Volltreffer
Roman. Originalausgabe
Von einem, der auszog, sein Leben zu retten
Jahrelang stand Arthur im Schatten seines vermögenden Vaters. Jetzt ist der Alte tot und Arthur steinreich. Arthur genießt sein Dolce Vita, wenn ihn nur nicht immer wieder die Langeweile packte....
Jahrelang stand Arthur im Schatten seines vermögenden Vaters. Jetzt ist der Alte tot und Arthur steinreich. Arthur genießt sein Dolce Vita, wenn ihn nur nicht immer wieder die Langeweile packte....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Volltreffer “
Von einem, der auszog, sein Leben zu retten
Jahrelang stand Arthur im Schatten seines vermögenden Vaters. Jetzt ist der Alte tot und Arthur steinreich. Arthur genießt sein Dolce Vita, wenn ihn nur nicht immer wieder die Langeweile packte. Doch dann zieht die attraktive Susi ins Nachbarhaus, und Arthur mutiert zum liebeskranken Gockel. Was aber will so eine Granate mit einem Mann, Typ Versicherungsvertreter? Ehe Arthur sich's versieht, ist er mittendrin in einem Schlamassel, der einmal sein geruhsames Leben war und jetzt einem filmreifen Kriminalfall gleicht.
Jahrelang stand Arthur im Schatten seines vermögenden Vaters. Jetzt ist der Alte tot und Arthur steinreich. Arthur genießt sein Dolce Vita, wenn ihn nur nicht immer wieder die Langeweile packte. Doch dann zieht die attraktive Susi ins Nachbarhaus, und Arthur mutiert zum liebeskranken Gockel. Was aber will so eine Granate mit einem Mann, Typ Versicherungsvertreter? Ehe Arthur sich's versieht, ist er mittendrin in einem Schlamassel, der einmal sein geruhsames Leben war und jetzt einem filmreifen Kriminalfall gleicht.
Klappentext zu „Volltreffer “
Von einem, der auszog, sein Leben zu rettenJahrelang stand Arthur im Schatten seines vermögenden Vaters. Jetzt ist der Alte tot und Arthur steinreich. Arthur genießt sein Dolce Vita, wenn ihn nur nicht immer wieder die Langeweile packte. Doch dann zieht die attraktive Susi ins Nachbarhaus, und Arthur mutiert zum liebeskranken Gockel. Was aber will so eine Granate mit einem Mann, Typ Versicherungsvertreter? Ehe Arthur sich's versieht, ist er mittendrin in einem Schlamassel, der einmal sein geruhsames Leben war und jetzt einem filmreifen Kriminalfall gleicht.
"Ein Krimi der besonderen Art: grotesk, derb und bitterböse." -- Brigitte
"Eine heitere und überraschend pointengesättiget Screwball-Komödie!" -- Jan Dress über "Volltreffer" in 1Live
"Volltreffer ist ein komischer Krimi, in dem Cedric Arnold so ziemlich alles auf die Schippe nimmt, was ihm unter die Finger kommt. (...) Alles in liebenswertem Unterton. Irgendwie schleicht sich der Eindruck ins Hirn, als würde der legendäre Johannes Mario Simmel schreiben." -- Siegener Zeitung
"Eine heitere und überraschend pointengesättiget Screwball-Komödie!" -- Jan Dress über "Volltreffer" in 1Live
"Volltreffer ist ein komischer Krimi, in dem Cedric Arnold so ziemlich alles auf die Schippe nimmt, was ihm unter die Finger kommt. (...) Alles in liebenswertem Unterton. Irgendwie schleicht sich der Eindruck ins Hirn, als würde der legendäre Johannes Mario Simmel schreiben." -- Siegener Zeitung
Lese-Probe zu „Volltreffer “
Volltreffer von Cedric Arnold1. Kapitel
Als er die Augen öffnete, blickte er wie jeden Morgen auf den
Mann, der, seitdem er sich entsinnen konnte, sein Leben bestimmt
hatte. Natürlich sah er ihn nicht leibhaftig vor sich, es
war nur eine ausgeblichene Fotografie in einem mit Blumenornamenten
verschnörkelten Plastik-Stehrahmen auf dem
Nachtschränkchen. Ein nussknackerhaft lachender Endsechziger
mit einem eckigen Schädel und geradezu aggressiven
Gesichtszügen. Er trug erstaunlich volles, doch ergrautes,
kurzes Haar und offenbarte in dem aufgerissenen Mund ein
makelloses Gebiss, aus dem die ebenmäßigen Zahnreihen
so strahlend weiß hervorstachen wie in der Fernsehreklame.
Obwohl der Bildausschnitt lediglich den Oberkörper zeigte,
ahnte man, dass der Abgebildete zeit seines Lebens nie das
Opfer irgendwelcher Rückenschmerzen gewesen war, weil er
sich stets gerade wie ein Stock gehalten hatte. Etwas Gemeines
ging von der Gestalt aus. Nicht etwas banal Gemeines,
das jedem alten Knacker wegen des Neids auf die Jugend
innewohnt, nein, etwas wirklich Hundsgemeines. Das Foto
war irgendwann in den Neunzigern geschossen worden. Der
aus vollem Herzen lachende Mann weilte seit einem Jahr
nicht mehr unter den Lebenden.
... mehr
Arthur Silbermann, dreiunddreißig Jahre alt und von
Beruf Schriftsteller, kannte nicht viele Menschen. Doch
selbst bei den wenigen, die er kannte, konnte er sich kaum
vorstellen, dass auf ihren Nachtschränkchen ein Bild vom
verstorbenen Vater stand. Vom Ehepartner vielleicht, von
den Kindern und Freunden, selbst von einer verflossenen
Liebschaft, das ja. Aber vom verstorbenen Vater? Die Fotogesichter
der toten Alten schmückten bei Männern seines
Jahrgangs normalerweise irgendeinen grauen Winkel im
Haus, eine unscheinbare Kommode im Flur oder das Beistelltischchen
nebst lustigem Nippes. Der Grund für seine
absonderliche Nähe zum dahingeschiedenen Erzeuger
lag auch nicht darin, dass Arthur einfach keinen geliebten
Menschen hatte, dessen Foto er sich stattdessen auf sein
Nachtschränkchen hätte stellen können. Das heißt, ja gut,
das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn er besaß ja
tatsächlich keinen geliebten Menschen. In puncto Fotoauf-
dem-Nachtschränkchen-Problematik war er von einem
geliebten Menschen so weit entfernt wie der Verdurstende
in der Wüste von einem Bergquell. Aber dieser Aspekt seines
Lebens spielte in dem Zusammenhang überhaupt keine Rolle.
Der wahre Grund, weshalb ihn sein Vater von früh auf
geistig, emotional, finanziell und überhaupt stets begleitet
hatte und es noch nach seinem Tod tat, lag schlicht und einfach
in der Tatsache begründet, dass Johannes Silbermann
ein Gott gewesen war.
Johannes Silbermann - jeder kannte den Namen. Heutzutage
allerdings meist nur noch die Bewohner vom Seniorenstift,
denen die Nachtschwestern unter ärgerlichen
Seufzern die Windeln wechseln mussten. Falls die Windelgewechselten
überhaupt noch etwas mit den Büchern ihrer
Jugendjahre anfangen konnten, geschweige denn sich an die
Namen ihrer Autoren erinnerten. Doch damals, zwischen
Ende der 1950er und Anfang der 1990er, hatte wohl keine
einzige Buchhandlung im Lande existiert, die Silbermanns
im jährlichen Rhythmus erscheinende Bücher nicht an exponierter
Stelle zu kleinen Türmen oder Inseln aufgebaut hätte.
Wer konnte sich nicht an die vielen etwas sperrigen, gleichwohl
an geflügelte Worte gemahnenden Titel erinnern?
