Von Ort zu Ort
Eine Jugend in Pommern
"Wir Kinder, frisch gewaschen und in Sonntagskleidern, mussten den Gästen natürlich Guten Tag sagen. Die Mädchen begrüßten die Damen mit tiefem Knicks und Handkuss, die Jungen verbeugten sich."
Maria...
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Produktinformationen zu „Von Ort zu Ort “
"Wir Kinder, frisch gewaschen und in Sonntagskleidern, mussten den Gästen natürlich Guten Tag sagen. Die Mädchen begrüßten die Damen mit tiefem Knicks und Handkuss, die Jungen verbeugten sich."
Maria Wellershoff wuchs in Pommern als Maria von Thadden auf, auf den Landgütern Trieglaff und Vahnerow, die seit Generationen der Familie von Thadden gehörten. Sie erlebt eine herrliche Jugend mit Festen, Jagden und Ferien an der Ostsee. Kurz vor Kriegsende wird Maria zusammen mit ihrem Bruder Ado von den Amerikanern gefangen genommen. Eine bewegende Lebensgeschichte aus Pommern, dem Land am Meer.
Lese-Probe zu „Von Ort zu Ort “
Von Ort zu Ort von Maria WellershoffVORWORT
»Was eure Generation erlebt hat - da können wir nur staunen«,
sagte einmal eine jüngere, nach dem Zweiten Weltkrieg geborene
Freundin zu mir. Es könne gar nicht genug persönliche Aufzeichnungen
geben, ergänzend zu den Publikationen der Historiker,
meinte sie. Das ermutigte mich, meine Erinnerungen aufzuschreiben
und dem großen Mosaik der deutschen Geschichte in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige Steine hinzuzufügen.
Aufgewachsen in einem protestantischen, deutsch-nationalen Elternhaus,
wurden wir sechs Geschwister nach dem frühen Tod
unseres Vaters (1932) erzogen und geprägt von einer liberalen,
politisch hellsichtigen und sehr mutigen Mutter, die den Nationalsozialismus
von Anfang an ablehnte und uns lehrte, hinzusehen
statt wegzuschauen.
Die politisch und wirtschaftlich schwierigen Zwanzigerjahre
habe ich als Kind auf einem pommerschen Gut verbracht, in den
Dreißigerjahren als Gymnasiastin und Internatsschülerin die allmähliche
Politisierung des Alltags erfahren, als Studentin den
Krieg und das katastrophale Ende erlebt und den endgültigen
Verlust der ostdeutschen Heimat begreifen müssen.
... mehr
Die wichtigste Quelle für meine ganz persönliche Geschichte in
der Weltgeschichte sind Briefe, die ich an Irmgard Meyer, genannt
Inga, ab 1931/32 geschrieben habe. Sie war Freundin und
Vertraute unserer Familie, und kurz vor ihrem Tod 1995 hat sie
mir alle Briefe und Postkarten, in einem Ordner gesammelt, zu
rückgeschickt. Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben
können. In zwei kleine Taschenkalender habe ich von Januar
1944 bis Ende September 1945 Kurz informationen - ohne kri tische
Kommentare - notiert, die die Chronologie von wichtigen
Stationen und Ereignissen sichern. Die Eintragungen aus
den Sommermonaten 1945 in Göttingen sind leider mit Bleistift
geschrieben und zum größten Teil kaum noch lesbar. Meine Erinnerungen
habe ich in Geschichts- und Fachbüchern überprüft;
einige Titel sind im Text zitiert. Nach der Ermordung unseres
Bruders Gerhard am 2. Oktober 1945 im Wald bei Hannoversch-
Münden und dem allmählichen Begreifen, dass die pommersche
Heimat endgültig verloren war, habe ich nichts mehr notiert, nie
wieder einen Taschenkalender besessen.
Mit meiner Immatrikulation an der Göttinger Universität Anfang
September 1945 endet dieser Bericht. Mit der Fortsetzung
des über ein Jahr unterbrochenen Studiums fing ein neuer Lebensabschnitt
im Frieden an.
Im Anhang habe ich drei Briefe unserer Mutter abgedruckt; vermutlich
die beiden letzten, die sie im Februar 1945 kurz vor dem
Einmarsch der Sowjetarmee geschrieben hat, und einen vom
3. Juni 1945, in dem sie das Elend des Lebens unter russischer
Besatzung schildert und hofft, durch ihr und unserer Schwester
Barbaras Ausharren die Heimat für ihre Kinder retten zu können:
»Es scheint zu gelingen.« Es konnte nicht gelingen, denn
die Alliierten hatten über das Schicksal Ostdeutschlands und der
Deutschen längst anders entschieden. Im März 1946 wurden Mutter
und Tochter ausgewiesen.
Ein Personenverzeichnis über drei Generationen und eine
Ahnentafel können dem Leser hoffentlich helfen, sich in den
schwierigen Verwandtschaftsverhältnissen zurechtzufinden. Was
die Namen betrifft, so habe ich für meine Geschwister die Rufnamen
gewählt, Abkürzungen der Taufnamen.
Meine Aufzeichnungen sollen nicht nur ein kleiner persönlicher
Beitrag sein, in dem ich mich bemüht habe, das eigene Schicksal
mit der Zeit- und Kriegsgeschichte zu vernetzen, sondern sie sind
auch eine Liebeserklärung an die verlorene pommersche Heimat,
an Trieglaff und Vahnerow.
Ich danke allen, Verwandten und Freunden, die mich während
meiner Arbeit durch kritische Lektüre, Ergänzungen und
Richtigstellungen unterstützt und zum Weiterschreiben ermutigt
haben. Besonders danke ich Dr.Theda Krohm-Linke für ihre einfühlsame
und verständnisvolle Hilfe bei der letzten Überarbeitung
dieses Buches.
Köln, August 2009 Maria Wellershoff
TRIEGLAFF
Das Dorf
Auf der Luftaufnahme von Trieglaff ist gut zu erkennen, dass
das Dorf eigentlich aus zwei Dörfern besteht: dem um einen
Teich angelegten typisch slawischen Runddorf mit großen Bauernhöfen
(im mitteldeutsch-fränkischen Stil), deren Gebäude
um einen geschlossenen Hof gruppiert sind, und dem Straßendorf,
das zum Gutshof, zum »Rittergut«, gehört. Die selbstständigen,
recht wohlhabenden Bauern hatten mit dem Gutsbetrieb
nichts zu tun. Im Bauerndorf lagen die kleine alt-lutherische Kirche
und das zugehörige Pfarrhaus. Ich kann mich nicht erinnern,
jemals einen Bauernhof betreten zu haben, als wir in Trieglaff
wohnten.
Außerhalb des Dorfes, auf dem Luftbild nicht zu sehen, erhebt
sich in einer Koppel, die einem Bauern gehörte, ein kleiner Hügel,
auf dem einmal eine Ritterburg gestanden hat, eine »Raubritterburg
«, wie wir Kinder glaubten, weil das aufregender klang.
Jedenfalls hieß der Hügel »der Schlossberg«. Flur- und Ortsnamen
haben immer einen historischen Hintergrund. Die Burg soll
erst im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen oder kaiserlichen
Truppen zerstört worden sein. Das Schlafliedchen mit dem
traurigen Vers »Pommerland ist abgebrannt« stammt aus dem
Dreißigjährigen Krieg. Irgendwann soll ein Fuchs aus seinem Bau
einen silbernen Löffel und eine Münze herausgescharrt haben.
Archäologische Grabungen hätten vielleicht zur Klärung der Ver-
gangenheit des »Schlossbergs« beitragen können. Daran war jedoch
niemand interessiert.
Ungefähr in der Mitte des Dorfes befand sich ein Kaufladen,
ein »Kramladen«. Der Kaufmann betrieb auch die zum selben
Haus gehörende Gaststätte mit einem großen Festsaal. Hier trafen
sich abends und vor allem am Wochenende die Männer aus dem
ganzen Dorf bei Bier und Schnaps. Im Saal wurden Feste gefeiert,
am Wochenende wurde dort getanzt.
Am Rande des alten Dorfes, an der Grenze zum Rittergut,
stand eine alte, fast hohle Linde, die sogenannte Götzenlinde. Bevor
die christlichen Missionare die slawische Siedlung erreichten,
sollen die Bewohner des Dorfes das Kultbild ihres Gottes
Triglav hier vergraben und diese Linde gepflanzt haben. Beim
Einmarsch der Russen im März 1945 ist die Linde zusammengebrochen.
