Von Sibirien nach Japan
Recherchen für eine Fernsehserie führten Klaus Scherer durch eine der ursprünglichsten Gegenden der Erde. Der Asienkorrespondent der ARD reiste von der russischen Halbinsel Kamtschatka bis auf Japans Nordinsel...
Recherchen für eine Fernsehserie führten Klaus Scherer durch eine der ursprünglichsten Gegenden der Erde. Der Asienkorrespondent der ARD reiste von der russischen Halbinsel Kamtschatka bis auf Japans Nordinsel Hokaido. Am Schnittpunkt zweier Welten folgte der Journalist den Spuren früherer Entdecker und traf die Nachfahren der Ureinwohner. Scherer begleitete Rentiernomaden und stieg in die Flugzeuge hartgesottener Piloten. In diesem Band beschreibt er seinen abenteuerlichen Trip durch Asiens rauen aber paradiesischen Norden.
Von Sibirien nach Japan von KlausScherer
LESEPROBE
Abrahamow
Kowran, Kamtschatka. Erster Drehtag, Nebel.Durch meinen Kopf schießen Gedankenblitze, wie falsche Einzelbilder, die kaummerklich eine fertige Filmszene stören. Kindheitserinnerungen. Mein erstesReligionsbuch in der Volksschule hieß «Schild des Glaubens». Ich wunderte michanfangs, was Bibelkunde wohl mit Verkehrsschildern zu tun habe, aber ich mochtedie kleinen Zeichnungen zu den Geschichten darin. Eine zeigte den gramfaltigenAbraham draußen vor seinem Opferaltar. Bereit, Gott seinen Sohn zu geben.
Genau so steht deralte Nikita jetzt da. Stumm beugt er sich über den mit Wiesengras behäuftenklotzigen Holztisch. Das Schlachtmesser fest umgriffen,den Blick angespannt. Dann sticht er langsam zu, führt die Klinge korrekt undsicher bis zum Ende des Schnitts und richtet sich auf. Er ist zufrieden. DerTag hat ihm einen stattlichen Lachs beschert. Einen Meter dürfte er messen,gerade so wie die Schlachtbank, an der Nikita sein Leben lang den Fang zerlegthat. Hier am Dorfrand von Kowran.
Als die Organe entnommen sind undder Alte die erste Fischhälfte vom Grätengerippe gelöst hat, wirft er den nochimmer schweren Tierleib herum, sodass er auf die andere Seite klatscht. Wiederlegt er erst die Filets frei, die er dann längsseits zerteilt und mit einemFaden verknotet, um sie so später zum Trocknen aufzuhängen. Mit dem Gewichtseines Körpers drückt er das Messer nun durch den knochigen Fischkopf, derkrachend in Stücke zerfällt, als würde er tatsächlich nach alter Sittegeopfert. Erst der Unterkiefer, dann ein Rundschnitt unter die Kiemendeckel,dann der restliche Schädel. So hat es der Fischer von seinem Vater gelernt unddieser von seinem. So fischen die Itelmenen.
Sogar der biblische Dornbusch istda, blitzt mir erneut ein Fehlbild dazwischen, als mein Blick kurz die Umgebungmustert. Dann lugt Nikitas treueste Zuschauerin am oberen Tischende über dieGrashalmspitzen.
«Ich mag es, wenn Großvater Fischeschlachtet», sagt die kleine Sascha mit scheuen,tiefschwarzen Augen unter dem Fransenhaar. Gut möglich, dass sie im Dorf balddie hübscheste Tänzerin sein wird. «Und ich esse gern seine Fischsuppe.»
Hinter ihr legt sich die dunstigeNacht auf die Hütte des Alten. Durch das gekreuzte Fenster fällt Licht aufuns.
«Was davon magst du am liebsten?»,frage ich.
Da überlegt sie ein wenig, ob sieuns ihrer beider Geheimnis tatsächlich verraten soll.Dann öffnet sie langsam die kleine Faust, die etwas Rosafarbenes verborgenhält.
«Das Herz.»
