielen.
»Aber sie sind nicht mal was wert«, sagte ich. »Sie können mich nicht wegen ein paar nachgemachter Ringe von der Schule verweisen.«
»Sie gehören nicht hierher, Robert«, sagte Mr Robinson. »Dies ist ein Ort für anständige Menschen. Sie sind kein anständiger Mensch. Sie sind ein Dieb, ein Lügner und ein Feigling.«
Das brachte uns einen Augenblick zum Schweigen. Wir beschnupperten einander über seinen Schreibtisch hinweg. Ich nehme an, wir wussten beide, dass ich besser roch als er.
Ich saß draußen auf dem Parkplatz und las Siddhartha. Für Anlässe wie diesen trug ich das Buch immer in meinem Rucksack. Manchmal nahm ich stattdessen auch Die Möwe Jonathan oder Unterwegs mit oder Die Kraft positiven Denkens von Norman Vincent Peale oder Reise ans Ende der Nacht. Alles Lieblingsbücher von mir, die ich oft gelesen hatte.
Als ich meinen großen Bruder Jim anrief, um ihm von meinem Rauswurf zu erzählen, versuchte er mir die Sache mit dem Juweliergeschäft schmackhaft zu machen. Sobald er mit seiner Verkaufe anfing, hätte ich wissen müssen, dass Jim sich die Lügen selber glaubte, die er mir auftischte. Das ist, als wenn man Schauspieler oder Premierminister ist, man steigert sich mit dem Publikum da hinein und glaubt, man könne nichts Unaufrichtiges oder Unglaubwürdiges mehr sagen.
»Du kannst nichts dafür«, sagte er. »Mir ist dasselbe passiert oder so was Ähnliches, nur dass es Drogen waren statt Klauen. Geh in den Süden. Die Staaten, da gehören wir alle hin, Bobby. Schon immer meine Rede. Zieh hier runter zu mir. Ich zahle den Flug, und du holst dir das Ticket am Schalter auf dem Flughafen ab. Dad wusste, was er tat, als er in die Staaten gezogen ist. Du und ich, wir führen die nächste Angriffswelle an. Ich regele das mit Mom. Ich mache fünftausend die Woche hier unten. Das sind zwanzigtausend Dollar im Monat. Dazu der Firmenwagen. Ein Porsche! Nächstes Jahr bekomme ich das Kabrio. Du müsstest keine Miete zahlen. Ich bin jetzt praktisch Gemmologe. Du kannst die Kurse auch besuchen. Wohn bei uns. Das ist dein College! Machst du im Fernstudium. In einem Jahr könntest du Gemmologe sein. Was diese Typen verdienen, das glaubst du nicht. Die echten Gemmologen vom GIA. Das ist das Gemmologische Institut von Amerika. Das ist ein ganzes Stück besser als die Uni, Bobby. Gehalt. Vom Prestige gar nicht zu reden.«
»Ich will eigentlich sowieso nicht auf die Uni«, sagte ich. »Ich hasse Schule.«
»Ich auch. Schule habe ich immer gehasst. Das ist normal.«
»Was ist mit meiner Freundin?«
»Mädchen lernst du natürlich auch kennen! Tausende lernst
du kennen. Die stellt Mr Popper ein, wenn er sie kriegen kann. Die Hälfte der Verkäufer sind Mädchen. Sogar vom College! Vom gemischten College! Du weißt, wie die drauf sind. Und Kundinnen. Mädchen lieben Schmuck, Bobby. Das ist der größte Teil des Marktes, Bobby. Und Frauen natürlich. Aber jede Menge Mädchen! Du solltest mal die Mädchen sehen! Alle wissen, wie die Mädchen in Texas sind. Die besten Mädchen im ganzen Land. Die sehen hier nicht aus wie die Mädchen in Kanada. Du würdest nicht mal glauben, dass sie zur selben Tierart gehören. Und nach Jungs aus Kanada sind sie alle verrückt. Sie stehen auf den Akzent.«
»Was ich sagen wollte, ist, dass ich hier oben ein Mädchen kennen gelernt habe. Im Unterricht, ein Mädchen. Auf meiner alten Schule. Sie ist meine Freundin, glaube ich.«
»Super! Ich würde mal sagen, probier’s aus. Hier kannst du zehn Freundinnen haben. Und außerdem kannst du immer wieder zurückgehen. Mach richtig viel Geld und flieg sie zu Weihnachten hier ein. Denk mal an die Geschenke, die du ihr kaufen kannst. Das ist noch so eine Sache. Du kannst ihr so viel Schmuck kaufen, wie du willst. Als Angestellter kriegst du alles für zwanzig Prozent über dem Einkaufspreis. Bevor man nicht im Geschäft ist, kapiert man gar nicht, wie billig das ist! Ich hatte keine Ahnung. Dreifach, vierfach, fünffach. Das ist die Marge, so heißt das in der Branche. Dreifach heißt, du verkaufst es für das Dreifache vom Einkaufspreis. Das lernst du alles, wenn du hier bist. Heißt Fort Worth Deluxe Diamond Exchange. Wie eine Börse. Nur besser, weil jeder kaufen kann. Jeder kann von der Straße reinmarschieren und bekommt was für sein Geld. Und Schmuck steigt im Wert! Das ist eine Investition! Mehr sage ich ja nicht. Ich will dir nichts aufschwatzen. Du musst deine eigenen Fehler machen.«
Jim legte auf. Ich rief Wendy an. Ich wollte mit ihr reden, solange die Begeisterung anhielt.
