Von schwarzem Herzen
Thriller
Die junge Witwe Rose ist vollauf beschäftigt mit ihren beiden Kindern - für eine neue Liebe bleibt keine Zeit. Da findet sie ein anonymes Valentinsgeschenk in ihrer Post. Bald tauchen noch mehr Geschenke in Herzform auf - und Rose erinnert sich...
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Produktinformationen zu „Von schwarzem Herzen “
Die junge Witwe Rose ist vollauf beschäftigt mit ihren beiden Kindern - für eine neue Liebe bleibt keine Zeit. Da findet sie ein anonymes Valentinsgeschenk in ihrer Post. Bald tauchen noch mehr Geschenke in Herzform auf - und Rose erinnert sich an ein altes Geheimnis. Ein nächtlicher Anruf macht ihr endgültig klar, dass sie und ihre Kinder in tödlicher Gefahr schweben.
Lese-Probe zu „Von schwarzem Herzen “
Von schwarzem Herzen von Wendy MorganPROLOG
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Ihre Rückkehr aus der Bewusstlosigkeit ist ein langwieriger, schmerzhafter Prozess.
Jedes Mal, wenn sie die Augen zu öffnen versucht, jagt ihr ein stechender Schmerz wie eine Messerklinge durch den Schädel. Als es ihr endlich nach mehrmaligen Versuchen gelingt, die Lider offen zu halten, sieht sie nur Schwärze ringsum.
Schwärze ...
Noch einmal.
Großer Gott! War das alles ein Traum?
Leicht dreht sie den Kopf, die Zähne wegen der qualvollen Anstrengung zusammengepresst. Vor dem Hintergrund einer schwach glimmenden Lichtquelle nehmen allmählich die Umrisse von Möbeln um sie herum Gestalt an.
Nein, das war kein Traum!
Ein Tisch ...
Du kannst sehen!
Eine Couch ...
Du bist nicht blind!
Ein Fenster, ein Rollo vor der Scheibe; durch den dünnen Spalt ganz unten sickert ein dünner Lichtstrahl herein.
Aber die Einrichtung stimmt überhaupt nicht! Das ist nicht ihre Wohnung in Richmond! Sie liegt nicht in ihrem Bett! Sondern auf einem kalten, harten Fußboden - ungeschliffenes Holz, das sie kratzig-rau an ihrer Wange spürt.
Wo bin ich?
Was ist passiert?
Zuckend schließen sich ihre Lider. Der Kopf dröhnt zum Zerspringen. Am liebsten würde sie gleich wieder hinüberduseln zu jenem fernen Ort ...
Aber das geht nicht!, mahnt sie sich mit einer Eindringlichkeit, die einem natürlichen Instinkt entstammt.
Hier ist was faul!
Du musst nachdenken!
Bilder blitzen vor ihren Augen auf. Rückblicke.
Wie sie das Büro verlässt.
Wie sie durchs Schneegestöber zum Parkplatz stapft. Die Wagentür aufschließt.
Wie sie sich hinters Lenkrad setzt, nervös, weil sie's nicht gewohnt ist, auf vereister Fahrbahn zu fahren.
Wie sie urplötzlich spürt, dass sie nicht allein ist.
Ein leises Rascheln vom Rücksitz her, dann ...
Ein Schmerz, der in ihrem Schädel explodiert.
Und jetzt ...
Dies hier!
Wo bin ich?
Gewaltsam zwingt sie erneut die Lider auseinander. Schmerzen! Bohrende Schmerzen! Ein Brechreiz überfällt sie, sodass sie die säuerliche Brühe hinunterwürgen muss. Allmählich verliert sie die Herrschaft über ihre Augenlider, aber sie darf sich nicht gehen lassen, darf jetzt nicht wieder hinüberdämmern! Noch nicht! Erst muss sie begreifen, was hier eigentlich vor sich geht!
Ihre übrigen Sinne - Sinne, auf die sie sich all die Jahre, zu viele Jahre, wie selbstverständlich verließ - gewinnen schrittweise an Schärfe.
Die Luft riecht muffig - wie das Innere eines Autos mit angeschimmelten Polstern. Oder wie die Truhe in Tante Lucindas Esszimmer, die Kiste, in der sie die Weihnachtstischdecken aufbewahrt!
Und da sind Geräusche! Gedämpfte, rhythmische Laute. Das Ticken einer Uhr. Ihre eigenen vernehmlichen Atemzüge. Dazu ein kratzendes Stoßen und Schaben, unterbrochen von Knistern und Knacken ... ein Kamin etwa? Jemand, der mit einem Schürhaken stochert?
Auf neuerliche Höllenqualen gefasst, zwängt sie die Lider abermals auseinander, mustert die im Halbdunkel verschwimmende Umgebung.
Couch ...
Fenster ...
Dreh den Kopf!
Herrgott noch mal, tut das weh!
Weiter!
Das Flackern von Flammen, orangefarben und unmissverständlich!
Auf einem niedrigen Tisch, vom Schein des Feuers beleuchtet, ein Gegenstand, der wie eine Schneekugel aussieht. In der gläsernen Glocke ein weißliches Wirbeln, als hätte jemand das Ding soeben geschüttelt und wieder hingestellt.
Dann erfasst sie die Umrisse einer menschlichen Gestalt, unmittelbar hinter dem Tisch.
Panik überfällt sie.
Da sitzt jemand! Vor dem Kamin, nur wenige Fuß entfernt! Wer ist das?
Was geht hier vor?
