Vom Leben gezeichnet
Mit der nicht geringen Lebenserfahrung eines geschulten Beobachters erklärt uns der tapfere Endverbraucher Harald Martenstein, was wir von all den Konfusionen, die uns Tag für Tag begegnen, zu halten haben: Er wägt die Chancen einer neuen rechtskonservativen Partei ab, sinniert über den Zusammenhang von Alterspyramide und Fußpilzerkrankung nach, liest ein Buch mit dem Hoffnung spendenden Titel "Gut im Bett", möchte Koks in Berlin kaufen, diskutiert mit seinem Kind über hochpreisige Handy-Modelle, erklärt uns, dass bestimmte öffentlich vollzogene Sexualpraktiken in Idaho mit lebenslänglicher Haft bestraft werden, und entschuldigt sich für seine ADAC-Mitgliedschaft.
Witziger ist uns Deutschen nie Trost gespendet worden.Wer Axel Hacke mag, wird Harald Martenstein lieben.
Vom Lebengezeichnet von HaraldMartenstein
LESEPROBEÜber Altersversorgung
Sie haben uns gesagt, wir sollen jedes Jahr mindestens einMal zum Zahnarzt gehen.
Der Zahnarzt trägt die Besuche mit dem Stift in so einkleines Heftchen ein. Später, wenn die Zähne dann ausfallen, geht man mit demHeftchen zum Staat und kriegt auf das künstliche Gebiss Rabatt. Ich gehedeswegen seit Mitte der 90er jedes Jahr zum Zahnarzt, das kostet mich und diedeutsche Volkswirtschaft auf völlig sinnlose Weise einen halben Tag. MeineZähne sind nämlich top. Da ist nie was dran. Keiner meiner Eltern hat einGebiss, bis heute nicht. Wir haben seit Jahrhunderten alle Superzähne. Wirputzen natürlich auch fleißig. Aber ich dachte, ich will auf jeden Fall diesenRabatt haben. Vielleicht schreibe ich mal etwas, das jemanden verärgert, undderjenige schlägt mir im Affekt alle Zähne aus.
Jetzt sagen sie uns, dass wir unsere neuen Zähne auf jedenFall hundertprozentig selber bezahlen müssen. Das kleine Rabattheftchen, dasich jahrelang auf staatliche Weisung geführt habe, war für die Katz. Und wennich zum Zahnarzt gehe, zahle ich in Zukunft zehn Euro. Mit anderen Worten: Bisgestern sollte ich unbedingt hingehen zum Zahnarzt. Dafür gab es Geld in Formvon Rabatt. Jetzt soll ich, wenn ich Geld sparen will, zu Hause bleiben.
Sie haben uns gesagt: Wir sollen für das Alter vorsorgen.
Ich habe Aktien gekauft. Deutsche Bank. Daimler.Konservative Werte. Und einen angeblich hochsoliden Fonds. Das investierteGeld ist inzwischen zu wesentlichen Teilen verschwunden. Die Aktien sindgesunken. Wenn ich mein Geld auf exzessive, zweideutige und geschmackloseWeise mit Marion und Desiree im »Grünen Kakadu« verjubelt hätte, blieben mirfür mein Alter wenigstens einige angenehme Erinnerungen. Das wäre immerhineine Art psychologische Altersvorsorge gewesen. Die einzige Aktie, die esgebracht hat, war ein Tipp aus der Zeitschrift »Der Spekulant«. Es ist eineamerikanische Firma, die sich auf den Bau von Terroristengefängnissenspezialisiert hat. Aus blödem Sicherheitsdenken habe ich zu wenig in dieseTerroristengeschichte investiert. Ich habe dem verlogenen Staat mehr geglaubtals der grundsoliden Zeitschrift »Der Spekulant«.