»Soll ich rüberkommen?«, sagte ich. »Was machst du gerade?«
»Ich habe zu viele Hausaufgaben«, sagte sie. »Ich muss Chemie machen und Physik.«
»Das ist doch gar nichts. Machst du vor dem Unterricht. Ich schleich mich in die Bibliothek und helfe dir. Wir treffen uns auf dem Parkplatz. Ich kann’s gleich da machen, wenn du willst. Mit dem Zeug kenne ich mich aus.«
»So lerne ich es nicht. Damit müssen wir aufhören. Egal, ich muss jetzt auflegen. Wir können uns heute Abend nicht treffen. Ich muss mit meiner Mom einkaufen gehen.«»Einkaufen?«
»Hab ich ihr versprochen. Ich habe ihr gesagt, ich komme mit.«
»Ich könnte hinterher rüberkommen.«
Einkaufen, ich wusste, was das bedeutete. Einkaufen hießAndrew.
Er ging auf die Highschool in Wendys Gegend. Das war die Highschool, auf die sie hätte gehen sollen, bevor wir uns kennen gelernt hatten. Dann beschloss sie, auf meine Highschool zu gehen, wo es außerdem noch die Begabtenförderung gab, in die sie reinwollte, und deshalb ist sie da hin, nicht weil sie sich in mich verliebt hatte. Aber immer wenn an der Western etwas schieflief, war ich schuld, dass sie auf diese miese Schule gekommen war. Jetzt hatten sie mich rausgeschmissen, und sie hing an der Highschool bei sich in der Nähe rum. Sie ging sogar zu deren Basketballspielen. Sie ging mit ihrer Mutter einkaufen, weil sie Andrew treffen wollte, der in der Lebensmittelabteilung arbeitete. Sie stellte sich vor, wie sie in der Auslage mit dem Eisbergsalat auf seinem Schwanz rotierte. Er könnte ihr ja eine kalte Gurke in den Arsch schieben. Ich erinnerte mich, wie Jason DeBoer in der dritten Klasse zu mir gesagt hatte: »Du läufst rum, als hättest du eine Gurke im Arsch.« Ich wusste, was er meinte.
Wendy war keine Jungfrau mehr, aber Analsex war ihr lieber. Sie sagte, das sei, weil sie kein Risiko eingehen könne. Sie belog sich selbst, bevor sie andere belog, das war ihre Methode. Oder sie benutzte zum Lügen einen unwiderlegbaren Satz, zum Beispiel: »Wenn du in meinem Arsch kommst, kann ich nicht schwanger werden.« Das stimmte, verschleierte aber ihre wahren Motive.
»Schön. Hab schon verstanden. Geh zu deinem Ladenschwengel. Wir sehen uns dann morgen.«
»Nein, so habe ich es nicht gemeint. Was ich meine, ist, vielleicht kommst du besser nicht mehr rüber.«
»Du hast gesagt, du gehst mit deiner Mutter einkaufen.«
»Das habe ich gesagt, das stimmt aber nicht. Na schön. Ich bleibe zu Hause. Mir doch egal. Darum geht es nicht. Du hörst mir nicht zu.«
»Ist deine Mom sauer auf mich?«
»Meine Mom ist nicht das Problem, Bobby. Okay. Ich wollte das nicht sagen. Aber du lässt mir keine andere Wahl. Wir sollten uns nirgendwo mehr treffen. Überhaupt nicht mehr. Und ich weiß, was du jetzt sagen willst, aber sag es nicht. Es hat nichts mit einem anderen zu tun. Es hat mit uns zu tun.«
Ich horchte ins Telefon. Ich machte mir klar, dass sie die Worte, die ihr aus dem Mund kamen, nicht verstand und sie sich selbst vielleicht nicht einmal hörte.
»Uns und Andrew, meinst du«, sagte ich. Ich erinnerte sie nur ungern an seinen Namen. Aber ich wollte hören, wie sie es abstritt.