Mit dem Straßendorf beginnt das Rittergut, das im Laufe der
Jahrhunderte mehrfach die Besitzer gewechselt hat. An die Familie
von Thadden kamen die ziemlich heruntergewirtschafteten
Dörfer Trieglaff, Gruchow und Vahnerow 1820 durch die Heirat
Adolfs von Thadden mit der Erbin Henriette von Oertzen. Ihr
ältester Sohn Reinhold erbte Trieglaff und Gruchow, der Sohn
Gerhard das kleinere Vahnerow.
An der langen Dorfstraße, die vom Bauerndorf zum Gutshof
führt, stehen die niedrigen Häuser der Landarbeiter oder auch
Tagelöhner, unserer »Leute«, wie wir sie nannten. Die Häuser
hatte unser Vater Anfang des 20. Jahrhunderts nach und nach,
wie es finanziell möglich war, anstelle der strohgedeckten Lehmfachwerkhäuser
bauen lassen. Jeweils zwei Familien lebten in einem
Haus, das unterkellert war und einen Dachboden hatte.
Die Wohnungen hatten zwei oder drei Stuben, eine Kammer,
Küche und Vorratsraum und eine kleine Waschküche. Alle Familien
legten vor ihren Häusern Blumenbeete an, die von weiß
gestrichenen Staketenzäunen eingefasst waren. Ein großer Obst-
und Gemüsegarten und Ställe für Geflügel, Kaninchen und eine
Kuh befanden sich hinter den Häusern.
Wenn ich mich nicht täusche, bin ich nur einmal in einem Ar beiterhaus
gewesen, und zwar zu einer Hochzeits- oder großen Geburtstagsfeier,
in Vertretung unserer Mutter, die entweder krank
oder hochschwanger war oder im Wochenbett lag. Ich war sieben
Jahre alt, als mir diese erste offizielle Aufgabe, Stellvertreterin der
»Gnädigen Frau« zu sein, anvertraut wurde.
Als ich beim großen Familienfest ankam, war die Stube schon
voller Gäste, sie saßen auf Bänken dicht zusammengedrängt. Ich
wurde meiner Rolle entsprechend zu den Erwachsenen gesetzt,
nicht zu den Kindern. Auf der langen Tafel standen dampfende
Schüsseln, denn das Gelage fing mit dem Mittagessen an. So bescheiden
und sparsam die Arbeiter gewöhnlich auch aßen - Pellkartoffeln
mit Heringen, Pellkartoffeln mit Specksoße, »Kartoffelsupp',
Kartoffelsupp', die ganze Woch' Kartoffelsupp'«, hieß es
in einem Lied -, bei festlichen Anlässen wurde nie gespart. Also
zunächst Mittagessen mit verschiedenen Braten, Gemüsen und
Kartoffeln, nach einer kurzen Pause folgte das Kaffeetrinken mit
Cremetorten und Blechkuchen. Dauernd wurde mir was angeboten,
und obwohl ich längst satt war, wagte ich nicht, »Nein,
danke« zu sagen, weil ich damit die Gastgeber beleidigt hätte. Sie
hätten sofort misstrauisch gefragt, ob es mir denn nicht schmecke.
Also aß ich tapfer weiter, sah aus dem Fenster und hoffte das
Kindermädchen zu sehen, das mich abholen sollte. In der Stube
wurde es immer lauter, die Männer rauchten, tranken Bier und
Schnaps. Erst nachdem ich noch belegte Brote in mich hineingestopft
hatte, wurde ich endlich abgeholt. Wahrscheinlich war
mir furchtbar übel.
In allen großen Dörfern mit einem Gutsbetrieb - nicht in den
reinen Bauerndörfern - gab es eine sogenannte Schnitterkaserne,
in der während der Erntezeit die polnischen Saisonarbeiter einquartiert
waren. Sie kamen zur Getreideernte und blieben, bis
die letzten Rüben geerntet waren, weil die eigenen Leute für
die zusätz lichen Arbeiten nicht ausreichten. Das Wort »Schnitter
« weist darauf hin, dass die Polen bereits auf die Güter kamen,
als das Korn noch mit der Sense gemäht, also geschnitten wurde.
Die Saisonarbeiter wurden vom Gutsbetrieb mit Essen versorgt,
denn sie durften ihre Frauen nicht mitbringen. Und sie wohnten
zwar in der Kaserne, waren aber natürlich nicht kaserniert, sondern
konnten sich frei bewegen.
Im Zweiten Weltkrieg wurden Kriegsgefangene oder ukrainische
Zwangsarbeiter in diesen Häusern untergebracht.
Der eigentliche Wirtschaftshof des Guts liegt immer noch im
Winkel zwischen zwei aus dem Dorf herausführenden Straßen.
Bevor ich zur Schule ging, habe ich den Hof allein wohl nie verlassen.
Für ein kleines Kind gab es hier ja genug zu sehen: die
Ställe der Kühe, Schweine, Schafe und Ackerpferde, die Scheunen,
die Schmiede und die Stellmacherei. Den Stellmacher und
seine Gehilfen störte es nicht, wenn ich ihnen zuschaute, wie sie
mit der Kreissäge große Bretter zerschnitten, wie sie hobelten, feilten,
schmirgelten und mit selbst gekochtem, scharf riechendem
gelbem Leim Holzteile verklebten. So viel wie möglich wurde in
der Stellmacherei selbst hergestellt und repariert: Ackerwagen,
Leitern, Schubkarren, Tröge und vieles mehr. Die Kutschwagen
wurden gekauft.
Neben der Stellmacherei lag die Schmiede, denn Schmied und
Stellmacher arbeiteten viel zusammen, ergänzten sich in ihren
Tätigkeiten, besonders beim Bau und der Reparatur von Acker-
wagen und -geräten. Mich interessierte beim Schmied nur das
Beschlagen der Pferde, sonst keine seiner Arbeiten. Mit seinem
vom Ruß geschwärzten Gesicht war er mir immer etwas unheimlich.
Der Stellmacher war auch der Herrenfriseur des Dorfes. Die
Haarschnitte waren einfach: Die Männer hatten kurz geschnit tene
Haare mit Seitenscheitel, die Jungen wurden fast kahl geschoren,
es blieben einige Stoppeln auf dem Kopf. Die Frisur
war praktisch, pflegeleicht, und Läuse waren gut sichtbar. Die
Frauen brauchten keinen Friseur: Sie kämmten ihre langen Haare
straff nach hinten und drehten sie in einem Knoten zusammen.
Darüber trugen die meisten Frauen kleine, unter dem Kinn
geknotete Kopftücher.
Mein Bruder Adolf (Ado) hatte hellblonde Locken, die bis über
die Ohren fielen - der Stolz der Mutter, aber nicht der des ältesten
Sohnes, denn eines Tages erschien er mit ganz kurz geschorenen
Haaren. Der Grund: Er wollte aussehen wie die Dorfjungen,
die ihn wegen seiner mädchenhaften Frisur verspottet hatten. So
hat er es jedenfalls später erzählt. Dem misstrauischen und zögernden
Stellmacher-Friseur hatte er versichert, die Eltern seien
einverstanden mit dem Kurzhaarschnitt. Zum Bedauern unserer
Mutter wuchsen nie wieder Locken.
Zur Landwirtschaft gehörten außer der Feldbestellung vor allem
auch die Aufzucht von Nutztieren und ihre Verwertung, also das
Schlachten. Doch bis die Tiere getötet wurden, hatten sie es damals
gut auf dem Land. Sie lebten länger als die Tiere heutzuta
ge, weil sie nicht im Schnellverfahren gemästet wurden, sie waren
nicht auf engstem Raum zusammengepfercht, und im Sommer
hatten sie alle genügend Bewegung im Freien: die Kühe auf
den Koppeln, die Schafe auf den Wiesen und im Herbst auf den
Stoppelfeldern, die Schweine in ihrer großen Suhle vor dem Stall.
Die Hühner liefen überall auf dem Hof herum. Nur im Winter
mussten sie im Stall bleiben, legten dann auch weniger Eier. Frische
Eier waren im Winter knapp.
Die Kälber blieben bei ihren Müttern, tranken aus ihren Eutern,
wurden nicht - wie heute - in enge Käfige gesperrt und
mit »Milchaustausch« gefüttert. Wir hielten den noch zahnlosen
Kälbchen unsere Hände hin, an denen sie gierig saugten. Uns
entzückte das Kitzeln der rauhen Zungen an den Fingern immer
wieder. Überhaupt gingen wir am liebsten in die Ställe, wenn
Junge geboren waren: Lämmchen auf unsicheren staksigen Beinchen,
rosa Ferkelchen, die sich um die Zitzen der dicken Sau
balgten, blinde kleine Kätzchen und natürlich die Fohlen.
Ob es jetzt in den sterilen Schweineställen überhaupt noch
Ratten gibt? Sie waren, als die Schweine noch viel Stroh in ihren
Koben hatten, eine große Plage und gefährlich für die Ferkel,
weil die Nagetiere an ihren Ohren und Schwänzen knabberten.