»Weine nicht um mich, Mutter, weine um Berlin« (Der
erste Roman überhaupt, der stark verklausuliert die Massenvergewaltigungen
deutscher Frauen durch die Rote Armee
am Kriegsende thematisierte. Erschienen bei Wilhelm Goldmann
Verlag, 1957). »Schalom heißt ich vergebe dir« (Eine
kaum auszuhaltende Liebesschnulze zwischen einer Israelin
im Kibbuz und einem deutschen Geschäftsmann, der im
Krieg Sie-wissen-schon-was gewesen war und nun bei der
offenkundig völlig bekloppten Frau Vergangenheitsbewältigung
in Form pausenlosen »Beiwohnens« betreibt. Dennoch:
vierhunderttausend verkaufte Exemplare. Erschienen
bei Wilhelm Heyne Verlag, 1962). »Fremder, kommst du
ins Negerland ...« (Damals war das böse N-Wort noch nicht
verpönt gewesen. Trotzdem machte sich selbst zu dieser Zeit
eine Hauptfigur, die sich in einem afrikanischen Land so
flegelhaft benimmt, wie sich der schlimmste Kolonialmacho
nicht benommen hatte, nicht allzu gut. Aber: sechshunderttausend
verkaufte Exemplare. Erschienen bei Droemer Verlag,
1964.) In den Siebzigern war Johannes Silbermann auf
den Zug der anrollenden Urlaubswelle gesprungen: »Ein
Sayonara im Mandelblütenhain«, »Der letzte Matador«,
»Ich, Moni und Bella Italia«. In den Achtzigern hatte er sich
schließlich dem Zeitgeist gebeugt, weil die Bücher nicht
mehr so gut liefen. »Ein Super-GAU kommt selten allein«,
»Auch die Russen haben ihre Kinder lieb«. (Eine Anspielung
auf den NATO-Doppelbeschluss und die Aufstellung
der SS-20-Interkontinentalraketen seitens der Sowjetunion.)
Insgesamt hatte Silbermann knapp fünfzig Bücher verfasst,
von denen die meisten gleich nach Veröffentlichung
auf die Bestsellerliste gesprungen waren. Als der Lesergeschmack
sich schließlich drehte und irgendwelche Weltläufigkeit
und Schicksalsschwere simulierenden Räuberpistolen
mit Mottenkugelgeruch aus der Mode kamen, als junge
Autoren mit alltäglichen Geschichten über ihre Generation,
vor allem aber Frauen mit ihrem witzigen Geschnatter die
literarische Bühne betraten, da hängte der Großmeister des
Klein-Moritz-aus-Hintertüpfingen-erklärt-uns-die-Welt-
Genres die Schreiberei an den Nagel.
Was er übrigens so sehr bedauerte, wie man das plötzliche
Verschwinden von Fußpilz bedauert. Denn Johannes Silbermann
war vieles in seinem Leben gewesen, aber kein Literat.
Jedenfalls hatte Arthur den Alten kein einziges Mal mit einem
Buch in der Hand angetroffen. Mit Ausnahme eines eigenen
bei den Fototerminen im Zuge der vielen Home-Stories für
die Presse natürlich. Nein, der Alte war stets ein harter Arbeiter
mit einer holzschnitthaften Fantasie gewesen, der den
Mangel an intellektueller, philosophischer und stilistischer
Schärfe dadurch wettgemacht hatte, dass er seine Schinken
mit einer saftigen Lovestory garnierte, mit einem Schuss Familiensaga
und jeder Menge Mord- und Todschlag würzte,
zum Schluss mit einer Verschwörungstheorie abschmeckte
und sie dann fast ohne Schlaf und Essen innerhalb weniger
Wochen in eine billige Schreibmaschine hämmerte. Aber
wäre er durch eine andersgeartete Fügung des Schicksals in
den Geflügelhandel geraten, hätte er mit Sicherheit ähnliche
Erfolge verbucht. Allerdings musste selbst ein Feuilleton-
höriger fairerweise zugeben, dass sich Silbermanns grobmaschig
gestrickten Elaborate bis zur letzten Zeile flüssiger
und spannender lesen ließen als all die auf den Dichterolymp
gelobhudelten Handkes, Walsers, Bernhards und wie sie alle
hießen. Ein sogenanntes literarisches Erbe hatte der Alte der
Nachwelt also nicht hinterlassen - der Großteil der Titel war
inzwischen ohnehin nicht mehr lieferbar und wurde auch
nicht mehr aufgelegt. Dafür jedoch hatte er ein richtiges Erbe
hinterlassen - und zwar seinem einzigen Kind namens Arthur.
Arthur mochte den Alten im Plastik-Stehrahmen nicht
mehr betrachten. Wenn man es genau nahm, hatte er sich
bereits seit seinem zehnten Lebensjahr den Blickkontakt
mit ihm abgewöhnt. Eigentlich konnte er ihm erst so richtig
offen in die Augen schauen, nachdem er unter der Erde lag.
Der heutige Tag eignete sich ohnehin schlecht für tiefsinnige
Betrachtungen jeglicher Art. Es war Sonntag, und wie jeder
Sonntag war auch dieser vollgespickt mit Terminen.
11 Uhr: Friedhof. Das Grab des Alten auffrischen, anschließend
das von Fredy, seinem bereits bei der Geburt
verstorbenen Zwillingsbruder, im Abschnitt »Engelskin-
der«. Die Eisbegonien hatte er sich vortags im Pflanzengroßmarkt
im Zwölfer-Pack besorgt, das Stück für achtzig
Cent. Blumenkelle, Unkrautstecher, Kralle und Gießkanne
nicht vergessen. Früher wäre ihm schon beim Gedanken an
derlei Sonntagsaktivitäten das Frühstück hochgekommen.
Das Ganze hatte den spießigen Beigeschmack von Sonntags-
messen und tatterige Verwandte zum Sauerbraten besuchen.
Doch je älter er wurde, desto mehr fand er in solchen postfamiliären
Ritualen etwas wie Trost, eine Art nachgeholtes
trautes Beisammensein unter seinesgleichen. Zum ersten
Mal empfand er eine gewisse Befriedigung darin, sich um
jemanden zu kümmern, auch wenn seine Schützlinge schon
längst tot waren.
12 Uhr 30: Jogi besuchen. Beim Eintritt in das Haus auf
Verwesungsgeruch achten. Wenn Verwesungsgeruch, unauffällig
verschwinden. Denn Tragödie hin, Tragödie her, wer
weiß, in welchen Schlamassel er hineingezogen würde, wollte
die Polizei von ihm später erfahren, in welcher Beziehung
er zu dem Selbstmörder gestanden habe? Schließlich hortete
der Kerl mehr Drogen im Haus als ein afghanischer Clanführer.
Arthur hätte dann antworten müssen, dass Jogi lediglich
ein alter Freund gewesen sei. Das hätten die Polizisten aber
missverstanden, weil er ja mit »alter« nicht »von Jugend an
bis in die Gegenwart«, sondern eher »ehemaliger« gemeint
hätte, genauer »ein ehemaliger Freund, mit dem ich eigentlich
nichts zu tun habe und den ich nur sporadisch besuche,
wenn überhaupt, also im Grunde« ... es war kompliziert. Na
ja, vielleicht lebte Jogi ja noch. Bestimmt sogar.
13 Uhr 30: Mittagessen wie jeden Tag im ›Mamma Mia!‹,
dem einzigen Italiener in Hinrich. Der Chef des Ladens hieß
Mahmud Özbek, was eher türkisch klang, und auch die zwei
Kellner waren Türken. Des Rätsels Lösung: Mahmud, der
mit seinem stets kohlschwarz gefärbten Schnäuzer wie Ali
Babas vierzigster Räuber aussah, hatte es zunächst mit türkischer
Küche versucht, die jedoch von einem 9000-Einwohner-
Städchen mit einem Aldi, einem Netto, einem Lidl,
einem Rewe, einem Kik und einem Schützenverein mit teilweise
gepiercten und tätowierten Mitgliedern (einige sogar
am Hals) nicht gerade mit Begeisterung angenommen worden
war. Also hatte er über Nacht auf Italiener umgesattelt.