»Du bist nicht mal mehr auf der Highschool, Bobby. Ich meine, was fängst du jetzt mit dir an? Was machst du jetzt? Einfach ein Abbrecher sein? Jeden Tag im Einkaufszentrum schlafen?«
Damit meine Mutter nichts merkte, nahm ich morgens, wenn ich in die Schule musste, einfach den Bus runter zum Zoo oder zum Einkaufszentrum. Ich schlief da nicht wirklich. Wendy sagte das, weil ich einmal im Food Court eingeschlafen und von einem Wachmann rausgeworfen worden war. Ich bin zuerst überhaupt nur ins Einkaufszentrum gegangen, weil Wendy den Salat in der Copper Creperie mochte und ich ihr zur Pause welchen mitbrachte. Ich musste mich in meine eigene Highschool rein- und wieder aus ihr rausschleichen, weil Mr Robinson mich auf dem Kieker hatte. Vor ein paar Tagen erst hatte er mich mitten durch den Hauptflur und durch die Vordertür hinausgejagt. Später erzählte ich überall, ich sei geflogen, weil er mich im Flur an der Schulter gepackt und ich mich umgedreht und ihm voll eine reingehauen habe, mitten auf die Nase, und er sei umgekippt wie ein gefällter Baum. Voll auf den Arsch, direkt vor der Cafeteria. Mein alter Herr sei Boxer gewesen und habe mir beigebracht, wie man einen rechten Haken schlägt und ein paar Kombinationen, erklärte ich. Der Teil stimmte.
»Vielleicht sollte ich wegziehen«, sagte ich. Mal sehen, was ihr dazu einfiel, dachte ich.
»Wo willst du hin? Wann? Ziehst du zu deinem Bruder? Gute Idee.«
Das war nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte. Ich verstand nicht mal, wie sie das hatte erraten können.
»Ich dachte, du liebst mich«, sagte ich. Das kam auch nicht gut rüber. »Also liebst du mich nicht?«
»Dass du nach Texas ziehst, würde ich doch nur wollen, weil ich dich liebe. Weil du Veränderung brauchst. Das ist der einzige Grund, aus dem ich dich gehen lassen würde.«
»Du willst, dass ich gehe? Weil, ich gehe nämlich, wenn du das wirklich willst. Aber ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. Ich glaube, wenn du ganz ehrlich bist, wirst du merken, dass du das nicht willst.«
»Ich sage ja nur, ich weiß, dass es zu deinem Besten ist. Obwohl ich nicht will, dass du wegziehst. Du könntest wegziehen und dann wiederkommen. Das wollte ich sagen.«
»Wenn du mir sagst, du willst nicht, dass ich gehe, dann gehe ich nicht.«
Ich verstand nicht, wie es dazu gekommen war, dass ich plötzlich wegzog. Vor dieser Unterhaltung hatte ich gewusst, dass ich nie nach Texas runterziehen können würde. Was sollte ich da, mir den Lebensunterhalt mit Schmuckverkaufen verdienen?
»Ich glaube, es ist wichtig für dich, dass du gehst. Das ist es, was ich zu sagen versuche. Ich werde dich vermissen, aber manchmal ist es gut, jemanden zu vermissen. Dann ist es anders, wenn man wiederkommt. Schöner.«
Schweigen meinerseits. Ich fragte mich, ob sie auf ihrem Zimmer war, allein, oder in der Küche, wo ihre Mutter zuhörte.
»Ist deine Mutter da? Will deine Mutter, dass du das sagst?« In den ersten paar Monaten hatte Wendys Mutter mich gemocht. Das hatte sich leicht organisieren lassen. Ich schmeichelte ihr, zog mich ordentlich an und lächelte viel. »Du hast so schöne Zähne, Bobby«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du nie eine Zahnspange hattest.« Aber dann, vor einem oder zwei Monaten, hatte sie ein paar pornographische Briefe gefunden, die ich Wendy geschrieben hatte – meine Idee war das nicht gewesen, sie hatte darauf bestanden, eine Pflicht, die ich erfüllen musste, damit ich regelmäßig Sex mit ihr haben konnte –, und ihre Mutter hatte die Briefe gefunden, wie gesagt, was an sich vielleicht noch keine Katastrophe gewesen wäre, aber einer der Briefe handelte von einem Mutter-Tochter-Dreier, und seither konnte sie mich nicht mehr ab.
»Nein. Ich bin auf meinem Zimmer. Du musst gehen. Das wird uns guttun«, sagte sie. Sie machte diese Gähngeräusche, die sie immer machte, wenn sie log.
»Du gähnst«, sagte ich.
»Ich gähne, weil ich müde bin«, sagte sie.
»Nein, du gähnst, weil du eigentlich nicht willst, dass ich wegziehe.«
Sie gähnte wieder.
»Du hast Recht. Ich will nicht, dass du wegziehst. Aber ich glaube, es ist wirklich wichtig für dich, dass du gehst.«
»Ich gehe ja«, sagte ich. »Weg, meine ich.« Jetzt hatte ich sie da, wo ich sie haben wollte.
»Gut«, sagte sie. »Schön, dass es beschlossen ist. Ich bin stolz auf dich. Jetzt muss ich los. Ich muss mit meiner Mutter einkaufen gehen.«
»Was? Was machst du?«
»Das ist mir nur so rausgerutscht«, sagte sie. »Das wollte ich nicht sagen. Ich bleibe zu Hause.«
»Dann bleib am Telefon«, sagte ich.
