Wenn die Schatten fallen
In einem idyllischen Städtchen in Tennessee werden zwei Leichen gefunden die Opfer wurden zu Tode gefoltert. Sheriff Miranda Knight zieht FBI-Profiler Noah Bishop hinzu. Er ist ihre einzige Chance im Kampf mit diesem Gegner.
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Produktinformationen zu „Wenn die Schatten fallen “
In einem idyllischen Städtchen in Tennessee werden zwei Leichen gefunden die Opfer wurden zu Tode gefoltert. Sheriff Miranda Knight zieht FBI-Profiler Noah Bishop hinzu. Er ist ihre einzige Chance im Kampf mit diesem Gegner.
Lese-Probe zu „Wenn die Schatten fallen “
Wenn die Schatten fallen von Kay Hooper Aus dem Amerikanischen von Susanne Aeckerle
Prolog
Mittwoch, 5. Januar 2000
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Eigentlich hätte sich Lynet Grainger nicht zu ängstigen brauchen. Gladstone war eine sichere Stadt, war es immer gewesen. Mochte auch der Rest der Welt verrücktspielen, Schüler in ihren Schulen herumballern und frustrierte Angestellte an ihrem Arbeitsplatz Amok laufen, Autos geklaut und Kinder entführt werden, in Gladstone passierte so etwas nicht. Niemals. Allerdings passierte hier auch sonst nicht viel, zumindest bis vor Kurzem. Auch schon vor dem Bau der neuen Umgehungsstraße im vergangenen Jahr - die Gladstone tatsächlich völlig links liegen ließ -, war die kleine Stadt nicht mehr gewesen als ein Ort, in dem man zum Tanken anhielt oder auf der Durchreise nach Nashville zum Übernachten in der Bluebird Lodge abstieg. Jedenfalls würde man hier nicht länger als nötig Station machen. Es war nur ein Fleck auf der Landkarte, nicht hoch genug in den Bergen gelegen, um für Touristen als Wintersportort attraktiv zu sein - obwohl das Logo der Bluebird Lodge trotzig aus zwei gekreuzten Skiern bestand -, und doch wieder nicht weit genug von den Bergen entfernt, um sich guten Acker- oder Weidelandes rühmen zu können. Es war eben nur ein kleines Tal. Die Industrie bestand aus einer am Fluss gelegenen, übel riechenden Papiermühle, in der ein Großteil der ansässigen Arbeiter beschäftigt war. In der Stadt selbst gab es ein paar kleinere Firmen: Autohäuser, Immobilienagenturen und Geschäfte, wie es sie überall gibt. Zum Glück war Gladstone nicht so klein, dass jeder genau wusste, was der Nachbar tat - aber doch fast so klein. Nur die Videothek in der Innenstadt war an Unterhaltungswert dem Klatsch und Tratsch überlegen. Daher war es eine Riesensensation, als die knapp vierzehnjährige Kerry Ingram vor einigen Monaten anscheinend von zu Hause ausriss. Viele behaupteten, damit sei zu rechnen gewesen, da Kerrys älterer Bruder vor einigen Jahren das Gleiche getan hatte, um in Nashville sein Glück als Sänger zu versuchen (was darauf hinausgelaufen war, dass er eine Frau und zwei kleine Kinder mit einem Mechanikerlohn durchbringen musste). Es sei eben die Art von Familie, hieß es, die ihren Kindern keinerlei Anhänglichkeit an ihre Heimatstadt vermittelte. Doch schon damals hatte sich trotz dieser Gerüchte ein gewisses Unbehagen breitgemacht, noch bevor sich herausstellte, was wirklich mit Kerry passiert war. Denn ungefähr zur gleichen Zeit, als sie verschwand, war kaum mehr als hundert Meilen entfernt in Concord etwas sehr Unheimliches passiert. Lynet kannte die genauen Einzelheiten zwar nicht, aber man sprach davon, dass ein grässlicher Mann Frauen verfolgt und vergewaltigt hätte und erst gefasst worden sei, als man eine Spezialeinheit des FBI einschaltete. Zu gerne hätte Lynet einer solchen Einheit beim Einsatz zugesehen. Sie interessierte sich für die Arbeit der Polizei, und nachdem Sheriff Knight letzten Frühling beim Career Day so geduldig Lynets Fragen beantwortet hatte, war ihr Interesse nur noch gestiegen. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Kerry Ingrams Leiche gefunden wurde und sich einige Details herumgesprochen hatten. Lynet hatte sich richtig elend gefühlt, als sie die Einzelheiten gehört hatte. Sie redete sich ein, das Ganze ginge ihr nur deshalb so an die Nieren, weil sie Kerry tatsächlich gekannt hatte, und nicht wegen eines schwachen Magens, der ungeeignet war für die Arbeit einer Polizistin oder besser noch einer FBI-Agentin. Nein, es lag nur daran, dass sie Kerry gekannt hatte, die nur eine Klasse über ihr in der Schule gewesen und jeden Tag mit demselben Schulbus gefahren war. Und weil sie sich so lebhaft an die glänzende Schleife erinnerte, die Kerry immer im Haar trug, und an ihr schüchternes Lächeln, wenn einer der Jungs sie ansprach. Und sie erinnerte sich daran, wie stolz Kerry gewesen war, dass sie zu den Jahrgangsbesten zählte, denn Mathe fiel ihr ziemlich schwer, und sie hatte sich wirklich anstrengen müssen in diesem Jahr ... Lynet verdrängte diese Erinnerungen und sah sich misstrauisch um, während sie forsch den Gehsteig entlangging. Nahezu alle Geschäfte in der Innenstadt hatten wie üblich auch an diesem Mittwoch zeitig geschlossen, und um neun Uhr abends waren weder Autos noch Fußgänger unterwegs. Trotzdem, es gab keinen Grund für Lynet, sich zu ängstigen. Sheriff Knight hatte gesagt, die arme Kerry sei wahrscheinlich ausgerutscht und in diese schreckliche Schlucht gefallen, in die sonst Abfall gekippt wurde. Jedenfalls hatte man dort Kerrys Leiche gefunden. Doch Lynet hatte darüber munkeln gehört, was man Kerry möglicherweise angetan hatte, bevor sie starb. Und auch wenn es sich dabei nur um wilde Spekulationen handelte, waren die doch dazu angetan, einem Mädchen Angst zu machen, das nach Einbruch der Dunkelheit allein unterwegs war. An der Ecke Main Street und Trade Street blieb sie stehen und überlegte kurz, ob sie wie sonst die Abkürzung durch den Park nehmen sollte. Sehr kurz nur. Besser, ich bleibe auf dem Gehsteig im Licht der Straßenlaternen, dachte sie, auch wenn dadurch der Heimweg eine Viertelstunde länger dauert. Also marschierte sie weiter, ärgerte sich über sich selbst, dass sie in der Bibliothek so lange herumgetrödelt hatte, und sehnte ihren sechzehnten Geburtstag herbei, damit sie endlich mit dem zerbeulten Honda ihrer Mutter fahren konnte, statt überallhin zu Fuß gehen zu müssen. »Lynet, was in aller Welt machst du noch so spät hier draußen?« Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, und sie presste sich unbewusst mit einer dramatischen Geste die Hand an die Brust, als stünde sie kurz vor dem Herzinfarkt. »Ach, Sie sind es! Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!« »Das tut mir leid. Du solltest so spät nicht mehr unterwegs sein. Wieso bist du nicht zu Hause?« »Ich musste an den Computer in der Bibliothek. Sie wissen ja, dass ich noch keinen eigenen habe.« »Gut, aber nächstes Mal lass dich von jemandem heimfahren.«