Katzen liefen in allen Ställen herum. Blechteller mit Milch
standen für sie bereit, ernähren mussten sie sich selbst vom Mäusefang
und leider auch vom Vogelfang. Kaum jemand kümmerte
sich um sie. Sie bekamen oft Junge, von denen die meisten
gleich nach der Geburt in einen Sack gesteckt und ertränkt wurden.
Die Katzen waren scheu und vorsichtig und ließen sich
nicht streicheln. Auf einen Kampf mit ausgewachsenen Ratten
ließen sie sich nicht ein.
Warum hieß das große Schlachten im Spätherbst »Schlachtfest«?
Was war daran festlich? Ich fand es traurig, dass die Tiere getötet
werden mussten. Trotzdem war ich kein Vegetarier, sondern aß
gerne Fleisch und die gut gewürzte pommersche Wurst. Überall
auf den Dörfern wurden ungefähr zur gleichen Zeit Schweine
und Kühe geschlachtet. Immer auf dem eigenen Hof. Ein amtlich
zugelassener, geprüfter Fleischbeschauer untersuchte die Tiere
vor und nach der Schlachtung. War das Fleisch in Ordnung,
wurde es nach dem Schlachten gestempelt.
Wenn ich das gellende Schreien der Schweine hörte, die sehr
grob von den Knechten behandelt wurden, bin ich ins Kinderzimmer
gelaufen, habe mich in die hinterste Ecke gehockt und
mir die Ohren zugehalten. Für ein kleines Kind ist das Landleben
nicht immer idyllisch.
Die geschlachteten Tiere wurden zur Weiterverarbeitung in
die Küche gebracht. Auf vielen Gutshöfen waren bei dem Hochbetrieb
nicht nur Köchin und Küchenmädchen mit den verschiedenen
Arbeiten beschäftigt, sondern auch die Hausfrauen.
Unsere Mutter hat sich in Trieglaff nie daran beteiligt; sie verstand
zunächst auch nichts von pommerscher Wurst- und Schinkenherstellung.
Vielleicht ekelten sie, die die »feinste Nase« hatte,
wie sie oft betonte, die widerlich süßlichen Gerüche in der
Küche.
Als unser Vater den Gutshof Anfang des 20. Jahrhunderts neu gestaltete,
die alten Ställe abreißen und neue bauen ließ, mit schöner
Ziegelornamentik, hat er auch Bäume anpflanzen lassen. Bäume
und Büsche trennten den Hof vom Park, sodass im Sommer
die Stallungen vom Schloss aus kaum zu sehen waren. Bäume
waren wichtig für die Vögel, und sie spendeten Schatten.
Nur eine Familie litt unter der Dendrophilie, der »Baumfreundschaft
« des Gutsherrn: die des Inspektors Karl Pierau. Die
breite Südfront des lang gestreckten Hauses hätte im hellsten
Sonnenlicht liegen können, wenn nicht eine Reihe großer Bäume
zu dicht vor dem Haus gestanden hätte. Selbst im Hochsommer
waren die Zimmer dunkel. Trotz wiederholter Bitten des Inspektors,
mit dem unseren Vater eine echte Freundschaft verband,
durften die Bäume nicht gefällt werden. Sie waren wichtiger als
helle Räume.
Unser Vater war auf den Tag genau zehn Jahre älter als Karl
Pie rau. Beide Männer waren tüchtige Landwirte, und sie haben
in den schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die wirtschaftliche
Situation des Guts allmählich verbessern können.
Einem klugen Rat seines Freundes ist unser Vater leider
nicht gefolgt. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Mann unserer
Schwester Marie-Agnes (Anza), Martin Braune, berufslos, denn
Marineoffiziere wurden nicht mehr gebraucht. Um ein kleines
Gut an der Oder kaufen zu können, bestand er - trotz der beginnenden
Inflation und der prekären Wirtschaftslage - auf der
Auszahlung des Erbanteils seiner Frau. Karl Pierau beschwor
den Vater, den Hof für seine Tochter zu kaufen, als Sicherheit für
sie und ihre Kinder. Er glaubte nicht an die Zuverlässigkeit des
Schwiegersohns, der ihm auch unsympathisch war. Für den sehr
konservativen Landrat aber war es undenkbar, den Landbesitz
einer Frau, nicht einmal seiner Tochter, zu überschreiben. Leider,
denn die Ehe zerbrach, Martin Braune heiratete ein zweites
Mal, und Anza hatte deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg keinen
Anspruch auf Entschädigung. Den »Lastenausgleich« für
den verlorenen Besitz erhielten der geschiedene Mann und seine
zweite Frau, die sich dafür einen Hof in Westdeutschland kaufen
konnten.
Wegen der rasanten Geldentwertung in der Inflationszeit musste
der Betrag für den Kauf des Hofs innerhalb von vierundzwanzig
Stunden von einer Sparkasse zur anderen gebracht werden.
Damit wurde Fritz Schmitz, der jüngere Bruder unserer Mutter,
beauftragt. Morgens, als die Sparkasse in Greifenberg geöffnet
wurde, packte er die Geldscheinbündel, viele Millionen Mark, in
einen großen Koffer, eilte zum Bahnhof, fuhr mit dem nächsten
Zug nach Stettin, stieg dort um und konnte gerade noch vor Kassenschluss
das Geld in der Sparkasse von Greifenhagen abliefern.
Am nächsten Tag hätten die Millionen schon nicht mehr gereicht.
Sind unsere Eltern jeden Sonntag zum Gottesdienst in die Kirche
gegangen? Der Gutsherr war als Patron der Kirche vielleicht
dazu verpflichtet. Seine Frau auch? An den großen Festtagen ist
sie wohl auch in die Kirche gegangen, das wurde sicher erwartet.
Später, als wir in Vahnerow wohnten, ist sie nur selten nach
Batzwitz zum Gottesdienst gefahren.
Die Kirche in Trieglaff war ein sehr schöner einschiffiger Bau,
aus großen behauenen, weiß verputzten Findlingen aufgemauert,
mit einem geraden Chorabschluss. Der gedrungene Holzturm an
der Westseite hatte eine auffällig hohe, dünne Spitze, die man auf
dem Luftbild gerade noch zwischen den Baumkronen erkennen
kann. Holztürme gab es in Hinterpommern nur bei Dorfkirchen,
sie waren viel billiger als die in Städten üblichen Steintürme. Das
hölzerne Innengerüst aus kräftigen Balken war sehr stabil, weil es
der Belastung durch die schwingende Glocke standhalten musste.
Außen war die Konstruktion mit schmalen Brettern verkleidet,
in Trieglaff waren sie in einem Fischgrätmuster angeordnet.
Die Kirche ist im 13.Jahrhundert auf dem Platz erbaut worden,
auf dem sich die heidnische Opferstätte für den Gott Triglav befunden
hatte. Sie wurde der heiligen Elisabeth geweiht. Das Kult
bild ihres Gottes hatten die Slawen angeblich rechtzeitig in Sicherheit
gebracht. Alte knorrige Eichen umgaben die Kirche: Eine
von ihnen, aus einem bestimmten Winkel betrachtet, hatte das
Profil Friedrichs des Großen, des Alten Fritz.Verwitterte Grabsteine
erinnerten an den ehemaligen, längst aufgelassenen Friedhof.
Von all dem ist nichts mehr zu sehen: Die Kirche ist allmählich
verfallen und schließlich abgerissen worden (1948).
Wir, die Patronatsfamilie, betraten die Kirche erst, wenn sich die
Gemeinde zum Gottesdienst versammelt hatte. Links vom Gang
saßen die Frauen, rechts die Männer. Wir gingen bis zum Chor
und stiegen dann auf einer kurzen, steilen Treppe zur Empore
hinauf. Hinter einer brusthohen Bretterwand auf unbequemen
Stühlen sitzend, sahen wir Kinder außer der Kanzel und dem
Baldachin nichts vom Kirchenraum, wir guckten nur auf die
braunen Bretter. Standen wir mit der Gemeinde zur Verlesung
von Bibeltexten oder zum Gebet auf, konnten wir den Pastor
vor dem Altar sehen. Ich wagte kaum, den Kopf zur Gemeinde
zu wenden, man hätte mich für neugierig oder gar für herablassend
halten können. Also schaute ich nur auf den Pastor in seinem
schwarzen Talar und langweilte mich bei seiner Predigt, die
er von der Kanzel hielt. Kirchenlieder, vom Orgelspiel begleitet,
habe ich immer sehr gerne gesungen.