»Ich muss dann mal, Bobby. Ich muss meine Hausaufgaben machen. Ich schalte mein Telefon aus, damit ich die Hausaufgaben machen kann. Sonst rufst du einfach immer wieder an und lässt mich nicht arbeiten. Ich liebe dich, aber jetzt muss ich auflegen. «
»Ich liebe dich auch«, sagte ich. »Es tut mir leid«, sagte ich. Aber ich wusste, dass sie schon aufgelegt hatte. Sie legte immer
auf, bevor ich es tun konnte. Es war mir lieber so.
Woody’s war eine Pfandleihe von der echten Sorte, der, die ich mit der Zeit zu schätzen lernen würde: drei Schaukästen voller Schmuck, mit echten Schnäppchen bei Schweizer Uhren kleinerer Marken, amerikanischen 585er und 750er Rot- und Kupfergold- Gehäusen aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, Jugendstil- Hamiltons und Gruens und seltenen Antikstücken – das war die Sorte Laden, wo man vielleicht sogar eine echte Perle oder einen unentdeckten Tsavorit-Granat aufstöbern konnte oder einen wirklich guten alten Orange-Citrin – versteckt unter Müll wie Goldkettchen und blauen Topasanhängern und Amethystringen.
»Macht nicht viel her, ich weiß. Ist wohl bloß ein alter Ring.«
»So schlecht ist der gar nicht. Schauen wir mal, was er wiegt. Ist das Platin? Oder bloß Weißgold?«
»Keine Ahnung. Was ist Platin?«
Das war nicht die Art Frage, die man als Verkäufer stellen durfte.
»Aber ich weiß, dass das Diamanten sind. Die müssen was wert sein.«
»Sieh sie dir mal unter der Lupe an. Voller Karbon. Siehst du diese schwarzen Flecke? Die nennt man Karbon. Das ist es auch. Kohlenstoffmoleküle, die nie auskristallisiert sind. Verunreinigungen. Schaden richtig dem Wert. Und lauter Einschlüssehabensie auch. Innere Unreinheiten. Aber wenigstens keine Sprünge. Das ist schon was. Wenn sie Sprünge hätten, würde ich die Finger davon lassen. Zu riskant.«
Er verstand sein Geschäft. Hat ihn nicht mal dampfgereinigt, nicht mal geputzt. Vor uns lagen sechzig Jahre Schmutz, Haare und Hautschuppen.
Er gab mir dreihundert Dollar für den Ring, was ungefähr hinkam. Von seiner Warte aus.
»Ich verkaufe ihn echt ungern. Ein Erbstück, wissen Sie. MeineOma.«
»Ich kann ihn in Zahlung nehmen«, sagte er. »Das ist ein gutes Pfand, keine Frage. Beim Verpfänden schneide ich normalerweise besser ab. Aber bei diesem hier rate ich dir, ihn gleich zu verkaufen.«
Ich wünschte, da hätte ich gesagt, dass er einem Freund gehört. Falls er meine Eltern anrief oder so.
»Aber da ist dieses Mädchen.«
»Liebe ist ein guter Grund. Der beste Grund. Denk mal drüber nach. Deshalb hat deine Oma ihn dir vererbt. Sie hat nicht geglaubt, dass du ihn tragen würdest, oder? Nein. Er war für ein Mädchen. Wenn du ihn dem Mädchen zuliebe verkaufen musst, dann hätte sie das so gewollt. Frauen verstehen so was. Worauf es ankommt und worauf nicht. Du müsstest mal die ganzen Liebesgeschichten hören, die man mir hier im Laden erzählt. Nirgendwo lernt man mehr über die Liebe als in einer Pfandleihe.«
Er nahm den Ring mit nach hinten. »Deine Oma hatte guten Schmuckgeschmack«, sagte er, nachdem er mich ausgezahlt hatte. »Der wird nicht lange hier liegen.«
Gut so, dachte ich.
Heute würde dieser Ring im Einzelhandel siebzehn-, achtzehntausend bringen, aber damals werden es wohl dreitausend gewesen sein, denke ich.
