Wahr
Ich muss von meinem Leben erzählen, das wird mir in letzter Zeit immer klarer. Wenn ich es nicht selbst tue, dann erzählt niemand davon, sagt Elsa Ahlqvist kurz vor ihrem Tod. Was sie erzählt, wird das Leben ihrer Familie verändern,...
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Produktinformationen zu „Wahr “
Ich muss von meinem Leben erzählen, das wird mir in letzter Zeit immer klarer. Wenn ich es nicht selbst tue, dann erzählt niemand davon, sagt Elsa Ahlqvist kurz vor ihrem Tod. Was sie erzählt, wird das Leben ihrer Familie verändern, allen voran das ihrer Enkelin Anna. Denn Elsa entscheidet sich für die Wahrheit. Sie berichtet von dem schmerzhaften Ereignis, an dem sie beinahe zerbrochen wäre. Und Anna erkennt, dass sie endlich ihr Leben angehen muss, weil sie allein dafür verantwortlich ist.
Lese-Probe zu „Wahr “
Wahr von Riikka Pulkkinen... mehr
Die Frau lief auf ihn zu. Martti hatte diesen Traum schon oft geträumt. Gerade wollte die Frau etwas sagen, und Martti stand ganz kurz vor der Erkenntnis. Doch es kam nicht so weit - ehe er ihre Botschaft vernahm, wachte er jedes Mal auf. So wie jetzt. Sein Blick suchte den Wecker auf dem Nachttisch. 01:20. Neben ihm schlief Elsa. Sie atmete ein wenig stockend, aber nicht anders als Gesunde. Martti war also doch eingeschlafen, auch wenn er am Abend befürchtet hatte, aus Sorge kein Auge zutun zu können. Es war Elsas erste Nacht zu Hause, seit zwei Wochen. Anfangs hatte Martti sich gegen ihre Heimkehr gesträubt. Nicht, weil er seine Frau nicht gern um sich hätte, im Gegenteil. Elsas Platz war hier, seit über fünfzig Jahren schon gehörte sie hierher. Aber er hatte Angst, sie eines Morgens tot neben sich zu finden, mit erkalteten Beinen. »Ich verfaule«, hatte sie ihm vorige Woche auf der Hospizstation gesagt, es hatte geklungen wie ein Hilferuf. »Lass mich nicht hier verfaulen. Ich will nach Hause.« Und so regelten sie es. Von Elsas Krankheit wussten sie erst sechs Monate. Im Dezember hatte Martti festgestellt, dass seine Frau erschreckend abgemagert war. Elsa ging in die Schwimmhalle, stellte sich auf die Waage und vereinbarte bald darauf einen Arzttermin. »Es wird schon nichts sein«, sagte sie. »Bestimmt nicht«, erwiderte er. Mit einem Kuss wischte Elsa die Sorge aus seinem Gesicht. Dann ging alles sehr schnell: die Endoskopie, der Befund, das Urteil. Auf der Fahrt vom Arzt nach Hause weinte Martti über die Schwere der Nachricht. Elsa blieb ruhig, drückte die ganze Strecke seine Hand, hielt sie noch im Fahrstuhl. Im Flur standen sie lange aneinander gelehnt. Der Weihnachtsstern hing im Fenster, in den Räumen ruhte das Dämmerlicht des Nachmittags. »Wir sollten Weihnachten dieses Jahr sicherheitshalber besonders festlich begehen«, bestimmte Elsa. Am ersten Weihnachtsfeiertag kam Tochter Eleonoora mit ihrer Familie zu Besuch. Elsa hatte es noch nicht übers Herz gebracht, sie einzuweihen. Aber Eleonoora wusste sofort Bescheid, solche Dinge ließen sich vor einer Ärztin nicht verbergen. Und prompt war sie da: Eleonooras große Fürsorge, die jemandem, der sie weniger gut kannte, als Dominanz erscheinen mochte. Elsa scherte sich nicht um die Anweisungen ihrer Tochter, sagte bloß, wie schon zu Martti: »Nun lass uns doch erst mal dieses Weihnachten feiern.« Und es wurde ein glückliches Fest, trotz allem. Heiligabend gingen sie Schlittschuhlaufen, am zweiten Weihnachtsfeiertag unternahmen sie eine kleine Skiwanderung. Elsa staunte über ihre Kräfte, verdrückte eine ganze Tafel Nussschokolade und sauste übermütig wie ein junges Mädchen die Hügel hinab. Die Behandlung begann im neuen Jahr, doch die Chemotherapie wurde schon nach wenigen Wochen abgebrochen. Danach sprachen die Ärzte von palliativer Behandlung. Das bedeutete Sterbebegleitung, und nun weinte auch Elsa. Martti versuchte, stark zu sein und die Hoffnung nicht aufzugeben. Er fragte Elsa, was sie am liebsten tun wollte. »Lass uns herumfahren«, schlug sie vor. »Einfach fahren, bis es dunkel wird, ohne Ziel. Und Musik hören, so wie sonst auch, wenn wir Auto fahren.« Ab Ende Februar waren sie jeden Abend aufgebrochen. Der Frühling leuchtete zartrosa und hellgelb wie immer. Oft bat Elsa ihn, langsamer zu fahren, damit sie in Ruhe den Himmel betrachten konnte. Wie große Häuser glitten die Wolken vor ihnen entlang. Anfang März hörten sie bei einer Rast auf der Insel Lauttasaari eine Amsel singen. Sie saßen lange mit geöffneten Fenstern im Wagen, die Scheinwerfer hatten sie abgestellt, und hörten im Dunkeln die Amsel singen. »Es gibt erstaunlich wenig zu befürchten«, sagte Elsa. »Ja. Wir haben nichts zu befürchten«, erwiderte Martti. Aber das war eine Lüge. Martti hatte Angst vor den Nächten, dem Moment des Erwachens aus einem Traum, den er nicht zu deuten wusste. Davor, dass Elsa neben ihm lag und nicht mehr atmete. Vielleicht hatte auch Eleonoora Angst, denn sie war gegen Elsas Heimkehr gewesen. »Ich weiß, was euch erwartet, glaub mir«, sagte sie zu ihm, als sie nach einem Arztgespräch zu zweit im Raum waren. »Ich schaffe das nicht, und du auch nicht. Und ich kann doch die Mädchen nicht als Pflegerinnen einspannen, das ist zu viel verlangt, außerdem sind sie fast noch Kinder.