Ob im Großen Kirchengebet noch für den Patron gebetet werden
musste? Im 20. Jahrhundert hatte er zwar noch den Titel,
doch kirchenrechtliche Befugnisse wie im 19. Jahrhundert hatte
er nicht mehr. Damals hatte er noch das Recht gehabt, einen Pastor
zu berufen. Jetzt konnte er einer Ernennung nur noch zustimmen.
Gegen seinen ausdrücklichen Widerstand wäre allerdings
auch kein Pastor eingesetzt worden.
In jedem Jahr gab es ein Missionsfest zugunsten der Missionsstationen
in fernen Erdteilen. Dann wurde ein bunt bemalter, wohl
eineinhalb Meter großer Neger aus Holz neben die Kirchentür
gestellt. Er trug einen farbigen Turban auf dem Kopf, zeigte lächelnd
seine weißen Zähne, sah aus wie ein Sarotti-Mohr auf
den Schokoladentafeln. In den Händen hielt er eine Blechbüchse.
Wenn eine Münze durch den Schlitz gesteckt wurde, nickte
er dankbar mit dem Kopf.
Unsere Mutter fand Missionsfeste überflüssig. Sie war der Meinung,
die Kirche solle sich um die Mission im eigenen Land kümmern,
da sei genug zu tun. Es gab überall, vor allem in den großen
Städten, soziales Elend. Dies zu lindern war wichtiger, als in
fernen Ländern den Chinesen oder den »armen Negerkindern«
das Christentum zu predigen. Das hat sie uns unmissverständlich
gesagt, trotzdem mussten Ado und ich an den Festen im Garten
des Pastors als Vertretung der Patronatsfamilie teilnehmen. Auf
der Wiese unter den Obstbäumen waren Tische und Bänke aufgestellt,
es gab Blechkuchen, Kaffee und Obstsaft, ein Missionar
berichte te über seine Arbeit in einem fernen Land, es wurde gebetet
und gesungen. Der dünne Gesang verwehte im Sommer-
wind. Die schmalen Bänke waren hart. Vielleicht stammt aus jener
fernen Zeit mein Widerwillen gegen lange Bänke an langen
Tischen. Ado und ich waren immer froh, wenn wir endlich nach
Hause laufen durften.
Doch die »armen Negerkinder« spielten in unserer geschwisterlichen
Pädagogik eine Rolle. Wenn jemand etwas nicht aufessen
wollte, weil es ihm nicht schmeckte, hieß es vorwurfsvoll:
»Aber die armen Negerkinder würden sich freuen, wenn sie so
etwas Gutes essen könnten!«
Gesellschaftlichen Kontakt zwischen dem Kirchenpatron und
dem Pastor hat es wohl nicht gegeben. In meiner Erinnerung kam
der Pastor nur ins Schloss, wenn wieder ein Kind getauft werden
musste, denn wir wurden nicht in der Dorfkirche getauft. Mit
den zahlreichen Kindern des Pastors, die in unserem Alter waren,
haben wir nie gespielt.
Zum Familienfriedhof führt eine Kastanienallee, erst leicht abfallend,
dann sanft aufsteigend zu dem großen Eingangstor aus
grauem Stein. In den Bogen ist ein Vers aus dem Johannesevangelium,
Kap. 11, eingraviert: »Ich bin die Auferstehung und das
Leben, wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe.«
Dahinter lag wie in einem heiligen Hain, feierlich und immer
etwas dämmrig, das Thaddensche Erbbegräbnis mit einem weiten
Blick über den Bauernsee. Die Grabhügel waren von dichtem
Efeu bedeckt, die eisernen Grabkreuze hatten alle dieselbe
Gestalt. In leicht erhabenem und bronziertem Relief waren die
Namen, Daten und ein Bibelspruch geschrieben. Neben all den
adligen Toten, in geziemendem Abstand, lag das Grab einer bürgerlichen
Toten. Uns wurde erzählt, es sei das Grab eines Hausmädchens,
das von der Gutsherrin Sophie von Mellin mit einem
Schlüssel erschlagen worden sei. Es wurde auch erzählt, Sophie
von Mellin habe zur Strafe lebenslang einen eisernen Ring um
den Hals tragen müssen. Ins Gefängnis ist sie jedenfalls nicht gekommen.
Sie lebte um 1830 »noch mit ihrem Ring um den Hals
in Greifenberg am Markt, betreute hier zur Schule gehende Abkömmlinge,
beobachtete durch einen Spion, wer die Straße passierte,
und sah ihre Nachkommenschaft über Pommern sich ausbreiten
«, wie Udo von Alvensleben 1934 in seinem Tagebuch
geschrieben hat (In: Alvensleben/Koenigsfeld, Besuche vor dem
Untergang, Berlin 1968, S. 64).
Vor meinem ersten Pommernbesuch (1976) mit meiner jüngsten
Schwester Astrid (Atti) und zwei befreundeten Galeristen aus
Köln hatte ich erwartet, den von Efeu, Unkraut und Gestrüpp
überwucherten alten Familienfriedhof mit inzwischen verrosteten
Eisenkreuzen vorzufinden, um den sich nach dem Krieg niemand
gekümmert hatte. Auf den Anblick des total verwüsteten
Friedhofs war ich nicht vorbereitet, obwohl es Raubgräber und
Friedhofschänder zu allen Zeiten gegeben hat. Einige Gräber waren
aufgegraben, Kreuze waren umgeworfen, zum Teil zerbrochen.
Das Kreuz unseres Vaters stand noch aufrecht.Wir richteten einige
Kreuze auf oder lehnten sie an Baumstämme. Wahrscheinlich
sind ortsfremde Plünderer für die Aufgrabungen verantwortlich
gewesen, nicht die Bewohner von Trieglaff. Der katholische Pfarrer
war nicht zuständig für diesen Friedhof, weil er Privatbesitz
der Thadden-Familie war, also niemals kirchliches Eigentum. Irgendwann
sind die Eisenkreuze in den nahen See geworfen worden.
Der Bürgermeister hat einige herausziehen und auf den
Friedhof bringen lassen, darunter das Grabkreuz unseres Vaters.
Dann haben Trieglaffer Bürger unter großem Aufwand den
Friedhof allmählich entrümpelt und von Gestrüpp befreit, was
vor allem dem Verwalter, Herrn Momot, und seiner Familie, dem
Bürgermeister und dem Schuldirektor zu danken ist. Die Aktion
wurde ständig von Rudolf von Thadden als Vertreter der Familie
unterstützt. Den Toten wurde in der Mitte des Platzes ein großes
Denkmal gesetzt, in dessen Zentrum eine Gedenktafel mit zweisprachiger
Inschrift steht. Der neu gestaltete Friedhof wurde 2004
mit einem protestantischen Gottesdienst eingeweiht, zu dem auch
viele Nachkommen der Familie von Thadden gekommen waren.
Ein großes Fest mit Musik und Tanz wurde zum Abschluss im
Schulhaus gefeiert.
Der sogenannte Bauernfriedhof, auf dem auch die Gutsarbeiter
und ihre Familien beerdigt wurden, war total überwuchert von
Gestrüpp, als ich ihn 1976 sah. Er war bis zum Kriegsende hell
und freundlich mit den unterschiedlichsten, manchmal recht kitschigen
Grabsteinen und Kreuzen, betenden Engeln, aufgeschlagenen
Porzellanbüchern, auf deren Seiten die Namen der Toten
in goldenen Buchstaben geschrieben waren, mit bunten Papier-
und Wachsblumen und frischen Sträußen. Er gefiel mir besser
als unser stilvoller feierlicher Familienfriedhof.
Auf dem Weg zu beiden Friedhöfen überquerte man die Gleise
band. Seit 1896 beteiligte sich unser Vater als Landrat an der Gründung
einer Zuckerfabrik in Greifenberg, förderte den Zuckerrübenanbau
im ganzen Kreis. Zur besseren Anbindung an die Fabrik
ließ er für den Rübentransport eine feste Feldbahn von siebzig
Zentimeter Spurbreite verlegen, deren Endstation Trieglaff war.
Hierher wurden von einigen Gütern und Bauernhöfen im Herbst
mit schweren Ackerwagen Zucker- und Futterrüben und Kartoffeln
gebracht und in die offenen Waggons verladen. Von Vahnerow
zu dieser Kleinbahn war ein schmaler Schienenstrang für die
von Pferden gezogenen Kipploren verlegt worden.
Der Gang durchs Dorf endet schließlich vor dem Schloss. Auf
der gepflasterten Rampe, die leicht ansteigend zum Portal führt,
wurde im Winter, nach Beendigung der Treibjagd, die sogenannte
Strecke ausgelegt: das von den Jägern zur Strecke gebrachte
Wild lag, nach Gattungen geordnet, in mehreren Reihen dicht
nebeneinander: Hasen, Kaninchen, Fasanen, Füchse, auch Rebhühner.