John Strickland, der bei Woody’s das Sagen hatte, war ein alterKnacker und gehörte nicht zu meinen Freunden, aber er hatte mir schon ein paar Sachen abgekauft, darunter eine Walnussholzkiste mit Silberbesteck, die ich bei einer wirklichen Freundin zu Hause in der Kommode gefunden hatte. Eigentlich nicht bei der Freundin zu Hause, sondern die Freundin war da Babysitten, und wir sind da aufgelaufen und wollten uns aus der Hausbar bedienen und ein Video gucken. Während das Popcorn poppte, spazierte ich ins Esszimmer und entdeckte das Besteck. Meine Freundin Tina, der Babysitter, kam um die Ecke und erwischte mich. Aber ich hattees nicht angerührt. Ich hatte bloß eine Schublade aufgezogen. Also konnte sie nichts sagen. Sie blickte mich strafend an und fragte: »Was machst du da, Bobby?« Ich erklärte ihr, dass ich nach einer Schüssel für das Popcorn suchte. Bevor wir gingen, nach mehreren Drinks, während sie in einer Ecke den anderen Freund von mir küsste, bin ich wieder hin und mit der schweren Besteckkiste im Arm rausgerannt. So verlor ich zwei Freunde. Aber ich war nicht bereit, mir Vorwürfe zu machen. Sie haben nicht aufgepasst. Sie hätten uns allen dreien den Verlust ersparen können, wenn sie es versucht hätten.
Oft, abends, als ich zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre alt war, im Winter, wenn es schneite, bin ich raus aus unserem Viertel und den Hügel nach Mount Royal raufgeklettert, um da durch die Straßen zu spazieren und in die erleuchteten Fenster der Häuser zu gucken. Man kennt das doch: wenn es ganz kalt und still ist, leise rieselt der Schnee, kreiselt im Licht der Straßenlaternen, und in den Häusern rührt es sich ruhig oder froh, als würden die Leute essen und lachen, und ihre Lampen an den Fenstern glitzern wie Gold und Juwelen. Ich hörte den Schnee unter meinen Turnschuhen knirschen und wühlte die Arme tiefer in meine Jacke. Diese Häuser waren gigantisch: drei, vier, fünf Mal so groß wie unseres, mit größeren und schnelleren Autos, Gärten wie Fußballfeldern, und sie waren aus Stein oder Ziegeln, und trotzdem sahen sie einladend aus, dort war es warm, das sah man gleich. Mein Vater war in so einem Haus aufgewachsen. Meine Mutter dagegen war in einer Mietwohnung groß geworden.
Wenn wir zu Weihnachten unten in Florida waren, sagte mein Vater mir immer: »Du kannst ein Armutsbewusstsein haben, Sohnemann, wie deine Mutter, oder ein Wohlstandsbewusstsein. Liegt ganz bei dir. Es gibt Menschen, die sind für die Armut bestimmt. Deine Mutter und dieser Trottel, den sie geheiratet hat. Die können nicht anders.« Das war der Grund für diese Ausflüge. An meinem Wohlstandsbewusstsein zu arbeiten.
Aller Jahre der Übung zum Trotz war ich nie gut im Klauen, und als sie mich von der Highschool warfen, war das Klauen der Grund. Eine Schachtel Siegelringe für die Abschlussklasse. Als ich sie in der Pfandleihe hatte – nach der Sache mit dem Ring meiner Mutter benutzte ich eine andere, einen düsteren, verwinkelten Laden beim Alberta Liquor Store am Südrand der Innenstadt, wo man auf dem Gehsteig immer über ein paar betrunkene Indianer stolperte und es streng nach menschlichem Urin stank –, entpuppten sie sich als Blechattrappen. Messing und Eisen, dünn mit 375er Gold und Silber überzogen.
Der Schuldirektor Mr Robinson und der Highschool-Wachmann waren seit eineinhalb Jahren hinter mir her gewesen, da hatten sie jetzt einen Vorwand, Detektiv zu spielen.
»Aber sie sind nicht mal was wert«, sagte ich. »Sie können mich nicht wegen ein paar nachgemachter Ringe von der Schule verweisen.«
»Sie gehören nicht hierher, Robert«, sagte Mr Robinson. »Dies ist ein Ort für anständige Menschen. Sie sind kein anständiger Mensch. Sie sind ein Dieb, ein Lügner und ein Feigling.«
Das brachte uns einen Augenblick zum Schweigen. Wir beschnupperten einander über seinen Schreibtisch hinweg. Ich nehme an, wir wussten beide, dass ich besser roch als er.
Ich saß draußen auf dem Parkplatz und las Siddhartha. Für Anlässe wie diesen trug ich das Buch immer in meinem Rucksack. Manchmal nahm ich stattdessen auch Die Möwe Jonathan oder Unterwegs mit oder Die Kraft positiven Denkens von Norman Vincent Peale oder Reise ans Ende der Nacht. Alles Lieblingsbücher von mir, die ich oft gelesen hatte.
Als ich meinen großen Bruder Jim anrief, um ihm von meinem Rauswurf zu erzählen, versuchte er mir die Sache mit dem Juweliergeschäft schmackhaft zu machen. Sobald er mit seiner Verkaufe anfing, hätte ich wissen müssen, dass Jim sich die Lügen selber glaubte, die er mir auftischte. Das ist, als wenn man Schauspieler oder Premierminister ist, man steigert sich mit dem Publikum da hinein und glaubt, man könne nichts Unaufrichtiges oder Unglaubwürdiges mehr sagen.