Die Gestalt rührt sich, beugt sich vor, zu ihr hin, spricht! »Ach, du bist wach! Schön! Wurde aber auch Zeit, Angela! Wäre doch schade, wenn du das hier verpassen würdest!«
Die Stimme kommt ihr auf grausige Weise bekannt vor.
Der Name aber sagt ihr nichts.
Als die Gestalt sich erhebt und über die knarrenden Dielen auf sie zukommt, da wirbeln ihr die Gedanken so panisch im Kopf herum wie die künstlichen Schneeflocken in der gläsernen Halbkugel.
Angela ...
Die schattenhafte Gestalt ragt drohend über ihr auf, den Schürhaken wie eine Klinge gezückt, die Spitze glühend rot.
Bevor das nackte Entsetzen sich Bahn bricht, zuckt ihr ein letzter zusammenhängender Gedanke durch den Kopf.
Wer ist Angela?
1. KAPITEL
MOMMY!«
Rose Larrabee macht sich auf einiges gefasst, als ihr Dreijähriger über den von Spielzeug übersäten Fußboden der Kindertagesstätte auf sie zugestürmt kommt. Das Gebäude ist fast verwaist, wie immer um diese Zeit, wenn sich bloß noch Leo und ein Erwachsener in der Einrichtung aufhalten.
Sie lächelt, als ihr Sohn herangehüpft kommt, ein olympischer Hürdenläufer in Miniformat, der über abenteuerlich gestapelte Holzbauklötze und Spielzeugwolkenkratzer turnt.
»Hi, Schätzchen!« Schmerzhaft verzieht sie das Gesicht, als Leo sich in ihre Arme wirft, schwungvoll und derart ungestüm, dass ihr sein drahtiger dreijähriger Körper mit voller Wucht gegen die Rippen kracht. Auf diese Weise begrüßt er sie jeden Nachmittag beim Abholen von »Toddler Tyme«. So heißt die Tagesstätte. Angesichts des Gefühls der Erleichterung, dass sie ihn wieder wohlbehalten in ihre Arme schließen kann, nimmt sie den Stoß gegen ihren empfindlichen Brustkasten mit der verräterischen Narbe darauf gern in Kauf.
Rose legt ihr Gesicht in Leos hellbraunes Haar und atmet tief seinen Duft ein - ein Hauch von Erdnussbutter, gemischt mit dem unverkennbaren Aroma von Knetgummi. Lächelnd tätschelt sie ihm den Schopf, wobei ihre Fingerspitzen auf einen verklebten, strohähnlichen Klumpen stoßen. »Hast du dir
beim Mittagessen wieder Traubengelee ins Haar geschmiert, Leo?«
»Nö!« Den Kopf schräg gelegt, entzieht er sich ihren Fingern und wehrt mit heftigem Kopfschütteln ab.
»Ganz bestimmt?« Sie streichelt die klebrige Stelle. »Ja.«
»Er meint, es war wohl Gelee, nur nicht von Trauben!« Grinsend taucht Gregg Silva neben den beiden auf. »Sondern Erdbeermarmelade! «
Rose begrüßt den neuen Mitarbeiter bei Toddler Tyme mit einem Lächeln. »Der nimmt aber auch alles wörtlich, der Schlingel!« Sie beugt sich vor, um den Kleinen auf die Füße zu stellen.
»Tun sie das nicht alle?« Gregg gluckst verhalten in sich hinein. »Wir hielten Erdbeermarmelade für angebracht, weil ja diese Woche Valentinstag ist!«
Valentinstag! Ach, du liebe Zeit! Und morgen schon! Das hat Rose total verschwitzt. Gottlob hat sie ihren beiden Kleinen bereits die Schächtelchen mit Karten zum Verschenken in der Schule und in der Tagesstätte gekauft. Sie bekommt im Buchladen auf sämtliche Artikel einen Angestelltenrabatt von fünfzehn Prozent, auch auf Schreib- und Papierwaren.
Klar, Jenna nörgelte über die Allerweltskärtchen, die Rose für sie ausgesucht hatte. Leos hingegen stammten aus dem Bereich Baumaschinen: Planierraupen, Muldenkipper, Betonmixer und dergleichen. Damit gab er sich vollauf zufrieden. Im Augenblick interessiert er sich brennend für alles, was irgendwie mit Dreck zu tun hat oder zum Buddeln benutzt wird.
Während sie zusieht, wie Gregg sich bückt und geschickt den obersten Knopf an Leos winzigem blau-türkis gestreiften Rugby-Trikot schließt, verblüfft es sie zum wiederholten Mal, dass dieser erwachsene Mann - ledig, um die dreißig, kinderlos - ein solches Händchen für Kinder beweist.
Seit ein paar Wochen erst arbeitet Gregg als Vollzeitkraft in der Einrichtung. Von Candy Adamski, der überaus mitteilsamen Leiterin der Tagesstätte, weiß Rose, dass er nach einem Umzug seit kurzem hier im Osten von Long Island wohnt. Er hat Grundschulpädagogik studiert; bei Toddler Tyme arbeitet er tagsüber, und abends absolviert er am Stony Brook College ein Aufbaustudium zum Master.
»Ich dachte, gar nicht so schlecht, mal ein Mann im Kollegium«, hatte Candy gemeint und dabei bedeutungsvoll geguckt. »Besonders für Jungs wie Leo!«
Innerlich hatte Rose sich gekrümmt, auch wenn sie der Leiterin die Anspielung nicht verübelte. Richtig, Jungen wie Leo - Jungen, die vaterlos aufwachsen - brauchen positive männliche Vorbilder. Und Frauen wie Rose - junge, verwitwete Mütter - sollten eigentlich dankbar sein für jede Gelegenheit, bei der sich ihre Söhne mit Männern wie Gregg Silva auseinander setzen müssen.
