Warum Klassiker lesen?
Italo Calvino will niemandem einen »Kanon« aufzwingen. Seine Aufsätze über Manzoni, Stendhal, Balzac, Charles Dickens, Mark Twain, Pasternak, Tolstoi und viele andere sind das Produkt einer leidenschaftlichen Lektüre und regen an zu Entdeckungen und...
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Produktinformationen zu „Warum Klassiker lesen? “
Klappentext zu „Warum Klassiker lesen? “
Italo Calvino will niemandem einen »Kanon« aufzwingen. Seine Aufsätze über Manzoni, Stendhal, Balzac, Charles Dickens, Mark Twain, Pasternak, Tolstoi und viele andere sind das Produkt einer leidenschaftlichen Lektüre und regen an zu Entdeckungen und Wiederentdeckungen. Es ist ein Buch, das von persönlichen Erfahrungen mit Büchern erzählt, die Italo Calvino ein Leben lang begleitet haben.»Klassiker sind Bücher, die man vom Hörensagen zu kennen glaubt und umso neuer, unerwarteter und unbekannter findet, wenn man sie zum ersten Mal richtig liest.«
Italo Calvino
Lese-Probe zu „Warum Klassiker lesen? “
Warum Klassiker lesen? von Italo CalvinoWarum Klassiker lesen?
Beginnen wir mit einigen Definitionsvorschlägen.
1. Klassiker sind die Bücher, von denen man üblicherweise sagt: »Ich lese gerade wieder ...« und nie »Ich lese gerade ...« Zumindest geht es den Leuten so, die man für »sehr belesen« hält; es gilt nicht für die Jugend - ein Alter, in dem die Begegnung mit der Welt, und mit den Klassikern als Teil der Welt, ihre Gültigkeit eben aus der Tatsache bezieht, daß sie eine erste Begegnung ist.
Der Ausdruck »wiederlesen« kann eine kleine Heuchelei derer sein, die sich schämen zuzugeben, daß sie ein berühmtes Buch nicht gelesen haben. Um sie zu beruhigen, reicht es anzumerken, daß, so umfangreich die »Bildungslektüre« eines Individuums auch sein mag, immer eine riesige Anzahl grundlegender Werke übrigbleibt, die man nicht gelesen hat.
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Wer den ganzen Herodot oder den ganzen Thukydides gelesen hat, hebe die Hand. Und Saint-Simon? Und den Kardinal von Retz? Aber auch die großen Romanzyklen des 19. Jahrhunderts werden häufiger erwähnt als gelesen. In Frankreich beginnt man Balzac in der Schule zu lesen, und aus der Anzahl der Ausgaben, die im Umlauf sind, könnte man schließen, daß er auch später weiter gelesen wird. Wenn man aber in Italien eine Umfrage durchführen würde, befürchte ich, daß Balzac im Rennen ganz hinten läge. Die Dickens-Liebhaber in Italien sind eine kleine Elite von Leuten, und wenn sie sich begegnen, beginnen sie unverzüglich, sich an Personen und Episoden zu erinnern, als würden sie sie persönlich kennen. Vor einigen Jahren unterrichtete Michel Butor in Amerika und war es überdrüssig, immer nach Emile Zola gefragt zu werden, den er nie gelesen hatte. Daher beschloß er, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen - und entdeckte, daß das Buch ganz anders war, als er es sich vorgestellt hatte: ein wunderbarer mythologischer und kosmogonischer Stammbaum, den er in einem herrlichen Essay beschrieb.
Soviel nur, um zu sagen, daß es ein außerordentliches Vergnügen ist, ein großes Buch in reifem Alter zum ersten Mal zu lesen: anders (aber man könnte nicht sagen besser oder schlechter) als das Lesen in der Jugend. Die Jugend verleiht der Lektüre wie jeder anderen Erfahrung auch einen besonderen Geschmack und eine besondere Bedeutung; während man im reifen Alter eher viele Details, Ebenen und Bedeutungen zu schätzen weiß (oder schätzen sollte). Wir können also diese andere Definition versuchen:
2. Es werden die Bücher Klassiker genannt, die für den, der sie gelesen und geliebt hat, einen Reichtum darstellen - aber sie stellen einen nicht minder großen Reichtum für den dar, der sich das Glück vorbehält, sie zum ersten Mal unter den besten Bedingungen zu lesen, um sie richtig zu genießen. In der Jugend kann das Lesen unergiebig sein - aus Ungeduld, Zerstreutheit, Unkenntnis der Gebrauchsanweisung oder Mangel an Lebenserfahrung. Es kann - vielleicht gleichzeitig - in dem Sinne bildend sein, daß es den zukünftigen Erfahrungen eine Form verleiht, Modelle, Bezugsrahmen, Vergleichsmaßstäbe, Klassifikationsschemata, Wertsysteme und Muster für Schönheit liefert: alles Dinge, die weiterhin wirken, selbst wenn man sich an das in der Jugend gelesene Buch kaum oder gar nicht mehr erinnert. Wenn wir das Buch im reifen Alter erneut lesen, kommt es vor, daß wir diese Konstanten wiederfinden, die inzwischen Teil unserer inneren Mechanismen geworden sind, und manche Werke haben also die besondere Macht, einen Samen zu hinterlassen, auch wenn man sie vergißt. Die Definition, die wir daraus ableiten, klingt dann so:
3. Klassiker sind Bücher, die einen besonderen Einfluß ausüben - sowohl wenn sie sich als unvergeßlich behaupten, als auch wenn sie sich in den Falten der Erinnerung verstecken und sich als kollektiv oder individuell Unbewußtes tarnen. Aus diesem Grund müßte es im Erwachsenenleben eine Zeit geben, die der Wiederbegegnung mit den wichtigsten Leseerfahrungen der Jugendzeit gewidmet ist. Wenn die Bücher auch dieselben geblieben sind (aber auch sie verändern sich im Lichte einer gewandelten historischen Perspektive), so haben wir uns doch gewiß verändert, und die Begegnung ist ein völlig neues Ereignis.