»Du kannst nichts dafür«, sagte er. »Mir ist dasselbe passiert oder so was Ähnliches, nur dass es Drogen waren statt Klauen. Geh in den Süden. Die Staaten, da gehören wir alle hin, Bobby. Schon immer meine Rede. Zieh hier runter zu mir. Ich zahle den Flug, und du holst dir das Ticket am Schalter auf dem Flughafen ab. Dad wusste, was er tat, als er in die Staaten gezogen ist. Du und ich, wir führen die nächste Angriffswelle an. Ich regele das mit Mom. Ich mache fünftausend die Woche hier unten. Das sind zwanzigtausend Dollar im Monat. Dazu der Firmenwagen. Ein Porsche! Nächstes Jahr bekomme ich das Kabrio. Du müsstest keine Miete zahlen. Ich bin jetzt praktisch Gemmologe. Du kannst die Kurse auch besuchen. Wohn bei uns. Das ist dein College! Machst du im Fernstudium. In einem Jahr könntest du Gemmologe sein. Was diese Typen verdienen, das glaubst du nicht. Die echten Gemmologen vom GIA. Das ist das Gemmologische Institut von Amerika. Das ist ein ganzes Stück besser als die Uni, Bobby. Gehalt. Vom Prestige gar nicht zu reden.«
»Ich will eigentlich sowieso nicht auf die Uni«, sagte ich. »Ich hasse Schule.«
»Ich auch. Schule habe ich immer gehasst. Das ist normal.«
»Was ist mit meiner Freundin?«
»Mädchen lernst du natürlich auch kennen! Tausende lernst
du kennen. Die stellt Mr Popper ein, wenn er sie kriegen kann. Die Hälfte der Verkäufer sind Mädchen. Sogar vom College! Vom gemischten College! Du weißt, wie die drauf sind. Und Kundinnen. Mädchen lieben Schmuck, Bobby. Das ist der größte Teil des Marktes, Bobby. Und Frauen natürlich. Aber jede Menge Mädchen! Du solltest mal die Mädchen sehen! Alle wissen, wie die Mädchen in Texas sind. Die besten Mädchen im ganzen Land. Die sehen hier nicht aus wie die Mädchen in Kanada. Du würdest nicht mal glauben, dass sie zur selben Tierart gehören. Und nach Jungs aus Kanada sind sie alle verrückt. Sie stehen auf den Akzent.«
»Was ich sagen wollte, ist, dass ich hier oben ein Mädchen kennen gelernt habe. Im Unterricht, ein Mädchen. Auf meiner alten Schule. Sie ist meine Freundin, glaube ich.«
»Super! Ich würde mal sagen, probier’s aus. Hier kannst du zehn Freundinnen haben. Und außerdem kannst du immer wieder zurückgehen. Mach richtig viel Geld und flieg sie zu Weihnachten hier ein. Denk mal an die Geschenke, die du ihr kaufen kannst. Das ist noch so eine Sache. Du kannst ihr so viel Schmuck kaufen, wie du willst. Als Angestellter kriegst du alles für zwanzig Prozent über dem Einkaufspreis. Bevor man nicht im Geschäft ist, kapiert man gar nicht, wie billig das ist! Ich hatte keine Ahnung. Dreifach, vierfach, fünffach. Das ist die Marge, so heißt das in der Branche. Dreifach heißt, du verkaufst es für das Dreifache vom Einkaufspreis. Das lernst du alles, wenn du hier bist. Heißt Fort Worth Deluxe Diamond Exchange. Wie eine Börse. Nur besser, weil jeder kaufen kann. Jeder kann von der Straße reinmarschieren und bekommt was für sein Geld. Und Schmuck steigt im Wert! Das ist eine Investition! Mehr sage ich ja nicht. Ich will dir nichts aufschwatzen. Du musst deine eigenen Fehler machen.«
Jim legte auf. Ich rief Wendy an. Ich wollte mit ihr reden, solange die Begeisterung anhielt.
»Soll ich rüberkommen?«, sagte ich. »Was machst du gerade?«
»Ich habe zu viele Hausaufgaben«, sagte sie. »Ich muss Chemie machen und Physik.«
»Das ist doch gar nichts. Machst du vor dem Unterricht. Ich schleich mich in die Bibliothek und helfe dir. Wir treffen uns auf dem Parkplatz. Ich kann’s gleich da machen, wenn du willst. Mit dem Zeug kenne ich mich aus.«
»So lerne ich es nicht. Damit müssen wir aufhören. Egal, ich muss jetzt auflegen. Wir können uns heute Abend nicht treffen. Ich muss mit meiner Mom einkaufen gehen.«»Einkaufen?«
»Hab ich ihr versprochen. Ich habe ihr gesagt, ich komme mit.«
»Ich könnte hinterher rüberkommen.«
Einkaufen, ich wusste, was das bedeutete. Einkaufen hießAndrew.