Das bedeutet indes nicht, dass sie sich innerlich je damit abfinden wird, dass ihre Kinder nicht mehr einer »normalen« Familie angehören! Einer Familie mit zwei Elternteilen, die alle gemeinsam unter einem Dach leben.
Leben, wohlgemerkt!
Vater, Mutter, Schwester und Bruder.
Die ideale Familie.
Alles war so vollkommen!
Wie konnte es sein, dass sie sich dessen damals nie recht bewusst war? Wie konnte sie bloß so viel Zeit vergeuden und sich den Kopf über Banalitäten zerbrechen?
Unbegreiflich, dass sie damals hin- und herüberlegte, ob sie fünf Dollar zusätzlich pro Monat für einen Premium-Kabelkanal ausgeben sollte! Oder dass sie sich aufregte, als ihr chinesisches Stammrestaurant es ablehnte, beim $ 4.95-Sonderangebot für den Mittagstisch Suppe süß-sauer gegen Won Ton zu tauschen!
Nicht zu fassen, dass sie die turnusmäßigen Trainingsstunden im Fitnessstudio schwänzte, nur weil sie wegen ihrer Periode an Unterleibskrämpfen litt! Oder dass sie über die wochenlang anhaltenden Schmerzen jammerte, nachdem sie sich im Kickboxen-Kurs den Rücken gezerrt hatte!
Unglaublich, dass sie Sam immer anschnauzte, wenn der vergaß, sich an der Hintertür die verdreckten Schuhe auszuziehen, wenn er seine Lieblingseiskrem direkt aus der Familienpackung futterte oder wenn er versäumte, ihr telefonisch mitzuteilen, er mache Überstunden und komme erst später nach Hause.
Warum hatte sie Gott nicht gedankt für jeden einzelnen Abend, an dem ihr Mann überhaupt heimkam?
Warum war sie nicht dankbar gewesen für jeden gesegneten Tag, an dem sie morgens aufstand? Mit Schmerzen zwar, die aber nichts weiter waren als eine belanglose Unpässlichkeit, keinesfalls etwas Lebensbedrohendes!
Warum hatte sie sich nicht an solch simplen Genüssen erfreut wie Imbisse zum Mitnehmen, Filme im Kabelfernsehen und den zahllosen anderen Alltagsköstlichkeiten, die sie sich nun nicht mehr leisten kann?
»Mrs. Larrabee?« Greggs Stimme zwängt sich in ihre Grübeleien - mit dem Unterton von jemandem, der schon einige Zeit versucht, auf sich aufmerksam zu machen.
»Ja?« Sie lässt ihre Gedanken zurückschwenken in die Gegenwart.
In Greggs blaugrauen Augen liegt gespannte Erwartung. Rose kommt nicht umhin zu bemerken, wie gut er aussieht: groß, schlank und breitschultrig, bekleidet mit einem maisgelben Rollkragenpullover. Ein üppiger, flachsblonder Haarschopf krönt seine hübschen Gesichtszüge und verleiht ihm die jungenhafte Aura eines kernigen, sonnengebräunten Surfers, selbst jetzt, mitten im Winter. Ohnehin hat er offenbar etwas Farbe bekommen; vermutlich verbringt er die Wochenenden auf den Skihängen nördlich oder westlich von New York City. Wenn Sam ein Wochenende draußen mit den Kindern spielte, kriegte er auch immer so ein frisches, gerötetes Gesicht, sogar hier auf Long Island.
Ach, Sam, was warst du für ein toller Daddy
»Die Cupcakes!«, sagt Gregg, derweil Leo ungeduldig an ihrem Hosenbein zupft.
»Cupcakes?«, echot sie völlig verständnislos, noch dabei, das Bild ihres Mannes aus ihren Gedanken zu verdrängen.
»Na, für morgen! Die Party zum Valentinstag! Bei der Planungssitzung im Oktober, da haben Sie sich verpflichtet, Törtchen zu backen! Ich wollte Sie nur daran erinnern.«
»Ach ja, sicher! Klar, die Cupcakes! Wie viele sollte ich denn noch mal mitbringen?«
»Dreißig.«
»Stimmt, dreißig.« Sie strahlt Gregg verkrampft an, bemüht zu begreifen, was in Dreiteufelsnamen im Oktober bloß in sie gefahren war, als sie sich überreden ließ, dreißig Törtchen zum Valentinstag zu backen.
Ach was, sie weiß genau, was damals in sie gefahren war! Sie bildete sich nämlich ein, sie könnte auftreten wie eine jener Muttis, für die es ein Klacks ist, Cupcakes zu Feiertagspartys mitzubringen. Selbst gebackene Törtchen, dreißig Stück an der Zahl, möglichst mit rosafarbenem Zuckerguss drauf und Herzchen aus Streuseln!
»Mommy! Meine Jacke!«
Gedankenverloren nimmt sie Leos hellroten Parka vom Haken und hilft ihm beim Anziehen. Das gute Stück stammt von Jenna. Damals, als ihre Tochter noch Einzelkind war, mussten sämtliche Klamotten entweder pink sein oder mit Blumenmuster. Sobald aber Leo das Licht der Welt erblickte, begriff Rose im Handumdrehen, dass kleine Mädchen in Rot, Waldgrün oder sogar Marineblau genauso niedlich aussehen können.
