Violets Vermächtnis
Ein fesselnder Roman über drei Frauen voller Träume, die über Generationen hinweg ein Geheimnis verbindet.
1910: Violet kommt mit 11 Jahren mit dem Zug von den Elendsvierteln von New York aufs Land. Doch was ist der...
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Produktinformationen zu „Violets Vermächtnis “
Ein fesselnder Roman über drei Frauen voller Träume, die über Generationen hinweg ein Geheimnis verbindet.
1910: Violet kommt mit 11 Jahren mit dem Zug von den Elendsvierteln von New York aufs Land. Doch was ist der Grund für ihre Zugfahrt ins Ungewisse? Knapp 90 Jahre später lässt Violets Enkelin Samantha ihr Leben Revue passieren. Gerade Mutter geworden trauert sie noch über den Verlust ihrer eigenen Mutter Iris vor einem Jahr. Samantha beginnt, nach und nach die Puzzleteile ihrer Familiengeschichte zusammenzusetzen. Dadurch wird sie nicht nur von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt, sondern taucht mehr und mehr in alte Familiengeheimnisse ein.
Lese-Probe zu „Violets Vermächtnis “
Violets Vermächtnis von Rae MeadowsAus dem Amerikanischen von Stefanie Fahrner
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Sam sehnte sich nach Pound Cake. Oder wenigstens danach, einen zu backen. Das Rezept war denkbar einfach: jeweils ein Pfund Mehl, Butter, Eier und Zucker - das war irgendwie elegant. Ihr gefiel auch, dass Pound Cake etwas richtig Altmodisches war, wunderbar handfest und überhaupt nicht angeberisch. Butterzart und reichhaltig. Wisconsin ist schuld daran, dachte sie. Die Bäume verfärbten sich schon. Der Zuckerahorn, dessen rotgoldene Blätter durch die regennasse Windschutzscheibe leuchteten, hatte den Anfang gemacht. Es war Oktober. Sam liebte diese Zeichen von edlem Verfall und vergänglicher Schönheit, die der Herbst mit sich brachte, und doch konnte sie nichts davon richtig genießen, denn der Winter würde schon bald folgen. Trockene Heizungsluft, aufgesprungene Lippen, windgerötete Wangen, Sand und Salz überall. Das wäre ihr dritter Winter in Madison, und sie fragte sich, wie sie ihn ertragen sollte: Schon um vier wurde es dunkel, und sie wäre im Haus eingesperrt mit Ella, die immer wendiger wurde und im Wohnzimmer umherkrabbelte. Sie saß auf dem Rücksitz und stillte das Baby. Auf der anderen Straßenseite lag das Haus ihrer Freundin Melanie, ein großer Bau im Arts-and-Crafts-Stil, nahe Vilas Park an der Westside. Mit dem Daumen strich sie über Ellas Stirn. Die Haut war porenlos und herzergreifend weich. Dann fuhr sie über die winzigen Windungen ihres Ohrs. Ella stützte sich mit ihrer warmen Babyhand an Sams Brust ab und schaute angestrengt drein. Sam fiel auf, dass sie bereits im Begriff war, die einzelnen Phasen der letzten acht Monate zu vergessen, so schnell wurde ein Meilenstein in Ellas Entwicklung vom nächsten abgelöst. Wann hatte sie zum ersten Mal gelächelt? Sich zum ersten Mal auf die andere Seite gerollt? Zum ersten Mal aufrecht gesessen? Das alles wäre schon bald in einem schwammigen Erinnerungsmischmasch verloren. Sie würde nur noch an die Zeit denken, in der Ella »ein Baby war«, und all die kleinen Details wären nicht mehr interessant oder wichtig. Heute würde sie Ella zum ersten Mal mit einem Babysitter alleine lassen. Eigentlich wollte sie das gar nicht, aber sie tat es, um Jack zu zeigen, dass sie normal war. Er hatte sie schon seit Monaten dazu gedrängt, zurück ins Atelier zu gehen. Sie wusste, dass er ihre Weigerung, sich von Ella zu trennen, und ihre Überzeugung, nur sie selbst könnte sich um das Baby kümmern, langsam beunruhigend fand. Jack hatte recht: So dachte Sam wirklich. Sie hatte enorme Angst davor, dass etwas schiefgehen könnte. Niemand konnte so wachsam und vorausschauend sein wie sie selbst. Was, wenn Ella fallen und sich am Kopf verletzen würde? Was, wenn sie einen Penny verschlucken und keine Luft mehr bekommen würde? Was, wenn sie von einer Biene gestochen und einen anaphylaktischen Schock erleiden würde? Manchmal hasste sie es, in erster Linie Mutter zu sein. Sie fühlte sich total von ihrer Tochter in Beschlag genommen, ständig genötigt, an ihrem Hals zu schnuppern, ihre Atemzüge zu beobachten, ihr Gewicht und ihre Wärme zu spüren. Jack amüsierte sich darüber, dass sie dauernd absurde Szenarien entwarf, und fragte sich, was mit der Frau passiert war, die bis dahin immer nur Gelassenheit ausgestrahlt hatte. Ein kleines Wesen von neun Kilo hatte ihr gemeinsames Leben über den Haufen geworfen und seine Frau in eine Fremde verwandelt. Aber es ging um mehr als nur darum, Ella bei einer fremden Person zu lassen. Da war außerdem die Sache mit dem Auftrag. Eine Teekanne für den Dekan der englischen Fakultät, einen Mann der alten Schule, auf dessen Wohlwollen Jack angewiesen war. Es war ein Geschenk für seine Frau, das er schon vor über einem Jahr bestellt hatte. Sam wusste, wie sehr Jack sich beherrschen musste, das Thema so viele Monate lang ruhen zu lassen. Seit dem sechsten Monat ihrer Schwangerschaft war sie nicht mehr im Atelier gewesen, weil ihr Bauch sie beim Arbeiten an der Töpferscheibe störte. Sie vermisste den feucht-kalkigen Geruch ihrer Keramik. Den hellen, weißgrauen Schein der halbfertigen Töpfe. Die zentrifugale Geburt einer Form, eines Gefäßes, aus einem Klumpen Ton. Sie schaffte etwas aus dem Nichts. Der Gedanke daran, zurück an die Arbeit zu gehen, machte ihr jetzt allerdings Angst. Sie musste totale Konzentration aufbringen, die Form spüren - sie konnte sich nicht hinter Ungenauigkeiten verstecken. Die ständige Furcht, ihre Hände würden nicht mehr ruhig und synchron arbeiten und sie hätte ihre Fähigkeiten und ihr Auge für das Material verloren, begleitete sie. Schlimmer noch, sie hatte Angst, ihre Werke könnten langweilig werden und irgendwann auf Kunstgewerbemärkten oder in einem Zelt auf dem Wochenmarkt landen, Angst, dass ihre Kreativität im Zuge ihrer Mutterschaft verloren gegangen wäre. Jetzt hingen Spinnweben zwischen den Fenstern und den Werkzeugen, und ein seltsamer kristallartiger Schimmel hatte sich auf dem Knettisch ausgebreitet. Ella zog den Kopf zurück, setzte sich gurgelnd auf und rülpste laut und zufrieden, während ihr ein Tropfen Milch über die Unterlippe rann. Sam stand immer noch mehrere Male in der Nacht auf, um sie zu stillen. Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass Ella sich müde schrie, dass sie eine Stunde lang brüllte, bis sie vor lauter Anstrengung wieder einschlief - als müsste man die Bedürfnisse eines Babys einfach »austrocknen«. Jack machte Ellas häufiges Aufwachen nichts aus, er schlief meistens einfach weiter. Sam log den Kinderarzt und ihre Freundin Melanie an und behauptete, Ella schliefe die ganze Nacht durch, weil sie ihre eigene Nachgiebigkeit nicht eingestehen wollte. Sam hatte sich in eine Mutter von der Art verwandelt, die sie früher verachtet hatte: in eine windelweiche Glucke, in das Dienstmädchen der kaiserlichen Hoheit. Der Regen hatte aufgehört, und die vornehme Wohngegend leuchtete vom strahlenden Gelb und Rot der herbstlichen Blätter. Ella wand sich und quäkte, während sie an ihrer Mutter hochzuklettern versuchte. »Okay, mein Baby«, sagte Sam. »Los geht's.« Ihr Handy klingelte in dem Moment, als sie aus dem Auto stieg und gleichzeitig Ella und die Babysachen im Arm balancierte. Sie stieß sich das Knie an der Autotür und ließ die Windeltasche fallen. Mit einem kurzen »Hallo« meldete sie sich und versuchte, das Baby davon abzuhalten, aus ihren Armen zu schlüpfen. »Hallo«, antwortete Jack. »Alles in Ordnung?« »Geht so. Ich bin gerade auf dem Weg zu Melanie.« »Ach, entschuldige, ich dachte, du wärst schon allein. Ich bin stolz auf dich, weißt du«, sagte er. »Es ist ja bloß ein Babysitter.« »Trotzdem.« »Tja, schauen wir mal, wie's läuft.« Sie spürte, dass sie ihn wieder liebte. Seit das Baby auf der Welt war, dachte sie oft, sie müsste ihre Gefühle für ihn ständig neu justieren. »Der Wurzeltyp kommt heute«, sagte Jack. »Ich weiß«, antwortete sie schnell und gereizt. Sie hatte es natürlich vergessen. Die Wurzeln des großen Ahorns im Vorgarten waren ihren Abwasserleitungen in die Quere gekommen und mussten alle sechs Monate herausgebohrt werden. Manchmal lag Sam wach und spürte, wie das Haus um sie herum zusammenfiel, das Fundament aufriss und der Boden ihr unter den Füßen wegbrach. Was für eine durchsichtige Metapher, kicherte sie in sich hinein, aber sie fühlte sich trotzdem machtlos gegenüber der Vorstellung, ihr Haus würde schneller zerfallen, als sie es reparieren konnten. Einmal, als sie Ella gerade badete, war sie sich fast sicher gewesen, die Wanne mit den gusseisernen Füßen würde jeden Moment durch die aufgeweichten Dielen in den Keller hinunterkrachen. »Hey, erinnerst du dich, wie ich dir erzählt habe, dass das Komitee nach einem Nachfolger für David sucht? Dass Samuels einen theorielastigen Menschen will, obwohl wir dann niemanden mehr für Modernes Amerikanisch hätten?« »Mhmm.« Sam wusste nicht viel darüber, wie der abgehobene akademische Betrieb funktionierte, aber Jack hatte wohl auch keine Ahnung, was Raku bedeutete, was Terra Sigillata war oder dass sich eine glänzende braunschwarze Temmoku-Glasur beim Salzbrand gelbgrün färbte. Der Beruf des anderen blieb auf gewisse Art ein Geheimnis, und Einzelheiten darüber waren ihnen beiden fremd. Sie fragte sich, ob diese Tatsache für ihre Arbeit gefährlich oder notwendig war - oder beides zusammen. Jack senkte die Stimme. »Hier geht gerade einiges vor sich.«
