Vollmondfieber / Werwolf-Trilogie Bd.1
Roman
Jessica ist einzigartig: die einzige Werwölfin in einer Rasse, in der nur männliche Werwölfe geboren werden. Und sie ist eine Bedrohung - denn eine Prophezeiung besagt den Untergang ihrer Art, sollte jemals eine Werwölfin erscheinen....
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Produktinformationen zu „Vollmondfieber / Werwolf-Trilogie Bd.1 “
Jessica ist einzigartig: die einzige Werwölfin in einer Rasse, in der nur männliche Werwölfe geboren werden. Und sie ist eine Bedrohung - denn eine Prophezeiung besagt den Untergang ihrer Art, sollte jemals eine Werwölfin erscheinen. Gestern hat sie sich zum ersten Mal verwandelt.
Klappentext zu „Vollmondfieber / Werwolf-Trilogie Bd.1 “
Ich verrate euch ein wohl gehütetes Geheimnis: Werwölfe existieren. Ihr glaubt mir nicht? Nun, vielleicht weil wir ganz normal aussehen wenn nicht gerade Vollmond ist. Mein Name ist Jessica. Ich bin die einzige weibliche Werwölfin der Welt. Und eine Bedrohung für meine Art. Denn eine Prophezeiung besagt unseren Untergang, wenn eine Werwölfin auf den Plan tritt. Gestern habe ich mich zum ersten Mal verwandelt. Seitdem sind alle hinter mir her. Nicht nur Mitglieder meines eigenen Clans, sondern auch die anderen Gestalten der Nacht ...
Lese-Probe zu „Vollmondfieber / Werwolf-Trilogie Bd.1 “
Vollmondfieber von Amanda Carlson Aus dem Amerikanischen von Frauke Meier
Ich war wieder menschlich. Ich hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen war, aber ich war erleichtert. Ich versuchte, mich zu bewegen. Aber kaum zuckte der erste Muskel in meinem Bein, da riss mich der Schmerz endgültig zurück in die Wirklichkeit.
Mit dem Schmerz kehrte auch alles andere zurück.
Die Wandlung, die Flucht, der arme Kerl, dieser Farmer. Ich schauderte, als sich die Erinnerungen wie ein flackernder Film von einer alten Filmrolle vor mir abspulten, ein Ausschnitt meines Lebens, in dem ein abgeschmacktes widerliches Einzelbild auf das andere folgte. Ich war da gewesen, ich hatte das erlebt. Aber ich hatte keinerlei Kontrolle über das Geschehen gehabt - außer am Schluss. Ich hoffte verzweifelt, dass der Farmer noch am Leben war. Nein zu sagen hatte mich viel Mühe gekostet. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was danach geschehen war, und ich hatte keine Ahnung, wo ich war.
Nach allem, was ich über Wölfe wusste, war Kontrollverlust ein extrem schlechtes Zeichen. Wenn ich meine Wölfin nicht bändigen konnte - wenn ich nicht imstande wäre, die Herrschaft über die Bestie in mir zu erringen -, würde mir nicht gestattet sein, am Leben zu bleiben.
Heilige Scheiße, ich bin eine Wölfin!
Kapitel 1
Ich schnappte nach Luft und gab mir alle Mühe, aus diesem höllischen Albtraum aufzuwachen. »Herrje!«, stöhnte ich. Schweiß rann mir übers Gesicht, und ich fühlte mich benommen. Träumte ich? Sollte das der Fall sein, dann tat dieser Traum scheißweh.
Moment mal ... eigentlich sollten Träume nicht wehtun.
... mehr
Ohne Vorwarnung verkrampfte sich mein Körper erneut. Schmerz brannte in meinen Adern wie ein schlimmer Sonnenbrand nach einem Hitzetag am Strand. Unterwegs entfachte der Schmerz in jeder Zelle ein Feuer. Ich biss die Zähne zusammen und bemühte mich mit aller Kraft, der Welle aus Schmerz zu widerstehen.
Dann, so plötzlich, wie es angefangen hatte, war es vorbei.
Der abrupte Verlust jeder körperlichen Empfindung machte mich schlagartig hellwach. Ich riss in der Dunkelheit die Augen auf. Das war kein verdammter Traum. Rasch überprüfte ich meinen körperlichen Zustand. Die Bestandsaufnahme verriet mir, dass sich mein Körper anfühlte, als stünde er unter Strom. Aber glücklicherweise konnte ich mich wieder ganz normal bewegen. Das schwache, grüne Licht meiner Digitaluhr zeigte 2:07 an. Ich hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Ich drehte mich auf die Seite. Schweißfeucht klebte mir eine Haarsträhne auf der Wange. Ich strich sie mir aus dem Gesicht. Aber kaum dass meine Finger in Hautkontakt kamen, keuchte ich auf und riss die Hand zurück wie ein Kind, das gerade einen heißen Ofen angefasst hatte.
Heilige Scheiße, ich brenne!
Das konnte nicht stimmen.
Keine Panik, Jess: Denk logisch!
Ich legte den Handrücken an die Stirn, um mir ein klareres Bild zu machen. Die Stirn war glutheiß; durchgeglühte Kohlen im Ofen hätten sich kühler angefühlt als meine Haut.
Ich muss wirklich krank sein.
Krank zu sein hatte in meinem Leben Seltenheitswert, aber vorkommen konnte es schon. Ich war nicht anfällig für Krankheiten, aber ich war auch nicht immun. Mein Zwillingsbruder wurde nie krank. Trotzdem war ich für Viren empfänglich, sofern sie bösartig genug waren.
Ich setzte mich auf und gestattete meinem Verstand, noch einen kurzen Moment über eine ganz andere Erklärung für meine Symptome zu sinnieren. Die Vorstellung war absurd. Reiß dich zusammen, dachte ich, du bist eine sechsundzwanzigjährige Frau. Das wird nie passieren. Es ist bestimmt nur eine Grippe. Kein Grund zur ...
Ich hatte nicht einmal einen Atemzug Zeit, ehe mich ein neuer schmerzhafter Krampf mit voller Wucht erwischte. Es warf mich in die Kissen zurück, als der Schmerz durch mich hindurchpflügte. Mit dem Kopf knallte ich gegen das Kopfteil und zertrümmerte die Holzleisten, als wären es Streichhölzer. Mein Körper bäumte sich auf, das Kreuz durchgedrückt, als wollte ich es mir brechen. Wild schlug ich mit den Armen um mich, stieß gegen den Nachttisch und fegte alles hinunter, was darauf stand. Die Nachttischlampe explodierte beim Aufprall auf dem Boden. Der scharfe Knall ging in einem der Lage höchst angemessenen, jeder gut erzogenen Dame bestens zu Gesicht stehenden Aufschrei unter. »Scheiiiße!«
Die nächste Schmerzwelle mit ihren Krämpfen brach über mich herein und schwappte wie ein heißer Lavastrom tief hinein in meine Seele. Aber dieses Mal verlor ich mich nicht im fahlen Dunst des Unbewussten, dämmerte nicht hinüber. Dieses Mal blieb ich wach. Ich musste dagegen ankämpfen!
Ich war nicht krank.
Ich war mitten in der Wandlung!
Herr im Himmel, Frau, da verbringst du dein ganzes Leben damit, über diesen Augenblick nachzudenken, und wenn er kommt, willst du dir einreden, du hättest Grippe?! Was ist los mit dir? Wenn du am Leben bleiben willst, musst du deine Medizin nehmen, ehe es zu spät ist!
Der Schmerz begrub mich unter sich, starr und steif hingen Arme und Beine an meinem Leib. Ich war nicht imstande, mich zu rühren, während mich die Krämpfe mit unverminderter Kraft schüttelten, eine Welle nach der anderen. Die Erinnerung an die Stimme meines Vaters hallte klar und deutlich durch meinen Kopf: Jessica, widersprich mir nicht! Das ist eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Du musst es ständig bei dir haben. Ich hatte mich dümmer und sturer verhalten, als gut für mich war, und nun bezahlte ich den Preis dafür. Zu meiner Sicherheit sollte ich das neue Lederetui mit der einsatzbereiten Spritze, die einen ganz besonderen Drogencocktail enthielt, stets in Griffweite behalten. Der Inhalt war dazu gedacht, mir bei Bedarf die Besinnung zu rauben. Du wirst es vielleicht nie brauchen, aber wie du sehr gut weißt, ist das eine der Bedingungen dafür, dass du alleinlebst.
Es tut mir so leid, Dad.
Das hätte nicht passieren dürfen. Meine Markergene waren nicht dafür codiert. Es war schlicht eine Unmöglichkeit. In einer Welt voller Unmöglichkeiten.
Ich war ja so dumm gewesen!
Mein Körper krampfte immer noch, meine Muskeln zuckten unentwegt. Ich war gefangen in einem Tanz, aus dem ich mich nicht befreien konnte. Der Schmerz loderte auf und erreichte schließlich seinen zerstörerischen Höhepunkt. Als er die Leiter hoch und höher bis zur höchsten Note hinaufstieg, sie erreichte, zersplitterte mein Bewusstsein wie Glas.
Alles wurde segensreich schwarz.
Viel zu schnell jedoch tanzten stecknadelkopfgroße Lichtpunkte hinter meinen Augenlidern. Ich schlug die Augen auf. Der Schmerz war fort. Nur ein Widerhall davon, ein leises Pochen wie ein steter Strom, war zurückgeblieben. Ich brauchte einen Moment, bis ich es begriff: Ich kauerte auf dem Boden neben meinem Bett auf allen vieren, Knie und Handflächen blutig von den Scherben meiner zerbrochenen Lampe. Mein Nachttischchen lag zertrümmert um mich herum. Es sah aus, als hätte ein Hurrikan in meinem Schlafzimmer gewütet. Ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren.
Die Medizin ist jetzt deine einzige Chance! Los doch!
Das Badezimmer war gerade einmal eineinhalb Meter entfernt. Ich zwang mich voran, zog mich mit zittrigen Armen vorwärts und schleifte meinen nutzlosen Körper hinter mir her.
Komm schon, du schaffst das! Es ist gleich da vorn.
Ich kam nicht weit. Wieder schlug der Schmerz zu, hart und heftig. Ich fiel auf die Seite, und die Muskeln unter meiner Haut gerieten heftig in Aufruhr. Himmelherrgott! Der Schmerz, böse und unerbittlich, kam direkt aus einem Märchen, einem sehr bösen, niederträchtigen Märchen.
Ich stöhnte, bebte vor Schmerz, schrie in meinem Kopf auf und suchte nach dem Einzigen, was mir nun noch helfen konnte. Mein Bruder war meine einzige Chance. Tyler, es passiert! Ty, Ty ... Bitte! Tyler, kannst du mich hören? TYYY...
Eine neuerliche Wolke aus Dunkelheit zupfte am Rand meines Bewusstseins, und ich hieß sie willkommen. Mir war alles recht, wenn nur diese schrecklichen Qualen aufhörten! Ehe Schmerz mich überwältigte auf diesem schmalen Grat zwischen wirklich und unwirklich streifte etwas ganz zart meine Sinne. Ein Schauder der Erkenntnis erfasste mich. Aber da stimmte etwas nicht. Das war nicht die Stimme meines Bruders.
