Victorine
Mit 16 ist Victorine die jgste Lehrerin Frankreichs und verliebt in den blonden, blaugigen Antoine, den sie am Atlantik kennenlernt und der mit ihr von Reisen in ferne Lder trmt. Nicht viel sper ist sie mit einem Schullehrer verheiratet, hat zwei Kinder und frt in der beschaulichen Hellandschaft der Vend das Leben einer respektablen Frau, wie es im 19. Jahrhundert in einer ldlichen Gegend erwartet wird. Ist sie glklich? Als plzlich Antoine wieder auftaucht, wirft sie alle Konventionen er Bord, und als er sie fragt, ob sie mit ihm in die franzischen Kolonien nach Indochina gehen will, tut sie das Undenkbare: Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, verlt sie Mann und Kinder und beginnt ein neues Leben mit ihrer gron Liebe.
An einem Tag im September 1940, als die deutschen Besatzer am Atlantikstrand patrouillieren, lt eine altgewordene Victorine ihr Leben noch einmal an sich vorerziehen, das Leben einer "aufgehakten" Frau, einer, die ihr Korsett ablegt, im wtlichen wie im ertragenen Sinn. Die Lust und Leidenschaft wlte, in der lmenden und exotischen Stadt Saigon mit ihrer schwen, tropischen Hitze und den Opiumhlen lebte - und wieder zurkkehrte.
Catherine Texier hat ihren bisher besten Roman geschrieben, einen atmosphischen historischen Roman er eine eigenwillige Frau.
Victorine wurde von den amerikanischen LeserInnen der ELLE zum besten Roman 2004 gewlt.
Victorine von CatherineTexier
LESEPROBE
8. September 1940
11: 15 Uhr
Die Zeitreicht kaum mehr, um an den Strand zu gehen, bevor Maurice sie zum Lunchabholt, aber sie möchte es nicht versäumen, ein letztes Mal den Ozean zusehen. Der Regen, der drei Tage lang in Strömen gefallen ist, hat endlichaufgehört und den Himmel tiefblau und makellos rein gewaschen. Sie eilt durch dasebenerdige Haus, das jetzt, nachdem fast alle Möbel weggebracht worden sind,unpersönlich wirkt, schiebt eine zusammengelegte Decke in ihre handgewebteTasche und zieht Gummigaloschen über ihre weichen wollenen Hausschuhe; derSand könnte noch feucht sein.
Der alteÜberseekoffer steht mitten im leeren Salon, wo die Packer ihn abgestellt haben,nachdem sie ihn tags zuvor aus dem Keller heraufgeholt hatten. Der Koffer istkleiner, als sie ihn in Erinnerung hat, das Leder abgewetzt und zerkratzt vomjahrelangen Gebrauch. Sie fährt mit einem Finger durch die Staubschicht.Vierzig Jahre ist es her.
Sie hatMühe, die Schnappschlösser aufzudrücken. Ein schwerer Geruch hängt in denalten Kleidern: Sandelholz. Ihre Hände tasten an einer Innenseite des Koffersentlang, dann an der anderen. Sie weiß noch, daß sie das Tagebuch nachträglichin aller Eile hineingesteckt hat. Sie zieht ein Exemplar von MadameChrysantheme heraus, einem Roman von Pierre Loti, dann einen Katalog von derWeltausstellung 1900. Auch den muß sie später in den Koffer gesteckt haben. Obsie das Tagebuch doch anderswo verstaut hat? Sie entdeckt noch ein paar Bücher,ein Fotoalbum mit rotem Kunstledereinband, ein in blaues marokkanisches Ledergebundenes Geschäftsbuch, in dem verschiedene Artikel aufgelistet sind: weißeTaschentücher, Kopfkissenbezüge, Tischdecken mit Plattstickerei undValenciennesspitze, jeweils mit Preisangaben in Piastern. Schließlich ertastetihre Hand einen rechteckigen Gegenstand am Boden des Koffers. Sie zieht ihn heraus.Ja, es ist das braune Schulheft. Es riecht feucht und nach Rauch. Ohne esaufzuschlagen, schiebt sie es in ihre Tasche und geht rasch aus dem Haus. WieGirlanden schmücken Wassertropfen das Gitter, das sich unter dem Dach deseingeschossigen Hauses entlangzieht. Sie bemerkt, daß die Stockrosen im Garten,die im Lauf des Sommers hoch und wild gewachsen sind, zu hellem Lavendel undwäßrigem Rosa verblassen, als hätte der spätsommerliche Regen ihre Farbeausgewaschen.