« Eleonooras Sorgen waren andere als seine, das spürte er. Auch ihre Trauer würde eine andere sein, wenn es so weit war. Martti wunderte sich über seine Tochter. Letztlich wusste er nicht mehr von ihr, als er sah: die Organisiertheit, die nahezu nuancenlose Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Immer häufiger drängte sich ihm dieser Gedanke auf, der ihn belastete, seit Eleonoora erwachsen geworden war: Diese Frau hatte ihm seine Tochter gestohlen, verbarg die lachende Ella mit den Zöpfen irgendwo hinter ihrer Sachlichkeit. Wenn Martti nur ein Zauberwort aus ihren Mädchenjahren fände, es aussprechen könnte - Eleonoora wäre wieder Ella, würde im Flur herumhüpfen, ihrem Spiegelbild Fratzen schneiden und zusammen mit ihm Eis essen gehen. Die Entscheidung, Elsa doch nach Hause zu holen, fi el mit dem überraschenden Angebot der Enkelinnen. Eleonoora befragte ihre Mädchen eingehend, schilderte ohne Beschönigung, was es hieß, eine Sterbende zu pflegen. »Ich habe keine Angst davor«, erwiderte Maria ohne Zögern. Obwohl sie die Jüngere war, wirkte sie deutlich reifer als ihre Schwester. Anna hingegen hatte diese Wankelmütigkeit, die Martti leicht besorgt wiedererkannte; genau diese Art von Sensibilität war früher auch ihm eigen. Aber Anna hatte ernst genickt, als Eleonoora ein letztes Mal nach ihrer Einsatzbereitschaft fragte, trotz ihrer Unsicherheit. In den letzten Wochen hatte sich Elsas Befinden gebessert. Sie nahm ein neues Schmerzmittel, das stärker war als die vorigen. Es wirkte sehr gut, doch der Arzt hatte vor den Nebenwirkungen gewarnt, vor Benommenheit und motorischer Unsicherheit. Martti versetzte diese Aussicht in Aufruhr, er nahm den Arzt beiseite und fragte geradeheraus: »Wie lange noch? Wie viele Wochen?«
»Denken Sie nicht in Wochen«, entgegnete dieser. »Es gibt gute und schlechte Tage, und bei Krebs ist der Unterschied zwischen ihnen enorm. Mitunter kann Ihre Frau nahezu symptomfrei sein.« Damit musste Martti sich zufriedengeben, und so begann er, Elsa noch genauer zu beobachten. Er setzte seine ganze Hoffnung in diese zwei Worte: nahezu symptomfrei. Gestern nun wurde das Krankenbett gebracht, dazu die übrige Ausstattung. Schweigsame Männer hatten an der Tür geklingelt und alles in die Wohnung getragen, als handelte es sich um ganz normale Möbel, hatten im Schlafzimmer das Krankenbett aufgestellt. Dann kamen die Infusionen und die Windeln, die in Pappschachteln in der Schlafzimmerecke warteten. Die Medikamente standen in kleinen Dosen auf der Ankleidekommode. »Schön!«, rief Elsa vom neuen Bett aus. »Schöner als jedes Hotel, in dem ich gewesen bin.« »Gut, dass es dir gefällt.« »Aber«, setzte Elsa an und senkte die Stimme, als befürchtete sie, die Männer würden hinter der Wohnungstür lauschen und beleidigt sein, »ich werde trotzdem neben dir schlafen.« »Wirklich? Wenn du willst.« Elsa sah missbilligend in die Ecke mit den Windeln. »Den Toilettengang werde ich schon noch selber erledigen. « Ihre Stimme klang energisch und heiter. »Die sind ja nur für den Notfall«, hörte er sich sagen. Die Rolle der Kranken bereitete Elsa Mühe, denn sie war es gewohnt, anderen zu helfen. Schon immer, bis zur Erschöpfung, hatte sie sich um andere gekümmert, wie es sich für eine Psychologin gehörte. Martti erinnerte sich gut an die Zeit, in der Elsa das Mädchenhafte verloren und sich in eine unnachgiebige Frau verwandelt hatte; damals schrieb sie an ihrer Doktorarbeit und hatte eine Stelle in einem internationalen Forschungsteam bekommen. Martti lag regungslos im Bett. Elsa schlief tief und fest. 01:25. Über ihm schwebte der Traum. Ein aus Zeit gewirktes Gewebe, dicht wie eine Decke. Martti stand auf und trat ans Fenster. In manchen dieser Nächte, wenn ihn der Traum wieder aus dem Schlaf gerissen hatte, lastete die Trauer wie ein großer Stein auf ihm. Ächzend lag er darunter und rang nach Luft. Ich schaffe das nicht, dachte er. Wenn es schon jetzt so schlimm ist, wie wird es erst, wenn Elsa wirklich geht? Doch dann fand er endlich eine Methode, sich selbst zu beruhigen. Er trat ans Fenster, öffnete es weit, schaute in den Himmel und lauschte der Amsel. Die Trauer gesellte sich leise zu ihm, und er ließ sie kommen, schloss Bekanntschaft, wie um sich vorsorglich an sie zu gewöhnen. Er entdeckte sie in der Haltung seiner Hände, in den halb ausgestreckten Armen. Der Trauer musste man Raum geben, man musste sie umarmen. Andernfalls über fi el sie einen als Entsetzen, plötzlich und ohne Vorwarnung, beim Überqueren einer Kreuzung oder im Geschäft vor den Mandarinen und Kartoffeln. Und dann wuchs sie zur Panik. Aber wenn Martti die Trauer umarmte, fühlte er sich beinahe glücklich. Die Schwalben waren dieses Jahr früh zurückgekehrt, schossen übermütig durch die wärmer werdende Luft. Hinauf hinunter, hinauf hinunter stürzten sie sich, ihre Schreie gellten vom Himmel. Er blieb noch eine Minute am Fenster stehen, dann noch eine, spürte eine müde Ruhe bis in die Hände und Füße sickern. Der Ruf der Amsel schien auch in ihm zu hallen, nicht nur am Himmel, die Grenze zwischen seinem Körper und der Außenwelt löste sich auf. In diesem Moment konnte Martti sich zum allerersten Mal seit Jahren vorstellen, wieder zu malen: den Himmel, Schwalben, Lichtfl ecken auf Wänden. Er