Dad?
Nichts als Leere erfüllte meinen Geist. In Gedanken beschimpfte ich mich: Du hoffst doch nur auf ein Wunder.
Frauen waren nicht dazu geschaffen, sich zu wandeln. Das hatte ich mein Leben lang gehört. Wie könnten sie sich denn auch wandeln, wenn es sie gar nicht geben sollte? Ich war ein Fehler, ich war immer schon ein Fehler gewesen, und es gab nichts, was mein Vater tun könnte, um mir jetzt noch zu helfen.
Schmerz schwappte hoch, explodierte in meinem Kopf, und sein Zorn riss mich erneut in Stücke.
Jessica. Jessica, kannst du mich hören? Wir sind unterwegs. Bleib bei uns! Nur noch ein paar Minuten! Jessica ... Halt durch, Liebling. Jess!
Ich kann nicht, Dad. Ich kann einfach nicht.
Blut.
Furcht durchbohrte mich wie ein eisiger Speer. Ich reckte die Nase empor und kostete die Luft. Kälte strich über meinen Rücken, ließ mir die Haare zu Berge stehen und jagte mir eine Gänsehaut über den Leib. Ich zitterte. Schwerer Atem rauschte viel zu laut in meinen empfindlichen Ohren. Ich lugte in die Finsternis, inhalierte wieder tief die köstliche Luft.
Blut.
Geräusche brodelten unter mir empor, polternde Geräusche. Ich wich in die Ecke zurück und wimmerte. Das Pochen in meiner Brust, laut wie Donnerschlag, umgab mich, hüllte mich ein in meine eigene Furcht.
Raus.
Ich tat einen Satz voran. Ich sah meine Klauen über den Boden schlittern, glitt aus, die Oberfläche war viel zu glatt, um Halt zu finden. Ich raffte mich wieder auf und sprang durch einen dunklen Tunnel in einen größeren Raum. Überall um mich herum zerbrachen und zerbarsten ohrenbetäubend laut Dinge und machten mir Angst. Ich sprang auf etwas Großes, und meine Klauen schlitzten sich mühelos hindurch. Ich segelte davon und landete Zentimeter von einem Lichtfleck entfernt.
Raus.
Meine Ohren kribbelten. Ich senkte die Nase auf den Boden, inhalierte, als die Laute auf mich einstürmten. Bilder schoben sich in mein Bewusstsein. Menschen, Furcht, Lärm ... Qual. Tief aus meiner Kehle kaum ein Laut, halb Knurren, halb Maunzen. Ein lautes Geräusch schepperte über meinen Kopf hinweg. Ich tat einen Satz zurück, drehte mich weg, suchte.
Dann sah ich es.
Raus.
Ich stürzte auf den Mondschein zu und prallte hart gegen ein Hindernis. Es gab sofort nach, zerbarst einfach. Ich streckte mich. Kraft strömte durch meinen Körper. Der Boden kam rasch näher; meine Vorderpfoten fanden zu plötzlich festen Halt. Unter der Macht des Aufpralls klappten meine Kiefer heftig zusammen. Das Ding unter mir gab mit einem lauten Krachen nach, und im nächsten Moment kam ich schon auf dem Boden auf.
Laufen.
Ich rannte über harte Oberflächen und entdeckte ein schmales Waldstück, das ich durchquerte, bis die Bäume offenem Land wichen. Ich rannte und rannte. Ich rannte, bis die Gerüche mich nicht länger verwirrten, bis die Geräusche ihre Angriffe auf meine empfindlichen Ohren einstellten.
Verstecken.
Ich schwenkte zu einer dichten Baumgruppe ab. Einmal in ihrem Schutz, tauchte ich ab ins Unterholz. Der Geruch gefiel mir. Ich schlängelte mich unter die niedrigsten Zweige, bis ich ganz und gar verborgen war. Als ich mich etwas beruhigt hatte, blieb ich still liegen und spitzte die Ohren. Ich öffnete den Mund und ließ die feuchte Luft über meine Zunge gleiten, kostete sie, und meine Nasenlöcher bebten. Die Gerüche der Umgebung drängten rasch auf mich ein, und mein Gehirn ordnete sie auf effiziente Weise. Der ätzende Gestank frischer Ausscheidungen hing in der Luft.
Beute.
Ich legte den Kopf schief und lauschte. Das leise Rascheln und Grunzen war kaum wahrnehmbar. Meine Ohren zuckten interessiert hoch, und mein Magen knurrte lange und ausgiebig.
Essen.
Wieder kostete ich die Luft, kontrollierte sie auf verwirrende Gerüche, Gerüche, die ich nicht mochte. Dann ließ ich den Kopf hängen, ließ ihn tief bis hinunter auf den Boden sinken und winselte. Der Hunger, der in meinem Inneren nagte, bereitete mir Krämpfe.
Essen, essen, essen.
Ich konnte es nicht ignorieren. Der Hunger zehrte an mir, tat mir weh. Langsam kroch ich aus meiner Zuflucht unter den Bäumen heraus zu einer mit hohem Gras bestandenen Lichtung. Ich hob den Kopf über die sich sanft wiegenden Halme und inhalierte. Die Beute war nah. Ich schlich durch die Dunkelheit, lautlos und stark. Bald glitt ich mühelos unter dem harten, hölzernen Hindernis hindurch in ihr Gehege und weiter in die Dunkelheit ihres großen Baus. Die Pfoten setzte ich auf altes, muffiges Gras, ohne sonst etwas aufzurühren.
Beute.
Der Wind drehte, kam jetzt aus meiner Richtung. Nun witterten sie mich zum ersten Mal. Mit wütendem Blöken stampften sie mit den Hufen, wütend wegen des Eindringlings. Ich glitt unter einer weiteren, wackeligen Barriere hindurch. Mein Körper fühlte sich geschmeidig und agil an, als ich an dem splittrigen Holz entlangschlich. Ich hatte meine Beute entdeckt.
Essen.
Ich sprang, meine Kiefer arbeiteten, meine Eckzähne fanden den Hals und bohrten sich tief hinein. Süßes Blut floss in meinen Mund. Mein Hunger loderte hoch wie ein unersättliches Feuer, und im Rausch verdrehte ich die Augen. Das Tier brach zusammen, starb noch im selben Moment, in dem es im schmutzigen Heu landete. Ich warf mich darauf, riss wütend an seinem Fleisch, zerrte große Stücke heraus und schlang sie unzerkaut hinunter.
»Gottverdammte Wölfe!«
Mein Kopf zuckte hoch, als ich die Laute hörte. Erkenntnis spiegelte sich in meinen Augen.
Mensch.
»Euch werde ich lehren, herzukommen und in meiner Scheune zu wüten, ihr räudiger Haufen Scheiße!«
Geräusche explodierten, Schmerz flammte auf, als ich zurückfuhr und gegen die Seitenwand des Baus krachte. Ich versuchte, mich aufzurichten, aber meine Klauen glitten in der schlüpfrigen Masse aus. Blut. Ich passte mich an, fand meine Bodenhaftung wieder und katapultierte mich hoch in die Luft. Der beißende Geruch der Furcht drang in meine Nase, und ich erbebte innerlich vor Verlangen.
Töten.
Ein tiefes Knurren löste sich aus meiner Kehle, und meine Reißzähne schnappten zu. Meine Pfoten fanden ihr Ziel, und wir gingen beide geräuschvoll zu Boden.
Meins.
Ich biss zu. Blut sammelte sich auf meiner Zunge.
»Bitte ... nicht ...«
Nein!
Ich ließ ab.
»Nein!«
Ich wich zurück.
»Bob, ist bei dir da draußen alles in Ordnung?«
Gefahr.
Raus!
Ich hastete weiter, humpelte durch den Schatten. Dann entdeckte ich eine kleine Öffnung, sprang und kam mit einem schmerzerfüllten Fauchen auf. Mein Hinterbein gab unter mir nach, aber ich musste in Bewegung bleiben.
Laufen!
Ich rannte, huschte unter dem Hindernis hindurch. Ein alarmierter Aufschrei zerriss hinter mir die Luft. Ich aber rannte und rannte, bis um mich herum nichts mehr war als Finsternis.
Ausruhen.
Ich kroch unter einen dichten Laubteppich und rollte mich zusammen. Leckte meine Wunde. Sie war groß. Ich schloss die Augen. Sofort flackerten Bilder durch meinen Verstand, immer eines nach dem anderen.
Mann, Junge ... Frau.
Ich konzentrierte mich auf sie.
Ich brauchte sie.
Jessica.
Ich rief sie zu mir zurück.
Und sie kam bereitwillig.
Jessica! Jessica! Liebling, kannst du mich hören? Antworte mir!
Jess, ich bin's, Ty! Du musst auf Dad hören und verdammt nochmal aufwachen!
Mein Gehirn fühlte sich so benebelt an, als wäre es inwendig von einer dicken Moosschicht überwuchert.
Jessica, du musst mir jetzt antworten! Jessica. Jessica!
»Dad?«
Ich blinzelte in den Sonnenschein, der durch einen Vorhang aus Ästen zu mir herabdrang. Die Äste hingen nicht weit über mir. Ich war wieder menschlich. Ich hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen war, aber ich war erleichtert. Ich versuchte, mich zu bewegen. Aber kaum zuckte der erste Muskel in meinem Bein, da riss mich der Schmerz endgültig zurück in die Wirklichkeit.
Mit dem Schmerz kehrte auch alles andere zurück.
Die Wandlung, die Flucht, der arme Kerl, dieser Farmer. Ich schauderte, als sich die Erinnerungen wie ein flackernder Film von einer alten Filmrolle vor mir abspulten, ein Ausschnitt meines Lebens, in dem ein abgeschmacktes widerliches Einzelbild auf das andere folgte. Ich war da gewesen, ich hatte das erlebt. Aber ich hatte keinerlei Kontrolle über das Geschehen gehabt - außer am Schluss. Ich hoffte verzweifelt, dass der Farmer noch am Leben war. Nein zu sagen hatte mich viel Mühe gekostet. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was danach geschehen war, und ich hatte keine Ahnung, wo ich war.
Nach allem, was ich über Wölfe wusste, war Kontrollverlust ein extrem schlechtes Zeichen. Wenn ich meine Wölfin nicht bändigen konnte - wenn ich nicht imstande wäre, die Herrschaft über die Bestie in mir zu erringen -, würde mir nicht gestattet sein, am Leben zu bleiben.
Heilige Scheiße, ich bin eine Wölfin!
Ich hob den Kopf und sah an meinem entblößten, sehr nackten Körper herab. Ich konzentrierte mich auf die Verletzung und sah zu, wie sich die Wunde ganz langsam wieder schloss. Unglaublich! Bei anderen hatte ich früher so etwas schon gesehen. Bis jetzt jedoch hatte ich nie in die Kategorie der Superselbstheiler gehört. Junge männliche Wölfe erwerben diese Fähigkeit nach der ersten Verwandlung. Mein Körper musste noch dabei sein, sich anzupassen. Denn meine Hüfte war immer noch abscheulich anzusehen: Getrocknetes Blut befleckte meine ganze rechte Seite, und das Zentrum der Wunde, dort, wo mich der Schuss getroffen hatte, sah aus wie ein Teller mit rohem Hackfleisch.