»Dadadadada«, plapperte Ella und zog mit ihrer kleinen Hand an Sams Haaren. »Ich muss los«, sagte Sam zu Jack. »Ich rufe dich später noch mal an.« Sam hockte sich hin, um die Windeln aufzuheben, die jetzt nass und dreckig geworden waren, und angelte mit der freien Hand nach dem Schnuller, der unter das Auto gerollt war, ständig auf der Hut, den Kopf des Babys nirgends anzuschlagen. Dann stand sie wieder auf, blies sich die Haare aus dem Gesicht und trat die Autotür mit dem Fuß zu. »Auf geht's, mein Schatz«, murmelte sie. »Gehen wir rein, okay? Ich bin nur ein paar Stunden weg. Das ist doch gar nicht so schlimm.« Manchmal dachte Sam, das Baby erlaube ihr, sich wie eine Verrückte zu benehmen, in der Öffentlichkeit Selbstgespräche zu führen und sogar zu singen - und das nicht immer nur, um das Kind zu beruhigen. Ihr altes Selbst hätte sich über sie kaputtgelacht. »Samantha!« Melanie winkte von der Veranda herüber. Ihr Haar war kunstvoll zerzaust und mit geschmackvollen Strähnchen verziert. Sie trug teure Jeans und eine olivfarbene Jacke aus Crash- Samt. Ihr Geschmack unterschied sich deutlich von dem modefreien Müsli-Stil, der so typisch für Madison war. Sie und ihr Mann Doug, ein Professor für Anthropologie, waren aus San Francisco hergezogen. Sie beschwerte sich oft über den provinziellen Anstrich Madisons, die unangenehmen Sprechpausen der Einheimischen und den Mangel an Ironie und Coolness. Trotz allem genoss sie es, eine große Nummer zu sein, eine Schriftstellerin - ihr Buch war verfilmt worden - und eine lokale Berühmtheit. Jack fand sie aggressiv und maßlos - und attraktiv, da war Sam sich sicher -, aber er mochte Doug, der ein ruhiger und intelligenter Typ war. Die beiden Paare hatten sich schnell angefreundet. Ihre Treffen fanden allerdings nicht so oft statt, dass man sich davon genervt fühlte. Melanie und Sam hatten sich vor mehr als drei Jahren im Yogakurs kennengelernt. Beide waren neu in Madison und schwanger gewesen. Und als Sam in der achtzehnten Schwangerschaftswoche mit dem Yoga aufgehört hatte, war Melanie für sie da gewesen, und dafür würde Sam ihr ewig dankbar sein. Melanie hatte ein gewisses Selbstbewusstsein und eine ungekünstelte, direkte Art, die Sam dazu gebracht hatte, ihr die Wahrheit über das erste Baby anzuvertrauen. Tatsächlich war Melanie sogar der einzige Mensch außer Jack, der davon wusste. Alle anderen, selbst ihre Mutter, glaubten, die damalige Schwangerschaft wäre mit einer Fehlgeburt zu Ende gegangen. Sam versuchte gerade, sich daran zu erinnern, aber Melanie lenkte sie ab. Sie schob Ella auf ihrer Hüfte wieder ein Stückchen höher. »Hallo.« Sam lächelte. »Du siehst toll aus, wie immer.« »Deine Ansprüche sind gesunken. Komm rein. Dieses Wetter ist ja das Letzte.« Melanies Tochter Rosalee stolperte vorbei und verschwand nach oben. Melanie nahm Sam das Baby aus dem Arm und drückte es an sich. »Schau dir diese Bäckchen an. Ach, ist die süß, das ist ja kaum auszuhalten. Du weißt ja, ich will wirklich keins mehr, aber manchmal sehne ich mich danach, ein Kind auf die Welt zu bringen. Ich gaffe schwangere Frauen an. Ich nehme diese lächerlichen Babygeschichten im Fernsehen auf und schaue sie mir eine nach der anderen an, mit verklärtem Blick.« »Ich bin mir sicher, dafür gibt es eine Selbsthilfegruppe«, sagte Sam und stellte die Windeltasche auf die glänzend polierte Arbeitsplatte. Sie wunderte sich über Melanies Eingeständnis - das machte sie in Sams Augen nur noch sympathischer. »Erzähl es bloß niemandem. Ich will meinen Herz-aus- Stein-Ruf nicht verspielen.« »Glaub mir, ich kann dich verstehen«, erwiderte Sam. »Ich hätte nie gedacht, dass sich mein Kopf so schnell meinem Körper unterwerfen würde. Oder vielleicht eher dem Drang nach Vermehrung.« »Igitt«, kreischte Melanie. »Und ich dachte, wir wären hoch entwickelt!« Sam schaute sich in der frisch renovierten Küche um: ein Extrahahn für kochendes Wasser über dem Herd, eine riesige, rechteckige Spüle im altmodischen Stil, ein Küchenblock, ein riesiger Kühlschrank der Firma Sub-Zero. Sie fragte sich, ob sie das alles den Filmtantiemen verdankten oder ob sie eine Erbschaft gemacht hatten. Dougs Professorengehalt reichte dafür jedenfalls nicht aus. Melanie hatte fürs Erste genug und reichte Sam das Baby zurück. Ihr großer Saphirring - »Diamanten sind so protzig« - blieb an Ellas Pullover hängen. »Mist, tut mir leid«, rief sie und befreite sich. »Übrigens, der Pulli ist wirklich niedlich.« »Hat meine Großmutter für mich gestrickt. Vor Urzeiten«, antwortete Sam. Die Mutter ihrer Mutter war gestorben, als Sam noch ein Kleinkind war, und Sam hielt die kleinen Pullis und Decken, alle mit dem Aufnäher »Von Oma gemacht«, in Ehren. »Aha. Du hast das handwerkliche Talent also im Blut«, bemerkte Melanie. Sam lächelte, fühlte aber einen kleinen Stich. Natürlich war die Töpferei ein Handwerk im traditionellen Sinne, und sie war stolz darauf, dass ihre Keramik zu etwas nütze war. Aber waren ihre ineinander verschachtelten Flaschen mit Craquelé- Glasur weniger Kunst als Melanies Buch über eine Frau und deren Beziehung zu einem Jack-Russell-Terrier? Melanie nimmt die Komplimente, die sie bekommt, ernst, dachte sie. Sam setzte Ella auf den Boden, damit sie auf den Terrakotta- Fliesen herumkrabbeln konnte. Melanie stürzte den Rest ihres Kaffees herunter, und Sam bemerkte, dass der Becher von ihr war: in ihrem frühen Stil gehalten, kurvig geformt, milchig weiße Shino-Glasur mit tieforangenen Einsprengseln. Er war in einem Ofen gebrannt worden, um dessen Holzfeuer Sam sich zehn Stunden lang gekümmert hatte. Sie hatte sich dabei die Augenbrauen angesengt, und sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl freudiger Erregung, als sie am nächsten Tag die Ofentür geöffnet hatten, um nachzusehen, was aus ihren Werken geworden war. Der Boden des Bechers war ein bisschen zu schmal, stellte sie jetzt fest, und ein Tropfen Glasur war verlaufen und hing unter dem Henkel fest. Sam schämte sich für die abfälligen Gedanken über ihre Freundin, die immer loyal zu ihr gewesen war. Was ist bloß los mit mir?, dachte sie. Wie kindisch. Wie unattraktiv, hätte ihre Mutter gesagt. »Ach, das erinnert mich an was«, rief Melanie. »Wenn heute alles gut läuft, kannst du Ella in Zukunft ein paar Tage pro Woche hier abgeben. Sarah sagte mir, sie hätte gern mehr Arbeit. Ihr würde es also passen.« Sam sackte innerlich zusammen. Bevor sie entgegnen konnte, dass sie noch nicht so weit war, hatte Ella sich den Kopf an einem Schubladengriff gestoßen und fing nach einer langen Pause, in der ihr Gesicht dunkelrot anlief und ihr Mund sich weit öffnete, zu heulen an. Sam eilte zu ihr, nahm sie hoch und drückte sie an sich, während Ellas Schreie sie im Inneren schmerzten. Sie spürte, wie ihre Brüste sich mit Milch füllten und zu tropfen begannen. »Denk einfach darüber nach und sag mir Bescheid, ja? Das würde dir guttun. Wenn das Geld das Problem ist, finden wir eine Lösung.« Melanie schwenkte ihre manikürte Hand durch die Luft. »Ich fände es ganz, ganz, ganz toll, wenn du wieder mit dem Töpfern anfangen würdest.« Rosalee, deren dunkle Haare zu einem Bob geschnitten waren, kam hereingestürmt und fiel gegen die Beine ihrer Mutter. »Pass doch bitte auf!« »Mama«, sagte Rosalee. »Mama. Mama. Mama.« Melanie seufzte. »Ja, Rosa.« »Saft, Saft, Saft, Saft.« Melanie füllte etwas Apfelsaft in einen Kinderbecher und goss ihn mit der gleichen Menge Wasser auf. »Sarah?«, rief Melanie nach der Nanny. Dann sagte sie leise zu Sam: »Sie hätte um neun anfangen sollen.« »Ich komme sofort!« Sarah kam die Treppe herunter und erschien in der Küche. Sie war eine sogenannte »Sconnie«, eine Studentin an der Universität von Wisconsin, mit rundem Apfelgesicht und stabilem Körperbau, im Gegensatz zu den »Coasties«, den kultivierteren, wohlhabenden Kids aus New York und Kalifornien, die nicht auf dem Campus wohnten und Sushi aßen. »Tut mir leid. Hallo«, rief Sarah und winkte Sam zu. »Oh, und wen haben wir denn da?« Ella lächelte, als Sarah zärtlich an ihre kleine Nase tippte. »Hallo, Sarah«, sagte Sam. »Hier ist ihre Windeltasche. Ich lege ihre Gläschen in den Kühlschrank. Eins mit Kürbis und eins mit Süßkartoffeln. Und noch ein paar Cheerios. Sie macht nicht viele Nickerchen, aber sie schläft in einem Tragetuch ein, wenn du nichts dagegen hast, sie mit dir herumzuschleppen. Ach ja, und sie kann ganz gut aufrecht sitzen, aber du musst auf sie aufpassen, weil sie noch nicht so viel Kraft hat und umfallen und sich verletzen könnte.« »Kein Problem«, erwiderte Sarah. Sie strahlte eine warmherzige Zuversicht aus, die Sam nie zustande gebracht hatte. »Wir zwei werden ganz viel Spaß miteinander haben.« Melanie verschränkte die Arme und lächelte. Sams Nervosität amüsierte sie. Fachmännisch legte Sarah die Trageschlinge um ihren Körper und wartete darauf, dass Sam ihr das Baby übergab. »Und meine Handynummer ...