Ob man den Ausdruck »lesen« oder »wieder lesen« benutzt, hat also keine große Bedeutung. Wir könnten daher sagen:
4. Jedes erneute Lesen eines Klassikers wiederholt die Entdekkung der ersten Lektüre. 5. Jede Lektüre eines Klassikers ist in Wirklichkeit ein erneutes Lesen. Definition 4 kann als Anhang der folgenden Definition verstanden werden:
6. Ein Klassiker ist ein Buch, das nie aufhört, das zu sagen, was es zu sagen hat. Während Definition 5 auf eine ausführlichere Formulierung verweist:
7. Klassiker sind jene Bücher, die beladen mit den Spuren aller Leseerfahrungen daherkommen, die unserer vorausgegangen sind, und die hinter sich die Spur herziehen, die sie in der Kultur oder den Kulturen (oder einfach in der Sprache oder in den Bräuchen) hinterlassen haben, durch die sie gegangen sind. Dies gilt sowohl für die alten als auch für die modernen Klassiker. Wenn ich die Odyssee lese, lese ich den Text Homers, kann aber nicht all das vergessen, was Odysseus' Abenteuer über die Jahrhunderte hinweg an Bedeutung erlangt haben, und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob diese Bedeutungen im Text enthalten waren oder Verkrustungen, Verzerrungen und Ausweitungen sind. Lese ich Kafka, komme ich nicht daran vorbei, die Legitimität des Eigenschaftsworts »kafkaesk« zu bestätigen oder abzustreiten, das alle Viertelstunde zu Recht oder zu Unrecht benutzt wird. Wenn ich Väter und Söhne von Turgenjew oder Die Dämonen von Dostojewskij lese, kann ich nicht umhin, daran zu denken, wie sich diese Figuren bis in unsere Tage hinein immer wieder neu verkörpert haben.
Die Lektüre eines Klassikers muß uns im Vergleich zu dem Bild, das wir hatten, Überraschungen bieten. Deswegen kann man nie genug die direkte Lektüre der Ursprungstexte unter weitestmöglicher Umgehung aller kritischen Bibliographien, Kommentare und Interpretationen anraten. Schule und Universität müßten dazu da sein, verständlich zu machen, daß kein Buch, das von einem anderen Buch spricht, mehr aussagt als das Buch selbst; statt dessen tun sie aber alles, um das Gegenteil zu vermitteln. Es besteht eine sehr verbreitete Umkehrung der Werte: die Einleitung, der kritische Apparat, die Bibliographie werden als Rauchwand benutzt, um das zu verstecken, was der Text zu sagen hat - und was er nur sagen kann, wenn man ihn ohne Vermittler sprechen läßt, die vorgeben, mehr von ihm zu verstehen. Wir können daraus schließen:
8. Ein Klassiker ist ein Buch, das unablässig eine Staubwolke kritischer Reden über sich selbst hervorruft, diese aber auch unablässig wieder abschüttelt. Nicht unbedingt bringt uns ein Klassiker etwas bei, was wir noch nicht wußten; manchmal entdecken wir darin etwas, das wir immer gewußt (oder zu wissen geglaubt) hatten, von dem wir aber nicht wußten, daß er es als erster gesagt hatte (oder daß es jedenfalls besonders mit ihm in Verbindung gebracht wird). Auch dies ist eine Überraschung, die große Befriedigung mit sich bringt, wie immer die Entdeckung eines Ursprungs, einer Beziehung, einer Zugehörigkeit. Aus all dem könnten wir eine Definition wie die folgende ableiten:
9. Klassiker sind Bücher, die, je mehr man sie vom Hörensagen zu kennen glaubt, um so neuer, unerwarteter und unbekannter findet, wenn man sie zum ersten Mal richtig liest. Natürlich passiert dies, wenn ein Klassiker als solcher funktioniert, das heißt, eine persönliche Verbindung zu dem herstellt, der ihn liest. Wenn der Funke nicht überspringt, ist nichts zu machen: die Klassiker liest man nicht aus Pflicht oder Respekt, sondern nur aus Liebe. Außer in der Schule: die Schule muß dich wohl oder übel mit einer gewissen Anzahl von Klassikern bekannt machen, unter denen (oder in Bezug zu denen) du dann deine Klassiker erkennen kannst. Die Schule ist gehalten, dir die Werkzeuge für diese Wahl an die Hand zu geben; aber die Entscheidungen, die zählen, finden außerhalb und nach jeder Schule statt.