Glücklicherweise ging die Wunde nicht bis auf den Knochen. Das wäre schlimm gewesen. Aber nun, da ich wach war und mich regte, hatte der Schmerz wieder zugenommen.
Ich schloss die Augen und ließ den Kopf zurücksinken. Der Zusammenstoß der letzten Nacht war hoffentlich nicht typisch für eine normale Jungwerwolfnacht. Aber falls doch, war ich ja so was von im Arsch!
Jessica!
Mein Kopf zuckte so hastig hoch, dass er gegen einen spitzen Ast stieß. Au, verdammt! »Dad?« Also war das doch keine Einbildung gewesen. Ich wusste, dass der Alpha intern mit seinen Wölfen kommunizieren konnte. Aber seine Stimme zu hören, war neu für mich. Ich lauschte konzentriert. Nichts. Zaghaft schickte ich einen Gedanken hinaus, so, wie ich es mit meinem Bruder zu tun pflegte.
Dad?
Oh mein Gott, Jessica! Geht es dir gut? Antworte mir!
Ja! Ich kann dich hören! Mir geht es gut, äh ... Na ja, zumindest glaube ich das. Ich habe Schmerzen und kann mich nicht so gut bewegen. Aber ich lebe noch. Meine Hüfte sieht aus, als wäre sie durcheinen Fleischwolf gedreht worden. Aber sie flickt sich allmählich von selbst wieder.
Bleib, wo du bist! Wir sind gleich bei dir. Ich habe deine Fährte für ein Weile verloren, aber jetzt sind wir wieder dran.
Okay. Ich liege unter irgendeinem dichten Gestrüpp. Aber ich habekeine Ahnung, wo das ist. Und wegen meines Beins kann ich auch nicht raus.
Schnauben. Es ist also noch nicht verheilt?
Tyler?
Wer sonst?
Die Stimme meines Bruders in meinem Kopf zu hören, setzte eine ganze Flut von Gefühlen frei. Mir war bis zu diesem Moment gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Du kannst davon ausgehen, dass ich nicht damit gerechnet habe, dich wieder in meinem Hirn zu haben. Das konnten wir seit unserer Kindheit nicht mehr. Aber es tut wirklich gut, von dir zu hören.
Tylers Gedanken veränderten sich nun, fühlten sich schwerer an - wie ein leises, schleppendes Flüstern, das durch die Windungen meines Verstandes kroch. Jess, ich habe gehört, dass du mich gestern Nacht gerufen hast. Du weißt schon, als es angefangen hat. Das hat sich fürchterlich angehört, so, als würdest du sterben oder so. Tut mir leid, dass ich es nicht rechtzeitig zu dir geschafft habe. Ich habe es versucht, aber ich kam zu spät.
Schon gut, Tyler. Wir konnten uns so lange nicht mehr auf diese Weise verständigen. Im Grunde habe ich so oder so nicht damit gerechnet, dass es funktioniert. Soweit es mich betrifft, war das ein letzter verzweifelter Versuch, mein Bewusstsein von diesem beängstigenden und schmerzhaften Prozess der Wandlung zu lösen. Mach dir deswegen keine Gedanken! Du hättest so oder so nichts tun können. Es ging irrsinnig schnell. Beinahe zu schnell, um es zu verarbeiten. Bei der Erinnerung setzte mein Herz für einen Moment aus.
Ich hörte - oder fühlte vielleicht - ein Stolpern und einen geknurrten Fluch. Du wirst dich daran gewöhnen, hörte ich Tyler sagen. Die Wandlung fällt leichter, wenn du es erst ein paar Mal erlebt hast. Halte durch, ich glaube, wir sind schon fast bei dir! Wir hatten deine Fährte in der Scheune verloren. Himmel, du hast den Ladenganz schön auseinandergenommen! Überall war Blut.
Mein Verstand projizierte ein hässliches Bild, ehe ich etwas dagegen tun konnte. Hoffentlich hat der Farmer überlebt. Ich bewegte mich vorsichtig und zuckte zusammen, als der Schmerz mein Rückgrat emporschoss. Einen normalen Menschen hätte meine Verletzung umgebracht. Ich würde zweifellos überleben. Trotzdem tat es höllisch weh.
In scharfem Ton gab mein Vater seine Sorge in meinem Verstand kund. Wir sind fast da, Jessica. Als wir deine Spur auf der anderen Seite der Scheune wiedergefunden hatten, mussten wir warten, bis die Polizei und der Rettungswagen weg waren. Aber jetzt dürfte es nicht mehr lange dauern. Bleib, wo du bist, und beweg dich nicht! Dein Geruch wird mit jedem Augenblick intensiver.
Ja, du riechst wie ein Mädchen. Das ist ziemlich seltsam.
Na, vielleicht liegt's daran, dass ich eins bin. Oder hast du das vergessen, weil wir uns so lange nicht gesehen haben?
Nö, vergessen habe ich es nicht. Aber du riechst eben einfach nicht wie ein gewöhnlicher Wolf, ließ sich Tyler vernehmen. Wölfe riechen, ich weiß nicht, irgendwie derb und erdig. Du riechst zu weiblich, beinahe wie Parfüm. Das liegt mir irgendwie schwer auf der Kehle. Ich spürte, wie er im Zentrum meines Bewusstseins leise hustete, was absolut bizarr war.
Gut, dann dürfte es dir ja nicht schwerfallen, mich zu finden!
Prusten.
Wir sind gleich da, versicherte mir Dad. Keine Sorge, wir habenganz in der Nähe einen Wagen stehen, mit dem wir dich zurückbringen können.
Die Kommunikation war anstrengend und forderte ihren Tribut: Ich bekam schlimme Kopfschmerzen. Der Schmerz in meiner Hüfte flammte auf, und in meinen Ohren rauschte es. Mir ist plötzlich irgendwie schummrig ...
Halte durch ...!
Kapitel 2
Als ich erwachte, war ich umgeben von weißen Wänden und dem Geruch von Desinfektionsmittel, Latex und Kaffee. Der Raum wirkte wie ein typisches Krankenhauszimmer, sauber, hell und steril, nur dass er exklusiv für Werwölfe eingerichtet worden war. Er lag tief unter der Erde, weil Werwölfe nicht gerade für ihre ruhige, besonnene Art bekannt sind. Doch selbst ihnen fällt es, wenn sie völlig von Sinnen sind, verdammt schwer, sich einen Weg durch die Erde zu buddeln.
Niemand außer mir lag in dem Krankenzimmer. Das machte die Dinge einfacher. Neugeborene Wölfe bedeuteten Chaos, und weniger Chaos war eindeutig ein Vorzug. Denn gestern Nacht hatte ich das Unmögliche zustande gebracht: Ich war zum einzigen lebenden reinrassigen Werwolf auf dem ganzen Planeten geworden, der weiblich war. Meine neue Identität würde den übernatürlichen Status quo ins Wanken bringen. Je eher ich mich auf die unerfreulichen Auswirkungen, die es zweifellos geben würde, einstellen konnte, desto besser. Zuerst aber sollte ich vielleicht doch meinen Arsch aus diesem Krankenhausbett hieven. »Hallooo «, rief ich, »jemand da?«
Während ich auf eine Antwort wartete, spannte und dehnte ich das Bein, wartete auf den Schmerz. Es zwickte mich noch leicht in Hüfthöhe, aber davon abgesehen fühlte sich alles völlig normal an. Die Wunde konnte ich nicht sehen. Mein Bein war nämlich in genug Verbandsmull eingewickelt, um damit eines von diesen hübschen Dekokissen fürs Sofa zu stopfen. Als ich mich an das Hackfleisch erinnerte, aus dem mein Bein bestanden hatte, war ich ganz froh darüber, auf den Anblick verzichten zu dürfen. Ich hatte keine Ahnung, ob diese Tortur Narben zurücklassen würde oder nicht. Ich hatte noch eine Menge zu lernen über meinen neuen Körper.
Ein Stockwerk über mir begann eine Unterhaltung. Der tiefe Bariton meines Vaters war unverkennbar. Ich neigte den Kopf. Beinahe erwartete ich, einen bionischen Piepton zu hören, als ich mich auf das Gespräch konzentrierte. Verblüffend, wie klar ich alles hören konnte, gerade so, als wären sie im selben Raum wie ich. Ich probierte mein Sehvermögen an Schächtelchen auf der anderen Seite des Raums aus und konnte die winzigen Buchstaben auf den Etiketten problemlos lesen.
Schritte kamen die Stufen herab, und mein Vater, Callum McClain, der Rudelführer der U.S. Northern Territories, kam in mein Blickfeld. »Das wird auch verdammt Zeit!« Ich schenkte ihm ein breites Grinsen. Es war eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, und ich hatte ihn vermisst. Seit ich das Wolfshabitat vor sieben Jahren verlassen hatte, waren wir uns gerade einmal bei einer Handvoll Gelegenheiten begegnet. Wir mussten hinsichtlich unserer Treffen stets größte Vorsicht walten lassen. Denn hätte man uns zusammen gesehen, hätte das in der Gemeinschaft der Übernatürlichen eine Menge Unruhe ausgelöst. Gerüchte hätten dann meine Tarnidentität auffliegen lassen können. Mit dem unabhängigen Leben, das ich mir so schwer erarbeitet hatte, wäre es dann Essig gewesen.
»Jessica, du hast mich zu Tode erschreckt.« Mein Vater trat an mein Bett. Mit seinem vollen dunklen Haar und dem vollkommen faltenfreien Gesicht sah er keinen Tag älter aus als fünfunddreißig.