Drinnen in seiner Küche bleibt demAlten nicht mehr viel Platz. Wassereimer und Einmachgläser, Töpfe, eine Axt unddie mit Sand gefüllte Blechschüssel für die Notdurft der Katze bedecken dieBodenbretter. Von der Decke her neigen sich Wäscheleinen mit Socken undUnterzeug über den Tisch, an dem wir nun sitzen. Nikita nimmt seine Wollmützevom Kopf. Darunter kommt schlohweißes Haar zum Vorschein. Bald schon wird erachtzig Jahre alt sein. Er beugt sich über eine Schale Suppe, die er aufgekochthat und nun vom tropfenden Löffel schlürft. Was hin und wieder an seinem Kinn herunterrinnt, pflückt er mit der freien Hand weg, alsstreiche sie einen Spitzbart. Dann wischt er sie am Hemd ab. Im fahlen Lichtumschwirren uns Stechmücken.
«Das Dorf scheint bessere Tagegesehen zu haben», sage ich. <Was ist passiert?»
«Früher gab es hier eine Kolchose.Die hieß <Roter Oktober>. Die Sowjets hatten uns da hineingesteckt. Aberwir konnten immerhin davon leben. Dann hat man sie zugemacht», sagt er. «Dasmit den Reformen ging alles zu schnell. Und zum Fischen erteilen sie uns keinerichtigen Lizenzen. Früher, in unseren Dörfern, da ging es uns besser.»
Von seinem Sohn Oleg weiß ich, dassdie Alten hier nicht gern über die Vergangenheit reden. Es gebe so viel zubeklagen, und sie hätten es ja auch lange getan, sagte er. Aber es habe nieetwas genutzt.
«Stammen die Leute alle von hier?»,frage ich.
«Ich bin der Einzige aus meinerGeneration, der hier geboren ist. Die anderen wurden zwangsumgesiedelt wie diemeisten im Ort. Das fällt ja keinem leicht. Wem fällt es schon leicht, seinDorf aufzugeben?»
Nikita Zaporodskijist der erste Bewohner des sibirischen Ostens, bei dem wir auf unserer Reisezu Gast sind. Von seinem Dorf Kowran aus führt sieuns über die naturwilde, von Vulkanen bewachte Halbinsel Kamtschatka und diesturmumtosten Kurilen bis auf Japans Nordinsel Hokkaido. Auf dem Weg nehmenwir japanische Spuren in Russland auf und verfolgen russische bis zu denGräbern des Exilfriedhofs von Hakodate, einer der schönstgelegenen Hafenstädte Nordjapans, an dessen Küste vorJahren noch mein Berichtsgebiet als ARD-Fernostkorrespondent endete.
Wir, das ist ein HamburgerFernsehteam auf Drehreise für eine zweiteilige TV-Reportage; zunächst mehrereWochen im Sommer, dann weitere im Oktober, wenn in Kamtschatka der Schnee schondie Täler erreicht und auch in Japans Norden die Nächte kalt werden. MitKameramann Johannes Anders war ich zuletzt in Ländern unterwegs, die 2004 vom Tsunami verwüstet wurden. Kameraassistent Wolfgang Schickbegleitete mich zuvor durch Südsee und Arktis. Die Tonleute Conrad Zelck und Andreas Zahrndt, die jeeinen Reiseteil übernehmen, und die deutsch-russische ProducerinPolina Davidenko sind neuin der Crew; ebenso die Japanerin Mami Takahashi, dieuns beim Dreh auf Hokkaido begleitet.
Dazu ich als Reporter mit Asien-Erfahrung, wenngleich mir Japans Grenzkontrolleureauf meinen Korrespondentenreisen schon den Zutritt auf die südlichenKurileninseln verwehrten. Dabei reklamieren sie diese bis heute als ihreureigenen «nördlichen Territorien» und ignorieren die nun schon sechzig Jahrewährende russische Annexion. Nicht einmal Kunaschir,das in Sichtweite liegt, durfte ich von den Nordhäfen aus besuchen. AlsJournalist nicht und als Ausländer schon gar nicht.
Mein Wunsch, diese weltabgewandte,weithin vergessene Gegend einmal bis nach Sibirien hinauf zu bereisen, entstandzu jener Zeit. Hin und wieder malte ich mir aus, welche Welt wohl hinter diesenwolkenverhangenen Konturen verborgen lag. Allein dieFahrtrichtung hat sich nun geändert - und folgt damit der Tradition früherForscher, die mehr als ein Jahrhundert zuvor, meist im Auftrag der russischenKrone, aufbrachen, jene Welt zu erkunden, in der sich der weitläufige Osten desZarenreichs damals verlor.
© RowohltBerlin Verlag
- Autor: Klaus Scherer
- 2007, 1, 240 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 14,5 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345806
- ISBN-13: 9783871345807
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