Nur wenn deine Lektüre unparteiisch ist, kannst du auf das Buch stoßen, das dann dein Buch wird. Ich kenne einen hervorragenden Kunsthistoriker, einen sehr belesenen Mann, der von allen Büchern eine besondere, tiefe Vorliebe für die Pickwickier hegt und in jedem Zusammenhang aus Dickens' Buch zitiert und jede Begebenheit des Lebens mit pickwickianischen Episoden assoziiert. Nach und nach haben er selbst, das Universum und die wahre Philosophie in einer absoluten Identifikation die Gestalt des Pickwick-Clubs angenommen. Auf diesem Weg gelangen wir zu einer sehr hohen und anspruchsvollen Vorstellung vom Klassiker:
10. Klassiker nennt sich ein Buch, das sich, wie früher die Talismane, als Gegenstück des Universums gestaltet. Mit dieser Definition nähern wir uns der Vorstellung vom absoluten Buch, wie Mallarmé es sich ausmalte. Aber genausogut kann ein Klassiker einen starken Widerstand, eine Antithese hervorrufen. Alles, was Jean-Jacques Rousseau denkt und tut, liegt mir am Herzen, weckt in mir aber auch den unbezähmbaren Wunsch, ihm zu widersprechen, mit ihm zu streiten. Das hat mit der persönlichen Antipathie auf der Ebene des Temperaments zu tun, aber wenn es nur darum ginge, bräuchte ich ihn bloß nicht zu lesen - statt dessen kann ich aber nicht umhin, ihn zu meinen Schriftstellern zu zählen. Ich werde also sagen:
11. Dein Klassiker ist der, der dir nicht gleichgültig sein kann und der dir dazu dient, dich in Bezug oder im Gegensatz zu ihm zu definieren. 12. Ich glaube, mich nicht rechtfertigen zu müssen, wenn ich den Begriff »Klassiker« verwende, ohne Unterschiede der Zeit, des Stils, der Autorität zu machen. In meiner Beschreibung zeichnet sich der Klassiker vielleicht nur durch einen Resonanzeffekt aus, der sowohl für ein altes wie auch für ein modernes Werk gilt, das bereits seinen Platz in einer kulturellen Kontinuität gefunden hat. Wir könnten sagen:
12. Ein Klassiker ist ein Buch, das vor anderen Klassikern kommt; wer aber erst die anderen gelesen hat, bevor er dieses lesen konnte, erkennt seinen Platz in der Ahnenreihe sofort. An diesem Punkt angelangt, kann ich das entscheidende Problem, wie die Lektüre der Klassiker in Bezug zu setzen ist zu der aller anderen Werke, die keine Klassiker sind, nicht länger vor mir herschieben. Ein Problem, das sich mit solchen Fragen verbindet wie: »Warum die Klassiker lesen, anstatt uns auf Lesestoff zu konzentrieren, der uns ein tieferes Verständnis unserer Zeit eröffnet?« und »Woher die Zeit und die Muße zur Lektüre der Klassiker nehmen, so wie wir von der Flut bedruckten Papiers zu aktuellen Problemen überschwemmt sind?«
Sicherlich kann man sich einen glücklichen Menschen vorstellen, der die »Lesezeit« seiner Tage ausschließlich der Lektüre von Lukret, Lukian, Montaigne, Erasmus, Quevedo, Marlowe, des Discours de la méthode, des Wilhelm Meister, von Coleridge, Ruskin, Proust und Valéry widmet, mit einigen Abschweifungen zu Muraski oder den isländischen Sagas. All dies, ohne Rezensionen der letzten Neuauflage zu Papier bringen zu müssen, noch Publikationen für die Bewerbung um einen Lehrstuhl, noch Verlagsarbeiten für eine in Kürze anstehende Vertragserfüllung. Um seine Diät ohne jegliche Belastung fortzusetzen, müßte dieser glückliche Mensch sich der Zeitungslektüre enthalten, sich nicht im geringsten vom neuesten Roman oder von der letzten soziologischen Umfrage verlocken lassen. Es sei dahingestellt, wie richtig und ergiebig eine solche Sittenstrenge wäre. Die Aktualität mag banal und demütigend sein, sie bleibt aber immer ein Punkt, der unsere Lage bestimmt, von dem wir vorwärts oder rückwärts schauen. Um die Klassiker zu lesen, muß man wohl festlegen, »von wo aus« man sie liest, sonst verlieren sich das Buch und der Leser in einer zeitlosen Wolke. So stellt sich also heraus, daß die Lektüre der Klassiker für den am »ergiebigsten« ist, der es versteht, sie fein dosiert mit aktueller Lektüre abzuwechseln. Und das setzt nicht unbedingt eine ausgewogene innere Ruhe voraus: es kann auch das Ergebnis einer ungeduldigen Nervosität, einer schnaubenden Unzufriedenheit sein.
Vielleicht wäre es ideal, die Aktualität als Rauschen vor dem Fenster zu hören, das uns Verkehrsstaus und Wetterumschwünge anzeigt, während wir der Rede der Klassiker folgen, die klar und deutlich im Zimmer erklingt. Aber es ist schon viel, wenn die meisten die Präsenz der Klassiker als einen entfernten Donner empfinden, außerhalb des Zimmers, das von der Aktualität überflutet wird, zum Beispiel von dem voll aufgedrehten Fernseher. Fügen wir also folgendes hinzu:
13. Es ist das klassisch, was dazu neigt, die Aktualität auf den Rang eines Hintergrundgeräusches zu verweisen, aber gleichzeitig auf dieses Hintergrundgeräusch nicht verzichten kann. 14. Es ist das klassisch, was als Hintergrundgeräusch auch dort bestehen bleibt, wo die unverträglichste Aktualität den Ton angibt. Bleibt die Tatsache, daß das Lesen der Klassiker im Gegensatz zu unserem Lebensrhythmus steht, der keine langen Zeiträume und nicht das Raumgefühl des humanistischen otium kennt; und ebenfalls im Gegensatz zum Eklektizismus unserer Kultur, die nicht imstande wäre, einen für uns brauchbaren Katalog der Klassizität aufzustellen.
Dies waren die Bedingungen, die von Leopardi voll und ganz erfüllt wurden: sein Leben unter dem väterlichen Dach, der Kult der griechischen und lateinischen Antike und die erlesene Bibliothek, die ihm sein Vater Monaldo hinterließ, vervollständigt mit der kompletten italienischen Literatur, zudem der französischen - außer den Romanen und überhaupt den verlegerischen Neuigkeiten, die höchstens am Rande zum Trost der Schwester (»Dein Stendhal«, schrieb er an Paolina) von Interesse waren. Auch seine lebhafte Neugier für Wissenschaft und Geschichte befriedigte Giacomo an Texten, die nie übermäßig up to date waren: die Vogelkostüme bei Buffon, die Mumien von Friedrich Ruysch bei Fontenelle, die Reise des Kolumbus bei Robertson.