»Ich habe mich selbst zu Tode erschreckt.« Ich kicherte. »Du kannst Gift drauf nehmen: Ich hatte für den Abend andere Pläne, als ausgerechnet zur Wölfin zu werden. Außerdem dachte ich, ich würde sterben. Das hat der ganzen Geschichte einen gehörigen Dämpfer verpasst. Es hat sich angefühlt, als würde mir jemand mit stumpfem Blatt Arme und Beine absägen.«
»Das erste Mal ist immer heftig«, sagte mein Vater. »Besonders wenn ich nicht da bin, um den Wandel zu unterstützen. Es ist viel leichter, wenn man sich nicht dagegen wehrt und Ruhe bewahrt. Das Sedativum hätte dir den Schmerz erspart. Warum hast du es nicht genommen?« Mein Vater zog sich einen Stuhl an das Bett heran und nahm Platz. »Auf diese Notfallmaßnahme hatten wir uns doch geeinigt, falls du je in den Wandlungsprozess geraten solltest! Du hättest es dir injizieren und dich selbst ausschalten sollen. Dann hätten wir dich rechtzeitig finden können, damit dir im Zuge der Wandlung nichts zustößt. Wirklich, Jess, du hättest dich beim Sprung aus dem Fenster deiner Wohnung tödlich verletzen können! Und wir können von Glück reden, dass der Schuss dir nicht das Rückenmark durchtrennt hat! Ich habe dir vertraut und darauf, dass du unsere Vereinbarung einhältst. Ich bin davon ausgegangen, dass du sie minutiös befolgst.«
»Es tut mir leid.« Ich zupfte am Laken wie ein schuldbewusstes Kind. »Ich habe versucht, mir die Spritze zu holen, aber ich habe es nicht geschafft. Selbst schuld. Ich habe das Etui vor ein paar Jahren aus meinem Nachttisch genommen und in den Badezimmerschrank gelegt. Ich dachte, das wäre nahe genug. Aber ehrlich, ich habe nicht damit gerechnet, dass ich es je brauchen würde. Ich bin doch schon vor über zehn Jahren in die Pubertät gekommen, und es hieß doch immer, ich wäre genetisch nicht dazu geschaffen, mich zu wandeln.« Ich hielt einen Moment inne. »Es tut mir leid. Ich dachte, du wärest überfürsorglich - so wie immer.«
»Jessica, meine Liebe!« Dr. Jace betrat den Raum. Das vertraute weiße Haar umwehte sein Gesicht wie ein zarter Glorienschein. Unverkennbar amüsierte er sich prächtig, gepaart allerdings mit Verwunderung. »Du hast uns in Angst und Schrecken versetzt! Du bist ein Wunder, junge Dame, ein echtes Wunder!« Er schlurfte zu meinem Bett, ergriff meine Hand und tätschelte sie liebevoll. »Wer hätte das für möglich gehalten? Eine echte Weibliche unter uns. Erstaunlich, wirklich erstaunlich!«
»Doc Jace!« Ich hielt ihm die Wange hin, damit er mir den üblichen flüchtigen Kuss geben konnte. »Schön, Sie wiederzusehen! Es ist schon viel zu lange her. Sie sehen gut aus.« Der Doc kam meiner Vorstellung von einem Großvater näher als alles andere an Mann, was ich kannte. Er war einer der Reinmenschen unseres Rudels. Wie sein Vater und vor ihm sein Großvater kannte er unsere Geheimnisse, arbeitete für uns, war aber selbst kein übernatürliches Wesen. Reinmenschen waren eine Notwendigkeit in jeder übernatürlichen Gemeinschaft, da die Menschheit keine Ahnung von unserer Existenz hatte. Reinmenschen konnten Ärzte sein, Lehrer oder Anwälte; Individuen, die für eine bestimmte Funktion innerhalb der Gemeinde rekrutiert wurden. Doc Jace war ein hervorragender Arzt und ein enormer Pluspunkt für unser Rudel. »Ich bin so froh, dass Sie da sind«, sagte ich und ließ ein Grinsen aufblitzen, »denn Sie sind genau der Mann, der mir die Fragen beantworten kann, die mir auf den Nägeln brennen.«
»Aber gern, Jessica«, sagte er. »Ich werde mein Bestes tun, um deine Fragen zu beantworten.«
»Wie habe ich das überlebt? Ich dachte, ich wäre genetisch nicht zum Wolf geeignet und könnte gar keine vollständige Wandlung erleben. Es hieß doch immer, falls sich meine Körperchemie später, nach der Pubertät, doch noch verändern sollte, würde ich bei der Tortur vermutlich sterben. Aber ich lebe und bin wohlauf.«
Doc strich sich gedankenverloren über den Bart. »Ja, wirklich außergewöhnlich! Männliche Wölfe tragen ihren Wolfsmarker auf dem zweiten Y-Chromosom. Genau da sind sie ganz deutlich kodiert. Ich kann nur mutmaßen, dass dein Körper Träger des Gens ist, das dich als Wolf kennzeichnet, es aber irgendwo anders, in einem nicht kodierten Bereich, trägt.« Er tätschelte meine Hand. »Wirklich interessant! Was für ein Forschungsfeld!« Über unsere Gene zu rätseln, war sein Lebenswerk. »Dass du als Weibliche eine erfolgreiche Wandlung vollbracht hast, kommt einer Revolution gleich. Das ebnet uns auf diesem Forschungsgebiet einen ganz neuen Weg. Wahrhaft fantastisch, sag ich dir!«
Dass die Sache einer Revolution gleichkam, war mir längst klar. Denn es gab in unserer Art keine Weiblichen. Unter den Wölfen hatte schon meine Geburt größtes Missfallen ausgelöst. Besonders weil es da eine Pointe gab: Einer weit verbreiteten Legende nach war ich das pure Böse, eine Gefahr, geschaffen allein dazu, die Wolfsart zu vernichten. Wenn das Rudel erfahren würde, dass ich zum reinrassigen Wolf geworden war, würde es einen Riesenaufstand geben. Alles, was ich mir aufgebaut hatte, würde den Bach runtergehen. Das aber erwähnte ich dem Doktor gegenüber nicht. Stattdessen fragte ich: »Wie spät ist es? Wie lange war ich weg?«
»Es ist sieben Uhr morgens«, antwortete Doc. »Du hast beinahe achtzehn Stunden geschlafen, was nicht ungewöhnlich ist für einen Wolf, der sich von einer schweren Verletzung erholt. Ich nehme an, du bist jetzt bereit für Kaffee und Frühstück? Du musst ja beinahe verhungert sein! Die Wandlung erfordert unglaublich viel Energie, und neugeborene Wölfe sind von Natur aus hungrig.«
»Ja, Kaffee und etwas zu essen hört sich himmlisch an!« Wie aufs Stichwort knurrte mein Magen. »Ich bin wirklich kurz vor dem Verhungern!« Dr. Jace ging hinaus, und ich konzentrierte mich wieder auf meinen Vater. »Achtzehn Stunden? Ich habe achtzehn Stunden geschlafen? Soll das heißen, wir haben bereits Montagmorgen?«
»Ja, es ist Montag.« Mein Vater beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Aber mach dir wegen deiner Arbeit keine Sorgen! Ich habe Nicolas bereits kontaktiert. Er ist schon unterwegs. Tatsächlich hat der Doc sogar ein bisschen nachgeholfen, was deinen Schlaf betrifft. Er wollte sicherstellen, dass du komplikationslos gesund wirst, und in dem Punkt konnte ich ihm nur von ganzem Herzen zustimmen. Wunden wie deine brauchen Zeit, um zu verheilen, ganz besonders bei einem Neugeborenen. Ich bin nur froh, dass wir dich in einem Stück zurückbekommen haben. Du hast uns da wirklich auf einen ganz schönen Höllenritt geschickt!«
Ich war erleichtert, dass mein Geschäftspartner und bester Freund Nick Michaels hierher unterwegs war. Es würde mir guttun, noch einen Verbündeten an meiner Seite zu haben. Denn ich hatte keine Ahnung, wohin das alles noch führen mochte. »Die Wandlung war der reine Wahnsinn. Aber wie es zu der Verletzung gekommen ist, daran erinnere ich mich nicht.« Dann korrigierte ich mich. »Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich habe eine klare Erinnerung an den Schmerz. Aber aus welchem Grund auch immer kann ich mich kaum an die Wiederkehr erinnern.«
Mein Vater lehnte sich zurück. »Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man sich bei der ersten Wiederkehr von seinem Wolf abkoppelt. Deine Wandlung war ein unerwartetes, traumatisches Ereignis. Ich sagte es ja schon: Wenn man dagegen ankämpft, kann es wirklich qualvoll werden. Deine Wölfin hat wahrscheinlich die Kontrolle übernommen, während deine menschliche Seite in einem Schockzustand verharrt ist. So was passiert. Es ist nicht gerade der ideale Ablauf, aber es passiert.«
Ein bisschen war ich überrascht von seiner Reaktion. Aber ich war auch unendlich froh, dass er offenbar nicht vorhatte, mich so lange ans Bett zu ketten, bis ich mehr Kontrolle über die Vorgänge hätte. »Es hat sich nicht so angefühlt, als hätte ich einen Schock gehabt. Aber ich schätze, es ist durchaus möglich. Am Ende war es, als würde meine Wölfin einen Schalter zwischen uns umlegen und mir die Kontrolle zurückgeben. Bis dahin war ich sozusagen nur der Beifahrer. Kaum hatte ich das Steuer wieder übernommen, habe ich nur eine Nase von meiner Wunde nehmen müssen, und schon war ich ohnmächtig.« Der erste schwierige Augenblick in meinem Dasein als Werwölfin, und ich verlor die Besinnung, als gäbe es nichts Erstrebenswerteres.
Mein Vater musterte mich einen Moment schweigend. Dann strich er sich mit einer Hand durch das Haar. Das tat er schon mal, wenn er gestresst war - sehr gestresst. Denn Stress so zu zeigen, verbot er sich normalerweise. »Tja.« Er räusperte sich. »Ich weiß nicht so genau, was da passiert ist. Aber es kann viele Jahre dauern, die Herrschaft über seinen Wolf zu erringen. Wenn deine Wölfin dir die Kontrolle freiwillig zurückgegeben hat, dürfen wir hoffen, dass du damit keine Probleme haben wirst.« Er beugte sich vor und musterte mich noch aufmerksamer. »Das ist ein Zeichen dafür, dass deine menschliche Seite stark ist, und das ist eine verdammt gute Sache!«
Von Werwölfen wurde gefordert, dass sie unter Beweis stellten, den inneren Wolf in der Gewalt zu haben. Erst danach durften sie wieder in die Gesellschaft der Menschen zurückkehren. Der innere Wolf wollte, ja, forderte instinktiv die alleinige Vorherrschaft. Die menschliche Seite musste stark genug sein, um die Wolfstriebe zu jeder Zeit im Zaum zu halten. Ausnahmslos.
Ich nagte an meiner Unterlippe.
Ganz so ideal war es ja nun nicht abgelaufen. Ich wusste nur eines: Ich hatte meine Wölfin davon abgehalten, den Farmer zu töten. Aber ich hatte keine Ahnung, was zu tun wäre, sollte es erneut so weit kommen. Dennoch gab ich mich damit zufrieden, das Thema vorerst fallen zu lassen, und fragte stattdessen: »Woher wusstest du, dass ich mich wandle? Wie hast du mich gefunden?« Ich bin im Wolfshabitat aufgewachsen. Also wusste ich auch eine Menge über Wölfe. Aber man hatte mich auch über viele Dinge im Dunkeln gelassen.
Ehe mein Vater antworten konnte, stürmte mein Bruder ins Zimmer. Seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er noch ein Stück gewachsen. »Wir haben dich gefunden, weil du stinkst, und Gestank ist leicht zu verfolgen.« Er warf sich neben mich aufs Bett und drängte mich ganz selbstverständlich zur Seite.
»He, schön vorsichtig, du Riesenochse! Ich erhole mich hier von einer schweren Verletzung.« Kichernd zog ich das kaum noch schmerzende Bein an, um ihm Platz zu machen. Aber auch das reichte nicht. Denn er war ein Riesenkerl und das Bett geradezu winzig.
»Dann bist du wohl nicht sonderlich stark, du schwaches Mädchen! Wäre es nämlich mein Bein, dann wäre es jetzt längst wieder so gut wie neu.« Grinsend offenbarte er seine Zähne und Grübchen. Meine ewige Konkurrenz.