Die Jäger, Gutsherren aus der Nachbarschaft, und unser
Förster Zastrow, die Flinten noch über die Schulter gehängt,
standen stolz davor. Wir Kinder sahen uns die toten Tiere mit
gemischten Gefühlen an, denn wir hatten Mitleid mit den nied-
lichen Hasen und Kaninchen, deren Fell blutig befleckt war, denen
Blut an Maul und Nase klebte, mit den bunten Fasanenhähnen,
auch mit den schönen Füchsen, andererseits gehörte
die jährliche Treibjagd zu unserem Leben auf dem Land wie das
Schlachten der Haustiere. Es wurde natürlich gezählt, welcher
Jäger wie viele Tiere geschossen hatte, und wenn unser Vater zu
den erfolgreichen Schützen gehörte, waren wir stolz auf ihn.
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Die abgebildeten Fotos sind aus dem Privatbesitz der Autorin.
Der Rechteinhaber der Karte »Das Land der Familie von Thadden«
konnte trotz Bemühen von Seiten des Verlages leider nicht ermittelt werden.
Umschlaggestaltung: Studio Höpfner-Thoma, Planegg
Umschlagmotiv: Travelpix Ltd. / Getty Images, München
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-427-4
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
Die wichtigste Quelle für meine ganz persönliche Geschichte in
der Weltgeschichte sind Briefe, die ich an Irmgard Meyer, genannt
Inga, ab 1931/32 geschrieben habe. Sie war Freundin und
Vertraute unserer Familie, und kurz vor ihrem Tod 1995 hat sie
mir alle Briefe und Postkarten, in einem Ordner gesammelt, zu
rückgeschickt. Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben
können. In zwei kleine Taschenkalender habe ich von Januar
1944 bis Ende September 1945 Kurz informationen - ohne kri tische
Kommentare - notiert, die die Chronologie von wichtigen
Stationen und Ereignissen sichern. Die Eintragungen aus
den Sommermonaten 1945 in Göttingen sind leider mit Bleistift
geschrieben und zum größten Teil kaum noch lesbar. Meine Erinnerungen
habe ich in Geschichts- und Fachbüchern überprüft;
einige Titel sind im Text zitiert. Nach der Ermordung unseres
Bruders Gerhard am 2. Oktober 1945 im Wald bei Hannoversch-
Münden und dem allmählichen Begreifen, dass die pommersche
Heimat endgültig verloren war, habe ich nichts mehr notiert, nie
wieder einen Taschenkalender besessen.
Mit meiner Immatrikulation an der Göttinger Universität Anfang
September 1945 endet dieser Bericht. Mit der Fortsetzung
des über ein Jahr unterbrochenen Studiums fing ein neuer Lebensabschnitt
im Frieden an.
Im Anhang habe ich drei Briefe unserer Mutter abgedruckt; vermutlich
die beiden letzten, die sie im Februar 1945 kurz vor dem
Einmarsch der Sowjetarmee geschrieben hat, und einen vom
3. Juni 1945, in dem sie das Elend des Lebens unter russischer
Besatzung schildert und hofft, durch ihr und unserer Schwester
Barbaras Ausharren die Heimat für ihre Kinder retten zu können:
»Es scheint zu gelingen.« Es konnte nicht gelingen, denn
die Alliierten hatten über das Schicksal Ostdeutschlands und der
Deutschen längst anders entschieden. Im März 1946 wurden Mutter
und Tochter ausgewiesen.
Ein Personenverzeichnis über drei Generationen und eine
Ahnentafel können dem Leser hoffentlich helfen, sich in den
schwierigen Verwandtschaftsverhältnissen zurechtzufinden. Was
die Namen betrifft, so habe ich für meine Geschwister die Rufnamen
gewählt, Abkürzungen der Taufnamen.
Meine Aufzeichnungen sollen nicht nur ein kleiner persönlicher
Beitrag sein, in dem ich mich bemüht habe, das eigene Schicksal
mit der Zeit- und Kriegsgeschichte zu vernetzen, sondern sie sind
auch eine Liebeserklärung an die verlorene pommersche Heimat,
an Trieglaff und Vahnerow.
Ich danke allen, Verwandten und Freunden, die mich während
meiner Arbeit durch kritische Lektüre, Ergänzungen und
Richtigstellungen unterstützt und zum Weiterschreiben ermutigt
haben. Besonders danke ich Dr.Theda Krohm-Linke für ihre einfühlsame
und verständnisvolle Hilfe bei der letzten Überarbeitung
dieses Buches.
Köln, August 2009 Maria Wellershoff
TRIEGLAFF
Das Dorf
Auf der Luftaufnahme von Trieglaff ist gut zu erkennen, dass
das Dorf eigentlich aus zwei Dörfern besteht: dem um einen
Teich angelegten typisch slawischen Runddorf mit großen Bauernhöfen
(im mitteldeutsch-fränkischen Stil), deren Gebäude
um einen geschlossenen Hof gruppiert sind, und dem Straßendorf,
das zum Gutshof, zum »Rittergut«, gehört. Die selbstständigen,
recht wohlhabenden Bauern hatten mit dem Gutsbetrieb
nichts zu tun. Im Bauerndorf lagen die kleine alt-lutherische Kirche
und das zugehörige Pfarrhaus. Ich kann mich nicht erinnern,
jemals einen Bauernhof betreten zu haben, als wir in Trieglaff
wohnten.
Außerhalb des Dorfes, auf dem Luftbild nicht zu sehen, erhebt
sich in einer Koppel, die einem Bauern gehörte, ein kleiner Hügel,
auf dem einmal eine Ritterburg gestanden hat, eine »Raubritterburg
«, wie wir Kinder glaubten, weil das aufregender klang.
Jedenfalls hieß der Hügel »der Schlossberg«. Flur- und Ortsnamen
haben immer einen historischen Hintergrund. Die Burg soll
erst im Dreißigjährigen Krieg von schwedischen oder kaiserlichen
Truppen zerstört worden sein. Das Schlafliedchen mit dem
traurigen Vers »Pommerland ist abgebrannt« stammt aus dem
Dreißigjährigen Krieg. Irgendwann soll ein Fuchs aus seinem Bau
einen silbernen Löffel und eine Münze herausgescharrt haben.
Archäologische Grabungen hätten vielleicht zur Klärung der Ver-
gangenheit des »Schlossbergs« beitragen können. Daran war jedoch
niemand interessiert.
Ungefähr in der Mitte des Dorfes befand sich ein Kaufladen,
ein »Kramladen«. Der Kaufmann betrieb auch die zum selben
Haus gehörende Gaststätte mit einem großen Festsaal. Hier trafen
sich abends und vor allem am Wochenende die Männer aus dem
ganzen Dorf bei Bier und Schnaps. Im Saal wurden Feste gefeiert,
am Wochenende wurde dort getanzt.
Am Rande des alten Dorfes, an der Grenze zum Rittergut,
stand eine alte, fast hohle Linde, die sogenannte Götzenlinde. Bevor
die christlichen Missionare die slawische Siedlung erreichten,
sollen die Bewohner des Dorfes das Kultbild ihres Gottes
Triglav hier vergraben und diese Linde gepflanzt haben. Beim
Einmarsch der Russen im März 1945 ist die Linde zusammengebrochen.
Mit dem Straßendorf beginnt das Rittergut, das im Laufe der
Jahrhunderte mehrfach die Besitzer gewechselt hat. An die Familie
von Thadden kamen die ziemlich heruntergewirtschafteten
Dörfer Trieglaff, Gruchow und Vahnerow 1820 durch die Heirat
Adolfs von Thadden mit der Erbin Henriette von Oertzen. Ihr
ältester Sohn Reinhold erbte Trieglaff und Gruchow, der Sohn
Gerhard das kleinere Vahnerow.
An der langen Dorfstraße, die vom Bauerndorf zum Gutshof
führt, stehen die niedrigen Häuser der Landarbeiter oder auch
Tagelöhner, unserer »Leute«, wie wir sie nannten. Die Häuser
hatte unser Vater Anfang des 20. Jahrhunderts nach und nach,
wie es finanziell möglich war, anstelle der strohgedeckten Lehmfachwerkhäuser
bauen lassen. Jeweils zwei Familien lebten in einem
Haus, das unterkellert war und einen Dachboden hatte.
Die Wohnungen hatten zwei oder drei Stuben, eine Kammer,
Küche und Vorratsraum und eine kleine Waschküche. Alle Familien
legten vor ihren Häusern Blumenbeete an, die von weiß
gestrichenen Staketenzäunen eingefasst waren. Ein großer Obst-
und Gemüsegarten und Ställe für Geflügel, Kaninchen und eine
Kuh befanden sich hinter den Häusern.