Wie er das angestellt hatte, barg ein weiteres Rätsel. Interessant
war jedenfalls das kulinarische Resultat. Abgesehen von
der Qualität, die war jedes Mal von der Tagesform des Kochs
abhängig, erinnerte Mahmuds Experiment irgendwie an die
Gesangsdarbietungen in »Deutschland sucht den Superstar«.
Man erkannte zwar die ursprüngliche italienische
Melodie, bloß kam sie mit solch orientalischem Schwulst
daher, dass aus »Azzurro« sozusagen »Ahhhaiazzuioorrooo«
wurde. Kurz, bei dem Zeug, das man im ›Mamma
Mia!‹ aufgetischt bekam, handelte es sich um eine reichlich
gewagte türkische Interpretation der italienischen Küche.
Es gab in Hinrich noch drei weitere Restaurants: den ›Herrenhof‹,
kompromisslose deutschbürgerliche Küche, also
Jägerschnitzel; das ›Sammelbecken‹, eine bessere Würstchenbude
mit Kartoffelsalat aus dem Plastikeimer; und das
›Grillparadies‹, nomen est omen. Da bevorzugte Arthur lieber
Mahmuds Interpretationskünste.
14 Uhr 30: auf einen Kaffee zu ›Umberto's‹. Umberto
hieß in Wirklichkeit Cem Simçek, war also ebenfalls Türke.
Da jedoch Türken von Kaffee wirklich etwas verstanden, und
die Brühe sowieso aus der Maschine kam, spielte der Italien-
Fake in diesem Falle keine Rolle. Aber wo waren all die echten
Italiener hin? Sie waren verschwunden und hatten nur
ihre Namen, nonchalanten Sprüche, ihren komischen Akzent
im Repertoire deutscher Komiker und das mediterrane
Klischee ihrer selbst hinterlassen. Und das völlig kostenlos.
Mehr als auf das ›Mamma Mia!‹ war Arthur auf das ›Umberto's‹
angewiesen. Er hatte lange gebraucht, um sich das
ganz ungeschminkt einzugestehen. Seit seinem Zuzug in diese
ländliche Gegend lief er von Tag zu Tag mehr Gefahr, sich
in einen Eremiten zu verwandeln. Im ersten halben Jahr war
er sich wie in einer Freilicht-Isolationshaftzelle vorgekommen.
Den Begriff »soziale Kontakte« hatte er früher für eine
Worthülse gehalten, wodurch etwas, das ihm so selbstverständlich
erschienen war, eine pseudowissenschaftliche Weihe
erhielt. Doch inzwischen verstand er den Begriff in seiner
ganzen Tragweite. Freilich ging bei ›Umberto's‹ auch nicht
gerade die Post ab. Aber um die Nachmittagszeit versammelten
sich dort immer die gleichen vertrauten Gesichter.
Nicht dass Arthur mit diesen Gestalten hätte Freundschaft
schließen wollen oder, Gott bewahre, sie zu sich nach Hause
einladen. Dafür waren sie zu sehr ... wie er selbst. Aber
etwas täglichen Smalltalk brauchte der Mensch nun einmal,
und sei es auch mit Leuten, mit denen man unter anderen
Umständen nichts hätte anfangen können. Das angeborene
menschliche Mitteilungsbedürfnis erforderte seinen Tribut.
Man wollte und musste unbedingt irgendeinen Blödsinn
aus seinem Alltag oder den Medien kommentieren, seinen
vermeintlichen Lebenserfahrungsschatz zum Besten geben
oder nur einen Witz, den man irgendwo aufgeschnappt hatte.
Doch hauptsächlich ging es wohl darum, dabei das Gegenüber
zu betrachten, es einzuschätzen, sich Gedanken um ihn
zu machen, sich mit ihm zu vergleichen, ja, durch ihn zu sich
selbst zu kommen. Oder anders ausgedrückt: Arthur erging
es mit seiner Einsamkeit mittlerweile wie jemandem, den
fast unmerklich eine heimtückische Lähmung beschleicht.
Erst die Zehen, dann die Füße und dann immer weiter aufwärts.
Wenn nicht bald eine Frau in sein Leben trat, würde er
irgendwann erst versteinern und danach einfach zerbröseln.
15 Uhr 30: ein paar Runden im Tiller-See schwimmen.
Es war Juli, und schon seit zwei Wochen herrschte eine Hitzewelle.
Die Wetterfrösche im Fernsehen sahen immer noch
kein Ende des Traumsommers und faselten mit todernsten
Gesichtern irgendwas von Klimakatastrophe. Das war typisch,
immer wenn in Deutschland für ein paar Tage die
Sonne schien, drohte das Ende der Welt. Bei fünfundzwanzig
Grad wurden schon Tipps zur Vermeidung von Kreislaufkollaps
verbreitet, bei achtundzwanzig Grad wurde bundesweit
der größtmögliche Sonnenbrand-Alarm ausgerufen,
weil »Die Haut vergisst nie!«, und bei zweiunddreißig Grad
stand das ganze Land vor dem endgültigen Ruin: Dürreschäden
in Milliardenhöhe in der Landwirtschaft. Dabei hatten
alle vergessen, dass sie bis Ende April die Sonne kein einziges
Mal zu sehen bekommen hatten.
Sein Alter hatte ihn als Kind immer zum Tiller-See mitgenommen.
Johannes Silbermann hatte nie Urlaub im Aus-
land gemacht, obwohl er schon die ganze Welt bereist hatte.
Allerdings immer nur zu Recherchezwecken. Für ihn waren
Worte wie Heimat und Heimatliebe weder etwas Reaktionäres
noch etwas Gestriges gewesen. Im Gegenteil, sein
Geburtsort, diese Gegend hier, diente ihm als Kraftquelle.
Deshalb hatte er auch schon in den Sechzigern das Haus in
Eulenloch errichten lassen, etwa zehn Kilometer von Hinrich
entfernt, worin jetzt Arthur völlig einsam wohnte. Damals
galt die ein wenig erhöht liegende Bude noch als Villa, jedenfalls
wurde sie bei Pressekampagnen anlässlich neuer Bucherscheinungen
stets als solche verkauft. »Das Schaffensdomizil
des berühmten Autors blablabla...« In Wahrheit
handelte es sich um einen stinknormalen, vielleicht etwas
großzügigeren Sechzigerjahre-Bau mit Eleganz und Luxus
vorspiegelnden Kinkerlitzchen wie einer elektrisch ausfahrbaren
Markise und dickbäuchigen Amphoren aus Griechenland
an jedem Eingang. Unnötig viele, dafür kleine Zimmer,
niedrige Decken, hinten ein weiträumiger Garten und vorne
ein aus Basaltsteinen zusammengefügter Aufgang, der wohl
eine königliche Freitreppe darstellen sollte. Silbermann hatte
hier nur den Sommer verbracht, gelegentlich das Söhnchen
zu sich geholt und ihm neben dem Schwimmen im Tiller-
See auch solche überlebenswichtigen Dinge gelehrt wie den
Kopf eines Hasen mit einem handelsüblichen Hammer zu
zertrümmern, ihm die Haut abzuziehen, ein paar Stunden
an der Teppichstange abzuhängen und dann am Abend am
Lagerfeuer zu grillen.
Am Tiller-See hatte sich seit jenen Tagen einiges getan.
Die Gemeinde hatte am Ufer Umkleidekabinen und Du-
schen aufstellen lassen, und auch eine kleine Frittenbude
hatte sich dazugesellt. Betrieben natürlich von einem Türken.
