Weltmacht USA , Ein Nachruf
Für Emmanuel Todd ist klar: Die Vereinigten Staaten kämpfen verbissen darum, sich weltweit Ressourcen zu sichern. Auf der...
Für Emmanuel Todd ist klar: Die Vereinigten Staaten kämpfen verbissen darum, sich weltweit Ressourcen zu sichern. Auf der weltpolitischen Bühne aber haben andere jetzt die Hauptrolle.
WeltmachtUSAvon Emmanuel Todd
LESEPROBE
Vorwort für die deutsche Ausgabe
Dieses Buch kam in Frankreich Anfang September 2002heraus. Von der Kritik wurde es insgesamt positiv aufgenommen, offenbar konnteman die These, daß Amerika sich im Niedergang befindet,mit Gelassenheit in Betracht ziehen. Der Gang der Ereignisse seither hat diehier formulierten Interpretationen und Mutmaßungen weitestgehend bestätigt. Wirkönnen sogar von einer Beschleunigung des Prozesses sprechen. Die VereinigtenStaaten, die noch bis in allerjüngste Zeit ein internationaler Ordnungsfaktorwaren, erscheinen nun immer deutlicher als Unruhestifter.Dieamerikanische Wirtschaft gibt uns zunehmend Rätsel auf: Wir können nicht mehrgenau sagen, welche Unternehmen tatsächlich real existieren. Wir verstehen vorallem nicht mehr, wie die US-Wirtschaft funktioniert, und wir wissen nicht,welche Wirkung es auf die verschiedenen Bereiche dieser Wirtschaft haben wird,wenn die Zinsen endgültig bis auf null gesenkt sein werden. Die Besorgnis deramerikanischen Politiker ist beinahe mit Händen zu greifen. Sie hat bereits zurEntlassung des amerikanischen Finanzministers O Neill geführt. Tag für Tagverfolgt die Presse mit gespannter Aufmerksamkeit die Entwicklung desDollarkurses.
Zum wirtschaftlichen Durcheinander kommt noch einaußenpolitisches und militärisches Chaos hinzu. Die Irakpolitik der VereinigtenStaaten zielt darauf ab, die Welt in den Krieg zu stürzen. Aber der hektischeAktionismus der amerikanischen Regierung, ihr Beharren darauf, unbedingt»Stärke« zu demonstrieren, verrät nur, wie unsicher Amerika inwirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller und strategischer Hinsichtist. Denn die USA beherrschen längst nicht mehr die Welt, sie sind dabei, dieKontrolle zu verlieren.
Noch vor einem möglichen Angriff auf den Irak könntedie Auflösung des amerikanischen Systems beginnen.
Für amerikanische Politiker und Journalisten war esbisher selbstverständlich, in Deutschland den ergebenen Verbündeten zu sehen.Nun widersetzt sich Deutschland dem Krieg, es hat gewissermaßen das Signal fürden Aufbruch Europas in die strategische Autonomie gegeben. Dank der deutschenHaltung konnte Frankreich wirksam bei der UNO tätig werden und dieamerikanischen Kriegspläne verzögern. Bei der Diskussion über die Resolution1441 zur Rüstungskontrolle im Irak kam man der pragmatischen Realisierung einesam Schluß von »Weltmacht USA - Ein Nachruf«formulierten Vorschlages sehr nahe: Frankreich sollte seinen Sitz imSicherheitsrat und sein Vetorecht mit Deutschland teilen. Denn ohne den deutschen Widerstand gegeneinen Irakkrieg hätte Frankreich nichts bewirken können. Die beidenPartner Deutschland und Frankreich arbeiten wieder effektiv zusammen, und dasbeweist die globale Orientierung der Europäer. Berlin und Paris brauchennatürlich die stillschweigende Unterstützung der anderen Mitglieder derEuropäischen Union. Es ist jedoch höchst beeindruckend, welches Maß an soft power- um die Formel von Nye aufzugreifen - Deutschlandund Frankreich entfalten, wenn sie einig sind: in Europa und in der Welt.
Die amerikanischen Verantwortlichen in der Politikund in den Medien waren in diesem Fall ganz außerordentlich verblendet. Siebehaupteten, Deutschland sei isoliert, während doch gerade dieser Akt derUnabhängigkeit und das Bekenntnis zum Frieden die internationale LegitimitätDeutschlands stärkten. Wohl zum ersten Mal betrachtete man in Paris die Fahneder Bundesrepublik mit uneingeschränktem Wohlwollen.