Heute ist eine klassische Erziehung wie die des jungen Leopardi unmöglich, und vor allem ist die Bibliothek des Grafen Monaldo mittlerweile explodiert. Die alten Titel sind dezimiert, aber die neuen haben sich vervielfacht bis in alle modernen Literaturen und Kulturen hinein. Uns bleibt nur, jeder für sich eine ideale Bibliothek unserer Klassiker zu erfinden; und ich würde sagen, daß sie zur Hälfte Bücher enthalten müßte, die wir gelesen haben und die wichtig für uns sind, und zur anderen Hälfte Bücher, die wir uns zu lesen vornahmen und von denen wir annehmen, daß sie für uns wichtig sein könnten. Und lassen wir dann noch etwas Raum für Überraschungen und Gelegenheitsentdeckungen.
Ich merke gerade, daß Leopardi der einzige Name der italienischen Literatur ist, den ich zitiert habe. Ein Effekt der Bibliotheksexplosion. Jetzt müßte ich den ganzen Artikel noch mal von vorn schreiben und ganz klar herausstellen, daß die Klassiker dazu dienen, zu verstehen, wer wir sind und wo wir stehen - und daher sind die Italiener lebensnotwendig, um sie mit den Ausländern zu vergleichen, und die Ausländer sind unerläßlich, um sie mit den Italienern zu vergleichen.
Dann müßte ich ihn nochmals neu schreiben, damit man ja nicht glaubt, die Klassiker müßten gelesen werden, weil sie zu etwas »nützen«. Der einzige Grund, den man anführen kann, ist der, daß es besser ist, die Klassiker zu lesen, als sie nicht zu lesen.
Und wenn mir jemand entgegenhält, daß es sich nicht lohnt, sich so anzustrengen, zitiere ich Cioran (der bisher kein Klassiker ist, aber einer werden wird): »Während der Schierlingsbecher bereitet wurde, übte Sokrates ein Lied auf der Flöte. ›Zu was nutzt Dir das?‹ wurde er gefragt. ›Dazu, dieses Lied zu können, bevor ich sterbe.‹«
Die Odysseen in der Odyssee
Wie viele Odysseen enthält die Odyssee? Zu Beginn der Dichtung ist die Telemachie eine Suche nach einer Erzählung, die es nicht gibt, nach einer Erzählung, die die Odyssee sein wird. Der Hofsänger von Ithaka kennt bereits die »nostoi« der anderen Helden; es fehlt ihm nur eine, die seines Königs; deswegen will Penelope seinen Gesang nicht hören. Und Telemachos bricht zu den Veteranen des trojanischen Kriegs auf, um nach dieser Erzählung zu suchen - wenn er sie findet, wird Ithaka aus seiner formlosen Situation ohne Zeit und Gesetz befreit, in der es sich seit so vielen Jahren befindet.
Wie alle Veteranen haben auch Nestor und Menelaos viel zu erzählen - aber nicht die Erzählung, nach der Telemachos sucht. Bis Menelaos mit einem phantastischen Abenteuer aufwartet: als Robbe verkleidet, fing er den »Alten des Meeres«, also Proteus mit den tausend Metamorphosen, und zwang ihn, ihm Vergangenheit und Zukunft zu erzählen. Sicherlich kannte Proteus die Odyssee bereits haarklein: er beginnt mit der Erzählung der Taten Odysseus' am gleichen Punkt, wo auch Homer ansetzt, nämlich beim Aufenthalt des Helden auf der Insel Kalypso; dann unterbricht er sich. Jetzt kann Homer ihn ablösen und mit der Erzählung fortfahren.
Am Hofe der Phäaken angelangt, lauscht Odysseus einem blinden Dichter wie Homer, der die Taten Odysseus' besingt; der Held bricht in Tränen aus; dann entschließt er sich, seinerseits zu erzählen. In dieser seiner Erzählung gelangt er bis in den Hades und befragt Tiresias, und Tiresias erzählt ihm die Fortsetzung seiner Geschichte. Dann begegnet Odysseus den Sirenen, die singen; was singen sie? Wieder die Odyssee, vielleicht gleich der, die wir gerade lesen, vielleicht ganz anders. Diese Heimkehr- Erzählung ist etwas, das bereits da ist, bevor es sich vollendet hat: es existiert vor der eigenen Umsetzung in die Tat. Bereits in der Telemachie begegnen wir den Ausdrücken »die Heimkehr sinnen«, »die Heimkehr sagen«. Zeus »sann noch nicht die Heimkehr« der Atriden (III, 160); Menelaos verlangt von Proteus' Tochter, daß sie ihm »die Heimkehr sage« (IV, 379), und sie erklärt ihm, wie er ihren Vater dazu zwingen kann, es ihm zu enthüllen (390), wonach der Atride imstande ist, Proteus einzufangen und ihn zu fragen: »Sage du mir die Heimkehr über das fischreiche Meer« (470).
Die Heimkehr muß erkannt und gedacht und erinnert werden: die Gefahr ist es, daß sie vergessen werden könnte, bevor sie geschehen ist. Eine der ersten Etappen der von Odysseus erzählten Reise, der Aufenthalt bei den Lotophagen, birgt das Risiko in sich, nach dem Genuß des süßen Lotos das Gedächtnis zu verlieren. Es mag seltsam erscheinen, daß die Prüfung des Vergessens am Beginn von Odysseus' Reise auftaucht und nicht an deren Ende. Wenn Odysseus alles vergessen hätte, nachdem er so viele Prüfungen bestanden, so viele Widrigkeiten ertragen und so viele Lektionen gelernt hat, wäre sein Verlust viel schmerzhafter gewesen: keinerlei Erfahrung aus seinen Leiden, keinen Sinn aus dem Erlebten zu schöpfen.
Aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß die Gefahr des Gedächtnisverlustes in den Gesängen IX bis XII noch mehrfach auftaucht: erst mit der Einladung der Lotophagen, dann mit den Zaubermitteln Circes, dann erneut mit dem Gesang der Sirenen. Jedesmal muß sich Odysseus davor schützen, wenn er nicht auf der Stelle vergessen will ... Was vergessen? Den trojanischen Krieg? Die Belagerung? Das Pferd? Nein: das Haus, die Navigationsroute, den Zweck der Reise. In diesen Fällen verwendet Homer den Ausdruck »der Heimkehr vergessen«.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wer den ganzen Herodot oder den ganzen Thukydides gelesen hat, hebe die Hand. Und Saint-Simon? Und den Kardinal von Retz? Aber auch die großen Romanzyklen des 19. Jahrhunderts werden häufiger erwähnt als gelesen. In Frankreich beginnt man Balzac in der Schule zu lesen, und aus der Anzahl der Ausgaben, die im Umlauf sind, könnte man schließen, daß er auch später weiter gelesen wird. Wenn man aber in Italien eine Umfrage durchführen würde, befürchte ich, daß Balzac im Rennen ganz hinten läge. Die Dickens-Liebhaber in Italien sind eine kleine Elite von Leuten, und wenn sie sich begegnen, beginnen sie unverzüglich, sich an Personen und Episoden zu erinnern, als würden sie sie persönlich kennen. Vor einigen Jahren unterrichtete Michel Butor in Amerika und war es überdrüssig, immer nach Emile Zola gefragt zu werden, den er nie gelesen hatte. Daher beschloß er, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen - und entdeckte, daß das Buch ganz anders war, als er es sich vorgestellt hatte: ein wunderbarer mythologischer und kosmogonischer Stammbaum, den er in einem herrlichen Essay beschrieb.
Soviel nur, um zu sagen, daß es ein außerordentliches Vergnügen ist, ein großes Buch in reifem Alter zum ersten Mal zu lesen: anders (aber man könnte nicht sagen besser oder schlechter) als das Lesen in der Jugend. Die Jugend verleiht der Lektüre wie jeder anderen Erfahrung auch einen besonderen Geschmack und eine besondere Bedeutung; während man im reifen Alter eher viele Details, Ebenen und Bedeutungen zu schätzen weiß (oder schätzen sollte). Wir können also diese andere Definition versuchen:
2. Es werden die Bücher Klassiker genannt, die für den, der sie gelesen und geliebt hat, einen Reichtum darstellen - aber sie stellen einen nicht minder großen Reichtum für den dar, der sich das Glück vorbehält, sie zum ersten Mal unter den besten Bedingungen zu lesen, um sie richtig zu genießen. In der Jugend kann das Lesen unergiebig sein - aus Ungeduld, Zerstreutheit, Unkenntnis der Gebrauchsanweisung oder Mangel an Lebenserfahrung. Es kann - vielleicht gleichzeitig - in dem Sinne bildend sein, daß es den zukünftigen Erfahrungen eine Form verleiht, Modelle, Bezugsrahmen, Vergleichsmaßstäbe, Klassifikationsschemata, Wertsysteme und Muster für Schönheit liefert: alles Dinge, die weiterhin wirken, selbst wenn man sich an das in der Jugend gelesene Buch kaum oder gar nicht mehr erinnert. Wenn wir das Buch im reifen Alter erneut lesen, kommt es vor, daß wir diese Konstanten wiederfinden, die inzwischen Teil unserer inneren Mechanismen geworden sind, und manche Werke haben also die besondere Macht, einen Samen zu hinterlassen, auch wenn man sie vergißt. Die Definition, die wir daraus ableiten, klingt dann so:
3. Klassiker sind Bücher, die einen besonderen Einfluß ausüben - sowohl wenn sie sich als unvergeßlich behaupten, als auch wenn sie sich in den Falten der Erinnerung verstecken und sich als kollektiv oder individuell Unbewußtes tarnen. Aus diesem Grund müßte es im Erwachsenenleben eine Zeit geben, die der Wiederbegegnung mit den wichtigsten Leseerfahrungen der Jugendzeit gewidmet ist. Wenn die Bücher auch dieselben geblieben sind (aber auch sie verändern sich im Lichte einer gewandelten historischen Perspektive), so haben wir uns doch gewiß verändert, und die Begegnung ist ein völlig neues Ereignis.
Ob man den Ausdruck »lesen« oder »wieder lesen« benutzt, hat also keine große Bedeutung. Wir könnten daher sagen:
4. Jedes erneute Lesen eines Klassikers wiederholt die Entdekkung der ersten Lektüre. 5. Jede Lektüre eines Klassikers ist in Wirklichkeit ein erneutes Lesen. Definition 4 kann als Anhang der folgenden Definition verstanden werden:
6. Ein Klassiker ist ein Buch, das nie aufhört, das zu sagen, was es zu sagen hat. Während Definition 5 auf eine ausführlichere Formulierung verweist:
7. Klassiker sind jene Bücher, die beladen mit den Spuren aller Leseerfahrungen daherkommen, die unserer vorausgegangen sind, und die hinter sich die Spur herziehen, die sie in der Kultur oder den Kulturen (oder einfach in der Sprache oder in den Bräuchen) hinterlassen haben, durch die sie gegangen sind. Dies gilt sowohl für die alten als auch für die modernen Klassiker. Wenn ich die Odyssee lese, lese ich den Text Homers, kann aber nicht all das vergessen, was Odysseus' Abenteuer über die Jahrhunderte hinweg an Bedeutung erlangt haben, und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob diese Bedeutungen im Text enthalten waren oder Verkrustungen, Verzerrungen und Ausweitungen sind. Lese ich Kafka, komme ich nicht daran vorbei, die Legitimität des Eigenschaftsworts »kafkaesk« zu bestätigen oder abzustreiten, das alle Viertelstunde zu Recht oder zu Unrecht benutzt wird. Wenn ich Väter und Söhne von Turgenjew oder Die Dämonen von Dostojewskij lese, kann ich nicht umhin, daran zu denken, wie sich diese Figuren bis in unsere Tage hinein immer wieder neu verkörpert haben.