Badehose, Duschgel und frische Anziehsachen nicht
vergessen. Auf den ersten Blick schien es keine so fabelhafte
Idee, ausgerechnet heute den Badefreuden zu frönen. Denn
gewöhnlich versammelte sich dort am Sonntag die gesamte
Landjugend, darunter auch jede Menge junger Frauen in
farbenfrohen Bikinis, deren bloßer Anblick Arthur ob der
darauf zwangsläufig folgenden Onanierorgie in der Nacht in
die Verzweiflung trieb. Doch glaubte er diesem Schreckensszenario
mit dem nächsten Termin Abhilfe zu schaffen.
17 Uhr 30: Michelle besuchen. Man konnte Michelle
natürlich nicht einfach so besuchen, man musste dafür zahlen.
Arthur ließ statt der verlangten achtzig stets hundertzwanzig
Euro springen. »Damit's gemütlicher wird« war
sein mondänes Motto. In Wahrheit hieß Michelle auch nicht
Michelle, sondern vielleicht Swetlana oder Natalia oder wie
die aus der Ukraine importierten Mädels sonst alle hießen.
Der wöchentliche Besuch bei Michelle fand jeden Sonntag
im »Bienenstich« statt, einem Etablissement etwas außerhalb
von Hinrich. Außer einem großen roten Neonherz über
der Eingangstür deutete nichts an dem völlig unauffälligen
Zweckbau mit Flachdach inmitten von Wiesen und Feldern
auf die darin betriebene geschlechtliche Notversorgung von
einsamen Arthurs hin. Er mochte Michelle wegen ihres hübschen
Gesichts, das tatsächlich ein wenig dem von Michelle
Pfeiffer in jungen Jahren glich, wegen ihres Silberblicks,
wegen der zwischen braun und rot changierenden langen
Haare und der umwerfenden Figur. Aber nicht nur das, ihm
gefiel insbesondere ihre natürliche Art. Die meisten Nutten
hatten sich zu viele Pornos reingezogen und versuchten in
ihrer Geldgier, die Freier mit den darin geblödelten Obszönitäten
und groteskem Gestöhne in Stimmung zu bringen.
Michelle nicht. Bei ihr hatte er stets das Gefühl, als sei sie
eine Gelegenheitsfreundin. Sie erkundigte sich ernsthaft
nach seinem Befinden, jedenfalls klang es ernsthaft, redete
mit starkem russischem Akzent über dies und das, machte
zwischendurch einen Scherz und vermittelte überhaupt den
Eindruck, als unterscheide sich die Situation kaum von der,
die sich auch zwischen einem normalen Paar hätte abspielen
können. Gewiss, der Sex war nicht so normal, er wusste ja,
dass sie es der Kohle wegen tat. Aber es kam normalem Sex
sehr nahe. Für dreißig Minuten.
Er hatte sich ein bisschen in Michelle verliebt, soweit man
sich in eine Professionelle überhaupt verlieben konnte. Deshalb
ließ er gelegentlich seiner Fantasie freien Lauf: Beim
nächsten Mal würde er sie fragen, ob sie ihn heiraten wolle.
Sie würde einen Freudenschrei ausstoßen, ihn umarmen und
küssen und den Antrag unter tränenreichen Dankesbekundungen
annehmen. Danach würde sie ihre Vergangenheit
abstreifen wie eine falsche Haut, und sie beide würden eine
Familie gründen und mit ihren vielen Kindern in Eulenloch
glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben. Allerdings, und hier
verdüsterte sich der Traum und bekam hässliche Flecken,
würde er ständig daran denken müssen, dass sie es früher für
Geld getan hatte und das auch jederzeit wieder tun konnte,
wenn der Haussegen mal schief hing. Ein ewiges Damoklesschwert
quasi. Außerdem würde sie ganz flott herausbekom-
men, dass er nicht wie andere Männer zur Arbeit ging, überhaupt
keiner Arbeit nachging, sondern vom hinterlassenen
Vermögen des Alten lebte. Sie würde ihn daraufhin so lange
nerven, bis er ihr verraten müsste, wie viel ...
Vor zwei Monaten war es zu einer Begebenheit gekommen,
welche selbst unter diese dämliche Fantasie einen
Schlussstrich gesetzt hatte. Er war zu Fuß zum »Mamma
Mia!« unterwegs gewesen, als aus einer Seitengasse plötzlich
Michelle auftauchte. Sie sah völlig verändert aus, was eigentlich
logisch war, denn sie trug weder das vertraute türkisblaue
Korsett mit Strapsen noch das übliche starke Make-up.
Sie war völlig ungeschminkt und spazierte ihm in einem unauffälligen
dunklen Kleid auf dem Bürgersteig geradewegs
entgegen. Seine Augen hatten ihn selbst in dem flirrig diffusen
Pufflicht nicht getrogen: Michelle wirkte auch bei Tageslicht
und ohne die obligatorische Nuttenuniform wie eine
Schaumgeborene des Ostens; die drallen Brüste, die perfekte
Wespentaille, die langen Beine und schließlich das zarte
Gesicht mit den stets wie verschlafen aussehenden Augen
verliehen ihr etwas von einer Heiligen, die nur vom Himmel
herabgestiegen war, um der schmerzdurchdrungenen Männerwelt
Linderung zu verschaffen. Da er sozusagen ein alter
Bekannter war, machte er schon von der Ferne Anstalten, sie
zu begrüßen. Etwas merkwürdig fand er es schon, dass sie
stur einige Zentimeter an seinem Kopf vorbeischaute. Als sie
dann aufeinandertrafen, legte er los mit: »Hallo! Das ist aber
schön, dich ...« Aber sie ging wie ferngesteuert und ohne
ihn auch nur mit einem Blick zu streifen an ihm vorüber und
ließ ihn beschämt und betrübt auf dem Bürgersteig zurück.
Am folgenden Sonntag im »Bienenstich« war Michelle
mit keinem Wort auf die peinliche Begegnung eingegangen,
und auch Arthur hatte sich nicht getraut, sie zur Sprache zu
bringen. Sie waren einfach zur Tagesordnung übergegangen
oder besser gesagt, zum einzigen Ordnungspunkt.
19 Uhr: Zurück nach Hause, einen kleinen Happen essen
und dann ran an die Arbeit. Ja klar arbeitete er. Das heißt, er
stand erst am Anfang der Arbeit. Er neigte dazu, der Theorie
Glauben zu schenken, dass Talent sich genetisch vererbte.
Deshalb hatte er vor einiger Zeit beschlossen, wie sein Vater
Schriftsteller zu werden. Etwas spät, aber nicht zu spät. Deshalb
setzte er sich jeden Abend hin und schrieb. Er war schon
auf Seite eins des Manuskripts. Einen Verlag zu finden, würde
bei seinem Namen sicherlich keine Probleme bereiten.
Außerdem hatte er früher durch die Vermittlung des Alten
bei mehreren Verlagen Praktika absolviert und kannte sich
in der Branche bestens aus. Die Story sollte von einem Mann
handeln, der in der Provinz residiert und sich Gedanken
macht, warum es selbst in der Provinz inzwischen so viele
Türken gibt oder ob bei Schützenvereinen klammheimlich
eine neue Bestimmung in Kraft getreten ist, wonach auch
Gepiercte und Tätowierte aufgenommen werden müssen.
Da plötzlich greift spektakulär das Schicksal ein. Er lernt die
junge Bürgermeisterin des kleinen Ortes kennen. Sie heißt
Michelle - jetzt nur mal so als Hausnummer -, und eine
schwindelerregend heiße Affäre nimmt ihren Lauf. Die Sexszenen
sollten an Anschaulichkeit und Raffinesse alles bis
jetzt Dagewesene übertreffen. Nach »Feuchtgebiete« und
dergleichen mussten sich doch die Verlage nach solchen Dar-
stellungen geradezu die Finger lecken. Also, die beiden lieben
sich Tag und Nacht, sie hören gar nicht mehr auf damit, bis
dann wieder eine vollkommen unerwartete Wendung eintritt:
Sie bekommt Brustkrebs! Oder er Hodenkrebs. Oder
gleich beide bekommen irgend so einen ekelhaften Krebs.