»Du hast leicht reden«, erwiderte ich. »Dir wurde nicht gerade von einem wütenden Farmer fast das Bein abgeschossen.« Ich beugte mich zu ihm hinüber und versetzte ihm spielerisch einen Stoß. Tyler rührte sich kein Stück. Mit seinen eins sechsundneunzig und seinen Muskelpaketen sah er aus, als wollte er als Catcher für die WWE in den Ring steigen. Tyler sah unserem Vater ähnlich. Gut, das taten wir beide - nur hatte Tyler blondes Haar, Vater und ich stattdessen dunkles. Außerdem hatte er ein paar hübsch verschämte Grübchen, ein Erbe unserer verstorbenen Mutter. Aber das, was uns unverkennbar als Geschwister auswies, waren unsere himmelblauen Augen.
»Sieh's ein, Jess: Ich habe mir schon einen Haufen mehr Schrammen geholt als du, und am nächsten Tag ging es mir immer blendend«, behauptete Tyler. »Du bist nur eine halbe Portion - ein Mädchen eben!«
»Ach ja, klar doch! Weißt du noch, damals, als wir mit Danny in den Bergen waren? Dich musste man auf einer Trage wegschleppen! Du warst damals ganze drei Tage ausgeschaltet.«
»Ich hatte einen Schädelbruch, und mir ist das Gehirn ausgelaufen. Das ist wohl kaum eine geringfügige Verletzung!«
»Nun, bisher ging ein abgeschossenes Bein auch nicht als geringfügig durch!«
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln.
Ohne Vorwarnung verkrampfte sich mein Körper erneut. Schmerz brannte in meinen Adern wie ein schlimmer Sonnenbrand nach einem Hitzetag am Strand. Unterwegs entfachte der Schmerz in jeder Zelle ein Feuer. Ich biss die Zähne zusammen und bemühte mich mit aller Kraft, der Welle aus Schmerz zu widerstehen.
Dann, so plötzlich, wie es angefangen hatte, war es vorbei.
Der abrupte Verlust jeder körperlichen Empfindung machte mich schlagartig hellwach. Ich riss in der Dunkelheit die Augen auf. Das war kein verdammter Traum. Rasch überprüfte ich meinen körperlichen Zustand. Die Bestandsaufnahme verriet mir, dass sich mein Körper anfühlte, als stünde er unter Strom. Aber glücklicherweise konnte ich mich wieder ganz normal bewegen. Das schwache, grüne Licht meiner Digitaluhr zeigte 2:07 an. Ich hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Ich drehte mich auf die Seite. Schweißfeucht klebte mir eine Haarsträhne auf der Wange. Ich strich sie mir aus dem Gesicht. Aber kaum dass meine Finger in Hautkontakt kamen, keuchte ich auf und riss die Hand zurück wie ein Kind, das gerade einen heißen Ofen angefasst hatte.
Heilige Scheiße, ich brenne!
Das konnte nicht stimmen.
Keine Panik, Jess: Denk logisch!
Ich legte den Handrücken an die Stirn, um mir ein klareres Bild zu machen. Die Stirn war glutheiß; durchgeglühte Kohlen im Ofen hätten sich kühler angefühlt als meine Haut.
Ich muss wirklich krank sein.
Krank zu sein hatte in meinem Leben Seltenheitswert, aber vorkommen konnte es schon. Ich war nicht anfällig für Krankheiten, aber ich war auch nicht immun. Mein Zwillingsbruder wurde nie krank. Trotzdem war ich für Viren empfänglich, sofern sie bösartig genug waren.
Ich setzte mich auf und gestattete meinem Verstand, noch einen kurzen Moment über eine ganz andere Erklärung für meine Symptome zu sinnieren. Die Vorstellung war absurd. Reiß dich zusammen, dachte ich, du bist eine sechsundzwanzigjährige Frau. Das wird nie passieren. Es ist bestimmt nur eine Grippe. Kein Grund zur ...
Ich hatte nicht einmal einen Atemzug Zeit, ehe mich ein neuer schmerzhafter Krampf mit voller Wucht erwischte. Es warf mich in die Kissen zurück, als der Schmerz durch mich hindurchpflügte. Mit dem Kopf knallte ich gegen das Kopfteil und zertrümmerte die Holzleisten, als wären es Streichhölzer. Mein Körper bäumte sich auf, das Kreuz durchgedrückt, als wollte ich es mir brechen. Wild schlug ich mit den Armen um mich, stieß gegen den Nachttisch und fegte alles hinunter, was darauf stand. Die Nachttischlampe explodierte beim Aufprall auf dem Boden. Der scharfe Knall ging in einem der Lage höchst angemessenen, jeder gut erzogenen Dame bestens zu Gesicht stehenden Aufschrei unter. »Scheiiiße!«
Die nächste Schmerzwelle mit ihren Krämpfen brach über mich herein und schwappte wie ein heißer Lavastrom tief hinein in meine Seele. Aber dieses Mal verlor ich mich nicht im fahlen Dunst des Unbewussten, dämmerte nicht hinüber. Dieses Mal blieb ich wach. Ich musste dagegen ankämpfen!
Ich war nicht krank.
Ich war mitten in der Wandlung!
Herr im Himmel, Frau, da verbringst du dein ganzes Leben damit, über diesen Augenblick nachzudenken, und wenn er kommt, willst du dir einreden, du hättest Grippe?! Was ist los mit dir? Wenn du am Leben bleiben willst, musst du deine Medizin nehmen, ehe es zu spät ist!
Der Schmerz begrub mich unter sich, starr und steif hingen Arme und Beine an meinem Leib. Ich war nicht imstande, mich zu rühren, während mich die Krämpfe mit unverminderter Kraft schüttelten, eine Welle nach der anderen. Die Erinnerung an die Stimme meines Vaters hallte klar und deutlich durch meinen Kopf: Jessica, widersprich mir nicht! Das ist eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Du musst es ständig bei dir haben. Ich hatte mich dümmer und sturer verhalten, als gut für mich war, und nun bezahlte ich den Preis dafür. Zu meiner Sicherheit sollte ich das neue Lederetui mit der einsatzbereiten Spritze, die einen ganz besonderen Drogencocktail enthielt, stets in Griffweite behalten. Der Inhalt war dazu gedacht, mir bei Bedarf die Besinnung zu rauben. Du wirst es vielleicht nie brauchen, aber wie du sehr gut weißt, ist das eine der Bedingungen dafür, dass du alleinlebst.
Es tut mir so leid, Dad.
Das hätte nicht passieren dürfen. Meine Markergene waren nicht dafür codiert. Es war schlicht eine Unmöglichkeit. In einer Welt voller Unmöglichkeiten.
Ich war ja so dumm gewesen!
Mein Körper krampfte immer noch, meine Muskeln zuckten unentwegt. Ich war gefangen in einem Tanz, aus dem ich mich nicht befreien konnte. Der Schmerz loderte auf und erreichte schließlich seinen zerstörerischen Höhepunkt. Als er die Leiter hoch und höher bis zur höchsten Note hinaufstieg, sie erreichte, zersplitterte mein Bewusstsein wie Glas.
Alles wurde segensreich schwarz.
Viel zu schnell jedoch tanzten stecknadelkopfgroße Lichtpunkte hinter meinen Augenlidern. Ich schlug die Augen auf. Der Schmerz war fort. Nur ein Widerhall davon, ein leises Pochen wie ein steter Strom, war zurückgeblieben. Ich brauchte einen Moment, bis ich es begriff: Ich kauerte auf dem Boden neben meinem Bett auf allen vieren, Knie und Handflächen blutig von den Scherben meiner zerbrochenen Lampe. Mein Nachttischchen lag zertrümmert um mich herum. Es sah aus, als hätte ein Hurrikan in meinem Schlafzimmer gewütet. Ich hatte keine Zeit mehr zu verlieren.
Die Medizin ist jetzt deine einzige Chance! Los doch!
Das Badezimmer war gerade einmal eineinhalb Meter entfernt. Ich zwang mich voran, zog mich mit zittrigen Armen vorwärts und schleifte meinen nutzlosen Körper hinter mir her.
Komm schon, du schaffst das! Es ist gleich da vorn.
Ich kam nicht weit. Wieder schlug der Schmerz zu, hart und heftig. Ich fiel auf die Seite, und die Muskeln unter meiner Haut gerieten heftig in Aufruhr. Himmelherrgott! Der Schmerz, böse und unerbittlich, kam direkt aus einem Märchen, einem sehr bösen, niederträchtigen Märchen.
Ich stöhnte, bebte vor Schmerz, schrie in meinem Kopf auf und suchte nach dem Einzigen, was mir nun noch helfen konnte. Mein Bruder war meine einzige Chance. Tyler, es passiert! Ty, Ty ... Bitte! Tyler, kannst du mich hören? TYYY...
Eine neuerliche Wolke aus Dunkelheit zupfte am Rand meines Bewusstseins, und ich hieß sie willkommen. Mir war alles recht, wenn nur diese schrecklichen Qualen aufhörten! Ehe Schmerz mich überwältigte auf diesem schmalen Grat zwischen wirklich und unwirklich streifte etwas ganz zart meine Sinne. Ein Schauder der Erkenntnis erfasste mich. Aber da stimmte etwas nicht. Das war nicht die Stimme meines Bruders.
Dad?
Nichts als Leere erfüllte meinen Geist. In Gedanken beschimpfte ich mich: Du hoffst doch nur auf ein Wunder.
Frauen waren nicht dazu geschaffen, sich zu wandeln. Das hatte ich mein Leben lang gehört. Wie könnten sie sich denn auch wandeln, wenn es sie gar nicht geben sollte? Ich war ein Fehler, ich war immer schon ein Fehler gewesen, und es gab nichts, was mein Vater tun könnte, um mir jetzt noch zu helfen.
Schmerz schwappte hoch, explodierte in meinem Kopf, und sein Zorn riss mich erneut in Stücke.
Jessica. Jessica, kannst du mich hören? Wir sind unterwegs. Bleib bei uns! Nur noch ein paar Minuten! Jessica ... Halt durch, Liebling. Jess!
Ich kann nicht, Dad. Ich kann einfach nicht.
Blut.
Furcht durchbohrte mich wie ein eisiger Speer. Ich reckte die Nase empor und kostete die Luft. Kälte strich über meinen Rücken, ließ mir die Haare zu Berge stehen und jagte mir eine Gänsehaut über den Leib. Ich zitterte. Schwerer Atem rauschte viel zu laut in meinen empfindlichen Ohren. Ich lugte in die Finsternis, inhalierte wieder tief die köstliche Luft.
Blut.
Geräusche brodelten unter mir empor, polternde Geräusche. Ich wich in die Ecke zurück und wimmerte. Das Pochen in meiner Brust, laut wie Donnerschlag, umgab mich, hüllte mich ein in meine eigene Furcht.
Raus.