Wenn ich mich nicht täusche, bin ich nur einmal in einem Ar beiterhaus
gewesen, und zwar zu einer Hochzeits- oder großen Geburtstagsfeier,
in Vertretung unserer Mutter, die entweder krank
oder hochschwanger war oder im Wochenbett lag. Ich war sieben
Jahre alt, als mir diese erste offizielle Aufgabe, Stellvertreterin der
»Gnädigen Frau« zu sein, anvertraut wurde.
Als ich beim großen Familienfest ankam, war die Stube schon
voller Gäste, sie saßen auf Bänken dicht zusammengedrängt. Ich
wurde meiner Rolle entsprechend zu den Erwachsenen gesetzt,
nicht zu den Kindern. Auf der langen Tafel standen dampfende
Schüsseln, denn das Gelage fing mit dem Mittagessen an. So bescheiden
und sparsam die Arbeiter gewöhnlich auch aßen - Pellkartoffeln
mit Heringen, Pellkartoffeln mit Specksoße, »Kartoffelsupp',
Kartoffelsupp', die ganze Woch' Kartoffelsupp'«, hieß es
in einem Lied -, bei festlichen Anlässen wurde nie gespart. Also
zunächst Mittagessen mit verschiedenen Braten, Gemüsen und
Kartoffeln, nach einer kurzen Pause folgte das Kaffeetrinken mit
Cremetorten und Blechkuchen. Dauernd wurde mir was angeboten,
und obwohl ich längst satt war, wagte ich nicht, »Nein,
danke« zu sagen, weil ich damit die Gastgeber beleidigt hätte. Sie
hätten sofort misstrauisch gefragt, ob es mir denn nicht schmecke.
Also aß ich tapfer weiter, sah aus dem Fenster und hoffte das
Kindermädchen zu sehen, das mich abholen sollte. In der Stube
wurde es immer lauter, die Männer rauchten, tranken Bier und
Schnaps. Erst nachdem ich noch belegte Brote in mich hineingestopft
hatte, wurde ich endlich abgeholt. Wahrscheinlich war
mir furchtbar übel.
In allen großen Dörfern mit einem Gutsbetrieb - nicht in den
reinen Bauerndörfern - gab es eine sogenannte Schnitterkaserne,
in der während der Erntezeit die polnischen Saisonarbeiter einquartiert
waren. Sie kamen zur Getreideernte und blieben, bis
die letzten Rüben geerntet waren, weil die eigenen Leute für
die zusätz lichen Arbeiten nicht ausreichten. Das Wort »Schnitter
« weist darauf hin, dass die Polen bereits auf die Güter kamen,
als das Korn noch mit der Sense gemäht, also geschnitten wurde.
Die Saisonarbeiter wurden vom Gutsbetrieb mit Essen versorgt,
denn sie durften ihre Frauen nicht mitbringen. Und sie wohnten
zwar in der Kaserne, waren aber natürlich nicht kaserniert, sondern
konnten sich frei bewegen.
Im Zweiten Weltkrieg wurden Kriegsgefangene oder ukrainische
Zwangsarbeiter in diesen Häusern untergebracht.
Der eigentliche Wirtschaftshof des Guts liegt immer noch im
Winkel zwischen zwei aus dem Dorf herausführenden Straßen.
Bevor ich zur Schule ging, habe ich den Hof allein wohl nie verlassen.
Für ein kleines Kind gab es hier ja genug zu sehen: die
Ställe der Kühe, Schweine, Schafe und Ackerpferde, die Scheunen,
die Schmiede und die Stellmacherei. Den Stellmacher und
seine Gehilfen störte es nicht, wenn ich ihnen zuschaute, wie sie
mit der Kreissäge große Bretter zerschnitten, wie sie hobelten, feilten,
schmirgelten und mit selbst gekochtem, scharf riechendem
gelbem Leim Holzteile verklebten. So viel wie möglich wurde in
der Stellmacherei selbst hergestellt und repariert: Ackerwagen,
Leitern, Schubkarren, Tröge und vieles mehr. Die Kutschwagen
wurden gekauft.
Neben der Stellmacherei lag die Schmiede, denn Schmied und
Stellmacher arbeiteten viel zusammen, ergänzten sich in ihren
Tätigkeiten, besonders beim Bau und der Reparatur von Acker-
wagen und -geräten. Mich interessierte beim Schmied nur das
Beschlagen der Pferde, sonst keine seiner Arbeiten. Mit seinem
vom Ruß geschwärzten Gesicht war er mir immer etwas unheimlich.
Der Stellmacher war auch der Herrenfriseur des Dorfes. Die
Haarschnitte waren einfach: Die Männer hatten kurz geschnit tene
Haare mit Seitenscheitel, die Jungen wurden fast kahl geschoren,
es blieben einige Stoppeln auf dem Kopf. Die Frisur
war praktisch, pflegeleicht, und Läuse waren gut sichtbar. Die
Frauen brauchten keinen Friseur: Sie kämmten ihre langen Haare
straff nach hinten und drehten sie in einem Knoten zusammen.
Darüber trugen die meisten Frauen kleine, unter dem Kinn
geknotete Kopftücher.
Mein Bruder Adolf (Ado) hatte hellblonde Locken, die bis über
die Ohren fielen - der Stolz der Mutter, aber nicht der des ältesten
Sohnes, denn eines Tages erschien er mit ganz kurz geschorenen
Haaren. Der Grund: Er wollte aussehen wie die Dorfjungen,
die ihn wegen seiner mädchenhaften Frisur verspottet hatten. So
hat er es jedenfalls später erzählt. Dem misstrauischen und zögernden
Stellmacher-Friseur hatte er versichert, die Eltern seien
einverstanden mit dem Kurzhaarschnitt. Zum Bedauern unserer
Mutter wuchsen nie wieder Locken.
Zur Landwirtschaft gehörten außer der Feldbestellung vor allem
auch die Aufzucht von Nutztieren und ihre Verwertung, also das
Schlachten. Doch bis die Tiere getötet wurden, hatten sie es damals
gut auf dem Land. Sie lebten länger als die Tiere heutzuta
ge, weil sie nicht im Schnellverfahren gemästet wurden, sie waren
nicht auf engstem Raum zusammengepfercht, und im Sommer
hatten sie alle genügend Bewegung im Freien: die Kühe auf
den Koppeln, die Schafe auf den Wiesen und im Herbst auf den
Stoppelfeldern, die Schweine in ihrer großen Suhle vor dem Stall.
Die Hühner liefen überall auf dem Hof herum. Nur im Winter
mussten sie im Stall bleiben, legten dann auch weniger Eier. Frische
Eier waren im Winter knapp.
Die Kälber blieben bei ihren Müttern, tranken aus ihren Eutern,
wurden nicht - wie heute - in enge Käfige gesperrt und
mit »Milchaustausch« gefüttert. Wir hielten den noch zahnlosen
Kälbchen unsere Hände hin, an denen sie gierig saugten. Uns
entzückte das Kitzeln der rauhen Zungen an den Fingern immer
wieder. Überhaupt gingen wir am liebsten in die Ställe, wenn
Junge geboren waren: Lämmchen auf unsicheren staksigen Beinchen,
rosa Ferkelchen, die sich um die Zitzen der dicken Sau
balgten, blinde kleine Kätzchen und natürlich die Fohlen.
Ob es jetzt in den sterilen Schweineställen überhaupt noch
Ratten gibt? Sie waren, als die Schweine noch viel Stroh in ihren
Koben hatten, eine große Plage und gefährlich für die Ferkel,
weil die Nagetiere an ihren Ohren und Schwänzen knabberten.
Katzen liefen in allen Ställen herum. Blechteller mit Milch
standen für sie bereit, ernähren mussten sie sich selbst vom Mäusefang
und leider auch vom Vogelfang. Kaum jemand kümmerte
sich um sie. Sie bekamen oft Junge, von denen die meisten
gleich nach der Geburt in einen Sack gesteckt und ertränkt wurden.
Die Katzen waren scheu und vorsichtig und ließen sich
nicht streicheln. Auf einen Kampf mit ausgewachsenen Ratten
ließen sie sich nicht ein.
Warum hieß das große Schlachten im Spätherbst »Schlachtfest«?
Was war daran festlich? Ich fand es traurig, dass die Tiere getötet
werden mussten. Trotzdem war ich kein Vegetarier, sondern aß
gerne Fleisch und die gut gewürzte pommersche Wurst. Überall
auf den Dörfern wurden ungefähr zur gleichen Zeit Schweine
und Kühe geschlachtet. Immer auf dem eigenen Hof. Ein amtlich
zugelassener, geprüfter Fleischbeschauer untersuchte die Tiere
vor und nach der Schlachtung. War das Fleisch in Ordnung,
wurde es nach dem Schlachten gestempelt.