Er ging auf die Highschool in Wendys Gegend. Das war die Highschool, auf die sie hätte gehen sollen, bevor wir uns kennen gelernt hatten. Dann beschloss sie, auf meine Highschool zu gehen, wo es außerdem noch die Begabtenförderung gab, in die sie reinwollte, und deshalb ist sie da hin, nicht weil sie sich in mich verliebt hatte. Aber immer wenn an der Western etwas schieflief, war ich schuld, dass sie auf diese miese Schule gekommen war. Jetzt hatten sie mich rausgeschmissen, und sie hing an der Highschool bei sich in der Nähe rum. Sie ging sogar zu deren Basketballspielen. Sie ging mit ihrer Mutter einkaufen, weil sie Andrew treffen wollte, der in der Lebensmittelabteilung arbeitete. Sie stellte sich vor, wie sie in der Auslage mit dem Eisbergsalat auf seinem Schwanz rotierte. Er könnte ihr ja eine kalte Gurke in den Arsch schieben. Ich erinnerte mich, wie Jason DeBoer in der dritten Klasse zu mir gesagt hatte: »Du läufst rum, als hättest du eine Gurke im Arsch.« Ich wusste, was er meinte.
Wendy war keine Jungfrau mehr, aber Analsex war ihr lieber. Sie sagte, das sei, weil sie kein Risiko eingehen könne. Sie belog sich selbst, bevor sie andere belog, das war ihre Methode. Oder sie benutzte zum Lügen einen unwiderlegbaren Satz, zum Beispiel: »Wenn du in meinem Arsch kommst, kann ich nicht schwanger werden.« Das stimmte, verschleierte aber ihre wahren Motive.
»Schön. Hab schon verstanden. Geh zu deinem Ladenschwengel. Wir sehen uns dann morgen.«
»Nein, so habe ich es nicht gemeint. Was ich meine, ist, vielleicht kommst du besser nicht mehr rüber.«
»Du hast gesagt, du gehst mit deiner Mutter einkaufen.«
»Das habe ich gesagt, das stimmt aber nicht. Na schön. Ich bleibe zu Hause. Mir doch egal. Darum geht es nicht. Du hörst mir nicht zu.«
»Ist deine Mom sauer auf mich?«
»Meine Mom ist nicht das Problem, Bobby. Okay. Ich wollte das nicht sagen. Aber du lässt mir keine andere Wahl. Wir sollten uns nirgendwo mehr treffen. Überhaupt nicht mehr. Und ich weiß, was du jetzt sagen willst, aber sag es nicht. Es hat nichts mit einem anderen zu tun. Es hat mit uns zu tun.«
Ich horchte ins Telefon. Ich machte mir klar, dass sie die Worte, die ihr aus dem Mund kamen, nicht verstand und sie sich selbst vielleicht nicht einmal hörte.
»Uns und Andrew, meinst du«, sagte ich. Ich erinnerte sie nur ungern an seinen Namen. Aber ich wollte hören, wie sie es abstritt.
»Du bist nicht mal mehr auf der Highschool, Bobby. Ich meine, was fängst du jetzt mit dir an? Was machst du jetzt? Einfach ein Abbrecher sein? Jeden Tag im Einkaufszentrum schlafen?«
Damit meine Mutter nichts merkte, nahm ich morgens, wenn ich in die Schule musste, einfach den Bus runter zum Zoo oder zum Einkaufszentrum. Ich schlief da nicht wirklich. Wendy sagte das, weil ich einmal im Food Court eingeschlafen und von einem Wachmann rausgeworfen worden war. Ich bin zuerst überhaupt nur ins Einkaufszentrum gegangen, weil Wendy den Salat in der Copper Creperie mochte und ich ihr zur Pause welchen mitbrachte. Ich musste mich in meine eigene Highschool rein- und wieder aus ihr rausschleichen, weil Mr Robinson mich auf dem Kieker hatte. Vor ein paar Tagen erst hatte er mich mitten durch den Hauptflur und durch die Vordertür hinausgejagt. Später erzählte ich überall, ich sei geflogen, weil er mich im Flur an der Schulter gepackt und ich mich umgedreht und ihm voll eine reingehauen habe, mitten auf die Nase, und er sei umgekippt wie ein gefällter Baum. Voll auf den Arsch, direkt vor der Cafeteria. Mein alter Herr sei Boxer gewesen und habe mir beigebracht, wie man einen rechten Haken schlägt und ein paar Kombinationen, erklärte ich. Der Teil stimmte.
»Vielleicht sollte ich wegziehen«, sagte ich. Mal sehen, was ihr dazu einfiel, dachte ich.
»Wo willst du hin? Wann? Ziehst du zu deinem Bruder? Gute Idee.«
Das war nicht die Reaktion, die ich erwartet hatte. Ich verstand nicht mal, wie sie das hatte erraten können.