hatte das Ende seiner Karriere nicht bedauert, war auch ohne Malerei glücklich gewesen. Doch sein Arbeitszimmer auf dem Dachboden, im einzigen Turmzimmer des Hauses, wartete unverändert, wie ein Museum. Manchmal stattete er ihm einen Besuch ab, setzte sich in den Lehnstuhl, betrachtete den Sonnenuntergang, öffnete die Fenster, rauchte eine Zigarette. Im letzten Jahr hatte er dem Monatsmagazin der Zeitung Helsingin Sanomat ein ausführliches Interview gegeben. Auf den Fotos erstrahlte sein Profi l im Gegenlicht. Unermüdlich strebt der Visionär nach dem perfekten Blick. Im Nachhinein bereute er das Interview. Er hatte sich zu pathetischen Aussagen hinreißen lassen und in den letzten Minuten versucht, seine Höhenflüge mit Selbstironie zu brechen, doch im gedruckten Text fand sich keine Spur von Ironie oder Humor. Übrig geblieben waren schwerfällige Sätze wie dieser: Die Kunst flieht vor dem Künstler wie die Wahrheit vor dem Menschen. Blickte er auf seine Karriere zurück, musste er feststellen, dass er seine größten Erfolge, seine anerkanntesten Werke ein wenig banal fand - als hätte er sein ganzes Leben nur Sandburgen gebaut. Vielleicht hielt ihn dieser Verdacht auf Kindlichkeit schon so lange davon ab, wieder die Leinwand aufzuspannen und Farben zu mischen. Nicht einmal Skizzen hatte er angefertigt. Er tat rein gar nichts, um einen neuen Anfang zu finden. Hin und wieder nur ging er in das Turmzimmer, saß im Sessel und beobachtete, wie das Licht sich veränderte, mit den Minuten dahinschmolz, still in den Ecken des Zimmers verschwand. In solchen Augenblicken, wenn ihn der Zustand reiner Wahrnehmung befiel, war früher das Bedürfnis zu malen erwacht. Manche bezeichneten das als Inspiration, aber tatsächlich ging es um etwas weniger Großes, viel Natürlicheres. Genau darum waren die Interviews und Gespräche immer wieder gekreist. Journalisten, Biographen und Kuratoren hatten die ewig gleiche Frage nach der Inspiration formuliert, als sprächen sie von der Existenz Gottes. Ihm fi el ein, wie er irgendwann in den Sechzigern an einem feucht-fröhlichen Kneipenabend einen befreundeten Kurator provoziert hatte: »Da gibt es nichts Mystisches! Ich vergesse mich einfach selbst, und im Gegenzug bekomme ich die ganze Welt.« Nun war genau das wieder eingetreten, an diesen Abenden am Fenster, als er den Wolken und Vögeln zusah. Er bestand nur noch aus Wahrnehmung, aus reinem Blick. Dennoch, und das wunderte ihn, ließ ihn dieser Traum nicht los. Anfangs hatte er seine Vermutung noch beiseite geschoben. Als der Traum sich aber wiederholte, wurde er misstrauisch. Das Gefühl war zunächst nur eine schwache Ahnung gewesen, nicht mehr als ein Geruch, genau so schwer fassbar wie das Bild eines Menschen, den man erst wenige Male gesehen hat und den man kaum kennt - an den man jedoch unweigerlich denken muss. Beim Aufwachen aus dem Traum hörte er den Nachhall eines leisen Lachens, spürte den Klang noch über sich schweben. Und jetzt ließ er die Erinnerung kommen. Die Frau in seinem Traum war nicht Elsa.
© List (Verlag), Weltbild
Die Frau lief auf ihn zu. Martti hatte diesen Traum schon oft geträumt. Gerade wollte die Frau etwas sagen, und Martti stand ganz kurz vor der Erkenntnis. Doch es kam nicht so weit - ehe er ihre Botschaft vernahm, wachte er jedes Mal auf. So wie jetzt. Sein Blick suchte den Wecker auf dem Nachttisch. 01:20. Neben ihm schlief Elsa. Sie atmete ein wenig stockend, aber nicht anders als Gesunde. Martti war also doch eingeschlafen, auch wenn er am Abend befürchtet hatte, aus Sorge kein Auge zutun zu können. Es war Elsas erste Nacht zu Hause, seit zwei Wochen. Anfangs hatte Martti sich gegen ihre Heimkehr gesträubt. Nicht, weil er seine Frau nicht gern um sich hätte, im Gegenteil. Elsas Platz war hier, seit über fünfzig Jahren schon gehörte sie hierher. Aber er hatte Angst, sie eines Morgens tot neben sich zu finden, mit erkalteten Beinen. »Ich verfaule«, hatte sie ihm vorige Woche auf der Hospizstation gesagt, es hatte geklungen wie ein Hilferuf. »Lass mich nicht hier verfaulen. Ich will nach Hause.« Und so regelten sie es. Von Elsas Krankheit wussten sie erst sechs Monate. Im Dezember hatte Martti festgestellt, dass seine Frau erschreckend abgemagert war. Elsa ging in die Schwimmhalle, stellte sich auf die Waage und vereinbarte bald darauf einen Arzttermin. »Es wird schon nichts sein«, sagte sie. »Bestimmt nicht«, erwiderte er. Mit einem Kuss wischte Elsa die Sorge aus seinem Gesicht. Dann ging alles sehr schnell: die Endoskopie, der Befund, das Urteil. Auf der Fahrt vom Arzt nach Hause weinte Martti über die Schwere der Nachricht. Elsa blieb ruhig, drückte die ganze Strecke seine Hand, hielt sie noch im Fahrstuhl. Im Flur standen sie lange aneinander gelehnt. Der Weihnachtsstern hing im Fenster, in den Räumen ruhte das Dämmerlicht des Nachmittags. »Wir sollten Weihnachten dieses Jahr sicherheitshalber besonders festlich begehen«, bestimmte Elsa. Am ersten Weihnachtsfeiertag kam Tochter Eleonoora mit ihrer Familie zu Besuch. Elsa hatte es noch nicht übers Herz gebracht, sie einzuweihen. Aber Eleonoora wusste sofort Bescheid, solche Dinge ließen sich vor einer Ärztin nicht verbergen. Und prompt war sie da: Eleonooras große Fürsorge, die jemandem, der sie weniger gut kannte, als Dominanz erscheinen mochte. Elsa scherte sich nicht um die Anweisungen ihrer Tochter, sagte bloß, wie schon zu Martti: »Nun lass uns doch erst mal dieses Weihnachten feiern.