Zum Glück besteht Jenna, was Kleidung betrifft, nicht auf ausgesprochene Mädchensachen. Bis jetzt begnügt sie sich mit Jeans und Pullovern, die ihr kleiner Bruder noch gut auftragen kann. Nur wird, so denkt Rose insgeheim, bald die Zeit kommen, in der ihre Tochter nicht davon abzubringen sein wird, ihre Garderobe selbst auszusuchen. Als Mutter wird Rose es dann wohl nicht leicht haben. Ihr Budget lässt für Mode nicht viel übrig.
Schließlich steht sie hier selber in einem kamelfarbenen Wintermantel, der schon zehn Jahre auf dem Buckel hat. Darunter trägt sie ein formloses kastanienbraunes Trägerkleid aus Cord, das ihr bereits damals während der ersten sechs Monate der ersten Schwangerschaft als Umstandskleid diente.
Während sie Leo bei Mütze, Schal und Handschuhen hilft, wenden sich ihre Gedanken wieder dringenderen Angelegenheiten zu.
Du hast doch nicht etwa auch noch Törtchen für Jennas Klasse versprochen, oder? Obwohl von einem unsicheren Gefühl beschlichen, entsinnt sie sich immerhin noch dunkel daran, dass Mrs. Diamond, Jennas Lehrerin, zu Schuljahresbeginn allen Eltern mittels eines Umschreibens mitteilte, die Schule werde ausschließlich originalverpackte, ladenfrische Süßigkeiten mit Angabe der Zutaten akzeptieren. Einer von Jennas Mitschülern litt angeblich an irgendeiner Lebensmittelallergie ...
Na, so sagt sie sich, falls du dich erboten hast, die Grundschule gleichfalls mit deinen Leckerbissen zu beglücken, wird Jenna dich todsicher dran erinnern! Keine große Sache, nachher noch schnell eine Packung von diesen roten Lutschern im Supermarkt zu holen. Wahrscheinlich könnte man dort auch gleich die Cupcakes erstehen!
Falls sie noch welche haben.
Und falls sie genug Taschengeld zusammenkratzen kann, um sich die drei Dutzend benötigten Törtchen auch leisten zu können.
Geld!
Immer geht es ausschließlich ums Geld!
Kaum zu glauben, dass es mal eine Zeit gab, als sie so viel auf der hohen Kante hatten, dass es sogar als Anzahlung für das Haus reichte! Einschließlich einer eisernen Reserve, um damit eines Tages den Kindern das Studium zu finanzieren.
Die Erbschaft von damals aber, auf die hätte sie gern verzichtet, wären ihr nur noch weitere zwanzig Jahre mit ihrer Mutter vergönnt gewesen, denn die starb viel zu früh.
Und überhaupt: Das Geld ist längst futsch, aufgezehrt von den immensen Aufwendungen für Behandlungskosten. Der letzte Rest ging für Sams Beerdigung drauf.
Seufzend zieht sie Leo den Reißverschluss des Parkas bis unters Kinn, als ihr auf einmal einfällt, dass sie ja noch seine Taschen kontrollieren muss. Vor einigen Monaten durchlief er eine kleptomanische Phase. Da ließ er nicht nur Kleinspielzeug aus dem Kindergarten mitgehen, sondern auch Süßigkeiten beim Einkaufen. Einmal klaute er Rose sogar das Kleingeld von der Kommode herunter.
Sowohl Candy Adamski als auch die Kinderärztin versicherten ihr, dies sei eine ganz normale Phase für Kleinkinder in Leos Alter. Jenna indes blieb davon verschont.
Andererseits hat Jenna auch erst sehr viel später den Vater verloren. Rose wird das Gefühl nicht los, dass der Kleine nicht stehlen würde, wäre Sam noch am Leben.
Wenn Sam noch am Leben wäre ...
Ihr ganz persönliches Mantra!
Nachdem sie sich überzeugt hat, dass Leos Taschen leer sind, nimmt sie ihn bei der in einem Fäustling steckenden Hand. »Auf, Schätzchen, ab nach Hause! Jenna ist sicher auch schon unterwegs.«
»Jenna ist wohl Leos große Schwester, wie?« Gregg reicht Rose mehrere Bögen, einige aus Schablonenpapier, andere aus farbigem Bastelkarton: Leos jüngste Kunstwerke.
»Ja. Sie ist sechs.« Rose klemmt sich die Bögen zusammengerollt unter den Oberarm.
»Besucht sie die Grundschule? Hier in Laurel Bay?«
»Genau, das erste Schuljahr«, informiert sie ihn mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Donnerstagnachmittags hat sie Pfadfinderinnentreffen. Da müsste sie ungefähr jetzt Schluss haben.«
Gregg zieht die Augenbrauen hoch. »Danach geht sie ganz allein nach Hause?«
»Natürlich nicht!« Sofort fällt bei Rose eine Art mütterliches Visier herunter. Sie mahnt sich, dass er's nur gut gemeint hat und einfach bloß zwanglos plaudert, wie immer, wenn sie Leo abholt. Keinesfalls will er ihr unterstellen, sie wäre als Mutter inkompetent.
Nee, wenn das einer glaubt, dann du!, schilt Rose sich.
»Die Mutter ihrer Freundin nimmt sie im Auto mit«, erklärt sie, schon etwas milder gestimmt. »Bis zu uns nach Hause. Sie kann jeden Augenblick dort eintreffen, also, wir müssen! Bis morgen! Sag Mn Silva auf Wiedersehen, Leo!«
»Der heißt doch Mista Gwegg!«, gibt Leo empört zurück.
»Dann eben bye bye, Mr. Gregg.«
»Tschüs, Mista Gwegg!«
»Bis morgen, kleiner Mann!«, ruft Gregg Silva ihnen nach.