« »Klebt schon am Kühlschrank«, unterbrach Melanie sie und nahm ihre Schlüssel von einem Zinnhaken. Sie hatte ein Büro neben dem Weinladen auf der Monroe Street, in dem sie jeden Tag bis vier schrieb. Melanie hatte schon wieder gearbeitet, als Rosalee erst vier Wochen alt war, und es nie bereut, wie sie stets betonte. Sie ließ nicht zu, dass ihre kreative Seite, ihre Karriere, hintanstehen musste. »So ist es besser für alle«, hatte sie erklärt, »nicht zuletzt natürlich für mich selbst.« Damals war Sam beeindruckt von Melanies Vorbild gewesen, aber nachdem sie Ella geboren hatte, fand sie ihre Freundin egoistisch. »Mama, Mama, Mama, Mama. Komm zu mir. Komm in mein Zimmer«, bettelte Rosalee und zog ihre Mutter an der Hand. »Hey, Rosalee«, sagte Sarah. »Zeig mir doch mal dein neues Pocahontas-Kleid!« Rosalee schob die Unterlippe vor und stampfte mit dem Fuß auf. Sam übergab Ella an Sarah und bemühte sich, dabei nicht in Tränen auszubrechen. Glaub mir, Samantha, du wirst dich dran gewöhnen«, beschwor Melanie sie. Aus Sarahs Armen lächelte Ella ihre Mutter an, mit ihren sechs winzigen Zähnchen; zwischen den beiden vorderen war eine Lücke. Ihre Augen leuchteten graublau und wirkten riesengroß in dem kleinen Gesicht. Sarah schob Ellas kräftige Beine in die Trageschlinge. Dann nahm sie Rosalees Hand und flitzte mit einem über die Schulter gerufenen »Tschüss« aus dem Zimmer. »Ich bringe dich raus«, sagte Melanie und griff nach ihrer Laptoptasche. Sam war es peinlich, gerade vor Melanie zu weinen, die immer über die Öko-Mami-Kultur von Madison lästerte. »Lasst mich zufrieden mit diesem Hippie-Scheiß«, rief sie gerne. Die Sonne kam durch die Wolken und fühlte sich warm auf Sams Kopf an. »Wir hören voneinander«, sagte Melanie. »Geh zurück ins Atelier, meine Liebe. Okay?« Sie umarmten sich, und Melanie stöckelte in ihren hohen Schuhen Richtung Monroe Street. Sam stand neben der offenen Autotür und spitzte die Ohren, weil sie glaubte, durch das Vogelgezwitscher und einen Laubsauger in der Ferne hindurch Ella schreien zu hören. Aber sie war sich nicht ganz sicher. Sie setzte sich ans Steuer. Jetzt hätte sie gerne ihre Mutter angerufen. Sie wählte Jacks Nummer. »Und?« »Ich bin wieder draußen, und sie ist da drin.« »Du hast es geschafft«, sagte er. »Ich fühle mich nicht befreit.« »Das brauchst du auch gar nicht.« »Ich denke, ich fahre dann mal nach Hause.« »Dein Atelier wartet auf dich.« »Ich habe Angst.« »Ich weiß. Versuch einfach nur, wieder ein Gefühl für die Sachen zu kriegen. Pack es an. Putz die Spinnweben weg.« »Das muss ich wirklich. Hast du gesehen, wie es dort aussieht? Wie in Geschichten aus der Gruft«. »Ich dachte, ich bringe zum Abendessen was von Matsuya mit.« »Was, wenn ich's nicht mehr hinkriege?« »Sam.« »Na gut. Ich vermisse sie jetzt schon.« »Du bist eine gute Mom.« »Das Übliche. Scharfer Thunfisch und Shrimp-Tempura.« »Ich stehe kurz vor der Festanstellung.« »Schon? Was ist passiert?« »Im Fachbereich gibt es gerade ziemliche Umwälzungen. Daniels haben sie zum Jahresende in Pension geschickt. Ich glaube, das Timing passt.« »Wow. Das ist ja Wahnsinn. Aber ich hab schon immer gewusst, dass du ein echter Gewinnertyp bist.« »Noch ist nicht entschieden, ob ich sie wirklich bekomme.« »Du bekommst sie. Du bekommst alles.« Sie meinte das als Kompliment, denn er war einer von denen, die alles ergatterten, worum sie sich bewarben: jede Förderung, jeden Job, jedes Forschungsstipendium. Er war jemand, der gemocht wurde, weil er so lässig wirkte; tatsächlich aber war er ein kluger und ehrgeiziger Mann. Ihre Worte hingen einen Moment zu lang in der Luft, und sie konnte nicht einschätzen, ob sie vielleicht ein bisschen verbittert geklungen hatte. Oder ob sie gemein gewesen war. »Das ist nicht wahr«, widersprach er. Wenn er sich getroffen fühlte, versteckte er es jedenfalls gut. »Ich erzähle dir später mehr.« »Ich liebe dich«, sagte sie. »Ich dich auch. Äh, Sam?« »Ja.« »Ich will dich nicht wieder nerven. Aber ...« »Die Teekanne.« »Ich brauche Franklins Unterstützung. Er ist noch unschlüssig, und ich will ihm keinen Anlass geben. Letzte Woche hat er mich danach gefragt.« Sam verbarg das Gesicht in ihrer freien Hand. Sie musste den Korpus, die Tülle und den Deckel formen, die Basis herausarbeiten, einen Henkel ziehen, die Einzelteile zusammensetzen und dabei sicherstellen, dass alles funktionierte, dass der Tee sich gut ausgießen ließ, dass die Kanne trotz allem elegant und leicht wirkte, mit glatten Übergängen und dynamischen Linien. Dann der Schrühbrand, der unter Umständen Risse oder Krümmungen hervorbringen konnte, was bedeuten würde, dass sie ganz von vorne beginnen musste. Nach diesem Schritt zerbrach sie sich für gewöhnlich den Kopf darüber, welche Farben am besten zur Form passen würden, mischte akribisch Chemikalien und Mineralien und trug die Glasur auf. Dann folgte ein weiterer Brennvorgang. Als sie an die vielen Arbeitsschritte nur dachte, fühlte sie sich erschöpft und rang nach Luft. »Wann?«, war alles, was sie herausbekam. »In zwei Wochen.« Sam ließ den Kopf auf das Steuer fallen. »Ach, Jack.« »Das kannst du schaffen. Ich weiß, dass du's kannst. Für mich.« Sam warf das Handy auf den Beifahrersitz und atmete tief durch. Sie blickte zurück zu Melanies Haus und ließ das Auto an, bereit, sich von Ella zu trennen. Aber sie konnte jetzt nicht nach Hause fahren und ins Atelier gehen. Ein ungewohntes Gefühl breitete sich in ihr aus: Es war, als schneide jemand ihre Fesseln durch. Der ganze Tag lag vor ihr. Sie konnte tun, wozu sie Lust hatte.
Violet hopste über das regennasse Kopfsteinpflaster und lachte. In der Luft hing der Geruch von Fisch und Ruß, aber sie war ihn gewohnt und mochte ihn. Die Sonne war gerade durch die Wolken gedrungen, und der Morgen im Schatten der Großen Brücke war noch kühl. Der Himmel leuchtete wasserblau. Sie blieb auf dem kleinen Hügel an der Roosevelt Street stehen und betrachtete die wenigen Schiffe auf dem East River, die mit ihren schwarzen Masten und schmutzigen Segeln langsam unter der Brücke hindurchglitten. Sie war noch nie drüben in Brooklyn gewesen, hatte noch nicht einmal die Brücke betreten, die dorthin führte, aber sie hatte keine Angst, etwas zu verpassen. Boston vielleicht oder Kalifornien oder irgendein anderer Ort, von dem sie gehört hatte - ja, das wäre etwas ganz anderes. Violet war im Morgengrauen durch ein Fenster bei der Waschküche geklettert und aus dem Heim weggelaufen. Zwei Wochen mit geordnetem Tagesablauf lagen hinter ihr: die stündlichen Glockenschläge, das Frühstück aus Brot und Sirup, das Mittagessen aus Brot und Milch, das Abendessen aus Suppe, die Bibelstunde mit den frommen Damen, die jeden Abend kamen, um die Seelen der Kinder, die in diesem zarten Alter immer noch gerettet werden konnten, reinzuhalten. Ganz sicher würde sie die heiseren Schreie der Babys mit ihren rosafarbenen Gesichtern und verschleimten Näschen nicht vermissen, und auch nicht ihre schwerfälligen Ammen - italienische Frauen mit dichten Augenbrauen und üppiger Oberweite, die den Kindern auf dem Weg in den Säuglingssaal mürrische Blicke zuwarfen. Dass sie das heutige Bad verpasst hatte, tat ihr allerdings leid. Sie war schmutzig, ihre Fingernägel hatten Trauerränder, und ihr Kopf juckte. Bei der Aufnahme ins Heim hatte man ihr die langen schwarzen Haare abgeschnitten, sodass nur noch ein kurzer Schopf mit einem gezackten Pony hoch über der Stirn zu sehen war. Die Aufseherin, Miss Nickle, hatte gesagt, dadurch würden ihre Augen hübscher und blauer wirken. Violet fand nicht, dass das wirklich ein Vorteil war, aber ihr gefiel, dass sie sich unbeschwerter fühlte ohne das ganze Haar. Sie glaubte, mit dieser Frisur wäre sie nicht so leicht zu fangen. Ein seltener, ruhiger Moment war im Viertel angebrochen: der kurze Augenblick, in dem die Nacht aus- und der Tag einatmete. Kein Getrappel von Kutschpferden war zu hören, keine tuckernden Automobile, selbst die Hochbahn dröhnte und quietschte noch nicht. Der Fourth Ward war ein Teil der East Side, in dem drangvolle Enge herrschte. Hier gab es Mietshäuser, Docks, Pensionen, Kneipen, Tanzlokale, Fabriken, Geschäfte, Lagerhäuser, ein Schlachthaus, eine Knochenleimfabrik, eine Gerberei, ein Kohlenlager, ein Missionsbüro, einen Dung-Abladeplatz und ein Polizeirevier. Kein Gras, keine Bäume, keine offenen Flächen außer dem Fluss. Wie in einem Bienenstock wanden sich viele kleine, dunkle Gassen in alle Richtungen; für Fremde war die Gegend gefährlich, aber Violet war froh, wieder zurück zu sein. In ihrem dünnen Musselin-Kleid und der karierten Schürze vom Heim fror sie im Wind, der um die Anlegeplätze pfiff. Die Takelage der im Hafen liegenden Schiffe schlug gegen die Masten, als sie die South Street entlangging, vorbei an schmutzigen Kindern, die sich zum Schlafen in verladebereite Fässer und Kisten gequetscht hatten. Müll- und Aschewagen warteten darauf, ihre dreckige Fracht auf einen Lastkahn im Fluss zu kippen. Violet drückte die Nase in die Ellenbeuge. Wenigstens war noch nicht Sommer; da wurden die Bewohner der Mietshäuser nämlich von der Ruhr heimgesucht, und der Gestank wurde unerträglich. Sie ging weiter zur Water Street und trat über den Rinnstein, durch den verdrecktes Wasser strömte. Langsam erwachte die Nachbarschaft. Die Geschäftsinhaber schlossen ihre Läden auf, übers Ohr gehauene Matrosen schlichen zu ihren Quartieren zurück, die Nachtschicht-Arbeiter der Kartonfabrik waren auf der Suche nach billigem Rum, die Lumpensammler durchstöberten die Hinterlassenschaften der Zecher nach Brauchbarem. Violet schaute hoch, in den zweiten Stock über den Gemüseladen, aber es war noch zu früh für die Frauen in den Fenstern - sie boten ihre Dienste immer erst mittags an. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite durchsuchten die beiden Dugan-Jungs die Taschen eines Betrunkenen, der vor einer Spielhölle namens »The Tiger Eye« lag. Der Ältere hatte kupferfarbenes Haar und Sommersprossen, während das Haar des jüngeren Bruders dunkel war und seine Haut einen olivfarbenen Ton hatte. Die anderen Kinder ärgerten sie, indem sie ihre Mutter ein Flittchen oder ein Matrosenliebchen nannten. Aber sie waren bloß neidisch. Wer im Fourth Ward wohnte, sehnte sich im Stillen danach, überhaupt eine Mutter zu haben. »Was habt ihr gekriegt?«, rief Violet, als sie die Straße überquerte und sich zu den Jungs gesellte. Sie hatte schnell gelernt, worauf es in der Großstadt ankam, und sie war selbst oft als Taschendiebin unterwegs. Ihr gefiel das Überraschungsmoment daran: Man wusste nie, was man ergatterte. Ein Stück Lakritze, ein Kartenspiel, ein Goldnugget - das alles konnten geschickte Finger erbeuten. Der ältere Junge hielt ihr seine schmutzige Handfläche hin, auf der ein Nickel und zwei Pennys lagen. Violet versuchte, danach zu greifen, aber er zog die Hand schnell wieder weg. »Wenn du kein Mädchen wärst, würde ich dich jetzt schlagen «, sagte er. Um ihn zu ärgern, legte Violet einen flotten Shuffle Ball Change hin, einen Stepptanzschritt, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte. »Sie haben dich ins Heim gesteckt, hm?«, fragte er. »Bin heute Morgen abgehauen.« »Gut«, antwortete er. »Sie hätten dich vielleicht in einen dieser Züge gesetzt.« Im Heim hatte sie Gerüchte über die Züge gehört, aber sie wusste nicht, wo die Züge hinfuhren oder warum sie dafür Kinder wollten. Sie hatte die Damen vom Hilfskomitee in ihren schwarzen Mänteln beobachtet, wie sie sorgenvoll herumhuschten und einige der jüngsten Kinder am Handgelenk festhielten - die hatte sie nie wieder gesehen. Der jüngere Bruder rieb sich die laufende Nase und trat gegen den Fuß des Betrunkenen. »Lass das«, befahl ihm der Ältere und ließ die erbeuteten Münzen in seiner Hand klimpern. »Hey, Red«, sagte Violet. »Hast du Nino gesehen?« »Nee. Hab gehört, dass ein paar von den Zeitungsjungen erwischt worden sind.« Der Wirt kam durch die Schwingtüren nach draußen und leerte einen Eimer Waschwasser in den Rinnstein aus. Als er die Jungen sah, hob er drohend die Hand, als wolle er zuschlagen. »Haut bloß ab«, bellte er ihnen nach, als sie wegliefen. »Und du auch«, knurrte er Violet an. Sie streckte ihm die Zunge heraus und sprang in das übel riechende Wasser, sodass es auf seine Füße spritzte. Die Brühe sickerte durch die Sohlen in ihre Stiefel hinein, aber das war es wert gewesen, dachte sie, Rache ist süß. Als sie sich dem Missionsbüro näherte, sah sie die Frauen vom Hilfskomitee, die in schwarzen Wollkleidern und steifen Hauben über puritanisch strengen Frisuren auf der Straße umherliefen. Vor sich hatten sie Körbe voller Süßigkeiten, die sie den Kindern schenkten, die sich zu ihnen hinwagten - die Sehnsucht nach Süßem war größer als die Angst vor den Autoritätspersonen. »Na, junger Mann«, sagte die älteste der Frauen, deren Nase wie ein kleiner Kürbis aussah, zu einem Jungen mit verschmiertem Gesicht und bloßen Füßen. »Möchtest du bei einer netten christlichen Familie leben?« Der Junge griff sich eine Handvoll Süßigkeiten und machte sich eilig davon. Drei kleine Mädchen, höchstens fünf Jahre alt, saßen auf dem Bordstein. Eine der Frauen wies ein paar schmuddelige Jungen an, sich neben die Mädchen zu setzen. »Der Zug fährt morgen ab! Ihr bekommt warme Mahlzeiten. Saubere Kleider. Braucht ihr eine Mutter und einen Vater? Habt keine Angst, Kinder. Kommt zu uns.« Zwei dunkelhäutige Jungen bekamen Süßigkeiten und wurden wieder weggeschickt. Dann begannen die Frauen zu singen: »Nahen sieht man all die armen Bettler, suchen flehend Arbeit in der Stadt, krümmen sich in Kälte, Not und Hunger, warten trostlos, werden niemals satt. Tief im Dunkeln kriecht der Strom des Elends, eines Sünders Leiche liegt am Grund. Manchen armen, hoffnungslosen Teufel fraß voll Gier und Lust sein Höllenschlund.« Violet stellte sich hinter einen Laternenpfahl und sah zu, wie sich die verwahrlosten Kinder sammelten; alle hatten einen Lutscher im Mund und wirkten froh, endlich in Obhut zu sein. Die Frauen führten das Grüppchen die Straße herunter zu einer wartenden Kutsche. Violet war dankbar, dass sie eine Mutter hatte. Sie musste sie bloß noch finden. Sie machte sich auf in Richtung des Missionsbüros. Natürlich war ihr klar, dass ihre Mutter dort nicht sein würde - Lilibeth war nie verzweifelt genug für Gott -, aber sie schaute trotzdem nach. Reverend Mackerel, dessen dunkler Bart bis auf seine Hemdbrust reichte, lief vor einer bunt gemischten Ansammlung von Gottessuchern auf und ab - heute Morgen waren es hauptsächlich Betrunkene und Seeleute. Er schrie seine Predigt heraus, die gleiche Geschichte wie jeden Tag. »Wenn der Himmel fünf Dollar Eintritt gekostet hätte, hätte ich trotzdem alles für den Fusel ausgegeben, wenn eine Spelunke in Spuckweite wäre. Ihr meint, ihr könntet nicht gerettet werden? Jesus hat nach mir gerufen, so wie er andere arme Schlucker gerufen hat. Glaubt ihr nicht, dass sein Arm lang genug ist, um eintausendneunhundert Jahre zu überbrücken und nach euch zu greifen?« Violet besah sich das Publikum und schlich sich dann zum Ausgang. »He, Mädchen«, rief Reverend Mackerel und deutete auf sie. Sein linkes Auge quoll hervor. »Ich hab nur nach meiner Mutter gesucht«, erklärte sie. »Ich guck am besten weiter.« Schnell glitt sie nach draußen, damit er sie gar nicht erst auffordern konnte, sich hinzusetzen. Bevor Violet ins Heim gekommen war, hatte sie mit Lilibeth einen Monat lang in einem Hinterzimmer in der Frankfort Street gewohnt. Als sie ihre Bleibe bezogen hatten, waren die Wände frisch geweißt und die Fenster geputzt gewesen. In diesen letzten kalten Wintertagen hatten sie es sehr geschätzt, ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber als es wärmer wurde, mussten sie die Fenster geschlossen halten und Lumpen in die Rahmen stopfen, weil sonst der schwarze Staub aus dem Kohlenlager und der Gestank der Gerberei nebenan hereinkamen. Sie konnten die grünen Häute, die zum Trocknen aufgehängt waren, vom Fenster aus sehen. Am Eingang des Mietshauses blieb Violet stehen und holte tief Luft, bevor sie auf die Bretterbrücke über den Abwasserkanal trat. Im Hof pumpten Frauen Wasser in ihre Waschzuber, ein nacktes Baby schrie, und matschverspritzte Katzen balgten sich um ihre magere Beute. Sie klopfte an die Tür zu dem Zimmer, in dem sie und ihre Mutter zuletzt gelebt hatten. »Ein Hafenarbeiter wohnt jetzt drin«, sagte eine junge Frau. Sie war schwanger, und ihre Arme wirkten wie dürre Stecken. »Ich hab die Südstaaten-Dame schon lang nicht mehr gesehen. « Violet behielt ihre Enttäuschung für sich; wie einen festen Knoten schloss sie sie in ihrem Bauch ein, damit die Angst nicht aus ihr herausbrach. Sie hatte sich nicht viele Gedanken darüber gemacht, wie es nach ihrer Flucht aus dem Heim weitergehen sollte, und sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihre Mutter nicht finden würde. Ein Mädchen, das niemanden hatte, war leichte Beute. Doch sie wusste, wohin sie gehen musste. Wenn ihre Mutter Geld von einem ihrer Gönner bekommen hatte, war sie sicher bei Madam Tang. Als Violet zurück auf der Straße war, gab ihr Magen ein wütendes Knurren von sich. An der Ecke bemerkte sie einen Essenskarren. Der Besitzer war der einbeinige Sizilianer, der ihr nicht nachrennen konnte. Sie begann zu laufen, wurde schneller, griff sich zwei Bananen, riss die übrigen Stauden zu Boden und wetzte im Slalom weiter, hindurch zwischen Frauen mit großen Röcken und Männern mit Zylindern, die sie entweder nicht sahen oder zu gleichgültig waren, um auf die Rufe des alten Mannes zu reagieren. Sie schlängelte sich einfach durch den Verkehr, sodass die Fahrer ihr ärgerlich mit der Faust drohten, huschte durch die verstopften Straßen, rannte und rannte, bis sie keine Luft mehr bekam und anhalten musste. Hastig schlang sie ihre Beute hinunter und warf die Schalen in den Rinnstein. Die Sonne brannte heiß auf ihren Nacken. Einen kurzen Moment lang schloss sie die Augen und blendete alles aus: das Hufgetrappel, das Knirschen der Wagenräder im Schotter, das Klimpern der Pferdegeschirre, das Getucker der Motorfahrzeuge, das Stampfen und Zischen der Kartonfabrik, das Gemurmel der Unterhaltungen, die Schreie der Möwen. Sie versenkte sich in eine kühle, trübe Stille - in ihre Seele, vermutete Violet -, während die Welt um sie herum in einem schwindelerregenden Missklang dröhnte.