« Und es wurde ein glückliches Fest, trotz allem. Heiligabend gingen sie Schlittschuhlaufen, am zweiten Weihnachtsfeiertag unternahmen sie eine kleine Skiwanderung. Elsa staunte über ihre Kräfte, verdrückte eine ganze Tafel Nussschokolade und sauste übermütig wie ein junges Mädchen die Hügel hinab. Die Behandlung begann im neuen Jahr, doch die Chemotherapie wurde schon nach wenigen Wochen abgebrochen. Danach sprachen die Ärzte von palliativer Behandlung. Das bedeutete Sterbebegleitung, und nun weinte auch Elsa. Martti versuchte, stark zu sein und die Hoffnung nicht aufzugeben. Er fragte Elsa, was sie am liebsten tun wollte. »Lass uns herumfahren«, schlug sie vor. »Einfach fahren, bis es dunkel wird, ohne Ziel. Und Musik hören, so wie sonst auch, wenn wir Auto fahren.« Ab Ende Februar waren sie jeden Abend aufgebrochen. Der Frühling leuchtete zartrosa und hellgelb wie immer. Oft bat Elsa ihn, langsamer zu fahren, damit sie in Ruhe den Himmel betrachten konnte. Wie große Häuser glitten die Wolken vor ihnen entlang. Anfang März hörten sie bei einer Rast auf der Insel Lauttasaari eine Amsel singen. Sie saßen lange mit geöffneten Fenstern im Wagen, die Scheinwerfer hatten sie abgestellt, und hörten im Dunkeln die Amsel singen. »Es gibt erstaunlich wenig zu befürchten«, sagte Elsa. »Ja. Wir haben nichts zu befürchten«, erwiderte Martti. Aber das war eine Lüge. Martti hatte Angst vor den Nächten, dem Moment des Erwachens aus einem Traum, den er nicht zu deuten wusste. Davor, dass Elsa neben ihm lag und nicht mehr atmete. Vielleicht hatte auch Eleonoora Angst, denn sie war gegen Elsas Heimkehr gewesen. »Ich weiß, was euch erwartet, glaub mir«, sagte sie zu ihm, als sie nach einem Arztgespräch zu zweit im Raum waren. »Ich schaffe das nicht, und du auch nicht. Und ich kann doch die Mädchen nicht als Pflegerinnen einspannen, das ist zu viel verlangt, außerdem sind sie fast noch Kinder.« Eleonooras Sorgen waren andere als seine, das spürte er. Auch ihre Trauer würde eine andere sein, wenn es so weit war. Martti wunderte sich über seine Tochter. Letztlich wusste er nicht mehr von ihr, als er sah: die Organisiertheit, die nahezu nuancenlose Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Immer häufiger drängte sich ihm dieser Gedanke auf, der ihn belastete, seit Eleonoora erwachsen geworden war: Diese Frau hatte ihm seine Tochter gestohlen, verbarg die lachende Ella mit den Zöpfen irgendwo hinter ihrer Sachlichkeit. Wenn Martti nur ein Zauberwort aus ihren Mädchenjahren fände, es aussprechen könnte - Eleonoora wäre wieder Ella, würde im Flur herumhüpfen, ihrem Spiegelbild Fratzen schneiden und zusammen mit ihm Eis essen gehen. Die Entscheidung, Elsa doch nach Hause zu holen, fi el mit dem überraschenden Angebot der Enkelinnen. Eleonoora befragte ihre Mädchen eingehend, schilderte ohne Beschönigung, was es hieß, eine Sterbende zu pflegen. »Ich habe keine Angst davor«, erwiderte Maria ohne Zögern. Obwohl sie die Jüngere war, wirkte sie deutlich reifer als ihre Schwester. Anna hingegen hatte diese Wankelmütigkeit, die Martti leicht besorgt wiedererkannte; genau diese Art von Sensibilität war früher auch ihm eigen. Aber Anna hatte ernst genickt, als Eleonoora ein letztes Mal nach ihrer Einsatzbereitschaft fragte, trotz ihrer Unsicherheit. In den letzten Wochen hatte sich Elsas Befinden gebessert. Sie nahm ein neues Schmerzmittel, das stärker war als die vorigen. Es wirkte sehr gut, doch der Arzt hatte vor den Nebenwirkungen gewarnt, vor Benommenheit und motorischer Unsicherheit. Martti versetzte diese Aussicht in Aufruhr, er nahm den Arzt beiseite und fragte geradeheraus: »Wie lange noch? Wie viele Wochen?«
»Denken Sie nicht in Wochen«, entgegnete dieser. »Es gibt gute und schlechte Tage, und bei Krebs ist der Unterschied zwischen ihnen enorm. Mitunter kann Ihre Frau nahezu symptomfrei sein.« Damit musste Martti sich zufriedengeben, und so begann er, Elsa noch genauer zu beobachten. Er setzte seine ganze Hoffnung in diese zwei Worte: nahezu symptomfrei. Gestern nun wurde das Krankenbett gebracht, dazu die übrige Ausstattung. Schweigsame Männer hatten an der Tür geklingelt und alles in die Wohnung getragen, als handelte es sich um ganz normale Möbel, hatten im Schlafzimmer das Krankenbett aufgestellt. Dann kamen die Infusionen und die Windeln, die in Pappschachteln in der Schlafzimmerecke warteten. Die Medikamente standen in kleinen Dosen auf der Ankleidekommode. »Schön!«, rief Elsa vom neuen Bett aus. »Schöner als jedes Hotel, in dem ich gewesen bin.« »Gut, dass es dir gefällt.« »Aber«, setzte Elsa an und senkte die Stimme, als befürchtete sie, die Männer würden hinter der Wohnungstür lauschen und beleidigt sein, »ich werde trotzdem neben dir schlafen.« »Wirklich? Wenn du willst.