Die Lektüre eines Klassikers muß uns im Vergleich zu dem Bild, das wir hatten, Überraschungen bieten. Deswegen kann man nie genug die direkte Lektüre der Ursprungstexte unter weitestmöglicher Umgehung aller kritischen Bibliographien, Kommentare und Interpretationen anraten. Schule und Universität müßten dazu da sein, verständlich zu machen, daß kein Buch, das von einem anderen Buch spricht, mehr aussagt als das Buch selbst; statt dessen tun sie aber alles, um das Gegenteil zu vermitteln. Es besteht eine sehr verbreitete Umkehrung der Werte: die Einleitung, der kritische Apparat, die Bibliographie werden als Rauchwand benutzt, um das zu verstecken, was der Text zu sagen hat - und was er nur sagen kann, wenn man ihn ohne Vermittler sprechen läßt, die vorgeben, mehr von ihm zu verstehen. Wir können daraus schließen:
8. Ein Klassiker ist ein Buch, das unablässig eine Staubwolke kritischer Reden über sich selbst hervorruft, diese aber auch unablässig wieder abschüttelt. Nicht unbedingt bringt uns ein Klassiker etwas bei, was wir noch nicht wußten; manchmal entdecken wir darin etwas, das wir immer gewußt (oder zu wissen geglaubt) hatten, von dem wir aber nicht wußten, daß er es als erster gesagt hatte (oder daß es jedenfalls besonders mit ihm in Verbindung gebracht wird). Auch dies ist eine Überraschung, die große Befriedigung mit sich bringt, wie immer die Entdeckung eines Ursprungs, einer Beziehung, einer Zugehörigkeit. Aus all dem könnten wir eine Definition wie die folgende ableiten:
9. Klassiker sind Bücher, die, je mehr man sie vom Hörensagen zu kennen glaubt, um so neuer, unerwarteter und unbekannter findet, wenn man sie zum ersten Mal richtig liest. Natürlich passiert dies, wenn ein Klassiker als solcher funktioniert, das heißt, eine persönliche Verbindung zu dem herstellt, der ihn liest. Wenn der Funke nicht überspringt, ist nichts zu machen: die Klassiker liest man nicht aus Pflicht oder Respekt, sondern nur aus Liebe. Außer in der Schule: die Schule muß dich wohl oder übel mit einer gewissen Anzahl von Klassikern bekannt machen, unter denen (oder in Bezug zu denen) du dann deine Klassiker erkennen kannst. Die Schule ist gehalten, dir die Werkzeuge für diese Wahl an die Hand zu geben; aber die Entscheidungen, die zählen, finden außerhalb und nach jeder Schule statt.
Nur wenn deine Lektüre unparteiisch ist, kannst du auf das Buch stoßen, das dann dein Buch wird. Ich kenne einen hervorragenden Kunsthistoriker, einen sehr belesenen Mann, der von allen Büchern eine besondere, tiefe Vorliebe für die Pickwickier hegt und in jedem Zusammenhang aus Dickens' Buch zitiert und jede Begebenheit des Lebens mit pickwickianischen Episoden assoziiert. Nach und nach haben er selbst, das Universum und die wahre Philosophie in einer absoluten Identifikation die Gestalt des Pickwick-Clubs angenommen. Auf diesem Weg gelangen wir zu einer sehr hohen und anspruchsvollen Vorstellung vom Klassiker:
10. Klassiker nennt sich ein Buch, das sich, wie früher die Talismane, als Gegenstück des Universums gestaltet. Mit dieser Definition nähern wir uns der Vorstellung vom absoluten Buch, wie Mallarmé es sich ausmalte. Aber genausogut kann ein Klassiker einen starken Widerstand, eine Antithese hervorrufen. Alles, was Jean-Jacques Rousseau denkt und tut, liegt mir am Herzen, weckt in mir aber auch den unbezähmbaren Wunsch, ihm zu widersprechen, mit ihm zu streiten. Das hat mit der persönlichen Antipathie auf der Ebene des Temperaments zu tun, aber wenn es nur darum ginge, bräuchte ich ihn bloß nicht zu lesen - statt dessen kann ich aber nicht umhin, ihn zu meinen Schriftstellern zu zählen. Ich werde also sagen:
11. Dein Klassiker ist der, der dir nicht gleichgültig sein kann und der dir dazu dient, dich in Bezug oder im Gegensatz zu ihm zu definieren. 12. Ich glaube, mich nicht rechtfertigen zu müssen, wenn ich den Begriff »Klassiker« verwende, ohne Unterschiede der Zeit, des Stils, der Autorität zu machen. In meiner Beschreibung zeichnet sich der Klassiker vielleicht nur durch einen Resonanzeffekt aus, der sowohl für ein altes wie auch für ein modernes Werk gilt, das bereits seinen Platz in einer kulturellen Kontinuität gefunden hat. Wir könnten sagen:
12. Ein Klassiker ist ein Buch, das vor anderen Klassikern kommt; wer aber erst die anderen gelesen hat, bevor er dieses lesen konnte, erkennt seinen Platz in der Ahnenreihe sofort. An diesem Punkt angelangt, kann ich das entscheidende Problem, wie die Lektüre der Klassiker in Bezug zu setzen ist zu der aller anderen Werke, die keine Klassiker sind, nicht länger vor mir herschieben. Ein Problem, das sich mit solchen Fragen verbindet wie: »Warum die Klassiker lesen, anstatt uns auf Lesestoff zu konzentrieren, der uns ein tieferes Verständnis unserer Zeit eröffnet?« und »Woher die Zeit und die Muße zur Lektüre der Klassiker nehmen, so wie wir von der Flut bedruckten Papiers zu aktuellen Problemen überschwemmt sind?«