»Mach ich.« Lynet lächelte freundlich. »Wir können bis zur nächsten Ecke zusammen gehen. Das ist doch auch Ihr Weg, nicht?« »Ja.« »Prima. Zu zweit wird uns niemand belästigen.« »Nein, bestimmt nicht.« »Ich bin überrascht, Sie hier draußen zu sehen«, plauderte Lynet munter weiter. »Gehen Sie spazieren? Ich weiß, einige Leute tun das, um sich ein bisschen zu bewegen. Aber nur im Sommer, dachte ich.« »Heute Abend ist es nicht kalt.« »Ihnen ist nicht kalt? Mir schon. Doch flott zu gehen hilft etwas. Wenn wir schneller ...« Lynet machte einen weiteren Schritt und blieb stehen, als sie erkannte, was da auf sie gerichtet war. »Oh«, brachte sie benommen hervor. »Oh nein. Sie ...« »Du weißt, was das ist. Und was man damit tun kann.« »Ja«, hauchte Lynet. »Dann wirst du also mit mir kommen und keinen Ärger machen, nicht wahr, Lynet?« »Tun Sie mir nicht weh. Bitte, nicht ...« »Es tut mir leid, Lynet. Wirklich.«
1
Donnerstag, 6. Januar Die Leiche war schon mindestens zwei oder drei Tage der Witterung ausgesetzt gewesen. Und über die Lichtung mussten sich Dutzende von Pfoten- und Klauenspuren gezogen haben, bevor der heftige Regen der letzten Nacht sie fortgewaschen hatte. Es sah nach einem langen, kalten Winter aus, und die Tiere waren hungrig. Deputy Alex Mayse fröstelte, während er sich vorsichtig an dem einzigen gerichtsmedizinischen »Experten« der Stadt vorbeidrückte, einem jungen Arzt, den man zum Gerichtsmediziner gemacht hatte, weil sonst keiner den Job wollte. Der Arzt kroch auf allen vieren auf der Lichtung herum, die Nase nur wenige Zentimeter über dem feuchten Boden, während er die verstreuten Knochen und andere von den Tieren übrig gelassenen Teile zusammensuchte und markierte. »Sie brauchen nicht vor sich hin zu summen, Doc«, knurrte Alex gereizt. »Wir wissen alle, wie erfreut Sie sind.« »Wenn ich mich über einen ermordeten Teenager freuen würde, wäre ich schlimmer als ein Leichen fressender Dämon. Mich fasziniert nur das Puzzle, mehr nicht«, erwiderte Dr. Peter Shepherd gelassen, ohne sich aus seiner gebückten Stellung aufzurichten. Einige Schritte hinter dem Arzt verdrehte Deputy Brady Shaw die Augen, während er mit der Kamera in der Hand geduldig darauf wartete, Fotos von jeder markierten Stelle machen zu können. Alex grinste mitfühlend. »Ist ja schon gut. Aber sehen Sie zu, dass Sie diesmal was Verwertbares finden, ja?« »Werde mein Bestes tun«, erwiderte der Arzt, während er etwas betrachtete, das wie ein ausgebleichter Zweig aussah. Alex ging zu der Stelle, wo der größte Teil der Leiche gefunden worden war, und bemerkte durchaus mit Mitgefühl, dass sich Sandy Lynch drüben hinter einem Baum die Seele aus dem Leib kotzte. Eine schlimme Einführung in den Job für das arme Kind! Nicht, dass die alten Hasen damit besser zurechtgekommen wären, wirklich nicht. Carl Tierney hatte das Pech gehabt, die sterblichen Überreste von Adam Ramsay zu entdecken, worauf er, der Veteran des Sheriffdepartments, prompt seinen morgendlichen Egg McMuffin von sich gegeben hatte. Alex selbst hatte während der letzten Stunden ein paar mulmige Augenblicke durch Zähnezusammenbeißen überstanden. Die Einzige der Belegschaft des Sheriffdepartments von Cox County, der nicht anzusehen war, dass ihr der grausige Anblick auf den Magen schlug, war Sheriff Knight. Das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dachte Alex, als er sich zu Sheriff Knight gesellte, die etwa einen Meter von Adam Ramsays Überresten entfernt hockte, die Ellbogen auf den Knien, die Fingerspitzen gegeneinander gedrückt. Die kleine Stadt