Dann habe ich noch eine Lebensversicherung. Jeden Tag leseich in der Zeitung Horrornachrichten über die Lebensversicherungen. Entwedergehen sie Pleite, oder sie werden brutal versteuert, oder sie werfen keineRendite ab. Ich hätte Gold kaufen sollen. Sachwerte. In »Der Spekulant« haben siezu Silber geraten. Oder ich lasse mich lasern. Ich bin Brillenträger. Brillenwerden auch nicht mehr bezahlt. Meine Augen ändern dauernd die Stärke. Beimanchen lassen die Zähne nach, oder der Geist, bei mir vorerst nur die Augen.Wenn ich mich an den Bindehäuten lasern lasse, muss ich nie mehr für eineBrille zahlen. Es wäre eine sinnvolle Altersvorsorge. Aber hat man von diesemverkommenen Staat jemals den Rat gehört: »Ältere Brillenträger! Lasst euchlasern!«?
Ich werde schreiben müssen, bis ich tot umfalle. Vielleichterlischt nach und nach mein Geist. Vielleicht sehe ich eines Tages die Buchstabennicht mehr. Dann schreibe ich mit den Zähnen weiter.Über Ärzte
Sie meisten Menschen werden im Laufe des Lebens, politischgesehen, konservativer oder auch rechter. Im Diskursbetrieb sagt man von frühbis spät »Altlinke« oder »Jungrechte«, die Worte »Junglinke« oder »Altrechte«dagegen hört man so gut wie nie. Weil das als Selbstverständlichkeit gilt.Jung ist links. Alt ist rechts. Mit anderen Worten, Rechte müssen öfter zumArzt und haben die kürzere Lebenserwartung. Dies ist im Moment eines derüberzeugendsten politischen Argumente der deutschen Sozialdemokratie.
Fast jeder Mensch fragt sich manchmal: Was würdest du alsErstes an Deutschland ändern, wenn du die absolute Macht hättest? Ich würde mitden Ärzten anfangen. Ich hatte nämlich so ein Gewächs in der Achselhöhle, daswollte ich wegmachen lassen. Ein ganz übles Gewächs war das. Ersparen Sie mirdie Details. Also rief ich beim Hautarzt an. Die Hautarztassistentin sagte: »Umneun.« Um neun öffnet die Praxis. Ich kam um 8 Uhr 59. Im Wartezimmer saßen bereitsfünf Patienten mit den verschiedensten Gewächsen. Alle für neun Uhr bestellt!
Die deutschen Ärzte stapeln in ihren Wartezimmern dasPatientengut, auf Vorrat, damit immer was da ist, wenn der kleine Hungerkommt. Ich mache das im Kühlschrank mit dem Joghurt, die Ärzte machen es mitmir.
Zum Beispiel steht auf den Hautarztterminzetteln die einenexakten Terminplan vorgaukelnde Zeit »15 Uhr 25«. Dann ist man pünktlich da undwartet eine Stunde plus x. Das ist immer so. Und nur bei den Ärzten. Die vom Pizzadienstund die von der Autowerkstatt sind halbwegs pünktlich, die Installateure sagensowieso nie was Genaues, sondern »vormittags«, sie sind also wenigstensehrlich, die Busse fahren in etwa pünktlich, Karstadt macht pünktlich auf undzu. Nur die Ärzte schaffen es nicht. Ich weiß, was die Ärzte jetzt sagen. Siesagen: »Wir nehmen uns eben unbegrenzt Zeit für jeden Patienten. Wir sind Humanistenund Philanthropen. Beim Humanismus weißt du vorher nie, wie lange er dauert.Der Patient meint am Telefon: Ich habe Grippe mit Husten. Und dann müssen wirihm überraschend beide Zystrallappen samt Ulcus pectori komatös amputierensowie, nachdem wir mit Hilfe des Spektralboosters in der Betty-Ford-Klinik einezweite Meinung eingeholt haben, eine beidseitige Stirpulationsprophylaxe unterNotfallbedingungen durchführen.«
Ausreden! Halbwahrheiten! Ich weiß doch, wie der Hase läuft.Ich habe selber einen Job. Glauben Sie vielleicht, das Kolumnenschreiben dauertimmer gleich lange? Es ist genauso ein Glücksspiel wie dasGewächsewegschneiden. Trotzdem muss ich meine Termine einhalten. Ihr Ärzteklagt, dass ihr zu wenig Geld verdient? Wenn ich seit Jahren zu meinenberuflichen Verabredungen immer eine Stunde plus x zu spät kommen würde, dannhätte ich auch ein Problem auf der Einnahmeseite.