Ich tat einen Satz voran. Ich sah meine Klauen über den Boden schlittern, glitt aus, die Oberfläche war viel zu glatt, um Halt zu finden. Ich raffte mich wieder auf und sprang durch einen dunklen Tunnel in einen größeren Raum. Überall um mich herum zerbrachen und zerbarsten ohrenbetäubend laut Dinge und machten mir Angst. Ich sprang auf etwas Großes, und meine Klauen schlitzten sich mühelos hindurch. Ich segelte davon und landete Zentimeter von einem Lichtfleck entfernt.
Raus.
Meine Ohren kribbelten. Ich senkte die Nase auf den Boden, inhalierte, als die Laute auf mich einstürmten. Bilder schoben sich in mein Bewusstsein. Menschen, Furcht, Lärm ... Qual. Tief aus meiner Kehle kaum ein Laut, halb Knurren, halb Maunzen. Ein lautes Geräusch schepperte über meinen Kopf hinweg. Ich tat einen Satz zurück, drehte mich weg, suchte.
Dann sah ich es.
Raus.
Ich stürzte auf den Mondschein zu und prallte hart gegen ein Hindernis. Es gab sofort nach, zerbarst einfach. Ich streckte mich. Kraft strömte durch meinen Körper. Der Boden kam rasch näher; meine Vorderpfoten fanden zu plötzlich festen Halt. Unter der Macht des Aufpralls klappten meine Kiefer heftig zusammen. Das Ding unter mir gab mit einem lauten Krachen nach, und im nächsten Moment kam ich schon auf dem Boden auf.
Laufen.
Ich rannte über harte Oberflächen und entdeckte ein schmales Waldstück, das ich durchquerte, bis die Bäume offenem Land wichen. Ich rannte und rannte. Ich rannte, bis die Gerüche mich nicht länger verwirrten, bis die Geräusche ihre Angriffe auf meine empfindlichen Ohren einstellten.
Verstecken.
Ich schwenkte zu einer dichten Baumgruppe ab. Einmal in ihrem Schutz, tauchte ich ab ins Unterholz. Der Geruch gefiel mir. Ich schlängelte mich unter die niedrigsten Zweige, bis ich ganz und gar verborgen war. Als ich mich etwas beruhigt hatte, blieb ich still liegen und spitzte die Ohren. Ich öffnete den Mund und ließ die feuchte Luft über meine Zunge gleiten, kostete sie, und meine Nasenlöcher bebten. Die Gerüche der Umgebung drängten rasch auf mich ein, und mein Gehirn ordnete sie auf effiziente Weise. Der ätzende Gestank frischer Ausscheidungen hing in der Luft.
Beute.
Ich legte den Kopf schief und lauschte. Das leise Rascheln und Grunzen war kaum wahrnehmbar. Meine Ohren zuckten interessiert hoch, und mein Magen knurrte lange und ausgiebig.
Essen.
Wieder kostete ich die Luft, kontrollierte sie auf verwirrende Gerüche, Gerüche, die ich nicht mochte. Dann ließ ich den Kopf hängen, ließ ihn tief bis hinunter auf den Boden sinken und winselte. Der Hunger, der in meinem Inneren nagte, bereitete mir Krämpfe.
Essen, essen, essen.
Ich konnte es nicht ignorieren. Der Hunger zehrte an mir, tat mir weh. Langsam kroch ich aus meiner Zuflucht unter den Bäumen heraus zu einer mit hohem Gras bestandenen Lichtung. Ich hob den Kopf über die sich sanft wiegenden Halme und inhalierte. Die Beute war nah. Ich schlich durch die Dunkelheit, lautlos und stark. Bald glitt ich mühelos unter dem harten, hölzernen Hindernis hindurch in ihr Gehege und weiter in die Dunkelheit ihres großen Baus. Die Pfoten setzte ich auf altes, muffiges Gras, ohne sonst etwas aufzurühren.
Beute.
Der Wind drehte, kam jetzt aus meiner Richtung. Nun witterten sie mich zum ersten Mal. Mit wütendem Blöken stampften sie mit den Hufen, wütend wegen des Eindringlings. Ich glitt unter einer weiteren, wackeligen Barriere hindurch. Mein Körper fühlte sich geschmeidig und agil an, als ich an dem splittrigen Holz entlangschlich. Ich hatte meine Beute entdeckt.
Essen.
Ich sprang, meine Kiefer arbeiteten, meine Eckzähne fanden den Hals und bohrten sich tief hinein. Süßes Blut floss in meinen Mund. Mein Hunger loderte hoch wie ein unersättliches Feuer, und im Rausch verdrehte ich die Augen. Das Tier brach zusammen, starb noch im selben Moment, in dem es im schmutzigen Heu landete. Ich warf mich darauf, riss wütend an seinem Fleisch, zerrte große Stücke heraus und schlang sie unzerkaut hinunter.
»Gottverdammte Wölfe!«
Mein Kopf zuckte hoch, als ich die Laute hörte. Erkenntnis spiegelte sich in meinen Augen.
Mensch.
»Euch werde ich lehren, herzukommen und in meiner Scheune zu wüten, ihr räudiger Haufen Scheiße!«
Geräusche explodierten, Schmerz flammte auf, als ich zurückfuhr und gegen die Seitenwand des Baus krachte. Ich versuchte, mich aufzurichten, aber meine Klauen glitten in der schlüpfrigen Masse aus. Blut. Ich passte mich an, fand meine Bodenhaftung wieder und katapultierte mich hoch in die Luft. Der beißende Geruch der Furcht drang in meine Nase, und ich erbebte innerlich vor Verlangen.
Töten.
Ein tiefes Knurren löste sich aus meiner Kehle, und meine Reißzähne schnappten zu. Meine Pfoten fanden ihr Ziel, und wir gingen beide geräuschvoll zu Boden.
Meins.
Ich biss zu. Blut sammelte sich auf meiner Zunge.
»Bitte ... nicht ...«
Nein!
Ich ließ ab.
»Nein!«
Ich wich zurück.
»Bob, ist bei dir da draußen alles in Ordnung?«
Gefahr.
Raus!
Ich hastete weiter, humpelte durch den Schatten. Dann entdeckte ich eine kleine Öffnung, sprang und kam mit einem schmerzerfüllten Fauchen auf. Mein Hinterbein gab unter mir nach, aber ich musste in Bewegung bleiben.
Laufen!
Ich rannte, huschte unter dem Hindernis hindurch. Ein alarmierter Aufschrei zerriss hinter mir die Luft. Ich aber rannte und rannte, bis um mich herum nichts mehr war als Finsternis.
Ausruhen.
Ich kroch unter einen dichten Laubteppich und rollte mich zusammen. Leckte meine Wunde. Sie war groß. Ich schloss die Augen. Sofort flackerten Bilder durch meinen Verstand, immer eines nach dem anderen.
Mann, Junge ... Frau.
Ich konzentrierte mich auf sie.
Ich brauchte sie.
Jessica.
Ich rief sie zu mir zurück.
Und sie kam bereitwillig.
Jessica! Jessica! Liebling, kannst du mich hören? Antworte mir!
Jess, ich bin's, Ty! Du musst auf Dad hören und verdammt nochmal aufwachen!
Mein Gehirn fühlte sich so benebelt an, als wäre es inwendig von einer dicken Moosschicht überwuchert.
Jessica, du musst mir jetzt antworten! Jessica. Jessica!
»Dad?«
Ich blinzelte in den Sonnenschein, der durch einen Vorhang aus Ästen zu mir herabdrang. Die Äste hingen nicht weit über mir. Ich war wieder menschlich. Ich hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen war, aber ich war erleichtert. Ich versuchte, mich zu bewegen. Aber kaum zuckte der erste Muskel in meinem Bein, da riss mich der Schmerz endgültig zurück in die Wirklichkeit.
Mit dem Schmerz kehrte auch alles andere zurück.
Die Wandlung, die Flucht, der arme Kerl, dieser Farmer. Ich schauderte, als sich die Erinnerungen wie ein flackernder Film von einer alten Filmrolle vor mir abspulten, ein Ausschnitt meines Lebens, in dem ein abgeschmacktes widerliches Einzelbild auf das andere folgte. Ich war da gewesen, ich hatte das erlebt. Aber ich hatte keinerlei Kontrolle über das Geschehen gehabt - außer am Schluss. Ich hoffte verzweifelt, dass der Farmer noch am Leben war. Nein zu sagen hatte mich viel Mühe gekostet. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was danach geschehen war, und ich hatte keine Ahnung, wo ich war.
Nach allem, was ich über Wölfe wusste, war Kontrollverlust ein extrem schlechtes Zeichen. Wenn ich meine Wölfin nicht bändigen konnte - wenn ich nicht imstande wäre, die Herrschaft über die Bestie in mir zu erringen -, würde mir nicht gestattet sein, am Leben zu bleiben.
Heilige Scheiße, ich bin eine Wölfin!
Ich hob den Kopf und sah an meinem entblößten, sehr nackten Körper herab. Ich konzentrierte mich auf die Verletzung und sah zu, wie sich die Wunde ganz langsam wieder schloss. Unglaublich! Bei anderen hatte ich früher so etwas schon gesehen. Bis jetzt jedoch hatte ich nie in die Kategorie der Superselbstheiler gehört. Junge männliche Wölfe erwerben diese Fähigkeit nach der ersten Verwandlung. Mein Körper musste noch dabei sein, sich anzupassen. Denn meine Hüfte war immer noch abscheulich anzusehen: Getrocknetes Blut befleckte meine ganze rechte Seite, und das Zentrum der Wunde, dort, wo mich der Schuss getroffen hatte, sah aus wie ein Teller mit rohem Hackfleisch.
Glücklicherweise ging die Wunde nicht bis auf den Knochen. Das wäre schlimm gewesen. Aber nun, da ich wach war und mich regte, hatte der Schmerz wieder zugenommen.
Ich schloss die Augen und ließ den Kopf zurücksinken. Der Zusammenstoß der letzten Nacht war hoffentlich nicht typisch für eine normale Jungwerwolfnacht. Aber falls doch, war ich ja so was von im Arsch!
Jessica!
Mein Kopf zuckte so hastig hoch, dass er gegen einen spitzen Ast stieß. Au, verdammt! »Dad?« Also war das doch keine Einbildung gewesen. Ich wusste, dass der Alpha intern mit seinen Wölfen kommunizieren konnte. Aber seine Stimme zu hören, war neu für mich. Ich lauschte konzentriert. Nichts. Zaghaft schickte ich einen Gedanken hinaus, so, wie ich es mit meinem Bruder zu tun pflegte.
Dad?
Oh mein Gott, Jessica! Geht es dir gut? Antworte mir!
Ja! Ich kann dich hören! Mir geht es gut, äh ... Na ja, zumindest glaube ich das. Ich habe Schmerzen und kann mich nicht so gut bewegen. Aber ich lebe noch. Meine Hüfte sieht aus, als wäre sie durcheinen Fleischwolf gedreht worden. Aber sie flickt sich allmählich von selbst wieder.
Bleib, wo du bist! Wir sind gleich bei dir. Ich habe deine Fährte für ein Weile verloren, aber jetzt sind wir wieder dran.