Bei Verlagen war Krebs der Renner. Jeder verfasste heutzutage
ein Krebsbuch und schaffte es im Handumdrehen auf die
Bestsellerliste. Der Krebs meiner Mutter, der Krebs meines
Schwagers, der Krebs meines Hundes und, und, und. Selbst
Leute, die derart übel krebskrank waren, dass sie keinen Griffel
mehr halten konnten, schrieben noch schnell über ihren
Krebs, bevor sie mit einem seligen Lächeln darüber, dass sie
den Gipfel der Charts erklommen hatten, ins Gras bissen. Bis
dahin hatte er den Stoff komplett im Kopf, der Rest würde
sich nach der ersten Phase des Sich-warm-Schreibens von
selbst erzählen. Er hatte auf dem Computer bereits den ersten
Satz getippt - und wieder gelöscht, weil er ihm nicht gefallen
hatte. Eigentlich hatte er diesen Vorgang in den letzten
Monaten ständig wiederholt. Aber gerade eben war ihm eine
grandiose Idee für den Einstieg eingefallen, und heute Abend
würde es sicherlich ...
Arthur stieg aus dem Bett und betrachtete sich im
Schrankspiegel. Was er sich da im Geiste für den Sonntag
zusammennotiert hatte, war natürlich totaler Quatsch. All
diese Tätigkeiten hätte er auch an irgendeinem x-beliebigen
Tag erledigen können. Was er ja auch tat. Denn im Gegensatz
zu anderen Autoren stand er weder unter Leistungs-noch unter
finanziellem Druck. Er war ein freier Mensch im wahrsten
Sinne des Wortes. Doch im Grunde war es einfach nicht
Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Redaktion: Lisa Kuppler
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München
Umschlagbild: © mauritius images/Image Source
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-453-43558-2
www.heyne.de
Arthur Silbermann, dreiunddreißig Jahre alt und von
Beruf Schriftsteller, kannte nicht viele Menschen. Doch
selbst bei den wenigen, die er kannte, konnte er sich kaum
vorstellen, dass auf ihren Nachtschränkchen ein Bild vom
verstorbenen Vater stand. Vom Ehepartner vielleicht, von
den Kindern und Freunden, selbst von einer verflossenen
Liebschaft, das ja. Aber vom verstorbenen Vater? Die Fotogesichter
der toten Alten schmückten bei Männern seines
Jahrgangs normalerweise irgendeinen grauen Winkel im
Haus, eine unscheinbare Kommode im Flur oder das Beistelltischchen
nebst lustigem Nippes. Der Grund für seine
absonderliche Nähe zum dahingeschiedenen Erzeuger
lag auch nicht darin, dass Arthur einfach keinen geliebten
Menschen hatte, dessen Foto er sich stattdessen auf sein
Nachtschränkchen hätte stellen können. Das heißt, ja gut,
das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn er besaß ja
tatsächlich keinen geliebten Menschen. In puncto Fotoauf-
dem-Nachtschränkchen-Problematik war er von einem
geliebten Menschen so weit entfernt wie der Verdurstende
in der Wüste von einem Bergquell. Aber dieser Aspekt seines
Lebens spielte in dem Zusammenhang überhaupt keine Rolle.
Der wahre Grund, weshalb ihn sein Vater von früh auf
geistig, emotional, finanziell und überhaupt stets begleitet
hatte und es noch nach seinem Tod tat, lag schlicht und einfach
in der Tatsache begründet, dass Johannes Silbermann
ein Gott gewesen war.
Johannes Silbermann - jeder kannte den Namen. Heutzutage
allerdings meist nur noch die Bewohner vom Seniorenstift,
denen die Nachtschwestern unter ärgerlichen
Seufzern die Windeln wechseln mussten. Falls die Windelgewechselten
überhaupt noch etwas mit den Büchern ihrer
Jugendjahre anfangen konnten, geschweige denn sich an die
Namen ihrer Autoren erinnerten. Doch damals, zwischen
Ende der 1950er und Anfang der 1990er, hatte wohl keine
einzige Buchhandlung im Lande existiert, die Silbermanns
im jährlichen Rhythmus erscheinende Bücher nicht an exponierter
Stelle zu kleinen Türmen oder Inseln aufgebaut hätte.
Wer konnte sich nicht an die vielen etwas sperrigen, gleichwohl
an geflügelte Worte gemahnenden Titel erinnern?
»Weine nicht um mich, Mutter, weine um Berlin« (Der
erste Roman überhaupt, der stark verklausuliert die Massenvergewaltigungen
deutscher Frauen durch die Rote Armee
am Kriegsende thematisierte. Erschienen bei Wilhelm Goldmann
Verlag, 1957). »Schalom heißt ich vergebe dir« (Eine
kaum auszuhaltende Liebesschnulze zwischen einer Israelin
im Kibbuz und einem deutschen Geschäftsmann, der im
Krieg Sie-wissen-schon-was gewesen war und nun bei der
offenkundig völlig bekloppten Frau Vergangenheitsbewältigung
in Form pausenlosen »Beiwohnens« betreibt. Dennoch:
vierhunderttausend verkaufte Exemplare. Erschienen
bei Wilhelm Heyne Verlag, 1962). »Fremder, kommst du
ins Negerland ...« (Damals war das böse N-Wort noch nicht
verpönt gewesen. Trotzdem machte sich selbst zu dieser Zeit
eine Hauptfigur, die sich in einem afrikanischen Land so
flegelhaft benimmt, wie sich der schlimmste Kolonialmacho
nicht benommen hatte, nicht allzu gut. Aber: sechshunderttausend
verkaufte Exemplare. Erschienen bei Droemer Verlag,
1964.) In den Siebzigern war Johannes Silbermann auf
den Zug der anrollenden Urlaubswelle gesprungen: »Ein
Sayonara im Mandelblütenhain«, »Der letzte Matador«,
»Ich, Moni und Bella Italia«. In den Achtzigern hatte er sich
schließlich dem Zeitgeist gebeugt, weil die Bücher nicht
mehr so gut liefen. »Ein Super-GAU kommt selten allein«,
»Auch die Russen haben ihre Kinder lieb«. (Eine Anspielung
auf den NATO-Doppelbeschluss und die Aufstellung
der SS-20-Interkontinentalraketen seitens der Sowjetunion.)
Insgesamt hatte Silbermann knapp fünfzig Bücher verfasst,
von denen die meisten gleich nach Veröffentlichung
auf die Bestsellerliste gesprungen waren. Als der Lesergeschmack
sich schließlich drehte und irgendwelche Weltläufigkeit
und Schicksalsschwere simulierenden Räuberpistolen
mit Mottenkugelgeruch aus der Mode kamen, als junge
Autoren mit alltäglichen Geschichten über ihre Generation,
vor allem aber Frauen mit ihrem witzigen Geschnatter die
literarische Bühne betraten, da hängte der Großmeister des
Klein-Moritz-aus-Hintertüpfingen-erklärt-uns-die-Welt-
Genres die Schreiberei an den Nagel.
Was er übrigens so sehr bedauerte, wie man das plötzliche
Verschwinden von Fußpilz bedauert. Denn Johannes Silbermann
war vieles in seinem Leben gewesen, aber kein Literat.