Gladstone war während ihrer gesamten Geschichte kaum je von einem Mordfall erschüttert worden. Eine lange Reihe von Sheriffs war im Amt ergraut und hatte es nur mit Kleinkriminalität und unerheblichen Vergehen zu tun gehabt und an polizeilicher Ausbildung nicht mehr als das Laden einer Waffe benötigt, die nur auf Zielscheiben oder gelegentlich auf ein unglückliches Kaninchen abgefeuert wurde. Es war ein stadtbekannter Spruch, dass die einzige Herausforderung an den Sheriff von Cox County die jährliche Weihnachtsparade auf der Main Street war, bei der er in seinem Santa-Claus-Kostüm eine gute Figur machen musste. Bis voriges Jahr. Da hatte die Stadt jemanden mit einem Juradiplom und dem Nebenfach Kriminalistik zum Sheriff gewählt. Und was geschah? Prompt passierten richtige Verbrechen. Doch sie hatten Glück, denn gerade dieser Sheriff legte die beinahe unheimliche Fähigkeit an den Tag, den Dingen in kürzester Zeit auf den Grund gehen zu können. Zumindest bis vor Kurzem. »Jetzt sind es schon zwei«, sagte Alex, dem das Schweigen inzwischen zu lange dauerte. »Ja.« »Gleicher Mörder, was glauben Sie?« Erstaunlich blaue Augen blickten ihn schräg von unten an. »Schwer zu sagen, mit nichts als Knochen.« Alex wollte schon erwidern, dass hier und da auch noch ein bisschen verwestes Fleisch vorhanden war, hielt jedoch den Mund. An Adam Ramsays Skelett war weiß Gott nicht mehr viel davon dran, und an den Resten ließ sich nicht auf Anhieb erkennen, wer ihn umgebracht hatte und wie. Es war nicht möglich festzustellen, ob die Leiche des Jungen die gleichen Blutergüsse und Schnitte aufwies, wie sie bei Kerry Ingram gefunden worden waren. Dennoch war es naheliegend, davon auszugehen, dass zwischen zwei innerhalb eines Monats aufgefundenen Mordopfern ein gewisser Zusammenhang bestehen musste. Alex seufzte. »Durch die Behauptung, es wäre ein Unfall gewesen, wird das Gerede nicht aufhören. Wir wissen zwar noch nicht, wie er starb, aber es ist doch sonnenklar, dass ein Unfallopfer niemals seine eigene Leiche begraben hätte. Und Sie können wetten, dass sich dieses Detail bald herumgesprochen hat.« »Ich weiß.« »Also haben wir ein Problem. Ein großes Problem.« »Mist«, kam es leise von Sheriff Knight. Alex fragte sich, ob in dem, was er da hörte, Schuldgefühle mitschwangen. »Auch wenn wir bekannt gegeben hätten, dass Kerry Ingram ermordet wurde, hätte das den Mord hier nicht verhindert«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Ich bin vielleicht kein Experte, doch ich nehme an, dass Adam bereits vor mehreren Wochen gestorben ist.« »Ja, vermutlich.« »Und seine Mutter hat ihn erst kurz vor Halloween als vermisst gemeldet, obwohl er da bereits seit Wochen verschwunden war.« »Weil sie einen Mordskrach hatten und er abgehauen war, um bei seinem Vater in Florida zu leben, was er schon mindestens zweimal zuvor getan hatte. Jedenfalls glaubte sie das.« »Ich will darauf hinaus, dass wir nichts hätten tun können, um Adam Ramsay zu retten.« »Möglich«, entgegnete Sheriff Knight nachdenklich. »Aber vielleicht hätten wir Kerry Ingram retten können.« In die folgende Stille hinein sagte Alex: »Wie gut, dass er seinen Schulring trug. Und dass er diesen Goldzahn hatte. Ansonsten hätten wir ihn nie identifizieren können. Doch welches Kind in seinem Alter hat denn einen Goldzahn? Das wollte ich vorhin schon fragen, aber ...