Okay. Ich liege unter irgendeinem dichten Gestrüpp. Aber ich habekeine Ahnung, wo das ist. Und wegen meines Beins kann ich auch nicht raus.
Schnauben. Es ist also noch nicht verheilt?
Tyler?
Wer sonst?
Die Stimme meines Bruders in meinem Kopf zu hören, setzte eine ganze Flut von Gefühlen frei. Mir war bis zu diesem Moment gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Du kannst davon ausgehen, dass ich nicht damit gerechnet habe, dich wieder in meinem Hirn zu haben. Das konnten wir seit unserer Kindheit nicht mehr. Aber es tut wirklich gut, von dir zu hören.
Tylers Gedanken veränderten sich nun, fühlten sich schwerer an - wie ein leises, schleppendes Flüstern, das durch die Windungen meines Verstandes kroch. Jess, ich habe gehört, dass du mich gestern Nacht gerufen hast. Du weißt schon, als es angefangen hat. Das hat sich fürchterlich angehört, so, als würdest du sterben oder so. Tut mir leid, dass ich es nicht rechtzeitig zu dir geschafft habe. Ich habe es versucht, aber ich kam zu spät.
Schon gut, Tyler. Wir konnten uns so lange nicht mehr auf diese Weise verständigen. Im Grunde habe ich so oder so nicht damit gerechnet, dass es funktioniert. Soweit es mich betrifft, war das ein letzter verzweifelter Versuch, mein Bewusstsein von diesem beängstigenden und schmerzhaften Prozess der Wandlung zu lösen. Mach dir deswegen keine Gedanken! Du hättest so oder so nichts tun können. Es ging irrsinnig schnell. Beinahe zu schnell, um es zu verarbeiten. Bei der Erinnerung setzte mein Herz für einen Moment aus.
Ich hörte - oder fühlte vielleicht - ein Stolpern und einen geknurrten Fluch. Du wirst dich daran gewöhnen, hörte ich Tyler sagen. Die Wandlung fällt leichter, wenn du es erst ein paar Mal erlebt hast. Halte durch, ich glaube, wir sind schon fast bei dir! Wir hatten deine Fährte in der Scheune verloren. Himmel, du hast den Ladenganz schön auseinandergenommen! Überall war Blut.
Mein Verstand projizierte ein hässliches Bild, ehe ich etwas dagegen tun konnte. Hoffentlich hat der Farmer überlebt. Ich bewegte mich vorsichtig und zuckte zusammen, als der Schmerz mein Rückgrat emporschoss. Einen normalen Menschen hätte meine Verletzung umgebracht. Ich würde zweifellos überleben. Trotzdem tat es höllisch weh.
In scharfem Ton gab mein Vater seine Sorge in meinem Verstand kund. Wir sind fast da, Jessica. Als wir deine Spur auf der anderen Seite der Scheune wiedergefunden hatten, mussten wir warten, bis die Polizei und der Rettungswagen weg waren. Aber jetzt dürfte es nicht mehr lange dauern. Bleib, wo du bist, und beweg dich nicht! Dein Geruch wird mit jedem Augenblick intensiver.
Ja, du riechst wie ein Mädchen. Das ist ziemlich seltsam.
Na, vielleicht liegt's daran, dass ich eins bin. Oder hast du das vergessen, weil wir uns so lange nicht gesehen haben?
Nö, vergessen habe ich es nicht. Aber du riechst eben einfach nicht wie ein gewöhnlicher Wolf, ließ sich Tyler vernehmen. Wölfe riechen, ich weiß nicht, irgendwie derb und erdig. Du riechst zu weiblich, beinahe wie Parfüm. Das liegt mir irgendwie schwer auf der Kehle. Ich spürte, wie er im Zentrum meines Bewusstseins leise hustete, was absolut bizarr war.
Gut, dann dürfte es dir ja nicht schwerfallen, mich zu finden!
Prusten.
Wir sind gleich da, versicherte mir Dad. Keine Sorge, wir habenganz in der Nähe einen Wagen stehen, mit dem wir dich zurückbringen können.
Die Kommunikation war anstrengend und forderte ihren Tribut: Ich bekam schlimme Kopfschmerzen. Der Schmerz in meiner Hüfte flammte auf, und in meinen Ohren rauschte es. Mir ist plötzlich irgendwie schummrig ...
Halte durch ...!
Kapitel 2
Als ich erwachte, war ich umgeben von weißen Wänden und dem Geruch von Desinfektionsmittel, Latex und Kaffee. Der Raum wirkte wie ein typisches Krankenhauszimmer, sauber, hell und steril, nur dass er exklusiv für Werwölfe eingerichtet worden war. Er lag tief unter der Erde, weil Werwölfe nicht gerade für ihre ruhige, besonnene Art bekannt sind. Doch selbst ihnen fällt es, wenn sie völlig von Sinnen sind, verdammt schwer, sich einen Weg durch die Erde zu buddeln.
Niemand außer mir lag in dem Krankenzimmer. Das machte die Dinge einfacher. Neugeborene Wölfe bedeuteten Chaos, und weniger Chaos war eindeutig ein Vorzug. Denn gestern Nacht hatte ich das Unmögliche zustande gebracht: Ich war zum einzigen lebenden reinrassigen Werwolf auf dem ganzen Planeten geworden, der weiblich war. Meine neue Identität würde den übernatürlichen Status quo ins Wanken bringen. Je eher ich mich auf die unerfreulichen Auswirkungen, die es zweifellos geben würde, einstellen konnte, desto besser. Zuerst aber sollte ich vielleicht doch meinen Arsch aus diesem Krankenhausbett hieven. »Hallooo «, rief ich, »jemand da?«
Während ich auf eine Antwort wartete, spannte und dehnte ich das Bein, wartete auf den Schmerz. Es zwickte mich noch leicht in Hüfthöhe, aber davon abgesehen fühlte sich alles völlig normal an. Die Wunde konnte ich nicht sehen. Mein Bein war nämlich in genug Verbandsmull eingewickelt, um damit eines von diesen hübschen Dekokissen fürs Sofa zu stopfen. Als ich mich an das Hackfleisch erinnerte, aus dem mein Bein bestanden hatte, war ich ganz froh darüber, auf den Anblick verzichten zu dürfen. Ich hatte keine Ahnung, ob diese Tortur Narben zurücklassen würde oder nicht. Ich hatte noch eine Menge zu lernen über meinen neuen Körper.
Ein Stockwerk über mir begann eine Unterhaltung. Der tiefe Bariton meines Vaters war unverkennbar. Ich neigte den Kopf. Beinahe erwartete ich, einen bionischen Piepton zu hören, als ich mich auf das Gespräch konzentrierte. Verblüffend, wie klar ich alles hören konnte, gerade so, als wären sie im selben Raum wie ich. Ich probierte mein Sehvermögen an Schächtelchen auf der anderen Seite des Raums aus und konnte die winzigen Buchstaben auf den Etiketten problemlos lesen.
Schritte kamen die Stufen herab, und mein Vater, Callum McClain, der Rudelführer der U.S. Northern Territories, kam in mein Blickfeld. »Das wird auch verdammt Zeit!« Ich schenkte ihm ein breites Grinsen. Es war eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, und ich hatte ihn vermisst. Seit ich das Wolfshabitat vor sieben Jahren verlassen hatte, waren wir uns gerade einmal bei einer Handvoll Gelegenheiten begegnet. Wir mussten hinsichtlich unserer Treffen stets größte Vorsicht walten lassen. Denn hätte man uns zusammen gesehen, hätte das in der Gemeinschaft der Übernatürlichen eine Menge Unruhe ausgelöst. Gerüchte hätten dann meine Tarnidentität auffliegen lassen können. Mit dem unabhängigen Leben, das ich mir so schwer erarbeitet hatte, wäre es dann Essig gewesen.
»Jessica, du hast mich zu Tode erschreckt.« Mein Vater trat an mein Bett. Mit seinem vollen dunklen Haar und dem vollkommen faltenfreien Gesicht sah er keinen Tag älter aus als fünfunddreißig.