« Elsa sah missbilligend in die Ecke mit den Windeln. »Den Toilettengang werde ich schon noch selber erledigen. « Ihre Stimme klang energisch und heiter. »Die sind ja nur für den Notfall«, hörte er sich sagen. Die Rolle der Kranken bereitete Elsa Mühe, denn sie war es gewohnt, anderen zu helfen. Schon immer, bis zur Erschöpfung, hatte sie sich um andere gekümmert, wie es sich für eine Psychologin gehörte. Martti erinnerte sich gut an die Zeit, in der Elsa das Mädchenhafte verloren und sich in eine unnachgiebige Frau verwandelt hatte; damals schrieb sie an ihrer Doktorarbeit und hatte eine Stelle in einem internationalen Forschungsteam bekommen. Martti lag regungslos im Bett. Elsa schlief tief und fest. 01:25. Über ihm schwebte der Traum. Ein aus Zeit gewirktes Gewebe, dicht wie eine Decke. Martti stand auf und trat ans Fenster. In manchen dieser Nächte, wenn ihn der Traum wieder aus dem Schlaf gerissen hatte, lastete die Trauer wie ein großer Stein auf ihm. Ächzend lag er darunter und rang nach Luft. Ich schaffe das nicht, dachte er. Wenn es schon jetzt so schlimm ist, wie wird es erst, wenn Elsa wirklich geht? Doch dann fand er endlich eine Methode, sich selbst zu beruhigen. Er trat ans Fenster, öffnete es weit, schaute in den Himmel und lauschte der Amsel. Die Trauer gesellte sich leise zu ihm, und er ließ sie kommen, schloss Bekanntschaft, wie um sich vorsorglich an sie zu gewöhnen. Er entdeckte sie in der Haltung seiner Hände, in den halb ausgestreckten Armen. Der Trauer musste man Raum geben, man musste sie umarmen. Andernfalls über fi el sie einen als Entsetzen, plötzlich und ohne Vorwarnung, beim Überqueren einer Kreuzung oder im Geschäft vor den Mandarinen und Kartoffeln. Und dann wuchs sie zur Panik. Aber wenn Martti die Trauer umarmte, fühlte er sich beinahe glücklich. Die Schwalben waren dieses Jahr früh zurückgekehrt, schossen übermütig durch die wärmer werdende Luft. Hinauf hinunter, hinauf hinunter stürzten sie sich, ihre Schreie gellten vom Himmel. Er blieb noch eine Minute am Fenster stehen, dann noch eine, spürte eine müde Ruhe bis in die Hände und Füße sickern. Der Ruf der Amsel schien auch in ihm zu hallen, nicht nur am Himmel, die Grenze zwischen seinem Körper und der Außenwelt löste sich auf. In diesem Moment konnte Martti sich zum allerersten Mal seit Jahren vorstellen, wieder zu malen: den Himmel, Schwalben, Lichtfl ecken auf Wänden. Er hatte das Ende seiner Karriere nicht bedauert, war auch ohne Malerei glücklich gewesen. Doch sein Arbeitszimmer auf dem Dachboden, im einzigen Turmzimmer des Hauses, wartete unverändert, wie ein Museum. Manchmal stattete er ihm einen Besuch ab, setzte sich in den Lehnstuhl, betrachtete den Sonnenuntergang, öffnete die Fenster, rauchte eine Zigarette. Im letzten Jahr hatte er dem Monatsmagazin der Zeitung Helsingin Sanomat ein ausführliches Interview gegeben. Auf den Fotos erstrahlte sein Profi l im Gegenlicht. Unermüdlich strebt der Visionär nach dem perfekten Blick. Im Nachhinein bereute er das Interview. Er hatte sich zu pathetischen Aussagen hinreißen lassen und in den letzten Minuten versucht, seine Höhenflüge mit Selbstironie zu brechen, doch im gedruckten Text fand sich keine Spur von Ironie oder Humor. Übrig geblieben waren schwerfällige Sätze wie dieser: Die Kunst flieht vor dem Künstler wie die Wahrheit vor dem Menschen. Blickte er auf seine Karriere zurück, musste er feststellen, dass er seine größten Erfolge, seine anerkanntesten Werke ein wenig banal fand - als hätte er sein ganzes Leben nur Sandburgen gebaut. Vielleicht hielt ihn dieser Verdacht auf Kindlichkeit schon so lange davon ab, wieder die Leinwand aufzuspannen und Farben zu mischen. Nicht einmal Skizzen hatte er angefertigt. Er tat rein gar nichts, um einen neuen Anfang zu finden. Hin und wieder nur ging er in das Turmzimmer, saß im Sessel und beobachtete, wie das Licht sich veränderte, mit den Minuten dahinschmolz, still in den Ecken des Zimmers verschwand. In solchen Augenblicken, wenn ihn der Zustand reiner Wahrnehmung befiel, war früher das Bedürfnis zu malen erwacht. Manche bezeichneten das als Inspiration, aber tatsächlich ging es um etwas weniger Großes, viel Natürlicheres. Genau darum waren die Interviews und Gespräche immer wieder gekreist. Journalisten, Biographen und Kuratoren hatten die ewig gleiche Frage nach der Inspiration formuliert, als sprächen sie von der Existenz Gottes. Ihm fi el ein, wie er irgendwann in den Sechzigern an einem feucht-fröhlichen Kneipenabend einen befreundeten Kurator provoziert hatte: »Da gibt es nichts Mystisches! Ich vergesse mich einfach selbst, und im Gegenzug bekomme ich die ganze Welt.« Nun war genau das wieder eingetreten, an diesen Abenden am Fenster, als er den Wolken und Vögeln zusah. Er bestand nur noch aus Wahrnehmung, aus reinem Blick. Dennoch, und das wunderte ihn, ließ ihn dieser Traum nicht los. Anfangs hatte er seine Vermutung noch beiseite geschoben. Als der Traum sich aber wiederholte, wurde er misstrauisch. Das Gefühl war zunächst nur eine schwache Ahnung gewesen, nicht mehr als ein Geruch, genau so schwer fassbar wie das Bild eines Menschen, den man erst wenige Male gesehen hat und den man kaum kennt - an den man jedoch unweigerlich denken muss. Beim Aufwachen aus dem Traum hörte er den Nachhall eines leisen Lachens, spürte den Klang noch über sich schweben. Und jetzt ließ er die Erinnerung kommen. Die Frau in seinem Traum war nicht Elsa.