»Bis morgen!« Mit einiger Mühe zerrt Rose ihren Knirps durch die Eingangstür hinaus ins schneeberieselte Dämmerlicht.
...
Übersetzung: Martin Hillebrand
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ihre Rückkehr aus der Bewusstlosigkeit ist ein langwieriger, schmerzhafter Prozess.
Jedes Mal, wenn sie die Augen zu öffnen versucht, jagt ihr ein stechender Schmerz wie eine Messerklinge durch den Schädel. Als es ihr endlich nach mehrmaligen Versuchen gelingt, die Lider offen zu halten, sieht sie nur Schwärze ringsum.
Schwärze ...
Noch einmal.
Großer Gott! War das alles ein Traum?
Leicht dreht sie den Kopf, die Zähne wegen der qualvollen Anstrengung zusammengepresst. Vor dem Hintergrund einer schwach glimmenden Lichtquelle nehmen allmählich die Umrisse von Möbeln um sie herum Gestalt an.
Nein, das war kein Traum!
Ein Tisch ...
Du kannst sehen!
Eine Couch ...
Du bist nicht blind!
Ein Fenster, ein Rollo vor der Scheibe; durch den dünnen Spalt ganz unten sickert ein dünner Lichtstrahl herein.
Aber die Einrichtung stimmt überhaupt nicht! Das ist nicht ihre Wohnung in Richmond! Sie liegt nicht in ihrem Bett! Sondern auf einem kalten, harten Fußboden - ungeschliffenes Holz, das sie kratzig-rau an ihrer Wange spürt.
Wo bin ich?
Was ist passiert?
Zuckend schließen sich ihre Lider. Der Kopf dröhnt zum Zerspringen. Am liebsten würde sie gleich wieder hinüberduseln zu jenem fernen Ort ...
Aber das geht nicht!, mahnt sie sich mit einer Eindringlichkeit, die einem natürlichen Instinkt entstammt.
Hier ist was faul!
Du musst nachdenken!
Bilder blitzen vor ihren Augen auf. Rückblicke.
Wie sie das Büro verlässt.
Wie sie durchs Schneegestöber zum Parkplatz stapft. Die Wagentür aufschließt.
Wie sie sich hinters Lenkrad setzt, nervös, weil sie's nicht gewohnt ist, auf vereister Fahrbahn zu fahren.
Wie sie urplötzlich spürt, dass sie nicht allein ist.
Ein leises Rascheln vom Rücksitz her, dann ...
Ein Schmerz, der in ihrem Schädel explodiert.
Und jetzt ...
Dies hier!
Wo bin ich?
Gewaltsam zwingt sie erneut die Lider auseinander. Schmerzen! Bohrende Schmerzen! Ein Brechreiz überfällt sie, sodass sie die säuerliche Brühe hinunterwürgen muss. Allmählich verliert sie die Herrschaft über ihre Augenlider, aber sie darf sich nicht gehen lassen, darf jetzt nicht wieder hinüberdämmern! Noch nicht! Erst muss sie begreifen, was hier eigentlich vor sich geht!
Ihre übrigen Sinne - Sinne, auf die sie sich all die Jahre, zu viele Jahre, wie selbstverständlich verließ - gewinnen schrittweise an Schärfe.
Die Luft riecht muffig - wie das Innere eines Autos mit angeschimmelten Polstern. Oder wie die Truhe in Tante Lucindas Esszimmer, die Kiste, in der sie die Weihnachtstischdecken aufbewahrt!
Und da sind Geräusche! Gedämpfte, rhythmische Laute. Das Ticken einer Uhr. Ihre eigenen vernehmlichen Atemzüge. Dazu ein kratzendes Stoßen und Schaben, unterbrochen von Knistern und Knacken ... ein Kamin etwa? Jemand, der mit einem Schürhaken stochert?
Auf neuerliche Höllenqualen gefasst, zwängt sie die Lider abermals auseinander, mustert die im Halbdunkel verschwimmende Umgebung.
Couch ...
Fenster ...
Dreh den Kopf!
Herrgott noch mal, tut das weh!
Weiter!
Das Flackern von Flammen, orangefarben und unmissverständlich!
Auf einem niedrigen Tisch, vom Schein des Feuers beleuchtet, ein Gegenstand, der wie eine Schneekugel aussieht. In der gläsernen Glocke ein weißliches Wirbeln, als hätte jemand das Ding soeben geschüttelt und wieder hingestellt.
Dann erfasst sie die Umrisse einer menschlichen Gestalt, unmittelbar hinter dem Tisch.
Panik überfällt sie.
Da sitzt jemand! Vor dem Kamin, nur wenige Fuß entfernt! Wer ist das?
Was geht hier vor?
Die Gestalt rührt sich, beugt sich vor, zu ihr hin, spricht! »Ach, du bist wach! Schön! Wurde aber auch Zeit, Angela! Wäre doch schade, wenn du das hier verpassen würdest!«
Die Stimme kommt ihr auf grausige Weise bekannt vor.
Der Name aber sagt ihr nichts.
Als die Gestalt sich erhebt und über die knarrenden Dielen auf sie zukommt, da wirbeln ihr die Gedanken so panisch im Kopf herum wie die künstlichen Schneeflocken in der gläsernen Halbkugel.
Angela ...
Die schattenhafte Gestalt ragt drohend über ihr auf, den Schürhaken wie eine Klinge gezückt, die Spitze glühend rot.
Bevor das nackte Entsetzen sich Bahn bricht, zuckt ihr ein letzter zusammenhängender Gedanke durch den Kopf.