»Ich habe mich selbst zu Tode erschreckt.« Ich kicherte. »Du kannst Gift drauf nehmen: Ich hatte für den Abend andere Pläne, als ausgerechnet zur Wölfin zu werden. Außerdem dachte ich, ich würde sterben. Das hat der ganzen Geschichte einen gehörigen Dämpfer verpasst. Es hat sich angefühlt, als würde mir jemand mit stumpfem Blatt Arme und Beine absägen.«
»Das erste Mal ist immer heftig«, sagte mein Vater. »Besonders wenn ich nicht da bin, um den Wandel zu unterstützen. Es ist viel leichter, wenn man sich nicht dagegen wehrt und Ruhe bewahrt. Das Sedativum hätte dir den Schmerz erspart. Warum hast du es nicht genommen?« Mein Vater zog sich einen Stuhl an das Bett heran und nahm Platz. »Auf diese Notfallmaßnahme hatten wir uns doch geeinigt, falls du je in den Wandlungsprozess geraten solltest! Du hättest es dir injizieren und dich selbst ausschalten sollen. Dann hätten wir dich rechtzeitig finden können, damit dir im Zuge der Wandlung nichts zustößt. Wirklich, Jess, du hättest dich beim Sprung aus dem Fenster deiner Wohnung tödlich verletzen können! Und wir können von Glück reden, dass der Schuss dir nicht das Rückenmark durchtrennt hat! Ich habe dir vertraut und darauf, dass du unsere Vereinbarung einhältst. Ich bin davon ausgegangen, dass du sie minutiös befolgst.«
»Es tut mir leid.« Ich zupfte am Laken wie ein schuldbewusstes Kind. »Ich habe versucht, mir die Spritze zu holen, aber ich habe es nicht geschafft. Selbst schuld. Ich habe das Etui vor ein paar Jahren aus meinem Nachttisch genommen und in den Badezimmerschrank gelegt. Ich dachte, das wäre nahe genug. Aber ehrlich, ich habe nicht damit gerechnet, dass ich es je brauchen würde. Ich bin doch schon vor über zehn Jahren in die Pubertät gekommen, und es hieß doch immer, ich wäre genetisch nicht dazu geschaffen, mich zu wandeln.« Ich hielt einen Moment inne. »Es tut mir leid. Ich dachte, du wärest überfürsorglich - so wie immer.«
»Jessica, meine Liebe!« Dr. Jace betrat den Raum. Das vertraute weiße Haar umwehte sein Gesicht wie ein zarter Glorienschein. Unverkennbar amüsierte er sich prächtig, gepaart allerdings mit Verwunderung. »Du hast uns in Angst und Schrecken versetzt! Du bist ein Wunder, junge Dame, ein echtes Wunder!« Er schlurfte zu meinem Bett, ergriff meine Hand und tätschelte sie liebevoll. »Wer hätte das für möglich gehalten? Eine echte Weibliche unter uns. Erstaunlich, wirklich erstaunlich!«
»Doc Jace!« Ich hielt ihm die Wange hin, damit er mir den üblichen flüchtigen Kuss geben konnte. »Schön, Sie wiederzusehen! Es ist schon viel zu lange her. Sie sehen gut aus.« Der Doc kam meiner Vorstellung von einem Großvater näher als alles andere an Mann, was ich kannte. Er war einer der Reinmenschen unseres Rudels. Wie sein Vater und vor ihm sein Großvater kannte er unsere Geheimnisse, arbeitete für uns, war aber selbst kein übernatürliches Wesen. Reinmenschen waren eine Notwendigkeit in jeder übernatürlichen Gemeinschaft, da die Menschheit keine Ahnung von unserer Existenz hatte. Reinmenschen konnten Ärzte sein, Lehrer oder Anwälte; Individuen, die für eine bestimmte Funktion innerhalb der Gemeinde rekrutiert wurden. Doc Jace war ein hervorragender Arzt und ein enormer Pluspunkt für unser Rudel. »Ich bin so froh, dass Sie da sind«, sagte ich und ließ ein Grinsen aufblitzen, »denn Sie sind genau der Mann, der mir die Fragen beantworten kann, die mir auf den Nägeln brennen.«
»Aber gern, Jessica«, sagte er. »Ich werde mein Bestes tun, um deine Fragen zu beantworten.«
»Wie habe ich das überlebt? Ich dachte, ich wäre genetisch nicht zum Wolf geeignet und könnte gar keine vollständige Wandlung erleben. Es hieß doch immer, falls sich meine Körperchemie später, nach der Pubertät, doch noch verändern sollte, würde ich bei der Tortur vermutlich sterben. Aber ich lebe und bin wohlauf.«
Doc strich sich gedankenverloren über den Bart. »Ja, wirklich außergewöhnlich! Männliche Wölfe tragen ihren Wolfsmarker auf dem zweiten Y-Chromosom. Genau da sind sie ganz deutlich kodiert. Ich kann nur mutmaßen, dass dein Körper Träger des Gens ist, das dich als Wolf kennzeichnet, es aber irgendwo anders, in einem nicht kodierten Bereich, trägt.« Er tätschelte meine Hand. »Wirklich interessant! Was für ein Forschungsfeld!« Über unsere Gene zu rätseln, war sein Lebenswerk. »Dass du als Weibliche eine erfolgreiche Wandlung vollbracht hast, kommt einer Revolution gleich. Das ebnet uns auf diesem Forschungsgebiet einen ganz neuen Weg. Wahrhaft fantastisch, sag ich dir!«
Dass die Sache einer Revolution gleichkam, war mir längst klar. Denn es gab in unserer Art keine Weiblichen. Unter den Wölfen hatte schon meine Geburt größtes Missfallen ausgelöst. Besonders weil es da eine Pointe gab: Einer weit verbreiteten Legende nach war ich das pure Böse, eine Gefahr, geschaffen allein dazu, die Wolfsart zu vernichten. Wenn das Rudel erfahren würde, dass ich zum reinrassigen Wolf geworden war, würde es einen Riesenaufstand geben. Alles, was ich mir aufgebaut hatte, würde den Bach runtergehen. Das aber erwähnte ich dem Doktor gegenüber nicht. Stattdessen fragte ich: »Wie spät ist es? Wie lange war ich weg?«
»Es ist sieben Uhr morgens«, antwortete Doc. »Du hast beinahe achtzehn Stunden geschlafen, was nicht ungewöhnlich ist für einen Wolf, der sich von einer schweren Verletzung erholt. Ich nehme an, du bist jetzt bereit für Kaffee und Frühstück? Du musst ja beinahe verhungert sein! Die Wandlung erfordert unglaublich viel Energie, und neugeborene Wölfe sind von Natur aus hungrig.«
»Ja, Kaffee und etwas zu essen hört sich himmlisch an!« Wie aufs Stichwort knurrte mein Magen. »Ich bin wirklich kurz vor dem Verhungern!« Dr. Jace ging hinaus, und ich konzentrierte mich wieder auf meinen Vater. »Achtzehn Stunden? Ich habe achtzehn Stunden geschlafen? Soll das heißen, wir haben bereits Montagmorgen?«
»Ja, es ist Montag.« Mein Vater beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Aber mach dir wegen deiner Arbeit keine Sorgen! Ich habe Nicolas bereits kontaktiert. Er ist schon unterwegs. Tatsächlich hat der Doc sogar ein bisschen nachgeholfen, was deinen Schlaf betrifft. Er wollte sicherstellen, dass du komplikationslos gesund wirst, und in dem Punkt konnte ich ihm nur von ganzem Herzen zustimmen. Wunden wie deine brauchen Zeit, um zu verheilen, ganz besonders bei einem Neugeborenen. Ich bin nur froh, dass wir dich in einem Stück zurückbekommen haben. Du hast uns da wirklich auf einen ganz schönen Höllenritt geschickt!«
Ich war erleichtert, dass mein Geschäftspartner und bester Freund Nick Michaels hierher unterwegs war. Es würde mir guttun, noch einen Verbündeten an meiner Seite zu haben. Denn ich hatte keine Ahnung, wohin das alles noch führen mochte. »Die Wandlung war der reine Wahnsinn. Aber wie es zu der Verletzung gekommen ist, daran erinnere ich mich nicht.« Dann korrigierte ich mich. »Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich habe eine klare Erinnerung an den Schmerz. Aber aus welchem Grund auch immer kann ich mich kaum an die Wiederkehr erinnern.«
Mein Vater lehnte sich zurück. »Es ist nicht ungewöhnlich, wenn man sich bei der ersten Wiederkehr von seinem Wolf abkoppelt. Deine Wandlung war ein unerwartetes, traumatisches Ereignis. Ich sagte es ja schon: Wenn man dagegen ankämpft, kann es wirklich qualvoll werden. Deine Wölfin hat wahrscheinlich die Kontrolle übernommen, während deine menschliche Seite in einem Schockzustand verharrt ist. So was passiert. Es ist nicht gerade der ideale Ablauf, aber es passiert.«
Ein bisschen war ich überrascht von seiner Reaktion. Aber ich war auch unendlich froh, dass er offenbar nicht vorhatte, mich so lange ans Bett zu ketten, bis ich mehr Kontrolle über die Vorgänge hätte. »Es hat sich nicht so angefühlt, als hätte ich einen Schock gehabt. Aber ich schätze, es ist durchaus möglich. Am Ende war es, als würde meine Wölfin einen Schalter zwischen uns umlegen und mir die Kontrolle zurückgeben. Bis dahin war ich sozusagen nur der Beifahrer. Kaum hatte ich das Steuer wieder übernommen, habe ich nur eine Nase von meiner Wunde nehmen müssen, und schon war ich ohnmächtig.« Der erste schwierige Augenblick in meinem Dasein als Werwölfin, und ich verlor die Besinnung, als gäbe es nichts Erstrebenswerteres.
Mein Vater musterte mich einen Moment schweigend. Dann strich er sich mit einer Hand durch das Haar. Das tat er schon mal, wenn er gestresst war - sehr gestresst. Denn Stress so zu zeigen, verbot er sich normalerweise. »Tja.« Er räusperte sich. »Ich weiß nicht so genau, was da passiert ist. Aber es kann viele Jahre dauern, die Herrschaft über seinen Wolf zu erringen. Wenn deine Wölfin dir die Kontrolle freiwillig zurückgegeben hat, dürfen wir hoffen, dass du damit keine Probleme haben wirst.« Er beugte sich vor und musterte mich noch aufmerksamer. »Das ist ein Zeichen dafür, dass deine menschliche Seite stark ist, und das ist eine verdammt gute Sache!«
Von Werwölfen wurde gefordert, dass sie unter Beweis stellten, den inneren Wolf in der Gewalt zu haben. Erst danach durften sie wieder in die Gesellschaft der Menschen zurückkehren. Der innere Wolf wollte, ja, forderte instinktiv die alleinige Vorherrschaft. Die menschliche Seite musste stark genug sein, um die Wolfstriebe zu jeder Zeit im Zaum zu halten. Ausnahmslos.
Ich nagte an meiner Unterlippe.
Ganz so ideal war es ja nun nicht abgelaufen. Ich wusste nur eines: Ich hatte meine Wölfin davon abgehalten, den Farmer zu töten. Aber ich hatte keine Ahnung, was zu tun wäre, sollte es erneut so weit kommen. Dennoch gab ich mich damit zufrieden, das Thema vorerst fallen zu lassen, und fragte stattdessen: »Woher wusstest du, dass ich mich wandle? Wie hast du mich gefunden?« Ich bin im Wolfshabitat aufgewachsen. Also wusste ich auch eine Menge über Wölfe. Aber man hatte mich auch über viele Dinge im Dunkeln gelassen.
Ehe mein Vater antworten konnte, stürmte mein Bruder ins Zimmer. Seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er noch ein Stück gewachsen. »Wir haben dich gefunden, weil du stinkst, und Gestank ist leicht zu verfolgen.« Er warf sich neben mich aufs Bett und drängte mich ganz selbstverständlich zur Seite.
»He, schön vorsichtig, du Riesenochse! Ich erhole mich hier von einer schweren Verletzung.« Kichernd zog ich das kaum noch schmerzende Bein an, um ihm Platz zu machen. Aber auch das reichte nicht. Denn er war ein Riesenkerl und das Bett geradezu winzig.
»Dann bist du wohl nicht sonderlich stark, du schwaches Mädchen! Wäre es nämlich mein Bein, dann wäre es jetzt längst wieder so gut wie neu.« Grinsend offenbarte er seine Zähne und Grübchen. Meine ewige Konkurrenz.
»Du hast leicht reden«, erwiderte ich. »Dir wurde nicht gerade von einem wütenden Farmer fast das Bein abgeschossen.« Ich beugte mich zu ihm hinüber und versetzte ihm spielerisch einen Stoß. Tyler rührte sich kein Stück. Mit seinen eins sechsundneunzig und seinen Muskelpaketen sah er aus, als wollte er als Catcher für die WWE in den Ring steigen. Tyler sah unserem Vater ähnlich. Gut, das taten wir beide - nur hatte Tyler blondes Haar, Vater und ich stattdessen dunkles. Außerdem hatte er ein paar hübsch verschämte Grübchen, ein Erbe unserer verstorbenen Mutter. Aber das, was uns unverkennbar als Geschwister auswies, waren unsere himmelblauen Augen.
»Sieh's ein, Jess: Ich habe mir schon einen Haufen mehr Schrammen geholt als du, und am nächsten Tag ging es mir immer blendend«, behauptete Tyler. »Du bist nur eine halbe Portion - ein Mädchen eben!«
»Ach ja, klar doch! Weißt du noch, damals, als wir mit Danny in den Bergen waren? Dich musste man auf einer Trage wegschleppen! Du warst damals ganze drei Tage ausgeschaltet.«
»Ich hatte einen Schädelbruch, und mir ist das Gehirn ausgelaufen. Das ist wohl kaum eine geringfügige Verletzung!«
»Nun, bisher ging ein abgeschossenes Bein auch nicht als geringfügig durch!«
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Amanda Carlson
- 2013, 2. Aufl., 383 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Meier, Frauke
- Übersetzer: Frauke Meier
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404206843
- ISBN-13: 9783404206841
- Erscheinungsdatum: 14.03.2013
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