© List (Verlag), Weltbild
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Autoren-Porträt von Riikka Pulkkinen
Riikka Pulkkinen, geboren 1980, ist eine der erfolgreichsten jungen Autorinnen Finnlands. Ihr zweiter Roman "Wahr" wurde für den wichtigsten finnischen Literaturpreis, den Finlandia-Preis, nominiert und ist in 17 Ländern erschienen. Riikka Pulkkinen lebt in Helsinki.
Autoren-Interview mit Riikka Pulkkinen
Interview mit Riikka PulkkinenWelche Bedeutung hat der Romantitel „Wahr"?
Riikka Pulkkinen: Wenn ich über den Titel eines Buches nachdenke, versuche ich, verschiedene The-men darin zusammenzufas¬sen. Ich kam zuerst auf „Lüge", denn die Lügen waren ein wichtiges Thema in einer frühen Fassung des Ro¬mans. Aber dann begriff ich, dass die Lüge als solche nicht so interessant ist wie die gleichzeitig laufenden Er¬zählfäden. Ich dachte, dass „Wahr" es besser trifft, da der Roman verschiedene Wahr-heiten und unterschiedli¬che Erzählfäden enthält. Es geht um alle möglichen Arten von Liebe: die eheliche Liebe, die über 50 Jahre ge¬halten hat, die verbotene Liebe, die nicht vergessen ist... Lügen sind nicht so interessant wie unterschiedliche Versionen der Wahrheit.
Glauben Sie, dass ein Mensch wahrhaftiger und ehrlicher wird, wenn er oder einer seiner Nächsten dem Tod nahe ist - so dass es Zeit für eine Beichte früherer Fehler und Sünden wird?
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Riikka Pulkkinen: Ich finde nicht, dass Elsa eine Beichte ablegt. Nicht in diesem religiösen Sinn. Sie will ihre Version der Ge¬schichte erzählen und Dinge enthüllen, die für lange Zeit versteckt waren. Ansonsten würde diese Geschichte unerzählt bleiben. Sie ist nun, kurz vor ihrem Tod, ehrlicher zu sich selbst. Wenn wir älter werden, begreifen wir wahrscheinlich, was unsere Geschichte gewesen ist: Wir akzeptieren, dass diese einzigartige Geschichte unsere ist. Ich weiß nicht, ob Elsa wahrhaftig sein möchte, aber sie will, dass die Dinge richtig laufen. Sie schuldet das ihrer Tochter, denn sie weiß, dass Eleonoora glücklicher hätte sein können, wenn sie eher die Wahrheit erfah¬ren hätte. Aber es ihr direkt zu sagen, wäre zu riskant und gefährlich, also erzählt sie es ihrer Enkelin Anna, das fällt ihr leichter.
Warum wählten Sie einen Maler und eine Psychologin als Protagonisten?
Riikka Pulkkinen: Ich suche zuerst Themen aus, die mir zufallen, und dann denke ich über die Perso-nen nach, die dazu passen. Elsa ist sehr gut in ihrem Beruf, doch zugleich blind für die Vorgänge in ihrer eige-nen Familie. Dieser Wider¬spruch ist sehr interessant für mich, deshalb habe ich sie als Psychologin erfunden. Martti war ursprünglich ein Jurist, ein Richter, aber dann beschloss ich, dass er etwas mit Bildern zu tun haben sollte. Dann entwickelte sich die Geschichte mit Eeva und die Frage, ob er sie malen würde oder nicht. Das Künstlerthema ergab sich ganz natürlich daraus.
Zwischen Martti und Eeva entspinnt sich eine sexuelle Beziehung...
Riikka Pulkkinen: Ich habe nicht so sehr über den Ehebruch als solchen nachgedacht. Mich interes-sierte eher, wie Eeva sich in diese Familie einmischt. Und da ergibt sich auch die zerbrechliche Beziehung zwi-schen dem Mädchen und der jungen Frau, die nicht ihre Mutter ist. Sie liebt Ella zu sehr. Es war selbstverständ-lich für mich, dieses Thema der Bindung in dem Roman zu haben. Es sind bestimmte Phasen der Bindung abge-bildet, zum Beispiel, wenn Ella etwas feindselig gegenüber Eeva ist und dann wieder sehr anhänglich.
Es gibt zwei hauptsächliche Zeitebenen, die 60er-Jahre und die Gegenwart. Welche war beim Schreiben zuerst da?
Riikka Pulkkinen: Mein Ausgangspunkt war Eevas Geschichte. Damit ist „Wahr" überhaupt erst in Gang gekommen. Ich wusste bereits vor dem Schreiben, dass ich eine Rahmenhandlung und eine Binnenerzäh-lung haben
wollte. Und ich wollte über Liebe sprechen, so kam zuerst Eeva. Sie versucht, eine moderne Frau, emanzipiert zu sein, aber das funktioniert nicht so richtig.
Anna hat ganz ähnliche Erfahrungen als Kindermädchen wie Eeva gemacht. Daraus erklärt sich auch ihr Inte¬resse an deren Vergangenheit und am Feminismus.
Riikka Pulkkinen: Ja, ich wollte die Analogie zwischen den Erfahrungen von Anna und Eeva betonen, aber es gibt auch Unter¬schiede. Anna erzählt Eevas Geschichte nicht mit ihrer eigenen Stimme; sie findet diese erst am Ende des Bu¬ches. Mir haben manche Leser gesagt, dass sie diesen Zusammenhang nicht sehen. Man kann den Roman auch leicht so lesen, dass Anna und Eeva zwei verschiedene Figuren sind.
Sprechen wir über Martti, den Maler. Ist Eeva die große Liebe seines Lebens?