Sicherlich kann man sich einen glücklichen Menschen vorstellen, der die »Lesezeit« seiner Tage ausschließlich der Lektüre von Lukret, Lukian, Montaigne, Erasmus, Quevedo, Marlowe, des Discours de la méthode, des Wilhelm Meister, von Coleridge, Ruskin, Proust und Valéry widmet, mit einigen Abschweifungen zu Muraski oder den isländischen Sagas. All dies, ohne Rezensionen der letzten Neuauflage zu Papier bringen zu müssen, noch Publikationen für die Bewerbung um einen Lehrstuhl, noch Verlagsarbeiten für eine in Kürze anstehende Vertragserfüllung. Um seine Diät ohne jegliche Belastung fortzusetzen, müßte dieser glückliche Mensch sich der Zeitungslektüre enthalten, sich nicht im geringsten vom neuesten Roman oder von der letzten soziologischen Umfrage verlocken lassen. Es sei dahingestellt, wie richtig und ergiebig eine solche Sittenstrenge wäre. Die Aktualität mag banal und demütigend sein, sie bleibt aber immer ein Punkt, der unsere Lage bestimmt, von dem wir vorwärts oder rückwärts schauen. Um die Klassiker zu lesen, muß man wohl festlegen, »von wo aus« man sie liest, sonst verlieren sich das Buch und der Leser in einer zeitlosen Wolke. So stellt sich also heraus, daß die Lektüre der Klassiker für den am »ergiebigsten« ist, der es versteht, sie fein dosiert mit aktueller Lektüre abzuwechseln. Und das setzt nicht unbedingt eine ausgewogene innere Ruhe voraus: es kann auch das Ergebnis einer ungeduldigen Nervosität, einer schnaubenden Unzufriedenheit sein.
Vielleicht wäre es ideal, die Aktualität als Rauschen vor dem Fenster zu hören, das uns Verkehrsstaus und Wetterumschwünge anzeigt, während wir der Rede der Klassiker folgen, die klar und deutlich im Zimmer erklingt. Aber es ist schon viel, wenn die meisten die Präsenz der Klassiker als einen entfernten Donner empfinden, außerhalb des Zimmers, das von der Aktualität überflutet wird, zum Beispiel von dem voll aufgedrehten Fernseher. Fügen wir also folgendes hinzu:
13. Es ist das klassisch, was dazu neigt, die Aktualität auf den Rang eines Hintergrundgeräusches zu verweisen, aber gleichzeitig auf dieses Hintergrundgeräusch nicht verzichten kann. 14. Es ist das klassisch, was als Hintergrundgeräusch auch dort bestehen bleibt, wo die unverträglichste Aktualität den Ton angibt. Bleibt die Tatsache, daß das Lesen der Klassiker im Gegensatz zu unserem Lebensrhythmus steht, der keine langen Zeiträume und nicht das Raumgefühl des humanistischen otium kennt; und ebenfalls im Gegensatz zum Eklektizismus unserer Kultur, die nicht imstande wäre, einen für uns brauchbaren Katalog der Klassizität aufzustellen.
Dies waren die Bedingungen, die von Leopardi voll und ganz erfüllt wurden: sein Leben unter dem väterlichen Dach, der Kult der griechischen und lateinischen Antike und die erlesene Bibliothek, die ihm sein Vater Monaldo hinterließ, vervollständigt mit der kompletten italienischen Literatur, zudem der französischen - außer den Romanen und überhaupt den verlegerischen Neuigkeiten, die höchstens am Rande zum Trost der Schwester (»Dein Stendhal«, schrieb er an Paolina) von Interesse waren. Auch seine lebhafte Neugier für Wissenschaft und Geschichte befriedigte Giacomo an Texten, die nie übermäßig up to date waren: die Vogelkostüme bei Buffon, die Mumien von Friedrich Ruysch bei Fontenelle, die Reise des Kolumbus bei Robertson.
Heute ist eine klassische Erziehung wie die des jungen Leopardi unmöglich, und vor allem ist die Bibliothek des Grafen Monaldo mittlerweile explodiert. Die alten Titel sind dezimiert, aber die neuen haben sich vervielfacht bis in alle modernen Literaturen und Kulturen hinein. Uns bleibt nur, jeder für sich eine ideale Bibliothek unserer Klassiker zu erfinden; und ich würde sagen, daß sie zur Hälfte Bücher enthalten müßte, die wir gelesen haben und die wichtig für uns sind, und zur anderen Hälfte Bücher, die wir uns zu lesen vornahmen und von denen wir annehmen, daß sie für uns wichtig sein könnten. Und lassen wir dann noch etwas Raum für Überraschungen und Gelegenheitsentdeckungen.
Ich merke gerade, daß Leopardi der einzige Name der italienischen Literatur ist, den ich zitiert habe. Ein Effekt der Bibliotheksexplosion. Jetzt müßte ich den ganzen Artikel noch mal von vorn schreiben und ganz klar herausstellen, daß die Klassiker dazu dienen, zu verstehen, wer wir sind und wo wir stehen - und daher sind die Italiener lebensnotwendig, um sie mit den Ausländern zu vergleichen, und die Ausländer sind unerläßlich, um sie mit den Italienern zu vergleichen.