Ihre Gelenke sind von Arthritis geschwollen, die Finger anden Knöcheln leicht verbogen. Sie trägt ihre große, handgewebte Tasche amHandgriff. Über das Kleid hat sie sich eine Schürze gebunden, als wollte sie inden Garten hinter dem Haus gehen, um fürs Abendessen einen Kopf Salat odereinen Strunk Mangold zu pflücken, und darüber trägt sie eine Strickjacke; amMeer ist es kühl. Das Kleid ist marineblau und mit winzig kleinen Vögeln oderWindmühlen bedruckt. Die Wolljacke ist selbstgestrickt, braunrot oder violettoder schlicht grau. Ihre Beine stecken in dicken, weißen Baumwollstrümpfen. Anden Füßen trägt sie Hausschuhe mit weichen Sohlen und grauen Quasten undÜberschuhe aus Gummi.
Die Booteliegen schief wie beschwipst, pastellfarbene Kleckse in der Morgensonne, ihreMasten wippen schräg über dem nassen Sand. Genauso wie an jenem Tag, als er inseinem weiten, schwarzen Überzieher auf sie zugekommen war, den Hut vor derBrust, und sich verbeugte. Als junge Ehefrau, noch vor Daniels Geburt, war siemit Armand nach Paris gefahren, und sie hatten eine Gemäldeausstellung besucht,über die alle Welt sprach. Die Leinwände waren mit winzigen Farbklecksen bedeckt,die verschwammen, wenn man näher hinging. Trat man jedoch einen Schritt zurück,erwachte die Szene vibrierend zum Leben. Die Leute sagten, die Bilder seienhingeschludert, keine richtige Kunst, sie seien beeinflußt von denneumodischen Daguerreotypien, und doch erinnert sie der Strand an diesem Spätvormittag,getüpfelt mit den Rümpfen der Boote, gesprenkelt mit den huschenden Schattenhoher, windgetriebener Wolken, an diese Gemälde.
Sie breitetdie Decke am Fuß der Dünen aus, setzt sich hin, zieht ihre Überschuhe aus undholt das Schulheft aus der Tasche. Vierzig Jahre, denkt sie wieder. VierzigJahre lang hat sie es nicht gesehen, ja nicht einmal den Koffer aufgemacht. Erwar bei all ihren Umzügen verschlossen geblieben, von Velluire nach Maillezais,von Maillezais nach Le Gue de Velluire, von Le Gue de Velluire in die VillaSaint-Claude, hier in La Faute.
Sieerinnert sich, daß der braune Pappeinband ursprünglich mit geprägten Arabeskenim maurischen Stil verziert war, wohl damit er so aussah wie marokkanischesLeder. Sie schlägt das Schulheft auf. Ein paar Briefe und vergilbteZeitungsausschnitte rutschen heraus und fallen in ihren Schoß. Einige Seitenkleben zusammen. Sorgfältig, um sie nicht zu zerreißen, löst sie sie voneinander.Die hellblauen Linien sind kaum mehr zu erkennen, und die ursprünglich violetteoder blaue Tinte ist zu hellem Umbra verblaßt. (...)
© deutscheAusgabe: Luchterhand Literaturverlag, München 2005
Übersetzung:Irene Rumler
- Autor: Catherine Texier
- 2005, 1, 431 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Irene Rumler
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630871801
- ISBN-13: 9783630871806
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Victorine".
Kommentar verfassen