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Sam sehnte sich nach Pound Cake. Oder wenigstens danach, einen zu backen. Das Rezept war denkbar einfach: jeweils ein Pfund Mehl, Butter, Eier und Zucker - das war irgendwie elegant. Ihr gefiel auch, dass Pound Cake etwas richtig Altmodisches war, wunderbar handfest und überhaupt nicht angeberisch. Butterzart und reichhaltig. Wisconsin ist schuld daran, dachte sie. Die Bäume verfärbten sich schon. Der Zuckerahorn, dessen rotgoldene Blätter durch die regennasse Windschutzscheibe leuchteten, hatte den Anfang gemacht. Es war Oktober. Sam liebte diese Zeichen von edlem Verfall und vergänglicher Schönheit, die der Herbst mit sich brachte, und doch konnte sie nichts davon richtig genießen, denn der Winter würde schon bald folgen. Trockene Heizungsluft, aufgesprungene Lippen, windgerötete Wangen, Sand und Salz überall. Das wäre ihr dritter Winter in Madison, und sie fragte sich, wie sie ihn ertragen sollte: Schon um vier wurde es dunkel, und sie wäre im Haus eingesperrt mit Ella, die immer wendiger wurde und im Wohnzimmer umherkrabbelte. Sie saß auf dem Rücksitz und stillte das Baby. Auf der anderen Straßenseite lag das Haus ihrer Freundin Melanie, ein großer Bau im Arts-and-Crafts-Stil, nahe Vilas Park an der Westside. Mit dem Daumen strich sie über Ellas Stirn. Die Haut war porenlos und herzergreifend weich. Dann fuhr sie über die winzigen Windungen ihres Ohrs. Ella stützte sich mit ihrer warmen Babyhand an Sams Brust ab und schaute angestrengt drein. Sam fiel auf, dass sie bereits im Begriff war, die einzelnen Phasen der letzten acht Monate zu vergessen, so schnell wurde ein Meilenstein in Ellas Entwicklung vom nächsten abgelöst. Wann hatte sie zum ersten Mal gelächelt? Sich zum ersten Mal auf die andere Seite gerollt? Zum ersten Mal aufrecht gesessen? Das alles wäre schon bald in einem schwammigen Erinnerungsmischmasch verloren. Sie würde nur noch an die Zeit denken, in der Ella »ein Baby war«, und all die kleinen Details wären nicht mehr interessant oder wichtig. Heute würde sie Ella zum ersten Mal mit einem Babysitter alleine lassen. Eigentlich wollte sie das gar nicht, aber sie tat es, um Jack zu zeigen, dass sie normal war. Er hatte sie schon seit Monaten dazu gedrängt, zurück ins Atelier zu gehen. Sie wusste, dass er ihre Weigerung, sich von Ella zu trennen, und ihre Überzeugung, nur sie selbst könnte sich um das Baby kümmern, langsam beunruhigend fand. Jack hatte recht: So dachte Sam wirklich. Sie hatte enorme Angst davor, dass etwas schiefgehen könnte. Niemand konnte so wachsam und vorausschauend sein wie sie selbst. Was, wenn Ella fallen und sich am Kopf verletzen würde? Was, wenn sie einen Penny verschlucken und keine Luft mehr bekommen würde? Was, wenn sie von einer Biene gestochen und einen anaphylaktischen Schock erleiden würde? Manchmal hasste sie es, in erster Linie Mutter zu sein. Sie fühlte sich total von ihrer Tochter in Beschlag genommen, ständig genötigt, an ihrem Hals zu schnuppern, ihre Atemzüge zu beobachten, ihr Gewicht und ihre Wärme zu spüren. Jack amüsierte sich darüber, dass sie dauernd absurde Szenarien entwarf, und fragte sich, was mit der Frau passiert war, die bis dahin immer nur Gelassenheit ausgestrahlt hatte. Ein kleines Wesen von neun Kilo hatte ihr gemeinsames Leben über den Haufen geworfen und seine Frau in eine Fremde verwandelt. Aber es ging um mehr als nur darum, Ella bei einer fremden Person zu lassen. Da war außerdem die Sache mit dem Auftrag. Eine Teekanne für den Dekan der englischen Fakultät, einen Mann der alten Schule, auf dessen Wohlwollen Jack angewiesen war. Es war ein Geschenk für seine Frau, das er schon vor über einem Jahr bestellt hatte. Sam wusste, wie sehr Jack sich beherrschen musste, das Thema so viele Monate lang ruhen zu lassen. Seit dem sechsten Monat ihrer Schwangerschaft war sie nicht mehr im Atelier gewesen, weil ihr Bauch sie beim Arbeiten an der Töpferscheibe störte. Sie vermisste den feucht-kalkigen Geruch ihrer Keramik. Den hellen, weißgrauen Schein der halbfertigen Töpfe. Die zentrifugale Geburt einer Form, eines Gefäßes, aus einem Klumpen Ton. Sie schaffte etwas aus dem Nichts. Der Gedanke daran, zurück an die Arbeit zu gehen, machte ihr jetzt allerdings Angst. Sie musste totale Konzentration aufbringen, die Form spüren - sie konnte sich nicht hinter Ungenauigkeiten verstecken. Die ständige Furcht, ihre Hände würden nicht mehr ruhig und synchron arbeiten und sie hätte ihre Fähigkeiten und ihr Auge für das Material verloren, begleitete sie. Schlimmer noch, sie hatte Angst, ihre Werke könnten langweilig werden und irgendwann auf Kunstgewerbemärkten oder in einem Zelt auf dem Wochenmarkt landen, Angst, dass ihre Kreativität im Zuge ihrer Mutterschaft verloren gegangen wäre. Jetzt hingen Spinnweben zwischen den Fenstern und den Werkzeugen, und ein seltsamer kristallartiger Schimmel hatte sich auf dem Knettisch ausgebreitet. Ella zog den Kopf zurück, setzte sich gurgelnd auf und rülpste laut und zufrieden, während ihr ein Tropfen Milch über die Unterlippe rann. Sam stand immer noch mehrere Male in der Nacht auf, um sie zu stillen. Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass Ella sich müde schrie, dass sie eine Stunde lang brüllte, bis sie vor lauter Anstrengung wieder einschlief - als müsste man die Bedürfnisse eines Babys einfach »austrocknen«. Jack machte Ellas häufiges Aufwachen nichts aus, er schlief meistens einfach weiter. Sam log den Kinderarzt und ihre Freundin Melanie an und behauptete, Ella schliefe die ganze Nacht durch, weil sie ihre eigene Nachgiebigkeit nicht eingestehen wollte. Sam hatte sich in eine Mutter von der Art verwandelt, die sie früher verachtet hatte: in eine windelweiche Glucke, in das Dienstmädchen der kaiserlichen Hoheit. Der Regen hatte aufgehört, und die vornehme Wohngegend leuchtete vom strahlenden Gelb und Rot der herbstlichen Blätter. Ella wand sich und quäkte, während sie an ihrer Mutter hochzuklettern versuchte. »Okay, mein Baby«, sagte Sam. »Los geht's.« Ihr Handy klingelte in dem Moment, als sie aus dem Auto stieg und gleichzeitig Ella und die Babysachen im Arm balancierte. Sie stieß sich das Knie an der Autotür und ließ die Windeltasche fallen. Mit einem kurzen »Hallo« meldete sie sich und versuchte, das Baby davon abzuhalten, aus ihren Armen zu schlüpfen. »Hallo«, antwortete Jack. »Alles in Ordnung?« »Geht so. Ich bin gerade auf dem Weg zu Melanie.« »Ach, entschuldige, ich dachte, du wärst schon allein. Ich bin stolz auf dich, weißt du«, sagte er. »Es ist ja bloß ein Babysitter.« »Trotzdem.« »Tja, schauen wir mal, wie's läuft.« Sie spürte, dass sie ihn wieder liebte. Seit das Baby auf der Welt war, dachte sie oft, sie müsste ihre Gefühle für ihn ständig neu justieren. »Der Wurzeltyp kommt heute«, sagte Jack. »Ich weiß«, antwortete sie schnell und gereizt. Sie hatte es natürlich vergessen. Die Wurzeln des großen Ahorns im Vorgarten waren ihren Abwasserleitungen in die Quere gekommen und mussten alle sechs Monate herausgebohrt werden. Manchmal lag Sam wach und spürte, wie das Haus um sie herum zusammenfiel, das Fundament aufriss und der Boden ihr unter den Füßen wegbrach. Was für eine durchsichtige Metapher, kicherte sie in sich hinein, aber sie fühlte sich trotzdem machtlos gegenüber der Vorstellung, ihr Haus würde schneller zerfallen, als sie es reparieren konnten. Einmal, als sie Ella gerade badete, war sie sich fast sicher gewesen, die Wanne mit den gusseisernen Füßen würde jeden Moment durch die aufgeweichten Dielen in den Keller hinunterkrachen. »Hey, erinnerst du dich, wie ich dir erzählt habe, dass das Komitee nach einem Nachfolger für David sucht? Dass Samuels einen theorielastigen Menschen will, obwohl wir dann niemanden mehr für Modernes Amerikanisch hätten?« »Mhmm.« Sam wusste nicht viel darüber, wie der abgehobene akademische Betrieb funktionierte, aber Jack hatte wohl auch keine Ahnung, was Raku bedeutete, was Terra Sigillata war oder dass sich eine glänzende braunschwarze Temmoku-Glasur beim Salzbrand gelbgrün färbte. Der Beruf des anderen blieb auf gewisse Art ein Geheimnis, und Einzelheiten darüber waren ihnen beiden fremd. Sie fragte sich, ob diese Tatsache für ihre Arbeit gefährlich oder notwendig war - oder beides zusammen. Jack senkte die Stimme. »Hier geht gerade einiges vor sich.«