Riikka Pulkkinen: Nun, es gibt zwei Arten von Liebe in dem Roman - mindestens zwei! Einerseits die verbotene, andererseits die lebenslange Liebe. Sie ist ja auch groß, die größte, die man erleben kann. Sie ist immer da und deshalb wohl schwerer wahrzunehmen. Das Buch handelt von der Anerkennung und Wahrneh-mung von Liebe. Da ist auch Elsas psychologisches Argument, dass Liebe heiße, das eigene Selbst im anderen gespiegelt zu sehen. Wahr¬scheinlich ist die verbotene Liebe etwas, in dem man sich erkennen möchte. Es ist schwerer, sich in der alltägli¬chen Liebe zu finden, leichter, sich mit der Illusion auseinanderzusetzen.
Warum war Elsa so duldsam gegenüber der Tatsache, dass ihr Mann sie mit der Kinderfrau betrügt? Leidet sie nicht darunter?
Riikka Pulkkinen: Natürlich ist sie in gewisser Weise duldsam gewesen, aber ich finde, auch weise. Elsa ist, so schlimm das klingt, auch pragmatisch. Sie erkennt, dass ihre Liebe in ihrer Alltäglichkeit so stark ist, dass sie an ihr festhält. Deswe¬gen hat sie Martti den Ehebruch vergeben. Eine der Sachen, die ich mich beim Schreiben fragte, war: Wie könnte Elsa ihrem Mann vergeben, was vor vielen Jahren passiert ist? Als Elsa dem Tod nahe ist, wird klar, dass sie niemals mehr darüber reden werden. Ich stelle mir vor, dass sie vor langem darüber gesprochen haben - und danach nie wieder. Der Grund für Elsa, dieses Geheimnis zu enthüllen, ist eher, dass sie ihrer Tochter noch etwas schuldet.
Am Ende verschwindet Eeva von der Bildfläche und man erfährt nur, dass sie 1968 gestorben ist. Was ist ihr eigentlich zugestoßen?
Riikka Pulkkinen: Eevas Tod ist etwas, das ich nicht offensichtlich machen wollte. Der Leser soll ent-scheiden, was mit ihr passiert. Eigentlich weiß es niemand so genau. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie sie gestorben sein mag. Wann immer eine Figur stirbt, scheint die Geschichte zu Ende zu sein. Die Pointe hier ist, dass Anna am Leben bleibt und damit auch etwas von Eeva.
Haben Sie sich als Kind - so wie Anna es tut - die Identität von Leuten in der Straßenbahn ausgemalt?
Riikka Pulkkinen: Nein, ich lebte als Kind im Norden von Finnland und da gab es keine Straßenbahn. Aber ich habe dieses Spiel als Kind im Bus gespielt! Dieses Imaginieren ist ja etwas, was auch ein Schriftsteller macht. Das hat etwas mit Em¬pathie zu tun, wenn man sich vorstellt, wie es wäre, jemand anders zu sein.
Wie kommt es, dass Ihr Roman so auffällig mit philosophisch-tiefsinnigen Aphorismen und Metaphern durch¬setzt ist?
Riikka Pulkkinen: Ich habe Philosophie, Literatur und Ästhetik in Helsinki studiert. Ich habe Martin Heidegger gelesen, deshalb bin ich so an dem Begriff der Zeit interessiert. Die Heidegger'sche Konzeption von Zeit ist etwas, dessen ich niemals müde werde. Dies war eine starke Erfahrung für mich. Teilweise habe ich Heidegger auch auf Deutsch gelesen. Ich habe ebenso Sören Kier¬kegaard und Emmanuel Levinas gelesen, und man kann in meinem ersten Roman „Raja" einige Spuren ihres Denkens finden. In der Literatur würde ich J. M. Coetzee als einen Lieblingsautor nennen, aber auch Kazuo Ishiguro und Ian McEwan, über den ich literaturwis-senschaftlich gearbeitet habe. Ich bin sehr an Fragen der Erzähltechnik interessiert. Ich kann Freude über jede Art von Lektüre empfinden, aber besonders gern analy¬siere ich ein Buch in seinen Strukturen.
Riikka Pulkkinen: Ich finde nicht, dass Elsa eine Beichte ablegt. Nicht in diesem religiösen Sinn. Sie will ihre Version der Ge¬schichte erzählen und Dinge enthüllen, die für lange Zeit versteckt waren. Ansonsten würde diese Geschichte unerzählt bleiben. Sie ist nun, kurz vor ihrem Tod, ehrlicher zu sich selbst. Wenn wir älter werden, begreifen wir wahrscheinlich, was unsere Geschichte gewesen ist: Wir akzeptieren, dass diese einzigartige Geschichte unsere ist. Ich weiß nicht, ob Elsa wahrhaftig sein möchte, aber sie will, dass die Dinge richtig laufen. Sie schuldet das ihrer Tochter, denn sie weiß, dass Eleonoora glücklicher hätte sein können, wenn sie eher die Wahrheit erfah¬ren hätte. Aber es ihr direkt zu sagen, wäre zu riskant und gefährlich, also erzählt sie es ihrer Enkelin Anna, das fällt ihr leichter.
Warum wählten Sie einen Maler und eine Psychologin als Protagonisten?
Riikka Pulkkinen: Ich suche zuerst Themen aus, die mir zufallen, und dann denke ich über die Perso-nen nach, die dazu passen. Elsa ist sehr gut in ihrem Beruf, doch zugleich blind für die Vorgänge in ihrer eige-nen Familie. Dieser Wider¬spruch ist sehr interessant für mich, deshalb habe ich sie als Psychologin erfunden. Martti war ursprünglich ein Jurist, ein Richter, aber dann beschloss ich, dass er etwas mit Bildern zu tun haben sollte. Dann entwickelte sich die Geschichte mit Eeva und die Frage, ob er sie malen würde oder nicht. Das Künstlerthema ergab sich ganz natürlich daraus.
Zwischen Martti und Eeva entspinnt sich eine sexuelle Beziehung...