Wenn ich das gellende Schreien der Schweine hörte, die sehr
grob von den Knechten behandelt wurden, bin ich ins Kinderzimmer
gelaufen, habe mich in die hinterste Ecke gehockt und
mir die Ohren zugehalten. Für ein kleines Kind ist das Landleben
nicht immer idyllisch.
Die geschlachteten Tiere wurden zur Weiterverarbeitung in
die Küche gebracht. Auf vielen Gutshöfen waren bei dem Hochbetrieb
nicht nur Köchin und Küchenmädchen mit den verschiedenen
Arbeiten beschäftigt, sondern auch die Hausfrauen.
Unsere Mutter hat sich in Trieglaff nie daran beteiligt; sie verstand
zunächst auch nichts von pommerscher Wurst- und Schinkenherstellung.
Vielleicht ekelten sie, die die »feinste Nase« hatte,
wie sie oft betonte, die widerlich süßlichen Gerüche in der
Küche.
Als unser Vater den Gutshof Anfang des 20. Jahrhunderts neu gestaltete,
die alten Ställe abreißen und neue bauen ließ, mit schöner
Ziegelornamentik, hat er auch Bäume anpflanzen lassen. Bäume
und Büsche trennten den Hof vom Park, sodass im Sommer
die Stallungen vom Schloss aus kaum zu sehen waren. Bäume
waren wichtig für die Vögel, und sie spendeten Schatten.
Nur eine Familie litt unter der Dendrophilie, der »Baumfreundschaft
« des Gutsherrn: die des Inspektors Karl Pierau. Die
breite Südfront des lang gestreckten Hauses hätte im hellsten
Sonnenlicht liegen können, wenn nicht eine Reihe großer Bäume
zu dicht vor dem Haus gestanden hätte. Selbst im Hochsommer
waren die Zimmer dunkel. Trotz wiederholter Bitten des Inspektors,
mit dem unseren Vater eine echte Freundschaft verband,
durften die Bäume nicht gefällt werden. Sie waren wichtiger als
helle Räume.
Unser Vater war auf den Tag genau zehn Jahre älter als Karl
Pie rau. Beide Männer waren tüchtige Landwirte, und sie haben
in den schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die wirtschaftliche
Situation des Guts allmählich verbessern können.
Einem klugen Rat seines Freundes ist unser Vater leider
nicht gefolgt. Nach dem Ersten Weltkrieg war der Mann unserer
Schwester Marie-Agnes (Anza), Martin Braune, berufslos, denn
Marineoffiziere wurden nicht mehr gebraucht. Um ein kleines
Gut an der Oder kaufen zu können, bestand er - trotz der beginnenden
Inflation und der prekären Wirtschaftslage - auf der
Auszahlung des Erbanteils seiner Frau. Karl Pierau beschwor
den Vater, den Hof für seine Tochter zu kaufen, als Sicherheit für
sie und ihre Kinder. Er glaubte nicht an die Zuverlässigkeit des
Schwiegersohns, der ihm auch unsympathisch war. Für den sehr
konservativen Landrat aber war es undenkbar, den Landbesitz
einer Frau, nicht einmal seiner Tochter, zu überschreiben. Leider,
denn die Ehe zerbrach, Martin Braune heiratete ein zweites
Mal, und Anza hatte deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg keinen
Anspruch auf Entschädigung. Den »Lastenausgleich« für
den verlorenen Besitz erhielten der geschiedene Mann und seine
zweite Frau, die sich dafür einen Hof in Westdeutschland kaufen
konnten.
Wegen der rasanten Geldentwertung in der Inflationszeit musste
der Betrag für den Kauf des Hofs innerhalb von vierundzwanzig
Stunden von einer Sparkasse zur anderen gebracht werden.
Damit wurde Fritz Schmitz, der jüngere Bruder unserer Mutter,
beauftragt. Morgens, als die Sparkasse in Greifenberg geöffnet
wurde, packte er die Geldscheinbündel, viele Millionen Mark, in
einen großen Koffer, eilte zum Bahnhof, fuhr mit dem nächsten
Zug nach Stettin, stieg dort um und konnte gerade noch vor Kassenschluss
das Geld in der Sparkasse von Greifenhagen abliefern.
Am nächsten Tag hätten die Millionen schon nicht mehr gereicht.
Sind unsere Eltern jeden Sonntag zum Gottesdienst in die Kirche
gegangen? Der Gutsherr war als Patron der Kirche vielleicht
dazu verpflichtet. Seine Frau auch? An den großen Festtagen ist
sie wohl auch in die Kirche gegangen, das wurde sicher erwartet.
Später, als wir in Vahnerow wohnten, ist sie nur selten nach
Batzwitz zum Gottesdienst gefahren.
Die Kirche in Trieglaff war ein sehr schöner einschiffiger Bau,
aus großen behauenen, weiß verputzten Findlingen aufgemauert,
mit einem geraden Chorabschluss. Der gedrungene Holzturm an
der Westseite hatte eine auffällig hohe, dünne Spitze, die man auf
dem Luftbild gerade noch zwischen den Baumkronen erkennen
kann. Holztürme gab es in Hinterpommern nur bei Dorfkirchen,
sie waren viel billiger als die in Städten üblichen Steintürme. Das
hölzerne Innengerüst aus kräftigen Balken war sehr stabil, weil es
der Belastung durch die schwingende Glocke standhalten musste.
Außen war die Konstruktion mit schmalen Brettern verkleidet,
in Trieglaff waren sie in einem Fischgrätmuster angeordnet.
Die Kirche ist im 13.Jahrhundert auf dem Platz erbaut worden,
auf dem sich die heidnische Opferstätte für den Gott Triglav befunden
hatte. Sie wurde der heiligen Elisabeth geweiht. Das Kult
bild ihres Gottes hatten die Slawen angeblich rechtzeitig in Sicherheit
gebracht. Alte knorrige Eichen umgaben die Kirche: Eine
von ihnen, aus einem bestimmten Winkel betrachtet, hatte das
Profil Friedrichs des Großen, des Alten Fritz.Verwitterte Grabsteine
erinnerten an den ehemaligen, längst aufgelassenen Friedhof.
Von all dem ist nichts mehr zu sehen: Die Kirche ist allmählich
verfallen und schließlich abgerissen worden (1948).
Wir, die Patronatsfamilie, betraten die Kirche erst, wenn sich die
Gemeinde zum Gottesdienst versammelt hatte. Links vom Gang
saßen die Frauen, rechts die Männer. Wir gingen bis zum Chor
und stiegen dann auf einer kurzen, steilen Treppe zur Empore
hinauf. Hinter einer brusthohen Bretterwand auf unbequemen
Stühlen sitzend, sahen wir Kinder außer der Kanzel und dem
Baldachin nichts vom Kirchenraum, wir guckten nur auf die
braunen Bretter. Standen wir mit der Gemeinde zur Verlesung
von Bibeltexten oder zum Gebet auf, konnten wir den Pastor
vor dem Altar sehen. Ich wagte kaum, den Kopf zur Gemeinde
zu wenden, man hätte mich für neugierig oder gar für herablassend
halten können. Also schaute ich nur auf den Pastor in seinem
schwarzen Talar und langweilte mich bei seiner Predigt, die
er von der Kanzel hielt. Kirchenlieder, vom Orgelspiel begleitet,
habe ich immer sehr gerne gesungen.
Ob im Großen Kirchengebet noch für den Patron gebetet werden
musste? Im 20. Jahrhundert hatte er zwar noch den Titel,
doch kirchenrechtliche Befugnisse wie im 19. Jahrhundert hatte
er nicht mehr. Damals hatte er noch das Recht gehabt, einen Pastor
zu berufen. Jetzt konnte er einer Ernennung nur noch zustimmen.
Gegen seinen ausdrücklichen Widerstand wäre allerdings
auch kein Pastor eingesetzt worden.
In jedem Jahr gab es ein Missionsfest zugunsten der Missionsstationen
in fernen Erdteilen. Dann wurde ein bunt bemalter, wohl
eineinhalb Meter großer Neger aus Holz neben die Kirchentür
gestellt. Er trug einen farbigen Turban auf dem Kopf, zeigte lächelnd
seine weißen Zähne, sah aus wie ein Sarotti-Mohr auf
den Schokoladentafeln. In den Händen hielt er eine Blechbüchse.
Wenn eine Münze durch den Schlitz gesteckt wurde, nickte
er dankbar mit dem Kopf.