»Dadadadada«, plapperte Ella und zog mit ihrer kleinen Hand an Sams Haaren. »Ich muss los«, sagte Sam zu Jack. »Ich rufe dich später noch mal an.« Sam hockte sich hin, um die Windeln aufzuheben, die jetzt nass und dreckig geworden waren, und angelte mit der freien Hand nach dem Schnuller, der unter das Auto gerollt war, ständig auf der Hut, den Kopf des Babys nirgends anzuschlagen. Dann stand sie wieder auf, blies sich die Haare aus dem Gesicht und trat die Autotür mit dem Fuß zu. »Auf geht's, mein Schatz«, murmelte sie. »Gehen wir rein, okay? Ich bin nur ein paar Stunden weg. Das ist doch gar nicht so schlimm.« Manchmal dachte Sam, das Baby erlaube ihr, sich wie eine Verrückte zu benehmen, in der Öffentlichkeit Selbstgespräche zu führen und sogar zu singen - und das nicht immer nur, um das Kind zu beruhigen. Ihr altes Selbst hätte sich über sie kaputtgelacht. »Samantha!« Melanie winkte von der Veranda herüber. Ihr Haar war kunstvoll zerzaust und mit geschmackvollen Strähnchen verziert. Sie trug teure Jeans und eine olivfarbene Jacke aus Crash- Samt. Ihr Geschmack unterschied sich deutlich von dem modefreien Müsli-Stil, der so typisch für Madison war. Sie und ihr Mann Doug, ein Professor für Anthropologie, waren aus San Francisco hergezogen. Sie beschwerte sich oft über den provinziellen Anstrich Madisons, die unangenehmen Sprechpausen der Einheimischen und den Mangel an Ironie und Coolness. Trotz allem genoss sie es, eine große Nummer zu sein, eine Schriftstellerin - ihr Buch war verfilmt worden - und eine lokale Berühmtheit. Jack fand sie aggressiv und maßlos - und attraktiv, da war Sam sich sicher -, aber er mochte Doug, der ein ruhiger und intelligenter Typ war. Die beiden Paare hatten sich schnell angefreundet. Ihre Treffen fanden allerdings nicht so oft statt, dass man sich davon genervt fühlte. Melanie und Sam hatten sich vor mehr als drei Jahren im Yogakurs kennengelernt. Beide waren neu in Madison und schwanger gewesen. Und als Sam in der achtzehnten Schwangerschaftswoche mit dem Yoga aufgehört hatte, war Melanie für sie da gewesen, und dafür würde Sam ihr ewig dankbar sein. Melanie hatte ein gewisses Selbstbewusstsein und eine ungekünstelte, direkte Art, die Sam dazu gebracht hatte, ihr die Wahrheit über das erste Baby anzuvertrauen. Tatsächlich war Melanie sogar der einzige Mensch außer Jack, der davon wusste. Alle anderen, selbst ihre Mutter, glaubten, die damalige Schwangerschaft wäre mit einer Fehlgeburt zu Ende gegangen. Sam versuchte gerade, sich daran zu erinnern, aber Melanie lenkte sie ab. Sie schob Ella auf ihrer Hüfte wieder ein Stückchen höher. »Hallo.« Sam lächelte. »Du siehst toll aus, wie immer.« »Deine Ansprüche sind gesunken. Komm rein. Dieses Wetter ist ja das Letzte.« Melanies Tochter Rosalee stolperte vorbei und verschwand nach oben. Melanie nahm Sam das Baby aus dem Arm und drückte es an sich. »Schau dir diese Bäckchen an. Ach, ist die süß, das ist ja kaum auszuhalten. Du weißt ja, ich will wirklich keins mehr, aber manchmal sehne ich mich danach, ein Kind auf die Welt zu bringen. Ich gaffe schwangere Frauen an. Ich nehme diese lächerlichen Babygeschichten im Fernsehen auf und schaue sie mir eine nach der anderen an, mit verklärtem Blick.« »Ich bin mir sicher, dafür gibt es eine Selbsthilfegruppe«, sagte Sam und stellte die Windeltasche auf die glänzend polierte Arbeitsplatte. Sie wunderte sich über Melanies Eingeständnis - das machte sie in Sams Augen nur noch sympathischer. »Erzähl es bloß niemandem. Ich will meinen Herz-aus- Stein-Ruf nicht verspielen.« »Glaub mir, ich kann dich verstehen«, erwiderte Sam. »Ich hätte nie gedacht, dass sich mein Kopf so schnell meinem Körper unterwerfen würde. Oder vielleicht eher dem Drang nach Vermehrung.« »Igitt«, kreischte Melanie. »Und ich dachte, wir wären hoch entwickelt!« Sam schaute sich in der frisch renovierten Küche um: ein Extrahahn für kochendes Wasser über dem Herd, eine riesige, rechteckige Spüle im altmodischen Stil, ein Küchenblock, ein riesiger Kühlschrank der Firma Sub-Zero. Sie fragte sich, ob sie das alles den Filmtantiemen verdankten oder ob sie eine Erbschaft gemacht hatten. Dougs Professorengehalt reichte dafür jedenfalls nicht aus. Melanie hatte fürs Erste genug und reichte Sam das Baby zurück. Ihr großer Saphirring - »Diamanten sind so protzig« - blieb an Ellas Pullover hängen. »Mist, tut mir leid«, rief sie und befreite sich. »Übrigens, der Pulli ist wirklich niedlich.« »Hat meine Großmutter für mich gestrickt. Vor Urzeiten«, antwortete Sam. Die Mutter ihrer Mutter war gestorben, als Sam noch ein Kleinkind war, und Sam hielt die kleinen Pullis und Decken, alle mit dem Aufnäher »Von Oma gemacht«, in Ehren. »Aha. Du hast das handwerkliche Talent also im Blut«, bemerkte Melanie. Sam lächelte, fühlte aber einen kleinen Stich. Natürlich war die Töpferei ein Handwerk im traditionellen Sinne, und sie war stolz darauf, dass ihre Keramik zu etwas nütze war. Aber waren ihre ineinander verschachtelten Flaschen mit Craquelé- Glasur weniger Kunst als Melanies Buch über eine Frau und deren Beziehung zu einem Jack-Russell-Terrier? Melanie nimmt die Komplimente, die sie bekommt, ernst, dachte sie. Sam setzte Ella auf den Boden, damit sie auf den Terrakotta- Fliesen herumkrabbeln konnte. Melanie stürzte den Rest ihres Kaffees herunter, und Sam bemerkte, dass der Becher von ihr war: in ihrem frühen Stil gehalten, kurvig geformt, milchig weiße Shino-Glasur mit tieforangenen Einsprengseln. Er war in einem Ofen gebrannt worden, um dessen Holzfeuer Sam sich zehn Stunden lang gekümmert hatte. Sie hatte sich dabei die Augenbrauen angesengt, und sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl freudiger Erregung, als sie am nächsten Tag die Ofentür geöffnet hatten, um nachzusehen, was aus ihren Werken geworden war. Der Boden des Bechers war ein bisschen zu schmal, stellte sie jetzt fest, und ein Tropfen Glasur war verlaufen und hing unter dem Henkel fest. Sam schämte sich für die abfälligen Gedanken über ihre Freundin, die immer loyal zu ihr gewesen war. Was ist bloß los mit mir?, dachte sie. Wie kindisch. Wie unattraktiv, hätte ihre Mutter gesagt. »Ach, das erinnert mich an was«, rief Melanie. »Wenn heute alles gut läuft, kannst du Ella in Zukunft ein paar Tage pro Woche hier abgeben. Sarah sagte mir, sie hätte gern mehr Arbeit. Ihr würde es also passen.« Sam sackte innerlich zusammen. Bevor sie entgegnen konnte, dass sie noch nicht so weit war, hatte Ella sich den Kopf an einem Schubladengriff gestoßen und fing nach einer langen Pause, in der ihr Gesicht dunkelrot anlief und ihr Mund sich weit öffnete, zu heulen an. Sam eilte zu ihr, nahm sie hoch und drückte sie an sich, während Ellas Schreie sie im Inneren schmerzten. Sie spürte, wie ihre Brüste sich mit Milch füllten und zu tropfen begannen. »Denk einfach darüber nach und sag mir Bescheid, ja? Das würde dir guttun. Wenn das Geld das Problem ist, finden wir eine Lösung.« Melanie schwenkte ihre manikürte Hand durch die Luft. »Ich fände es ganz, ganz, ganz toll, wenn du wieder mit dem Töpfern anfangen würdest.« Rosalee, deren dunkle Haare zu einem Bob geschnitten waren, kam hereingestürmt und fiel gegen die Beine ihrer Mutter. »Pass doch bitte auf!« »Mama«, sagte Rosalee. »Mama. Mama. Mama.« Melanie seufzte. »Ja, Rosa.« »Saft, Saft, Saft, Saft.« Melanie füllte etwas Apfelsaft in einen Kinderbecher und goss ihn mit der gleichen Menge Wasser auf. »Sarah?«, rief Melanie nach der Nanny. Dann sagte sie leise zu Sam: »Sie hätte um neun anfangen sollen.« »Ich komme sofort!« Sarah kam die Treppe herunter und erschien in der Küche. Sie war eine sogenannte »Sconnie«, eine Studentin an der Universität von Wisconsin, mit rundem Apfelgesicht und stabilem Körperbau, im Gegensatz zu den »Coasties«, den kultivierteren, wohlhabenden Kids aus New York und Kalifornien, die nicht auf dem Campus wohnten und Sushi aßen. »Tut mir leid. Hallo«, rief Sarah und winkte Sam zu. »Oh, und wen haben wir denn da?« Ella lächelte, als Sarah zärtlich an ihre kleine Nase tippte. »Hallo, Sarah«, sagte Sam. »Hier ist ihre Windeltasche. Ich lege ihre Gläschen in den Kühlschrank. Eins mit Kürbis und eins mit Süßkartoffeln. Und noch ein paar Cheerios. Sie macht nicht viele Nickerchen, aber sie schläft in einem Tragetuch ein, wenn du nichts dagegen hast, sie mit dir herumzuschleppen. Ach ja, und sie kann ganz gut aufrecht sitzen, aber du musst auf sie aufpassen, weil sie noch nicht so viel Kraft hat und umfallen und sich verletzen könnte.« »Kein Problem«, erwiderte Sarah. Sie strahlte eine warmherzige Zuversicht aus, die Sam nie zustande gebracht hatte. »Wir zwei werden ganz viel Spaß miteinander haben.« Melanie verschränkte die Arme und lächelte. Sams Nervosität amüsierte sie. Fachmännisch legte Sarah die Trageschlinge um ihren Körper und wartete darauf, dass Sam ihr das Baby übergab. »Und meine Handynummer ...« »Klebt schon am Kühlschrank«, unterbrach Melanie sie und nahm ihre Schlüssel von einem Zinnhaken. Sie hatte ein Büro neben dem Weinladen auf der Monroe Street, in dem sie jeden Tag bis vier schrieb. Melanie hatte schon wieder gearbeitet, als Rosalee erst vier Wochen alt war, und es nie bereut, wie sie stets betonte. Sie ließ nicht zu, dass ihre kreative Seite, ihre Karriere, hintanstehen musste. »So ist es besser für alle«, hatte sie erklärt, »nicht zuletzt natürlich für mich selbst.« Damals war Sam beeindruckt von Melanies Vorbild gewesen, aber nachdem sie Ella geboren hatte, fand sie ihre Freundin egoistisch. »Mama, Mama, Mama, Mama. Komm zu mir. Komm in mein Zimmer«, bettelte Rosalee und zog ihre Mutter an der Hand. »Hey, Rosalee«, sagte Sarah. »Zeig mir doch mal dein neues Pocahontas-Kleid!