Dann müßte ich ihn nochmals neu schreiben, damit man ja nicht glaubt, die Klassiker müßten gelesen werden, weil sie zu etwas »nützen«. Der einzige Grund, den man anführen kann, ist der, daß es besser ist, die Klassiker zu lesen, als sie nicht zu lesen.
Und wenn mir jemand entgegenhält, daß es sich nicht lohnt, sich so anzustrengen, zitiere ich Cioran (der bisher kein Klassiker ist, aber einer werden wird): »Während der Schierlingsbecher bereitet wurde, übte Sokrates ein Lied auf der Flöte. ›Zu was nutzt Dir das?‹ wurde er gefragt. ›Dazu, dieses Lied zu können, bevor ich sterbe.‹«
Die Odysseen in der Odyssee
Wie viele Odysseen enthält die Odyssee? Zu Beginn der Dichtung ist die Telemachie eine Suche nach einer Erzählung, die es nicht gibt, nach einer Erzählung, die die Odyssee sein wird. Der Hofsänger von Ithaka kennt bereits die »nostoi« der anderen Helden; es fehlt ihm nur eine, die seines Königs; deswegen will Penelope seinen Gesang nicht hören. Und Telemachos bricht zu den Veteranen des trojanischen Kriegs auf, um nach dieser Erzählung zu suchen - wenn er sie findet, wird Ithaka aus seiner formlosen Situation ohne Zeit und Gesetz befreit, in der es sich seit so vielen Jahren befindet.
Wie alle Veteranen haben auch Nestor und Menelaos viel zu erzählen - aber nicht die Erzählung, nach der Telemachos sucht. Bis Menelaos mit einem phantastischen Abenteuer aufwartet: als Robbe verkleidet, fing er den »Alten des Meeres«, also Proteus mit den tausend Metamorphosen, und zwang ihn, ihm Vergangenheit und Zukunft zu erzählen. Sicherlich kannte Proteus die Odyssee bereits haarklein: er beginnt mit der Erzählung der Taten Odysseus' am gleichen Punkt, wo auch Homer ansetzt, nämlich beim Aufenthalt des Helden auf der Insel Kalypso; dann unterbricht er sich. Jetzt kann Homer ihn ablösen und mit der Erzählung fortfahren.
Am Hofe der Phäaken angelangt, lauscht Odysseus einem blinden Dichter wie Homer, der die Taten Odysseus' besingt; der Held bricht in Tränen aus; dann entschließt er sich, seinerseits zu erzählen. In dieser seiner Erzählung gelangt er bis in den Hades und befragt Tiresias, und Tiresias erzählt ihm die Fortsetzung seiner Geschichte. Dann begegnet Odysseus den Sirenen, die singen; was singen sie? Wieder die Odyssee, vielleicht gleich der, die wir gerade lesen, vielleicht ganz anders. Diese Heimkehr- Erzählung ist etwas, das bereits da ist, bevor es sich vollendet hat: es existiert vor der eigenen Umsetzung in die Tat. Bereits in der Telemachie begegnen wir den Ausdrücken »die Heimkehr sinnen«, »die Heimkehr sagen«. Zeus »sann noch nicht die Heimkehr« der Atriden (III, 160); Menelaos verlangt von Proteus' Tochter, daß sie ihm »die Heimkehr sage« (IV, 379), und sie erklärt ihm, wie er ihren Vater dazu zwingen kann, es ihm zu enthüllen (390), wonach der Atride imstande ist, Proteus einzufangen und ihn zu fragen: »Sage du mir die Heimkehr über das fischreiche Meer« (470).
Die Heimkehr muß erkannt und gedacht und erinnert werden: die Gefahr ist es, daß sie vergessen werden könnte, bevor sie geschehen ist. Eine der ersten Etappen der von Odysseus erzählten Reise, der Aufenthalt bei den Lotophagen, birgt das Risiko in sich, nach dem Genuß des süßen Lotos das Gedächtnis zu verlieren. Es mag seltsam erscheinen, daß die Prüfung des Vergessens am Beginn von Odysseus' Reise auftaucht und nicht an deren Ende. Wenn Odysseus alles vergessen hätte, nachdem er so viele Prüfungen bestanden, so viele Widrigkeiten ertragen und so viele Lektionen gelernt hat, wäre sein Verlust viel schmerzhafter gewesen: keinerlei Erfahrung aus seinen Leiden, keinen Sinn aus dem Erlebten zu schöpfen.
Aber bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß die Gefahr des Gedächtnisverlustes in den Gesängen IX bis XII noch mehrfach auftaucht: erst mit der Einladung der Lotophagen, dann mit den Zaubermitteln Circes, dann erneut mit dem Gesang der Sirenen. Jedesmal muß sich Odysseus davor schützen, wenn er nicht auf der Stelle vergessen will ... Was vergessen? Den trojanischen Krieg? Die Belagerung? Das Pferd? Nein: das Haus, die Navigationsroute, den Zweck der Reise. In diesen Fällen verwendet Homer den Ausdruck »der Heimkehr vergessen«.
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Autoren-Porträt von Italo Calvino
Italo Calvino, am 15. Oktober 1923 in Santiago de las Vegas auf Kuba geboren, wuchs in San Remo auf. Er arbeitete mehrere Jahre als Lektor des Verlages Einaudi und als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in alle Weltsprachen übersetzt. Italo Calvino starb am 19. September 1985 in Siena. Seine Romane, Erzählungen und Essays sind im Carl Hanser Verlag und im Fischer Taschenbuch erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Italo Calvino
- 2013, 1. Auflage, 320 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Barbara Kleiner, Susanne Schoop
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359690529X
- ISBN-13: 9783596905294
- Erscheinungsdatum: 23.04.2013
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