Die nächste Etappe bei der Auflösung desamerikanischen Systems wird eine expliziteAnnäherung zwischen Europa und Rußland sein in demBestreben, einen ausreichend soliden Gegenpol zu bilden und die Amerikaneraufzuhalten. Wenn der Krieg gegen den Irak kommt, mußdieser Schritt rasch erfolgen. Außerdem muß sich Ostasienvon den Vereinigten Staaten emanzipieren, und dies gilt vor allem für Japan undSüdkorea. Im Verhältnis zu Rußland wird einmal mehr,ich betone es, die Haltung Deutschlands ausschlaggebend sein, und zwar meinesErachtens aus offensichtlichen historischen und geographischen Gründen. DieHaltung Großbritanniens bleibt ungewiß. Tony Blairscheint gelähmt, weil ihm offenbar jede strategische Vision fehlt. Aber seinePolitik der bedingungslosen Gefolgschaftstreue zur amerikanischen Regierung istzerstörerisch für die internationale Bedeutung seines Landes, und wir dürfennicht übersehen, daß auch die britischeÖffentlichkeit in der Frage von Nutzen und Sinn eines Krieges gegen den Irakgespalten ist. Die gegenwärtige Situation hat uns zur Rolle des VereinigtenKönigreichs zweierlei gelehrt: Zum einen kann Großbritannien nur wenig Einfluß auf den Kurs Europas nehmen, wenn Deutschland undFrankreich sich einig sind. Umgekehrt hat auch Kontinentaleuropa wenig Möglichkeiten, auf das Vereinigte Königreich Einfluß zu nehmen. Aggressives Auftreten seitens derEuropäer, das Ausüben von Druck auf die Briten, in einer bestimmten Weisegegenüber den Vereinigten Staaten aufzutreten, bewirken nur das Gegenteil undbinden den Inselstaat enger an seinen transatlantischen Partner. Die Europäersollten lieber abwarten, bis die Briten durch das Verhalten der VereinigtenStaaten ihrer Bündnistreue überdrüssig werden, zu zweifeln beginnen und sichauf ihre europäische Identität besinnen. Die Europhobie der amerikanischen Eliten wird auch Großbritanniennicht verschonen, zumal Großbritannien für die Vereinigten Staaten in gewisserWeise der eigene Ursprung ist, und folglich die Quintessenz Europas.
Erst wenn Rußland, Japan,Deutschland - und warum nicht auch Großbritannien? - ihre außenpolitischeHandlungsfreiheit wiedergewonnen haben, wird dieEpoche des Kalten Krieges, der ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war,endgültig überwunden sein. Das Zeitalter der Ideologien wird vorüber sein. DasGleichgewicht der Mächte - Europa, Amerika, Rußland,Japan, China - wird die internationale Politik prägen. Keine einzelne Machtwird für sich in Anspruch nehmen können, sie allein verkörpere »das Gute« aufder Welt. Und der Frieden wird dann sicherer sein.
Dezember 2002
Emmanuel Todd
© Piper Verlag
Übersetzt: Enrico Heinemann
Autoren-Porträt von Emmanuel Todd
EmmanuelTodd, geboren 1951, absolvierte das Institut d EtudesPolitiques de Paris und promovierte dann in Cambridgein Geschichte. Von 1977 bis 1984 war er Literaturkritiker für Le Monde, seitdemarbeitet er am Institut National d Etudes Démographiques. Bereits 1976 sagte er in seinem Buch »La Chute Finale« den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus.Sein Buch »Weltmacht USA« wurde in Deutschland unmittelbar nach Erscheinen zumBestseller.
Interview mitUlrich Wank (Lektor des Buches)
"Weltmacht USA. Ein Nachruf" wurde zu einer Zeitveröffentlicht, da die Kritik an den USA noch nicht zur Mode geworden war.Bereits 1976 beschrieb Todd den bevorstehenden Zusammenbruch der Sowjetunion.Ist er ein hellsichtiger Analytiker?
Ja. Und vielleicht noch wichtiger:Er hat den Mut, auch unkonventionell zu denken und zu schreiben.
Emmanuel Todd entwickelt neben verblüffenden Einsichten auch einigediskussionswürdige Thesen. So verknüpft er beispielsweise das Entstehen desdeutschen Nationalsozialismus mit dem deutschen Erbrecht. Haben Sie mit ihmüber diese und andere Thesen diskutiert?
Wir zensieren unsere Autoren nicht.
Was für ein Mensch ist der Autor Todd? Können Sie ihn uns ein wenigbeschreiben?
Ungemein freundlich, dabei sehrzurückhaltend, fast schüchtern. Er mag keine großen öffentlichen Auftritte -die er dann aber mit großer Professionalität absolviert, wenn es nötig ist.
"Weltmacht USA" ist eines der Bücher, die "zur richtigenZeit am richtigen Ort" erschienen. Ist dies ein Glücksfall für den Verlag,oder doch einfach nur das Ergebnis professioneller Akquise? Hat der Erfolg desBuches - zumindest in seinem Ausmaß - Sie überrascht?
Niemand kann so einen Erfolgvorausberechnen - sonst täten wir das nämlich immer. Aber wir hatten das Buchschon im Hinblick darauf eingekauft, dass es eine politische Diskussionauslösen würde.
Todds Bücher sind bisher in größerenAbständen erschienen. Wissen Sie schon von Plänen für ein weiteres Buch?
Ja, aberauch das dauert noch, leider.
- Autor: Emmanuel Todd
- 2004, 264 Seiten, Maße: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ursel Schäfer, Enrico Heinemann
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 349224128X
- ISBN-13: 9783492241281
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