Unsere Mutter fand Missionsfeste überflüssig. Sie war der Meinung,
die Kirche solle sich um die Mission im eigenen Land kümmern,
da sei genug zu tun. Es gab überall, vor allem in den großen
Städten, soziales Elend. Dies zu lindern war wichtiger, als in
fernen Ländern den Chinesen oder den »armen Negerkindern«
das Christentum zu predigen. Das hat sie uns unmissverständlich
gesagt, trotzdem mussten Ado und ich an den Festen im Garten
des Pastors als Vertretung der Patronatsfamilie teilnehmen. Auf
der Wiese unter den Obstbäumen waren Tische und Bänke aufgestellt,
es gab Blechkuchen, Kaffee und Obstsaft, ein Missionar
berichte te über seine Arbeit in einem fernen Land, es wurde gebetet
und gesungen. Der dünne Gesang verwehte im Sommer-
wind. Die schmalen Bänke waren hart. Vielleicht stammt aus jener
fernen Zeit mein Widerwillen gegen lange Bänke an langen
Tischen. Ado und ich waren immer froh, wenn wir endlich nach
Hause laufen durften.
Doch die »armen Negerkinder« spielten in unserer geschwisterlichen
Pädagogik eine Rolle. Wenn jemand etwas nicht aufessen
wollte, weil es ihm nicht schmeckte, hieß es vorwurfsvoll:
»Aber die armen Negerkinder würden sich freuen, wenn sie so
etwas Gutes essen könnten!«
Gesellschaftlichen Kontakt zwischen dem Kirchenpatron und
dem Pastor hat es wohl nicht gegeben. In meiner Erinnerung kam
der Pastor nur ins Schloss, wenn wieder ein Kind getauft werden
musste, denn wir wurden nicht in der Dorfkirche getauft. Mit
den zahlreichen Kindern des Pastors, die in unserem Alter waren,
haben wir nie gespielt.
Zum Familienfriedhof führt eine Kastanienallee, erst leicht abfallend,
dann sanft aufsteigend zu dem großen Eingangstor aus
grauem Stein. In den Bogen ist ein Vers aus dem Johannesevangelium,
Kap. 11, eingraviert: »Ich bin die Auferstehung und das
Leben, wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe.«
Dahinter lag wie in einem heiligen Hain, feierlich und immer
etwas dämmrig, das Thaddensche Erbbegräbnis mit einem weiten
Blick über den Bauernsee. Die Grabhügel waren von dichtem
Efeu bedeckt, die eisernen Grabkreuze hatten alle dieselbe
Gestalt. In leicht erhabenem und bronziertem Relief waren die
Namen, Daten und ein Bibelspruch geschrieben. Neben all den
adligen Toten, in geziemendem Abstand, lag das Grab einer bürgerlichen
Toten. Uns wurde erzählt, es sei das Grab eines Hausmädchens,
das von der Gutsherrin Sophie von Mellin mit einem
Schlüssel erschlagen worden sei. Es wurde auch erzählt, Sophie
von Mellin habe zur Strafe lebenslang einen eisernen Ring um
den Hals tragen müssen. Ins Gefängnis ist sie jedenfalls nicht gekommen.
Sie lebte um 1830 »noch mit ihrem Ring um den Hals
in Greifenberg am Markt, betreute hier zur Schule gehende Abkömmlinge,
beobachtete durch einen Spion, wer die Straße passierte,
und sah ihre Nachkommenschaft über Pommern sich ausbreiten
«, wie Udo von Alvensleben 1934 in seinem Tagebuch
geschrieben hat (In: Alvensleben/Koenigsfeld, Besuche vor dem
Untergang, Berlin 1968, S. 64).
Vor meinem ersten Pommernbesuch (1976) mit meiner jüngsten
Schwester Astrid (Atti) und zwei befreundeten Galeristen aus
Köln hatte ich erwartet, den von Efeu, Unkraut und Gestrüpp
überwucherten alten Familienfriedhof mit inzwischen verrosteten
Eisenkreuzen vorzufinden, um den sich nach dem Krieg niemand
gekümmert hatte. Auf den Anblick des total verwüsteten
Friedhofs war ich nicht vorbereitet, obwohl es Raubgräber und
Friedhofschänder zu allen Zeiten gegeben hat. Einige Gräber waren
aufgegraben, Kreuze waren umgeworfen, zum Teil zerbrochen.
Das Kreuz unseres Vaters stand noch aufrecht.Wir richteten einige
Kreuze auf oder lehnten sie an Baumstämme. Wahrscheinlich
sind ortsfremde Plünderer für die Aufgrabungen verantwortlich
gewesen, nicht die Bewohner von Trieglaff. Der katholische Pfarrer
war nicht zuständig für diesen Friedhof, weil er Privatbesitz
der Thadden-Familie war, also niemals kirchliches Eigentum. Irgendwann
sind die Eisenkreuze in den nahen See geworfen worden.
Der Bürgermeister hat einige herausziehen und auf den
Friedhof bringen lassen, darunter das Grabkreuz unseres Vaters.
Dann haben Trieglaffer Bürger unter großem Aufwand den
Friedhof allmählich entrümpelt und von Gestrüpp befreit, was
vor allem dem Verwalter, Herrn Momot, und seiner Familie, dem
Bürgermeister und dem Schuldirektor zu danken ist. Die Aktion
wurde ständig von Rudolf von Thadden als Vertreter der Familie
unterstützt. Den Toten wurde in der Mitte des Platzes ein großes
Denkmal gesetzt, in dessen Zentrum eine Gedenktafel mit zweisprachiger
Inschrift steht. Der neu gestaltete Friedhof wurde 2004
mit einem protestantischen Gottesdienst eingeweiht, zu dem auch
viele Nachkommen der Familie von Thadden gekommen waren.
Ein großes Fest mit Musik und Tanz wurde zum Abschluss im
Schulhaus gefeiert.
Der sogenannte Bauernfriedhof, auf dem auch die Gutsarbeiter
und ihre Familien beerdigt wurden, war total überwuchert von
Gestrüpp, als ich ihn 1976 sah. Er war bis zum Kriegsende hell
und freundlich mit den unterschiedlichsten, manchmal recht kitschigen
Grabsteinen und Kreuzen, betenden Engeln, aufgeschlagenen
Porzellanbüchern, auf deren Seiten die Namen der Toten
in goldenen Buchstaben geschrieben waren, mit bunten Papier-
und Wachsblumen und frischen Sträußen. Er gefiel mir besser
als unser stilvoller feierlicher Familienfriedhof.
Auf dem Weg zu beiden Friedhöfen überquerte man die Gleise
band. Seit 1896 beteiligte sich unser Vater als Landrat an der Gründung
einer Zuckerfabrik in Greifenberg, förderte den Zuckerrübenanbau
im ganzen Kreis. Zur besseren Anbindung an die Fabrik
ließ er für den Rübentransport eine feste Feldbahn von siebzig
Zentimeter Spurbreite verlegen, deren Endstation Trieglaff war.
Hierher wurden von einigen Gütern und Bauernhöfen im Herbst
mit schweren Ackerwagen Zucker- und Futterrüben und Kartoffeln
gebracht und in die offenen Waggons verladen. Von Vahnerow
zu dieser Kleinbahn war ein schmaler Schienenstrang für die
von Pferden gezogenen Kipploren verlegt worden.
Der Gang durchs Dorf endet schließlich vor dem Schloss. Auf
der gepflasterten Rampe, die leicht ansteigend zum Portal führt,
wurde im Winter, nach Beendigung der Treibjagd, die sogenannte
Strecke ausgelegt: das von den Jägern zur Strecke gebrachte
Wild lag, nach Gattungen geordnet, in mehreren Reihen dicht
nebeneinander: Hasen, Kaninchen, Fasanen, Füchse, auch Rebhühner.
Die Jäger, Gutsherren aus der Nachbarschaft, und unser
Förster Zastrow, die Flinten noch über die Schulter gehängt,
standen stolz davor. Wir Kinder sahen uns die toten Tiere mit
gemischten Gefühlen an, denn wir hatten Mitleid mit den nied-
lichen Hasen und Kaninchen, deren Fell blutig befleckt war, denen
Blut an Maul und Nase klebte, mit den bunten Fasanenhähnen,
auch mit den schönen Füchsen, andererseits gehörte
die jährliche Treibjagd zu unserem Leben auf dem Land wie das
Schlachten der Haustiere. Es wurde natürlich gezählt, welcher
Jäger wie viele Tiere geschossen hatte, und wenn unser Vater zu
den erfolgreichen Schützen gehörte, waren wir stolz auf ihn.
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Umschlagmotiv: Travelpix Ltd. / Getty Images, München
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-427-4
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Maria Wellershoff
- 479 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004270
- ISBN-13: 9783868004274
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