»Ich dachte, du liebst mich«, sagte ich. Das kam auch nicht gut rüber. »Also liebst du mich nicht?«
»Dass du nach Texas ziehst, würde ich doch nur wollen, weil ich dich liebe. Weil du Veränderung brauchst. Das ist der einzige Grund, aus dem ich dich gehen lassen würde.«
»Du willst, dass ich gehe? Weil, ich gehe nämlich, wenn du das wirklich willst. Aber ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. Ich glaube, wenn du ganz ehrlich bist, wirst du merken, dass du das nicht willst.«
»Ich sage ja nur, ich weiß, dass es zu deinem Besten ist. Obwohl ich nicht will, dass du wegziehst. Du könntest wegziehen und dann wiederkommen. Das wollte ich sagen.«
»Wenn du mir sagst, du willst nicht, dass ich gehe, dann gehe ich nicht.«
Ich verstand nicht, wie es dazu gekommen war, dass ich plötzlich wegzog. Vor dieser Unterhaltung hatte ich gewusst, dass ich nie nach Texas runterziehen können würde. Was sollte ich da, mir den Lebensunterhalt mit Schmuckverkaufen verdienen?
»Ich glaube, es ist wichtig für dich, dass du gehst. Das ist es, was ich zu sagen versuche. Ich werde dich vermissen, aber manchmal ist es gut, jemanden zu vermissen. Dann ist es anders, wenn man wiederkommt. Schöner.«
Schweigen meinerseits. Ich fragte mich, ob sie auf ihrem Zimmer war, allein, oder in der Küche, wo ihre Mutter zuhörte.
»Ist deine Mutter da? Will deine Mutter, dass du das sagst?« In den ersten paar Monaten hatte Wendys Mutter mich gemocht. Das hatte sich leicht organisieren lassen. Ich schmeichelte ihr, zog mich ordentlich an und lächelte viel. »Du hast so schöne Zähne, Bobby«, sagte sie. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du nie eine Zahnspange hattest.« Aber dann, vor einem oder zwei Monaten, hatte sie ein paar pornographische Briefe gefunden, die ich Wendy geschrieben hatte – meine Idee war das nicht gewesen, sie hatte darauf bestanden, eine Pflicht, die ich erfüllen musste, damit ich regelmäßig Sex mit ihr haben konnte –, und ihre Mutter hatte die Briefe gefunden, wie gesagt, was an sich vielleicht noch keine Katastrophe gewesen wäre, aber einer der Briefe handelte von einem Mutter-Tochter-Dreier, und seither konnte sie mich nicht mehr ab.
»Nein. Ich bin auf meinem Zimmer. Du musst gehen. Das wird uns guttun«, sagte sie. Sie machte diese Gähngeräusche, die sie immer machte, wenn sie log.
»Du gähnst«, sagte ich.
»Ich gähne, weil ich müde bin«, sagte sie.
»Nein, du gähnst, weil du eigentlich nicht willst, dass ich wegziehe.«
Sie gähnte wieder.
»Du hast Recht. Ich will nicht, dass du wegziehst. Aber ich glaube, es ist wirklich wichtig für dich, dass du gehst.«
»Ich gehe ja«, sagte ich. »Weg, meine ich.« Jetzt hatte ich sie da, wo ich sie haben wollte.
»Gut«, sagte sie. »Schön, dass es beschlossen ist. Ich bin stolz auf dich. Jetzt muss ich los. Ich muss mit meiner Mutter einkaufen gehen.«
»Was? Was machst du?«
»Das ist mir nur so rausgerutscht«, sagte sie. »Das wollte ich nicht sagen. Ich bleibe zu Hause.«
»Dann bleib am Telefon«, sagte ich.
»Ich muss dann mal, Bobby. Ich muss meine Hausaufgaben machen. Ich schalte mein Telefon aus, damit ich die Hausaufgaben machen kann. Sonst rufst du einfach immer wieder an und lässt mich nicht arbeiten. Ich liebe dich, aber jetzt muss ich auflegen. «
»Ich liebe dich auch«, sagte ich. »Es tut mir leid«, sagte ich. Aber ich wusste, dass sie schon aufgelegt hatte. Sie legte immer
auf, bevor ich es tun konnte. Es war mir lieber so.
... weniger
Autoren-Porträt von Clancy Martin
Clancy Martin hat viele Jahre in Schmuck und Edelsteinen gemacht. Heute ist er Professor für Philosophie an der University of Missouri, Kansas City. Er hat Werke von Friedrich Nietzsche und Søren Kierkegaard ins Englische übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Clancy Martin
- 2009, 315 Seiten, Maße: 14,5 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Robin Detje
- Übersetzer: Robin Detje
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827008247
- ISBN-13: 9783827008244
Rezension zu „Verkaufen “
"Verkaufen ist ein düsterer, komischer, gnadenloser Roman. Er handelt davon, wie wir alles kaufen und verkaufen - Waren, Drogen, Sex, Vertrauen, Macht, Seelenfrieden, Religion, Freundschaft und einander. Hervorragend geschrieben, mit Scharfsinn und beneidenswerter Selbstkontrolle."Zadie Smith
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