Jedenfalls hatte Arthur den Alten kein einziges Mal mit einem
Buch in der Hand angetroffen. Mit Ausnahme eines eigenen
bei den Fototerminen im Zuge der vielen Home-Stories für
die Presse natürlich. Nein, der Alte war stets ein harter Arbeiter
mit einer holzschnitthaften Fantasie gewesen, der den
Mangel an intellektueller, philosophischer und stilistischer
Schärfe dadurch wettgemacht hatte, dass er seine Schinken
mit einer saftigen Lovestory garnierte, mit einem Schuss Familiensaga
und jeder Menge Mord- und Todschlag würzte,
zum Schluss mit einer Verschwörungstheorie abschmeckte
und sie dann fast ohne Schlaf und Essen innerhalb weniger
Wochen in eine billige Schreibmaschine hämmerte. Aber
wäre er durch eine andersgeartete Fügung des Schicksals in
den Geflügelhandel geraten, hätte er mit Sicherheit ähnliche
Erfolge verbucht. Allerdings musste selbst ein Feuilleton-
höriger fairerweise zugeben, dass sich Silbermanns grobmaschig
gestrickten Elaborate bis zur letzten Zeile flüssiger
und spannender lesen ließen als all die auf den Dichterolymp
gelobhudelten Handkes, Walsers, Bernhards und wie sie alle
hießen. Ein sogenanntes literarisches Erbe hatte der Alte der
Nachwelt also nicht hinterlassen - der Großteil der Titel war
inzwischen ohnehin nicht mehr lieferbar und wurde auch
nicht mehr aufgelegt. Dafür jedoch hatte er ein richtiges Erbe
hinterlassen - und zwar seinem einzigen Kind namens Arthur.
Arthur mochte den Alten im Plastik-Stehrahmen nicht
mehr betrachten. Wenn man es genau nahm, hatte er sich
bereits seit seinem zehnten Lebensjahr den Blickkontakt
mit ihm abgewöhnt. Eigentlich konnte er ihm erst so richtig
offen in die Augen schauen, nachdem er unter der Erde lag.
Der heutige Tag eignete sich ohnehin schlecht für tiefsinnige
Betrachtungen jeglicher Art. Es war Sonntag, und wie jeder
Sonntag war auch dieser vollgespickt mit Terminen.
11 Uhr: Friedhof. Das Grab des Alten auffrischen, anschließend
das von Fredy, seinem bereits bei der Geburt
verstorbenen Zwillingsbruder, im Abschnitt »Engelskin-
der«. Die Eisbegonien hatte er sich vortags im Pflanzengroßmarkt
im Zwölfer-Pack besorgt, das Stück für achtzig
Cent. Blumenkelle, Unkrautstecher, Kralle und Gießkanne
nicht vergessen. Früher wäre ihm schon beim Gedanken an
derlei Sonntagsaktivitäten das Frühstück hochgekommen.
Das Ganze hatte den spießigen Beigeschmack von Sonntags-
messen und tatterige Verwandte zum Sauerbraten besuchen.
Doch je älter er wurde, desto mehr fand er in solchen postfamiliären
Ritualen etwas wie Trost, eine Art nachgeholtes
trautes Beisammensein unter seinesgleichen. Zum ersten
Mal empfand er eine gewisse Befriedigung darin, sich um
jemanden zu kümmern, auch wenn seine Schützlinge schon
längst tot waren.
12 Uhr 30: Jogi besuchen. Beim Eintritt in das Haus auf
Verwesungsgeruch achten. Wenn Verwesungsgeruch, unauffällig
verschwinden. Denn Tragödie hin, Tragödie her, wer
weiß, in welchen Schlamassel er hineingezogen würde, wollte
die Polizei von ihm später erfahren, in welcher Beziehung
er zu dem Selbstmörder gestanden habe? Schließlich hortete
der Kerl mehr Drogen im Haus als ein afghanischer Clanführer.
Arthur hätte dann antworten müssen, dass Jogi lediglich
ein alter Freund gewesen sei. Das hätten die Polizisten aber
missverstanden, weil er ja mit »alter« nicht »von Jugend an
bis in die Gegenwart«, sondern eher »ehemaliger« gemeint
hätte, genauer »ein ehemaliger Freund, mit dem ich eigentlich
nichts zu tun habe und den ich nur sporadisch besuche,
wenn überhaupt, also im Grunde« ... es war kompliziert. Na
ja, vielleicht lebte Jogi ja noch. Bestimmt sogar.
13 Uhr 30: Mittagessen wie jeden Tag im ›Mamma Mia!‹,
dem einzigen Italiener in Hinrich. Der Chef des Ladens hieß
Mahmud Özbek, was eher türkisch klang, und auch die zwei
Kellner waren Türken. Des Rätsels Lösung: Mahmud, der
mit seinem stets kohlschwarz gefärbten Schnäuzer wie Ali
Babas vierzigster Räuber aussah, hatte es zunächst mit türkischer
Küche versucht, die jedoch von einem 9000-Einwohner-
Städchen mit einem Aldi, einem Netto, einem Lidl,
einem Rewe, einem Kik und einem Schützenverein mit teilweise
gepiercten und tätowierten Mitgliedern (einige sogar
am Hals) nicht gerade mit Begeisterung angenommen worden
war. Also hatte er über Nacht auf Italiener umgesattelt.
Wie er das angestellt hatte, barg ein weiteres Rätsel. Interessant
war jedenfalls das kulinarische Resultat. Abgesehen von
der Qualität, die war jedes Mal von der Tagesform des Kochs
abhängig, erinnerte Mahmuds Experiment irgendwie an die
Gesangsdarbietungen in »Deutschland sucht den Superstar«.
Man erkannte zwar die ursprüngliche italienische
Melodie, bloß kam sie mit solch orientalischem Schwulst
daher, dass aus »Azzurro« sozusagen »Ahhhaiazzuioorrooo«
wurde. Kurz, bei dem Zeug, das man im ›Mamma
Mia!‹ aufgetischt bekam, handelte es sich um eine reichlich
gewagte türkische Interpretation der italienischen Küche.
Es gab in Hinrich noch drei weitere Restaurants: den ›Herrenhof‹,
kompromisslose deutschbürgerliche Küche, also
Jägerschnitzel; das ›Sammelbecken‹, eine bessere Würstchenbude
mit Kartoffelsalat aus dem Plastikeimer; und das
›Grillparadies‹, nomen est omen. Da bevorzugte Arthur lieber
Mahmuds Interpretationskünste.
14 Uhr 30: auf einen Kaffee zu ›Umberto's‹. Umberto
hieß in Wirklichkeit Cem Simçek, war also ebenfalls Türke.
Da jedoch Türken von Kaffee wirklich etwas verstanden, und
die Brühe sowieso aus der Maschine kam, spielte der Italien-
Fake in diesem Falle keine Rolle. Aber wo waren all die echten
Italiener hin? Sie waren verschwunden und hatten nur
ihre Namen, nonchalanten Sprüche, ihren komischen Akzent
im Repertoire deutscher Komiker und das mediterrane
Klischee ihrer selbst hinterlassen. Und das völlig kostenlos.
Mehr als auf das ›Mamma Mia!‹ war Arthur auf das ›Umberto's‹
angewiesen. Er hatte lange gebraucht, um sich das
ganz ungeschminkt einzugestehen. Seit seinem Zuzug in diese
ländliche Gegend lief er von Tag zu Tag mehr Gefahr, sich
in einen Eremiten zu verwandeln. Im ersten halben Jahr war
er sich wie in einer Freilicht-Isolationshaftzelle vorgekommen.
Den Begriff »soziale Kontakte« hatte er früher für eine
Worthülse gehalten, wodurch etwas, das ihm so selbstverständlich
erschienen war, eine pseudowissenschaftliche Weihe
erhielt. Doch inzwischen verstand er den Begriff in seiner
ganzen Tragweite. Freilich ging bei ›Umberto's‹ auch nicht
gerade die Post ab. Aber um die Nachmittagszeit versammelten
sich dort immer die gleichen vertrauten Gesichter.