Wer ist Angela?
1. KAPITEL
MOMMY!«
Rose Larrabee macht sich auf einiges gefasst, als ihr Dreijähriger über den von Spielzeug übersäten Fußboden der Kindertagesstätte auf sie zugestürmt kommt. Das Gebäude ist fast verwaist, wie immer um diese Zeit, wenn sich bloß noch Leo und ein Erwachsener in der Einrichtung aufhalten.
Sie lächelt, als ihr Sohn herangehüpft kommt, ein olympischer Hürdenläufer in Miniformat, der über abenteuerlich gestapelte Holzbauklötze und Spielzeugwolkenkratzer turnt.
»Hi, Schätzchen!« Schmerzhaft verzieht sie das Gesicht, als Leo sich in ihre Arme wirft, schwungvoll und derart ungestüm, dass ihr sein drahtiger dreijähriger Körper mit voller Wucht gegen die Rippen kracht. Auf diese Weise begrüßt er sie jeden Nachmittag beim Abholen von »Toddler Tyme«. So heißt die Tagesstätte. Angesichts des Gefühls der Erleichterung, dass sie ihn wieder wohlbehalten in ihre Arme schließen kann, nimmt sie den Stoß gegen ihren empfindlichen Brustkasten mit der verräterischen Narbe darauf gern in Kauf.
Rose legt ihr Gesicht in Leos hellbraunes Haar und atmet tief seinen Duft ein - ein Hauch von Erdnussbutter, gemischt mit dem unverkennbaren Aroma von Knetgummi. Lächelnd tätschelt sie ihm den Schopf, wobei ihre Fingerspitzen auf einen verklebten, strohähnlichen Klumpen stoßen. »Hast du dir
beim Mittagessen wieder Traubengelee ins Haar geschmiert, Leo?«
»Nö!« Den Kopf schräg gelegt, entzieht er sich ihren Fingern und wehrt mit heftigem Kopfschütteln ab.
»Ganz bestimmt?« Sie streichelt die klebrige Stelle. »Ja.«
»Er meint, es war wohl Gelee, nur nicht von Trauben!« Grinsend taucht Gregg Silva neben den beiden auf. »Sondern Erdbeermarmelade! «
Rose begrüßt den neuen Mitarbeiter bei Toddler Tyme mit einem Lächeln. »Der nimmt aber auch alles wörtlich, der Schlingel!« Sie beugt sich vor, um den Kleinen auf die Füße zu stellen.
»Tun sie das nicht alle?« Gregg gluckst verhalten in sich hinein. »Wir hielten Erdbeermarmelade für angebracht, weil ja diese Woche Valentinstag ist!«
Valentinstag! Ach, du liebe Zeit! Und morgen schon! Das hat Rose total verschwitzt. Gottlob hat sie ihren beiden Kleinen bereits die Schächtelchen mit Karten zum Verschenken in der Schule und in der Tagesstätte gekauft. Sie bekommt im Buchladen auf sämtliche Artikel einen Angestelltenrabatt von fünfzehn Prozent, auch auf Schreib- und Papierwaren.
Klar, Jenna nörgelte über die Allerweltskärtchen, die Rose für sie ausgesucht hatte. Leos hingegen stammten aus dem Bereich Baumaschinen: Planierraupen, Muldenkipper, Betonmixer und dergleichen. Damit gab er sich vollauf zufrieden. Im Augenblick interessiert er sich brennend für alles, was irgendwie mit Dreck zu tun hat oder zum Buddeln benutzt wird.
Während sie zusieht, wie Gregg sich bückt und geschickt den obersten Knopf an Leos winzigem blau-türkis gestreiften Rugby-Trikot schließt, verblüfft es sie zum wiederholten Mal, dass dieser erwachsene Mann - ledig, um die dreißig, kinderlos - ein solches Händchen für Kinder beweist.
Seit ein paar Wochen erst arbeitet Gregg als Vollzeitkraft in der Einrichtung. Von Candy Adamski, der überaus mitteilsamen Leiterin der Tagesstätte, weiß Rose, dass er nach einem Umzug seit kurzem hier im Osten von Long Island wohnt. Er hat Grundschulpädagogik studiert; bei Toddler Tyme arbeitet er tagsüber, und abends absolviert er am Stony Brook College ein Aufbaustudium zum Master.
»Ich dachte, gar nicht so schlecht, mal ein Mann im Kollegium«, hatte Candy gemeint und dabei bedeutungsvoll geguckt. »Besonders für Jungs wie Leo!«
Innerlich hatte Rose sich gekrümmt, auch wenn sie der Leiterin die Anspielung nicht verübelte. Richtig, Jungen wie Leo - Jungen, die vaterlos aufwachsen - brauchen positive männliche Vorbilder. Und Frauen wie Rose - junge, verwitwete Mütter - sollten eigentlich dankbar sein für jede Gelegenheit, bei der sich ihre Söhne mit Männern wie Gregg Silva auseinander setzen müssen.
Das bedeutet indes nicht, dass sie sich innerlich je damit abfinden wird, dass ihre Kinder nicht mehr einer »normalen« Familie angehören! Einer Familie mit zwei Elternteilen, die alle gemeinsam unter einem Dach leben.
Leben, wohlgemerkt!
Vater, Mutter, Schwester und Bruder.
Die ideale Familie.
Alles war so vollkommen!
Wie konnte es sein, dass sie sich dessen damals nie recht bewusst war? Wie konnte sie bloß so viel Zeit vergeuden und sich den Kopf über Banalitäten zerbrechen?