Je älter die Menschen werden, desto rechter werden sie unddesto öfter müssen sie zum Arzt. Mein Hautarzt behauptet, dass sogar Fußpilzeine Alterserscheinung ist. Die Füße werden ab dreißig nicht mehr so gutdurchblutet. Da hat der Pilz leichtes Spiel. Unglaublich: Beim Parteitag derGrauen liegt die Fußpilzrate siebzehnmal so hoch wie, sagen wir, bei einerMitgliederversammlung von Attac. Bei den Vertriebenenverbänden müssen sieunter Verpilzung leiden wie die Tiere. »Oder haben Sie schon mal ein Kind mitFußpilz gesehen?«, fragte der Hautarzt und schnippte das Gewächs mit demRingfinger weg.
© 2004 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Autoren-Porträtvon Harald Martenstein
Harald Martenstein, geboren 1953, istleitender Redakteur beim Berliner Tagesspiegel und Vater eines neunjährigenSohnes. Der Buchmarkt verdankt ihm u.a. die Werke Das hat Folgen. Deutschlandund seine Fernsehserien" und Die Mönchsrepublik. Erotik in der deutschenPolitik von Adenauer bis Claudia Nolte".
Interview mit Harald Martenstein
Beim Lesen Ihrer Kolumnen schütteltman sich nicht selten vor Lachen. Oftmals kennt man die Situationen, die Siebeschreiben. Geht man als Kolumnenschreiber eigentlich mit einem speziellenThemen-Suchblick durchs Leben?
Nein. Zum Glück darf ich ganz normal leben. Ich setze michhalt einmal pro Woche hin und überlege, was so los ist im Leben und in derWelt. Im Gegensatz zu früher freue ich mich aber inzwischen fast schon überMissgeschicke und Alltagskatastrophen. Wenn ich mal wieder Ärger mitHandwerkern habe oder das Auto explodiert, weiß ich: Wenigstens kommt dabeieine Kolumne heraus.
In Vom Leben gezeichnet" bekommtder Leser eine ganze Menge von Ihrem Privatleben mit. Werden Sie manchmal vonwildfremden Menschen auf Ihre Kolumnen angesprochen?
Daskommt vor. Aber ich bin, ebenfalls zum Glück, kein Fernsehgesicht. Ich willauch nicht, dass Fotos erscheinen, außer, wenn ich dazu gezwungen werde.
Haben Sie so etwas wie ein absolutesLieblingsthema?
Hm.Vielleicht das Älterwerden? Meniskus? Falten? Krebstest? Ja, ich glaube, das istes. Ich bin der Chronist des alternden Deutschlands. Sonst will sich ja keinerdazu bekennen.
Sie leben in Berlin, und Ihre Textehandeln oft vom Leben in dieser Stadt. Sind Sie in Berlin geboren? Was mögenSie an dieser Stadt?
Ichbin in Mainz geboren und lebe seit 1988 in Berlin. Ich hasse es und ich liebees. Es ist hart, gemein, unhöflich, anmaßend, dreist und dreckig. Das hat was.Ich mag in keiner anderen deutschen Stadt leben.
Kabarettisten und Kolumnisten müssensich die Frage gefallen lassen: Was halten Sie von der gegenwärtigen Stimmungim Land? Stichwort Hartz IV, StichwortSchmarotzermentalität usw.?
Einleichter bis mittelschwerer Tritt in den Hintern unserer durchsubventionierten Existenzwar und ist notwendig, finde ich.
Sie sind Chefreporter beim Berliner Tagesspiegel" und Kolumnist der Zeit". Das bedeutet wahrscheinlich eine MengeArbeit unter Zeitdruck. Was tun Sie, wenn Sie einmal richtig entspannen wollen?
Ich arbeite im Garten oder laufe im Fitnessstudio auf demLaufband oder gehe ins Kino, aber im Grunde ist Schreiben keine Arbeit, sondernSpaß, obwohl man wunderbarerweise dafür bezahlt wird.
Die Fragen stellte Ulrike Künnecke, literaturtest.de.
- Autor: Harald Martenstein
- 2004, 174 Seiten, Maße: 12 x 19,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455094651
- ISBN-13: 9783455094657
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