« Rosalee schob die Unterlippe vor und stampfte mit dem Fuß auf. Sam übergab Ella an Sarah und bemühte sich, dabei nicht in Tränen auszubrechen. Glaub mir, Samantha, du wirst dich dran gewöhnen«, beschwor Melanie sie. Aus Sarahs Armen lächelte Ella ihre Mutter an, mit ihren sechs winzigen Zähnchen; zwischen den beiden vorderen war eine Lücke. Ihre Augen leuchteten graublau und wirkten riesengroß in dem kleinen Gesicht. Sarah schob Ellas kräftige Beine in die Trageschlinge. Dann nahm sie Rosalees Hand und flitzte mit einem über die Schulter gerufenen »Tschüss« aus dem Zimmer. »Ich bringe dich raus«, sagte Melanie und griff nach ihrer Laptoptasche. Sam war es peinlich, gerade vor Melanie zu weinen, die immer über die Öko-Mami-Kultur von Madison lästerte. »Lasst mich zufrieden mit diesem Hippie-Scheiß«, rief sie gerne. Die Sonne kam durch die Wolken und fühlte sich warm auf Sams Kopf an. »Wir hören voneinander«, sagte Melanie. »Geh zurück ins Atelier, meine Liebe. Okay?« Sie umarmten sich, und Melanie stöckelte in ihren hohen Schuhen Richtung Monroe Street. Sam stand neben der offenen Autotür und spitzte die Ohren, weil sie glaubte, durch das Vogelgezwitscher und einen Laubsauger in der Ferne hindurch Ella schreien zu hören. Aber sie war sich nicht ganz sicher. Sie setzte sich ans Steuer. Jetzt hätte sie gerne ihre Mutter angerufen. Sie wählte Jacks Nummer. »Und?« »Ich bin wieder draußen, und sie ist da drin.« »Du hast es geschafft«, sagte er. »Ich fühle mich nicht befreit.« »Das brauchst du auch gar nicht.« »Ich denke, ich fahre dann mal nach Hause.« »Dein Atelier wartet auf dich.« »Ich habe Angst.« »Ich weiß. Versuch einfach nur, wieder ein Gefühl für die Sachen zu kriegen. Pack es an. Putz die Spinnweben weg.« »Das muss ich wirklich. Hast du gesehen, wie es dort aussieht? Wie in Geschichten aus der Gruft«. »Ich dachte, ich bringe zum Abendessen was von Matsuya mit.« »Was, wenn ich's nicht mehr hinkriege?« »Sam.« »Na gut. Ich vermisse sie jetzt schon.« »Du bist eine gute Mom.« »Das Übliche. Scharfer Thunfisch und Shrimp-Tempura.« »Ich stehe kurz vor der Festanstellung.« »Schon? Was ist passiert?« »Im Fachbereich gibt es gerade ziemliche Umwälzungen. Daniels haben sie zum Jahresende in Pension geschickt. Ich glaube, das Timing passt.« »Wow. Das ist ja Wahnsinn. Aber ich hab schon immer gewusst, dass du ein echter Gewinnertyp bist.« »Noch ist nicht entschieden, ob ich sie wirklich bekomme.« »Du bekommst sie. Du bekommst alles.« Sie meinte das als Kompliment, denn er war einer von denen, die alles ergatterten, worum sie sich bewarben: jede Förderung, jeden Job, jedes Forschungsstipendium. Er war jemand, der gemocht wurde, weil er so lässig wirkte; tatsächlich aber war er ein kluger und ehrgeiziger Mann. Ihre Worte hingen einen Moment zu lang in der Luft, und sie konnte nicht einschätzen, ob sie vielleicht ein bisschen verbittert geklungen hatte. Oder ob sie gemein gewesen war. »Das ist nicht wahr«, widersprach er. Wenn er sich getroffen fühlte, versteckte er es jedenfalls gut. »Ich erzähle dir später mehr.« »Ich liebe dich«, sagte sie. »Ich dich auch. Äh, Sam?« »Ja.« »Ich will dich nicht wieder nerven. Aber ...« »Die Teekanne.« »Ich brauche Franklins Unterstützung. Er ist noch unschlüssig, und ich will ihm keinen Anlass geben. Letzte Woche hat er mich danach gefragt.« Sam verbarg das Gesicht in ihrer freien Hand. Sie musste den Korpus, die Tülle und den Deckel formen, die Basis herausarbeiten, einen Henkel ziehen, die Einzelteile zusammensetzen und dabei sicherstellen, dass alles funktionierte, dass der Tee sich gut ausgießen ließ, dass die Kanne trotz allem elegant und leicht wirkte, mit glatten Übergängen und dynamischen Linien. Dann der Schrühbrand, der unter Umständen Risse oder Krümmungen hervorbringen konnte, was bedeuten würde, dass sie ganz von vorne beginnen musste. Nach diesem Schritt zerbrach sie sich für gewöhnlich den Kopf darüber, welche Farben am besten zur Form passen würden, mischte akribisch Chemikalien und Mineralien und trug die Glasur auf. Dann folgte ein weiterer Brennvorgang. Als sie an die vielen Arbeitsschritte nur dachte, fühlte sie sich erschöpft und rang nach Luft. »Wann?«, war alles, was sie herausbekam. »In zwei Wochen.« Sam ließ den Kopf auf das Steuer fallen. »Ach, Jack.« »Das kannst du schaffen. Ich weiß, dass du's kannst. Für mich.« Sam warf das Handy auf den Beifahrersitz und atmete tief durch. Sie blickte zurück zu Melanies Haus und ließ das Auto an, bereit, sich von Ella zu trennen. Aber sie konnte jetzt nicht nach Hause fahren und ins Atelier gehen. Ein ungewohntes Gefühl breitete sich in ihr aus: Es war, als schneide jemand ihre Fesseln durch. Der ganze Tag lag vor ihr. Sie konnte tun, wozu sie Lust hatte.
Violet hopste über das regennasse Kopfsteinpflaster und lachte. In der Luft hing der Geruch von Fisch und Ruß, aber sie war ihn gewohnt und mochte ihn. Die Sonne war gerade durch die Wolken gedrungen, und der Morgen im Schatten der Großen Brücke war noch kühl. Der Himmel leuchtete wasserblau. Sie blieb auf dem kleinen Hügel an der Roosevelt Street stehen und betrachtete die wenigen Schiffe auf dem East River, die mit ihren schwarzen Masten und schmutzigen Segeln langsam unter der Brücke hindurchglitten. Sie war noch nie drüben in Brooklyn gewesen, hatte noch nicht einmal die Brücke betreten, die dorthin führte, aber sie hatte keine Angst, etwas zu verpassen. Boston vielleicht oder Kalifornien oder irgendein anderer Ort, von dem sie gehört hatte - ja, das wäre etwas ganz anderes. Violet war im Morgengrauen durch ein Fenster bei der Waschküche geklettert und aus dem Heim weggelaufen. Zwei Wochen mit geordnetem Tagesablauf lagen hinter ihr: die stündlichen Glockenschläge, das Frühstück aus Brot und Sirup, das Mittagessen aus Brot und Milch, das Abendessen aus Suppe, die Bibelstunde mit den frommen Damen, die jeden Abend kamen, um die Seelen der Kinder, die in diesem zarten Alter immer noch gerettet werden konnten, reinzuhalten. Ganz sicher würde sie die heiseren Schreie der Babys mit ihren rosafarbenen Gesichtern und verschleimten Näschen nicht vermissen, und auch nicht ihre schwerfälligen Ammen - italienische Frauen mit dichten Augenbrauen und üppiger Oberweite, die den Kindern auf dem Weg in den Säuglingssaal mürrische Blicke zuwarfen. Dass sie das heutige Bad verpasst hatte, tat ihr allerdings leid. Sie war schmutzig, ihre Fingernägel hatten Trauerränder, und ihr Kopf juckte. Bei der Aufnahme ins Heim hatte man ihr die langen schwarzen Haare abgeschnitten, sodass nur noch ein kurzer Schopf mit einem gezackten Pony hoch über der Stirn zu sehen war. Die Aufseherin, Miss Nickle, hatte gesagt, dadurch würden ihre Augen hübscher und blauer wirken. Violet fand nicht, dass das wirklich ein Vorteil war, aber ihr gefiel, dass sie sich unbeschwerter fühlte ohne das ganze Haar. Sie glaubte, mit dieser Frisur wäre sie nicht so leicht zu fangen. Ein seltener, ruhiger Moment war im Viertel angebrochen: der kurze Augenblick, in dem die Nacht aus- und der Tag einatmete. Kein Getrappel von Kutschpferden war zu hören, keine tuckernden Automobile, selbst die Hochbahn dröhnte und quietschte noch nicht. Der Fourth Ward war ein Teil der East Side, in dem drangvolle Enge herrschte. Hier gab es Mietshäuser, Docks, Pensionen, Kneipen, Tanzlokale, Fabriken, Geschäfte, Lagerhäuser, ein Schlachthaus, eine Knochenleimfabrik, eine Gerberei, ein Kohlenlager, ein Missionsbüro, einen Dung-Abladeplatz und ein Polizeirevier. Kein Gras, keine Bäume, keine offenen Flächen außer dem Fluss. Wie in einem Bienenstock wanden sich viele kleine, dunkle Gassen in alle Richtungen; für Fremde war die Gegend gefährlich, aber Violet war froh, wieder zurück zu sein. In ihrem dünnen Musselin-Kleid und der karierten Schürze vom Heim fror sie im Wind, der um die Anlegeplätze pfiff. Die Takelage der im Hafen liegenden Schiffe schlug gegen die Masten, als sie die South Street entlangging, vorbei an schmutzigen Kindern, die sich zum Schlafen in verladebereite Fässer und Kisten gequetscht hatten. Müll- und Aschewagen warteten darauf, ihre dreckige Fracht auf einen Lastkahn im Fluss zu kippen. Violet drückte die Nase in die Ellenbeuge. Wenigstens war noch nicht Sommer; da wurden die Bewohner der Mietshäuser nämlich von der Ruhr heimgesucht, und der Gestank wurde unerträglich. Sie ging weiter zur Water Street und trat über den Rinnstein, durch den verdrecktes Wasser strömte. Langsam erwachte die Nachbarschaft. Die Geschäftsinhaber schlossen ihre Läden auf, übers Ohr gehauene Matrosen schlichen zu ihren Quartieren zurück, die Nachtschicht-Arbeiter der Kartonfabrik waren auf der Suche nach billigem Rum, die Lumpensammler durchstöberten die Hinterlassenschaften der Zecher nach Brauchbarem. Violet schaute hoch, in den zweiten Stock über den Gemüseladen, aber es war noch zu früh für die Frauen in den Fenstern - sie boten ihre Dienste immer erst mittags an. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite durchsuchten die beiden Dugan-Jungs die Taschen eines Betrunkenen, der vor einer Spielhölle namens »The Tiger Eye« lag. Der Ältere hatte kupferfarbenes Haar und Sommersprossen, während das Haar des jüngeren Bruders dunkel war und seine Haut einen olivfarbenen Ton hatte. Die anderen Kinder ärgerten sie, indem sie ihre Mutter ein Flittchen oder ein Matrosenliebchen nannten. Aber sie waren bloß neidisch. Wer im Fourth Ward wohnte, sehnte sich im Stillen danach, überhaupt eine Mutter zu haben. »Was habt ihr gekriegt?«, rief Violet, als sie die Straße überquerte und sich zu den Jungs gesellte. Sie hatte schnell gelernt, worauf es in der Großstadt ankam, und sie war selbst oft als Taschendiebin unterwegs. Ihr gefiel das Überraschungsmoment daran: Man wusste nie, was man ergatterte. Ein Stück Lakritze, ein Kartenspiel, ein Goldnugget - das alles konnten geschickte Finger erbeuten. Der ältere Junge hielt ihr seine schmutzige Handfläche hin, auf der ein Nickel und zwei Pennys lagen. Violet versuchte, danach zu greifen, aber er zog die Hand schnell wieder weg. »Wenn du kein Mädchen wärst, würde ich dich jetzt schlagen «, sagte er. Um ihn zu ärgern, legte Violet einen flotten Shuffle Ball Change hin, einen Stepptanzschritt, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte. »Sie haben dich ins Heim gesteckt, hm?«, fragte er. »Bin heute Morgen abgehauen.« »Gut«, antwortete er. »Sie hätten dich vielleicht in einen dieser Züge gesetzt.« Im Heim hatte sie Gerüchte über die Züge gehört, aber sie wusste nicht, wo die Züge hinfuhren oder warum sie dafür Kinder wollten. Sie hatte die Damen vom Hilfskomitee in ihren schwarzen Mänteln beobachtet, wie sie sorgenvoll herumhuschten und einige der jüngsten Kinder am Handgelenk festhielten - die hatte sie nie wieder gesehen. Der jüngere Bruder rieb sich die laufende Nase und trat gegen den Fuß des Betrunkenen. »Lass das«, befahl ihm der Ältere und ließ die erbeuteten Münzen in seiner Hand klimpern. »Hey, Red«, sagte Violet. »Hast du Nino gesehen?« »Nee. Hab gehört, dass ein paar von den Zeitungsjungen erwischt worden sind.« Der Wirt kam durch die Schwingtüren nach draußen und leerte einen Eimer Waschwasser in den Rinnstein aus. Als er die Jungen sah, hob er drohend die Hand, als wolle er zuschlagen. »Haut bloß ab«, bellte er ihnen nach, als sie wegliefen. »Und du auch«, knurrte er Violet an. Sie streckte ihm die Zunge heraus und sprang in das übel riechende Wasser, sodass es auf seine Füße spritzte. Die Brühe sickerte durch die Sohlen in ihre Stiefel hinein, aber das war es wert gewesen, dachte sie, Rache ist süß. Als sie sich dem Missionsbüro näherte, sah sie die Frauen vom Hilfskomitee, die in schwarzen Wollkleidern und steifen Hauben über puritanisch strengen Frisuren auf der Straße umherliefen. Vor sich hatten sie Körbe voller Süßigkeiten, die sie den Kindern schenkten, die sich zu ihnen hinwagten - die Sehnsucht nach Süßem war größer als die Angst vor den Autoritätspersonen. »Na, junger Mann«, sagte die älteste der Frauen, deren Nase wie ein kleiner Kürbis aussah, zu einem Jungen mit verschmiertem Gesicht und bloßen Füßen. »Möchtest du bei einer netten christlichen Familie leben?« Der Junge griff sich eine Handvoll Süßigkeiten und machte sich eilig davon. Drei kleine Mädchen, höchstens fünf Jahre alt, saßen auf dem Bordstein. Eine der Frauen wies ein paar schmuddelige Jungen an, sich neben die Mädchen zu setzen. »Der Zug fährt morgen ab! Ihr bekommt warme Mahlzeiten. Saubere Kleider. Braucht ihr eine Mutter und einen Vater? Habt keine Angst, Kinder. Kommt zu uns.« Zwei dunkelhäutige Jungen bekamen Süßigkeiten und wurden wieder weggeschickt. Dann begannen die Frauen zu singen: »Nahen sieht man all die armen Bettler, suchen flehend Arbeit in der Stadt, krümmen sich in Kälte, Not und Hunger, warten trostlos, werden niemals satt. Tief im Dunkeln kriecht der Strom des Elends, eines Sünders Leiche liegt am Grund. Manchen armen, hoffnungslosen Teufel fraß voll Gier und Lust sein Höllenschlund.« Violet stellte sich hinter einen Laternenpfahl und sah zu, wie sich die verwahrlosten Kinder sammelten; alle hatten einen Lutscher im Mund und wirkten froh, endlich in Obhut zu sein. Die Frauen führten das Grüppchen die Straße herunter zu einer wartenden Kutsche. Violet war dankbar, dass sie eine Mutter hatte. Sie musste sie bloß noch finden. Sie machte sich auf in Richtung des Missionsbüros. Natürlich war ihr klar, dass ihre Mutter dort nicht sein würde - Lilibeth war nie verzweifelt genug für Gott -, aber sie schaute trotzdem nach. Reverend Mackerel, dessen dunkler Bart bis auf seine Hemdbrust reichte, lief vor einer bunt gemischten Ansammlung von Gottessuchern auf und ab - heute Morgen waren es hauptsächlich Betrunkene und Seeleute. Er schrie seine Predigt heraus, die gleiche Geschichte wie jeden Tag. »Wenn der Himmel fünf Dollar Eintritt gekostet hätte, hätte ich trotzdem alles für den Fusel ausgegeben, wenn eine Spelunke in Spuckweite wäre. Ihr meint, ihr könntet nicht gerettet werden? Jesus hat nach mir gerufen, so wie er andere arme Schlucker gerufen hat. Glaubt ihr nicht, dass sein Arm lang genug ist, um eintausendneunhundert Jahre zu überbrücken und nach euch zu greifen?« Violet besah sich das Publikum und schlich sich dann zum Ausgang. »He, Mädchen«, rief Reverend Mackerel und deutete auf sie. Sein linkes Auge quoll hervor. »Ich hab nur nach meiner Mutter gesucht«, erklärte sie. »Ich guck am besten weiter.« Schnell glitt sie nach draußen, damit er sie gar nicht erst auffordern konnte, sich hinzusetzen. Bevor Violet ins Heim gekommen war, hatte sie mit Lilibeth einen Monat lang in einem Hinterzimmer in der Frankfort Street gewohnt. Als sie ihre Bleibe bezogen hatten, waren die Wände frisch geweißt und die Fenster geputzt gewesen. In diesen letzten kalten Wintertagen hatten sie es sehr geschätzt, ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber als es wärmer wurde, mussten sie die Fenster geschlossen halten und Lumpen in die Rahmen stopfen, weil sonst der schwarze Staub aus dem Kohlenlager und der Gestank der Gerberei nebenan hereinkamen. Sie konnten die grünen Häute, die zum Trocknen aufgehängt waren, vom Fenster aus sehen. Am Eingang des Mietshauses blieb Violet stehen und holte tief Luft, bevor sie auf die Bretterbrücke über den Abwasserkanal trat. Im Hof pumpten Frauen Wasser in ihre Waschzuber, ein nacktes Baby schrie, und matschverspritzte Katzen balgten sich um ihre magere Beute. Sie klopfte an die Tür zu dem Zimmer, in dem sie und ihre Mutter zuletzt gelebt hatten. »Ein Hafenarbeiter wohnt jetzt drin«, sagte eine junge Frau. Sie war schwanger, und ihre Arme wirkten wie dürre Stecken. »Ich hab die Südstaaten-Dame schon lang nicht mehr gesehen. « Violet behielt ihre Enttäuschung für sich; wie einen festen Knoten schloss sie sie in ihrem Bauch ein, damit die Angst nicht aus ihr herausbrach. Sie hatte sich nicht viele Gedanken darüber gemacht, wie es nach ihrer Flucht aus dem Heim weitergehen sollte, und sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihre Mutter nicht finden würde. Ein Mädchen, das niemanden hatte, war leichte Beute. Doch sie wusste, wohin sie gehen musste. Wenn ihre Mutter Geld von einem ihrer Gönner bekommen hatte, war sie sicher bei Madam Tang. Als Violet zurück auf der Straße war, gab ihr Magen ein wütendes Knurren von sich. An der Ecke bemerkte sie einen Essenskarren. Der Besitzer war der einbeinige Sizilianer, der ihr nicht nachrennen konnte. Sie begann zu laufen, wurde schneller, griff sich zwei Bananen, riss die übrigen Stauden zu Boden und wetzte im Slalom weiter, hindurch zwischen Frauen mit großen Röcken und Männern mit Zylindern, die sie entweder nicht sahen oder zu gleichgültig waren, um auf die Rufe des alten Mannes zu reagieren. Sie schlängelte sich einfach durch den Verkehr, sodass die Fahrer ihr ärgerlich mit der Faust drohten, huschte durch die verstopften Straßen, rannte und rannte, bis sie keine Luft mehr bekam und anhalten musste. Hastig schlang sie ihre Beute hinunter und warf die Schalen in den Rinnstein. Die Sonne brannte heiß auf ihren Nacken. Einen kurzen Moment lang schloss sie die Augen und blendete alles aus: das Hufgetrappel, das Knirschen der Wagenräder im Schotter, das Klimpern der Pferdegeschirre, das Getucker der Motorfahrzeuge, das Stampfen und Zischen der Kartonfabrik, das Gemurmel der Unterhaltungen, die Schreie der Möwen. Sie versenkte sich in eine kühle, trübe Stille - in ihre Seele, vermutete Violet -, während die Welt um sie herum in einem schwindelerregenden Missklang dröhnte.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Rae Meadows
- 288 Seiten, Maße: 14,2 x 21,9 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009299
- ISBN-13: 9783868009293
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