Unbegreiflich, dass sie damals hin- und herüberlegte, ob sie fünf Dollar zusätzlich pro Monat für einen Premium-Kabelkanal ausgeben sollte! Oder dass sie sich aufregte, als ihr chinesisches Stammrestaurant es ablehnte, beim $ 4.95-Sonderangebot für den Mittagstisch Suppe süß-sauer gegen Won Ton zu tauschen!
Nicht zu fassen, dass sie die turnusmäßigen Trainingsstunden im Fitnessstudio schwänzte, nur weil sie wegen ihrer Periode an Unterleibskrämpfen litt! Oder dass sie über die wochenlang anhaltenden Schmerzen jammerte, nachdem sie sich im Kickboxen-Kurs den Rücken gezerrt hatte!
Unglaublich, dass sie Sam immer anschnauzte, wenn der vergaß, sich an der Hintertür die verdreckten Schuhe auszuziehen, wenn er seine Lieblingseiskrem direkt aus der Familienpackung futterte oder wenn er versäumte, ihr telefonisch mitzuteilen, er mache Überstunden und komme erst später nach Hause.
Warum hatte sie Gott nicht gedankt für jeden einzelnen Abend, an dem ihr Mann überhaupt heimkam?
Warum war sie nicht dankbar gewesen für jeden gesegneten Tag, an dem sie morgens aufstand? Mit Schmerzen zwar, die aber nichts weiter waren als eine belanglose Unpässlichkeit, keinesfalls etwas Lebensbedrohendes!
Warum hatte sie sich nicht an solch simplen Genüssen erfreut wie Imbisse zum Mitnehmen, Filme im Kabelfernsehen und den zahllosen anderen Alltagsköstlichkeiten, die sie sich nun nicht mehr leisten kann?
»Mrs. Larrabee?« Greggs Stimme zwängt sich in ihre Grübeleien - mit dem Unterton von jemandem, der schon einige Zeit versucht, auf sich aufmerksam zu machen.
»Ja?« Sie lässt ihre Gedanken zurückschwenken in die Gegenwart.
In Greggs blaugrauen Augen liegt gespannte Erwartung. Rose kommt nicht umhin zu bemerken, wie gut er aussieht: groß, schlank und breitschultrig, bekleidet mit einem maisgelben Rollkragenpullover. Ein üppiger, flachsblonder Haarschopf krönt seine hübschen Gesichtszüge und verleiht ihm die jungenhafte Aura eines kernigen, sonnengebräunten Surfers, selbst jetzt, mitten im Winter. Ohnehin hat er offenbar etwas Farbe bekommen; vermutlich verbringt er die Wochenenden auf den Skihängen nördlich oder westlich von New York City. Wenn Sam ein Wochenende draußen mit den Kindern spielte, kriegte er auch immer so ein frisches, gerötetes Gesicht, sogar hier auf Long Island.
Ach, Sam, was warst du für ein toller Daddy
»Die Cupcakes!«, sagt Gregg, derweil Leo ungeduldig an ihrem Hosenbein zupft.
»Cupcakes?«, echot sie völlig verständnislos, noch dabei, das Bild ihres Mannes aus ihren Gedanken zu verdrängen.
»Na, für morgen! Die Party zum Valentinstag! Bei der Planungssitzung im Oktober, da haben Sie sich verpflichtet, Törtchen zu backen! Ich wollte Sie nur daran erinnern.«
»Ach ja, sicher! Klar, die Cupcakes! Wie viele sollte ich denn noch mal mitbringen?«
»Dreißig.«
»Stimmt, dreißig.« Sie strahlt Gregg verkrampft an, bemüht zu begreifen, was in Dreiteufelsnamen im Oktober bloß in sie gefahren war, als sie sich überreden ließ, dreißig Törtchen zum Valentinstag zu backen.
Ach was, sie weiß genau, was damals in sie gefahren war! Sie bildete sich nämlich ein, sie könnte auftreten wie eine jener Muttis, für die es ein Klacks ist, Cupcakes zu Feiertagspartys mitzubringen. Selbst gebackene Törtchen, dreißig Stück an der Zahl, möglichst mit rosafarbenem Zuckerguss drauf und Herzchen aus Streuseln!
»Mommy! Meine Jacke!«
Gedankenverloren nimmt sie Leos hellroten Parka vom Haken und hilft ihm beim Anziehen. Das gute Stück stammt von Jenna. Damals, als ihre Tochter noch Einzelkind war, mussten sämtliche Klamotten entweder pink sein oder mit Blumenmuster. Sobald aber Leo das Licht der Welt erblickte, begriff Rose im Handumdrehen, dass kleine Mädchen in Rot, Waldgrün oder sogar Marineblau genauso niedlich aussehen können.
Zum Glück besteht Jenna, was Kleidung betrifft, nicht auf ausgesprochene Mädchensachen. Bis jetzt begnügt sie sich mit Jeans und Pullovern, die ihr kleiner Bruder noch gut auftragen kann. Nur wird, so denkt Rose insgeheim, bald die Zeit kommen, in der ihre Tochter nicht davon abzubringen sein wird, ihre Garderobe selbst auszusuchen. Als Mutter wird Rose es dann wohl nicht leicht haben. Ihr Budget lässt für Mode nicht viel übrig.
Schließlich steht sie hier selber in einem kamelfarbenen Wintermantel, der schon zehn Jahre auf dem Buckel hat. Darunter trägt sie ein formloses kastanienbraunes Trägerkleid aus Cord, das ihr bereits damals während der ersten sechs Monate der ersten Schwangerschaft als Umstandskleid diente.