Riikka Pulkkinen: Ich habe nicht so sehr über den Ehebruch als solchen nachgedacht. Mich interes-sierte eher, wie Eeva sich in diese Familie einmischt. Und da ergibt sich auch die zerbrechliche Beziehung zwi-schen dem Mädchen und der jungen Frau, die nicht ihre Mutter ist. Sie liebt Ella zu sehr. Es war selbstverständ-lich für mich, dieses Thema der Bindung in dem Roman zu haben. Es sind bestimmte Phasen der Bindung abge-bildet, zum Beispiel, wenn Ella etwas feindselig gegenüber Eeva ist und dann wieder sehr anhänglich.
Es gibt zwei hauptsächliche Zeitebenen, die 60er-Jahre und die Gegenwart. Welche war beim Schreiben zuerst da?
Riikka Pulkkinen: Mein Ausgangspunkt war Eevas Geschichte. Damit ist „Wahr" überhaupt erst in Gang gekommen. Ich wusste bereits vor dem Schreiben, dass ich eine Rahmenhandlung und eine Binnenerzäh-lung haben
wollte. Und ich wollte über Liebe sprechen, so kam zuerst Eeva. Sie versucht, eine moderne Frau, emanzipiert zu sein, aber das funktioniert nicht so richtig.
Anna hat ganz ähnliche Erfahrungen als Kindermädchen wie Eeva gemacht. Daraus erklärt sich auch ihr Inte¬resse an deren Vergangenheit und am Feminismus.
Riikka Pulkkinen: Ja, ich wollte die Analogie zwischen den Erfahrungen von Anna und Eeva betonen, aber es gibt auch Unter¬schiede. Anna erzählt Eevas Geschichte nicht mit ihrer eigenen Stimme; sie findet diese erst am Ende des Bu¬ches. Mir haben manche Leser gesagt, dass sie diesen Zusammenhang nicht sehen. Man kann den Roman auch leicht so lesen, dass Anna und Eeva zwei verschiedene Figuren sind.
Sprechen wir über Martti, den Maler. Ist Eeva die große Liebe seines Lebens?
Riikka Pulkkinen: Nun, es gibt zwei Arten von Liebe in dem Roman - mindestens zwei! Einerseits die verbotene, andererseits die lebenslange Liebe. Sie ist ja auch groß, die größte, die man erleben kann. Sie ist immer da und deshalb wohl schwerer wahrzunehmen. Das Buch handelt von der Anerkennung und Wahrneh-mung von Liebe. Da ist auch Elsas psychologisches Argument, dass Liebe heiße, das eigene Selbst im anderen gespiegelt zu sehen. Wahr¬scheinlich ist die verbotene Liebe etwas, in dem man sich erkennen möchte. Es ist schwerer, sich in der alltägli¬chen Liebe zu finden, leichter, sich mit der Illusion auseinanderzusetzen.
Warum war Elsa so duldsam gegenüber der Tatsache, dass ihr Mann sie mit der Kinderfrau betrügt? Leidet sie nicht darunter?
Riikka Pulkkinen: Natürlich ist sie in gewisser Weise duldsam gewesen, aber ich finde, auch weise. Elsa ist, so schlimm das klingt, auch pragmatisch. Sie erkennt, dass ihre Liebe in ihrer Alltäglichkeit so stark ist, dass sie an ihr festhält. Deswe¬gen hat sie Martti den Ehebruch vergeben. Eine der Sachen, die ich mich beim Schreiben fragte, war: Wie könnte Elsa ihrem Mann vergeben, was vor vielen Jahren passiert ist? Als Elsa dem Tod nahe ist, wird klar, dass sie niemals mehr darüber reden werden. Ich stelle mir vor, dass sie vor langem darüber gesprochen haben - und danach nie wieder. Der Grund für Elsa, dieses Geheimnis zu enthüllen, ist eher, dass sie ihrer Tochter noch etwas schuldet.
Am Ende verschwindet Eeva von der Bildfläche und man erfährt nur, dass sie 1968 gestorben ist. Was ist ihr eigentlich zugestoßen?
Riikka Pulkkinen: Eevas Tod ist etwas, das ich nicht offensichtlich machen wollte. Der Leser soll ent-scheiden, was mit ihr passiert. Eigentlich weiß es niemand so genau. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie sie gestorben sein mag. Wann immer eine Figur stirbt, scheint die Geschichte zu Ende zu sein. Die Pointe hier ist, dass Anna am Leben bleibt und damit auch etwas von Eeva.
Haben Sie sich als Kind - so wie Anna es tut - die Identität von Leuten in der Straßenbahn ausgemalt?
Riikka Pulkkinen: Nein, ich lebte als Kind im Norden von Finnland und da gab es keine Straßenbahn. Aber ich habe dieses Spiel als Kind im Bus gespielt! Dieses Imaginieren ist ja etwas, was auch ein Schriftsteller macht. Das hat etwas mit Em¬pathie zu tun, wenn man sich vorstellt, wie es wäre, jemand anders zu sein.
Wie kommt es, dass Ihr Roman so auffällig mit philosophisch-tiefsinnigen Aphorismen und Metaphern durch¬setzt ist?
Riikka Pulkkinen: Ich habe Philosophie, Literatur und Ästhetik in Helsinki studiert. Ich habe Martin Heidegger gelesen, deshalb bin ich so an dem Begriff der Zeit interessiert. Die Heidegger'sche Konzeption von Zeit ist etwas, dessen ich niemals müde werde. Dies war eine starke Erfahrung für mich. Teilweise habe ich Heidegger auch auf Deutsch gelesen. Ich habe ebenso Sören Kier¬kegaard und Emmanuel Levinas gelesen, und man kann in meinem ersten Roman „Raja" einige Spuren ihres Denkens finden. In der Literatur würde ich J. M. Coetzee als einen Lieblingsautor nennen, aber auch Kazuo Ishiguro und Ian McEwan, über den ich literaturwis-senschaftlich gearbeitet habe. Ich bin sehr an Fragen der Erzähltechnik interessiert. Ich kann Freude über jede Art von Lektüre empfinden, aber besonders gern analy¬siere ich ein Buch in seinen Strukturen.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Riikka Pulkkinen
- 2012, 2. Aufl., 368 Seiten, Maße: 13,9 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Kritzokat, Elina
- Übersetzer: Elina Kritzokat
- Verlag: List
- ISBN-10: 3471350713
- ISBN-13: 9783471350713
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