Nicht dass Arthur mit diesen Gestalten hätte Freundschaft
schließen wollen oder, Gott bewahre, sie zu sich nach Hause
einladen. Dafür waren sie zu sehr ... wie er selbst. Aber
etwas täglichen Smalltalk brauchte der Mensch nun einmal,
und sei es auch mit Leuten, mit denen man unter anderen
Umständen nichts hätte anfangen können. Das angeborene
menschliche Mitteilungsbedürfnis erforderte seinen Tribut.
Man wollte und musste unbedingt irgendeinen Blödsinn
aus seinem Alltag oder den Medien kommentieren, seinen
vermeintlichen Lebenserfahrungsschatz zum Besten geben
oder nur einen Witz, den man irgendwo aufgeschnappt hatte.
Doch hauptsächlich ging es wohl darum, dabei das Gegenüber
zu betrachten, es einzuschätzen, sich Gedanken um ihn
zu machen, sich mit ihm zu vergleichen, ja, durch ihn zu sich
selbst zu kommen. Oder anders ausgedrückt: Arthur erging
es mit seiner Einsamkeit mittlerweile wie jemandem, den
fast unmerklich eine heimtückische Lähmung beschleicht.
Erst die Zehen, dann die Füße und dann immer weiter aufwärts.
Wenn nicht bald eine Frau in sein Leben trat, würde er
irgendwann erst versteinern und danach einfach zerbröseln.
15 Uhr 30: ein paar Runden im Tiller-See schwimmen.
Es war Juli, und schon seit zwei Wochen herrschte eine Hitzewelle.
Die Wetterfrösche im Fernsehen sahen immer noch
kein Ende des Traumsommers und faselten mit todernsten
Gesichtern irgendwas von Klimakatastrophe. Das war typisch,
immer wenn in Deutschland für ein paar Tage die
Sonne schien, drohte das Ende der Welt. Bei fünfundzwanzig
Grad wurden schon Tipps zur Vermeidung von Kreislaufkollaps
verbreitet, bei achtundzwanzig Grad wurde bundesweit
der größtmögliche Sonnenbrand-Alarm ausgerufen,
weil »Die Haut vergisst nie!«, und bei zweiunddreißig Grad
stand das ganze Land vor dem endgültigen Ruin: Dürreschäden
in Milliardenhöhe in der Landwirtschaft. Dabei hatten
alle vergessen, dass sie bis Ende April die Sonne kein einziges
Mal zu sehen bekommen hatten.
Sein Alter hatte ihn als Kind immer zum Tiller-See mitgenommen.
Johannes Silbermann hatte nie Urlaub im Aus-
land gemacht, obwohl er schon die ganze Welt bereist hatte.
Allerdings immer nur zu Recherchezwecken. Für ihn waren
Worte wie Heimat und Heimatliebe weder etwas Reaktionäres
noch etwas Gestriges gewesen. Im Gegenteil, sein
Geburtsort, diese Gegend hier, diente ihm als Kraftquelle.
Deshalb hatte er auch schon in den Sechzigern das Haus in
Eulenloch errichten lassen, etwa zehn Kilometer von Hinrich
entfernt, worin jetzt Arthur völlig einsam wohnte. Damals
galt die ein wenig erhöht liegende Bude noch als Villa, jedenfalls
wurde sie bei Pressekampagnen anlässlich neuer Bucherscheinungen
stets als solche verkauft. »Das Schaffensdomizil
des berühmten Autors blablabla...« In Wahrheit
handelte es sich um einen stinknormalen, vielleicht etwas
großzügigeren Sechzigerjahre-Bau mit Eleganz und Luxus
vorspiegelnden Kinkerlitzchen wie einer elektrisch ausfahrbaren
Markise und dickbäuchigen Amphoren aus Griechenland
an jedem Eingang. Unnötig viele, dafür kleine Zimmer,
niedrige Decken, hinten ein weiträumiger Garten und vorne
ein aus Basaltsteinen zusammengefügter Aufgang, der wohl
eine königliche Freitreppe darstellen sollte. Silbermann hatte
hier nur den Sommer verbracht, gelegentlich das Söhnchen
zu sich geholt und ihm neben dem Schwimmen im Tiller-
See auch solche überlebenswichtigen Dinge gelehrt wie den
Kopf eines Hasen mit einem handelsüblichen Hammer zu
zertrümmern, ihm die Haut abzuziehen, ein paar Stunden
an der Teppichstange abzuhängen und dann am Abend am
Lagerfeuer zu grillen.
Am Tiller-See hatte sich seit jenen Tagen einiges getan.
Die Gemeinde hatte am Ufer Umkleidekabinen und Du-
schen aufstellen lassen, und auch eine kleine Frittenbude
hatte sich dazugesellt. Betrieben natürlich von einem Türken.
Badehose, Duschgel und frische Anziehsachen nicht
vergessen. Auf den ersten Blick schien es keine so fabelhafte
Idee, ausgerechnet heute den Badefreuden zu frönen. Denn
gewöhnlich versammelte sich dort am Sonntag die gesamte
Landjugend, darunter auch jede Menge junger Frauen in
farbenfrohen Bikinis, deren bloßer Anblick Arthur ob der
darauf zwangsläufig folgenden Onanierorgie in der Nacht in
die Verzweiflung trieb. Doch glaubte er diesem Schreckensszenario
mit dem nächsten Termin Abhilfe zu schaffen.
17 Uhr 30: Michelle besuchen. Man konnte Michelle
natürlich nicht einfach so besuchen, man musste dafür zahlen.
Arthur ließ statt der verlangten achtzig stets hundertzwanzig
Euro springen. »Damit's gemütlicher wird« war
sein mondänes Motto. In Wahrheit hieß Michelle auch nicht
Michelle, sondern vielleicht Swetlana oder Natalia oder wie
die aus der Ukraine importierten Mädels sonst alle hießen.
Der wöchentliche Besuch bei Michelle fand jeden Sonntag
im »Bienenstich« statt, einem Etablissement etwas außerhalb
von Hinrich. Außer einem großen roten Neonherz über
der Eingangstür deutete nichts an dem völlig unauffälligen
Zweckbau mit Flachdach inmitten von Wiesen und Feldern
auf die darin betriebene geschlechtliche Notversorgung von
einsamen Arthurs hin. Er mochte Michelle wegen ihres hübschen
Gesichts, das tatsächlich ein wenig dem von Michelle
Pfeiffer in jungen Jahren glich, wegen ihres Silberblicks,
wegen der zwischen braun und rot changierenden langen
Haare und der umwerfenden Figur. Aber nicht nur das, ihm
gefiel insbesondere ihre natürliche Art. Die meisten Nutten
hatten sich zu viele Pornos reingezogen und versuchten in
ihrer Geldgier, die Freier mit den darin geblödelten Obszönitäten
und groteskem Gestöhne in Stimmung zu bringen.
Michelle nicht. Bei ihr hatte er stets das Gefühl, als sei sie
eine Gelegenheitsfreundin. Sie erkundigte sich ernsthaft
nach seinem Befinden, jedenfalls klang es ernsthaft, redete
mit starkem russischem Akzent über dies und das, machte
zwischendurch einen Scherz und vermittelte überhaupt den
Eindruck, als unterscheide sich die Situation kaum von der,
die sich auch zwischen einem normalen Paar hätte abspielen
können. Gewiss, der Sex war nicht so normal, er wusste ja,
dass sie es der Kohle wegen tat. Aber es kam normalem Sex
sehr nahe. Für dreißig Minuten.
Er hatte sich ein bisschen in Michelle verliebt, soweit man
sich in eine Professionelle überhaupt verlieben konnte. Deshalb
ließ er gelegentlich seiner Fantasie freien Lauf: Beim
nächsten Mal würde er sie fragen, ob sie ihn heiraten wolle.