Während sie Leo bei Mütze, Schal und Handschuhen hilft, wenden sich ihre Gedanken wieder dringenderen Angelegenheiten zu.
Du hast doch nicht etwa auch noch Törtchen für Jennas Klasse versprochen, oder? Obwohl von einem unsicheren Gefühl beschlichen, entsinnt sie sich immerhin noch dunkel daran, dass Mrs. Diamond, Jennas Lehrerin, zu Schuljahresbeginn allen Eltern mittels eines Umschreibens mitteilte, die Schule werde ausschließlich originalverpackte, ladenfrische Süßigkeiten mit Angabe der Zutaten akzeptieren. Einer von Jennas Mitschülern litt angeblich an irgendeiner Lebensmittelallergie ...
Na, so sagt sie sich, falls du dich erboten hast, die Grundschule gleichfalls mit deinen Leckerbissen zu beglücken, wird Jenna dich todsicher dran erinnern! Keine große Sache, nachher noch schnell eine Packung von diesen roten Lutschern im Supermarkt zu holen. Wahrscheinlich könnte man dort auch gleich die Cupcakes erstehen!
Falls sie noch welche haben.
Und falls sie genug Taschengeld zusammenkratzen kann, um sich die drei Dutzend benötigten Törtchen auch leisten zu können.
Geld!
Immer geht es ausschließlich ums Geld!
Kaum zu glauben, dass es mal eine Zeit gab, als sie so viel auf der hohen Kante hatten, dass es sogar als Anzahlung für das Haus reichte! Einschließlich einer eisernen Reserve, um damit eines Tages den Kindern das Studium zu finanzieren.
Die Erbschaft von damals aber, auf die hätte sie gern verzichtet, wären ihr nur noch weitere zwanzig Jahre mit ihrer Mutter vergönnt gewesen, denn die starb viel zu früh.
Und überhaupt: Das Geld ist längst futsch, aufgezehrt von den immensen Aufwendungen für Behandlungskosten. Der letzte Rest ging für Sams Beerdigung drauf.
Seufzend zieht sie Leo den Reißverschluss des Parkas bis unters Kinn, als ihr auf einmal einfällt, dass sie ja noch seine Taschen kontrollieren muss. Vor einigen Monaten durchlief er eine kleptomanische Phase. Da ließ er nicht nur Kleinspielzeug aus dem Kindergarten mitgehen, sondern auch Süßigkeiten beim Einkaufen. Einmal klaute er Rose sogar das Kleingeld von der Kommode herunter.
Sowohl Candy Adamski als auch die Kinderärztin versicherten ihr, dies sei eine ganz normale Phase für Kleinkinder in Leos Alter. Jenna indes blieb davon verschont.
Andererseits hat Jenna auch erst sehr viel später den Vater verloren. Rose wird das Gefühl nicht los, dass der Kleine nicht stehlen würde, wäre Sam noch am Leben.
Wenn Sam noch am Leben wäre ...
Ihr ganz persönliches Mantra!
Nachdem sie sich überzeugt hat, dass Leos Taschen leer sind, nimmt sie ihn bei der in einem Fäustling steckenden Hand. »Auf, Schätzchen, ab nach Hause! Jenna ist sicher auch schon unterwegs.«
»Jenna ist wohl Leos große Schwester, wie?« Gregg reicht Rose mehrere Bögen, einige aus Schablonenpapier, andere aus farbigem Bastelkarton: Leos jüngste Kunstwerke.
»Ja. Sie ist sechs.« Rose klemmt sich die Bögen zusammengerollt unter den Oberarm.
»Besucht sie die Grundschule? Hier in Laurel Bay?«
»Genau, das erste Schuljahr«, informiert sie ihn mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Donnerstagnachmittags hat sie Pfadfinderinnentreffen. Da müsste sie ungefähr jetzt Schluss haben.«
Gregg zieht die Augenbrauen hoch. »Danach geht sie ganz allein nach Hause?«
»Natürlich nicht!« Sofort fällt bei Rose eine Art mütterliches Visier herunter. Sie mahnt sich, dass er's nur gut gemeint hat und einfach bloß zwanglos plaudert, wie immer, wenn sie Leo abholt. Keinesfalls will er ihr unterstellen, sie wäre als Mutter inkompetent.
Nee, wenn das einer glaubt, dann du!, schilt Rose sich.
»Die Mutter ihrer Freundin nimmt sie im Auto mit«, erklärt sie, schon etwas milder gestimmt. »Bis zu uns nach Hause. Sie kann jeden Augenblick dort eintreffen, also, wir müssen! Bis morgen! Sag Mn Silva auf Wiedersehen, Leo!«
»Der heißt doch Mista Gwegg!«, gibt Leo empört zurück.
»Dann eben bye bye, Mr. Gregg.«
»Tschüs, Mista Gwegg!«
»Bis morgen, kleiner Mann!«, ruft Gregg Silva ihnen nach.
»Bis morgen!« Mit einiger Mühe zerrt Rose ihren Knirps durch die Eingangstür hinaus ins schneeberieselte Dämmerlicht.
...
Übersetzung: Martin Hillebrand
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Wendy Morgan
Wendy Morgan hat Englische Literatur mit dem Schwerpunkt Kreatives Schreiben studiert. Nach ihrem Studium hat sie zunächst als Lektorin und Journalistin gearbeitet, um sich dann ganz ihrem Traumberuf als Schriftstellerin zu widmen. Sie hat in den USA schon zahlreiche erfolgreiche Krimis veröffentlicht. Wendy Morgan lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wendy Morgan
- 2011, 1, 414 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005692
- ISBN-13: 9783868005691
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