Sie würde einen Freudenschrei ausstoßen, ihn umarmen und
küssen und den Antrag unter tränenreichen Dankesbekundungen
annehmen. Danach würde sie ihre Vergangenheit
abstreifen wie eine falsche Haut, und sie beide würden eine
Familie gründen und mit ihren vielen Kindern in Eulenloch
glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben. Allerdings, und hier
verdüsterte sich der Traum und bekam hässliche Flecken,
würde er ständig daran denken müssen, dass sie es früher für
Geld getan hatte und das auch jederzeit wieder tun konnte,
wenn der Haussegen mal schief hing. Ein ewiges Damoklesschwert
quasi. Außerdem würde sie ganz flott herausbekom-
men, dass er nicht wie andere Männer zur Arbeit ging, überhaupt
keiner Arbeit nachging, sondern vom hinterlassenen
Vermögen des Alten lebte. Sie würde ihn daraufhin so lange
nerven, bis er ihr verraten müsste, wie viel ...
Vor zwei Monaten war es zu einer Begebenheit gekommen,
welche selbst unter diese dämliche Fantasie einen
Schlussstrich gesetzt hatte. Er war zu Fuß zum »Mamma
Mia!« unterwegs gewesen, als aus einer Seitengasse plötzlich
Michelle auftauchte. Sie sah völlig verändert aus, was eigentlich
logisch war, denn sie trug weder das vertraute türkisblaue
Korsett mit Strapsen noch das übliche starke Make-up.
Sie war völlig ungeschminkt und spazierte ihm in einem unauffälligen
dunklen Kleid auf dem Bürgersteig geradewegs
entgegen. Seine Augen hatten ihn selbst in dem flirrig diffusen
Pufflicht nicht getrogen: Michelle wirkte auch bei Tageslicht
und ohne die obligatorische Nuttenuniform wie eine
Schaumgeborene des Ostens; die drallen Brüste, die perfekte
Wespentaille, die langen Beine und schließlich das zarte
Gesicht mit den stets wie verschlafen aussehenden Augen
verliehen ihr etwas von einer Heiligen, die nur vom Himmel
herabgestiegen war, um der schmerzdurchdrungenen Männerwelt
Linderung zu verschaffen. Da er sozusagen ein alter
Bekannter war, machte er schon von der Ferne Anstalten, sie
zu begrüßen. Etwas merkwürdig fand er es schon, dass sie
stur einige Zentimeter an seinem Kopf vorbeischaute. Als sie
dann aufeinandertrafen, legte er los mit: »Hallo! Das ist aber
schön, dich ...« Aber sie ging wie ferngesteuert und ohne
ihn auch nur mit einem Blick zu streifen an ihm vorüber und
ließ ihn beschämt und betrübt auf dem Bürgersteig zurück.
Am folgenden Sonntag im »Bienenstich« war Michelle
mit keinem Wort auf die peinliche Begegnung eingegangen,
und auch Arthur hatte sich nicht getraut, sie zur Sprache zu
bringen. Sie waren einfach zur Tagesordnung übergegangen
oder besser gesagt, zum einzigen Ordnungspunkt.
19 Uhr: Zurück nach Hause, einen kleinen Happen essen
und dann ran an die Arbeit. Ja klar arbeitete er. Das heißt, er
stand erst am Anfang der Arbeit. Er neigte dazu, der Theorie
Glauben zu schenken, dass Talent sich genetisch vererbte.
Deshalb hatte er vor einiger Zeit beschlossen, wie sein Vater
Schriftsteller zu werden. Etwas spät, aber nicht zu spät. Deshalb
setzte er sich jeden Abend hin und schrieb. Er war schon
auf Seite eins des Manuskripts. Einen Verlag zu finden, würde
bei seinem Namen sicherlich keine Probleme bereiten.
Außerdem hatte er früher durch die Vermittlung des Alten
bei mehreren Verlagen Praktika absolviert und kannte sich
in der Branche bestens aus. Die Story sollte von einem Mann
handeln, der in der Provinz residiert und sich Gedanken
macht, warum es selbst in der Provinz inzwischen so viele
Türken gibt oder ob bei Schützenvereinen klammheimlich
eine neue Bestimmung in Kraft getreten ist, wonach auch
Gepiercte und Tätowierte aufgenommen werden müssen.
Da plötzlich greift spektakulär das Schicksal ein. Er lernt die
junge Bürgermeisterin des kleinen Ortes kennen. Sie heißt
Michelle - jetzt nur mal so als Hausnummer -, und eine
schwindelerregend heiße Affäre nimmt ihren Lauf. Die Sexszenen
sollten an Anschaulichkeit und Raffinesse alles bis
jetzt Dagewesene übertreffen. Nach »Feuchtgebiete« und
dergleichen mussten sich doch die Verlage nach solchen Dar-
stellungen geradezu die Finger lecken. Also, die beiden lieben
sich Tag und Nacht, sie hören gar nicht mehr auf damit, bis
dann wieder eine vollkommen unerwartete Wendung eintritt:
Sie bekommt Brustkrebs! Oder er Hodenkrebs. Oder
gleich beide bekommen irgend so einen ekelhaften Krebs.
Bei Verlagen war Krebs der Renner. Jeder verfasste heutzutage
ein Krebsbuch und schaffte es im Handumdrehen auf die
Bestsellerliste. Der Krebs meiner Mutter, der Krebs meines
Schwagers, der Krebs meines Hundes und, und, und. Selbst
Leute, die derart übel krebskrank waren, dass sie keinen Griffel
mehr halten konnten, schrieben noch schnell über ihren
Krebs, bevor sie mit einem seligen Lächeln darüber, dass sie
den Gipfel der Charts erklommen hatten, ins Gras bissen. Bis
dahin hatte er den Stoff komplett im Kopf, der Rest würde
sich nach der ersten Phase des Sich-warm-Schreibens von
selbst erzählen. Er hatte auf dem Computer bereits den ersten
Satz getippt - und wieder gelöscht, weil er ihm nicht gefallen
hatte. Eigentlich hatte er diesen Vorgang in den letzten
Monaten ständig wiederholt. Aber gerade eben war ihm eine
grandiose Idee für den Einstieg eingefallen, und heute Abend
würde es sicherlich ...
Arthur stieg aus dem Bett und betrachtete sich im
Schrankspiegel. Was er sich da im Geiste für den Sonntag
zusammennotiert hatte, war natürlich totaler Quatsch. All
diese Tätigkeiten hätte er auch an irgendeinem x-beliebigen
Tag erledigen können. Was er ja auch tat. Denn im Gegensatz
zu anderen Autoren stand er weder unter Leistungs-noch unter
finanziellem Druck. Er war ein freier Mensch im wahrsten
Sinne des Wortes. Doch im Grunde war es einfach nicht
Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Redaktion: Lisa Kuppler
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München
Umschlagbild: © mauritius images/Image Source
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-453-43558-2
www.heyne.de
... weniger
Autoren-Porträt von Cedric Arnold
Cedric Arnold wurde am 23. November 1977 in Waldbröhl im Oberbergischen Land geboren. Er litt als Kind unter unterschiedlichen nervösen Störungen, deren Namen zu lang sind, um sie alle in diesem Text unterzubringen. Nach dem Abitur studierte er Parapsychologie und promovierte mit der Arbeit "Unmotiviertes Kichern beim Rentier". Später machte er sich einen Namen als Motivationstrainer, bis ein Betriebsunfall diese Karriere jäh beendete: Er motivierte einen Kursteilnehmer so erfolgreich, dass dieser an einem einzigen Tag fünf Banküberfälle beging.
Bibliographische Angaben
- Autor: Cedric Arnold
- 2010, 398 Seiten, Maße: 11,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435583
- ISBN-13: 9783453435582
Rezension zu „Volltreffer “
"Volltreffer ist ein komischer Krimi, in dem Cedric Arnold so ziemlich alles auf die Schippe nimmt, was ihm unter die Finger kommt. (...) Alles in liebenswertem Unterton. Irgendwie schleicht sich der Eindruck ins Hirn, als würde der legendäre Johannes Mario Simmel schreiben."
Kommentar zu "Volltreffer"
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