« »Keinen Zahn, eine Krone. Er hat einen Ring seines Vaters einschmelzen lassen, und ein Zahnarzt in der Stadt hat ihm die Krone gemacht.« »Aber wieso in aller Welt?« »Seine Mutter wusste es entweder nicht oder wollte es nicht sagen. Und ihn können wir jetzt nicht mehr fragen.« Und noch immer in Hockstellung, fügte Sheriff Knight hinzu: »Ich bezweifle, dass es von Bedeutung ist, zumindest für die Frage, wer ihn ermordet hat und warum.« »Tja, das wird wohl stimmen. Haben Sie schon irgendeine Vorstellung in dieser Richtung?« »Nein.« Alex seufzte. »Ich auch nicht. Das wird dem Bürgermeister nicht gefallen, Randy.« »Niemandem wird das gefallen, Alex. Vor allem nicht Adam Ramsays Mutter.« »Sie wissen schon, was ich meine.« »Ja. Ich weiß.« Sheriff Miranda Knight seufzte, erhob sich aus der Hocke und dehnte gedankenverloren ihre verkrampften Muskeln. »Mist«, murmelte sie erneut. Deputy Sandy Lynch, immer noch leichenblass, wagte sich einen Schritt näher, vermied es aber tunlichst, den Blick auf die Leichenreste zu richten. »Tut mir leid, Sheriff«, sagte sie nervös. Sie war noch so neu in ihrem Job, dass sie Angst hatte, ihn wieder zu verlieren. Miranda sah sie an. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Sandy. Hier können Sie sowieso nichts mehr tun. Fahren Sie zurück ins Büro und helfen Sie Grace bei den ganzen Telefonanrufen.« »Okay, Sheriff.« Sie hielt inne. »Was sollen wir den Leuten sagen?« »Sagen Sie ihnen, wir hätten zur Zeit noch keinerlei Informationen. « »Ja, Chef.« »Das wird die Leute auch nicht lange aufhalten«, bemerkte Alex, während die junge Polizistin sichtlich erleichtert zu ihrem Wagen zurückging. »Lange genug, mit etwas Glück. Ich hätte gerne erst noch ein paar Antworten, bevor ich John Vorschläge präsentiere.« »Nachdem ihm der Tumult drüben in Concord einen solchen Schreck eingejagt hat, wird er bestimmt überreagieren und behaupten, wir hätten es mit einem Serienmörder zu tun.« »Zwei Morde machen noch keinen Serienmörder.« »Sie wissen das, und ich weiß das. Aber der Bürgermeister wird es vorziehen, auf Nummer sicher zu gehen. Er liebt sein Amt und will es behalten. Der Bürgermeister von Concord wurde buchstäblich aus der Stadt gejagt, weil er nicht darauf bestanden hatte, schon eher eine Spezialeinheit anzufordern. John MacBride wird nicht gewillt sein, denselben Fehler zu machen.« Miranda nickte stirnrunzelnd. »Ich weiß, ich weiß.« - »Dann kommen Sie ihm doch zuvor. Sagen Sie ihm, Sie würden vorschlagen, die Spezialeinheit sofort anzufordern.« Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Sie haben das Rundschreiben ja auch gelesen. Die Spezialeinheit wurde geschaffen, um ungewöhnliche Verbrechen mit unerklärlichen Aspekten aufzuklären, Fälle, die sich durch normale Polizeiarbeit nicht lösen lassen. Soweit wir wissen, handelt es sich hier um zwei Teenager, die Opfer eines Streits oder einer gewalttätigen Auseinandersetzung wurden. Beide wurden wahrscheinlich von jemandem ermordet, den sie kannten, und aus äußerst banalen Gründen. Von etwas Ungewöhnlichem wissen wir nichts.« »Randy, niemand wird es Ihnen zum Vorwurf machen, die Leute vom FBI geholt zu haben, egal, ob diese Morde ungewöhnlich sind oder nicht. Wir sind ein unterbesetztes Sheriffdepartment einer kleinen Stadt und nahezu ohne jegliche technische Ausrüstung. Der letzte Mord vor dem Ingram- Mädchen, den ein Sheriff von Cox County aufklären musste, liegt zwanzig Jahre zurück: ein gehörnter Ehemann, der den Liebhaber seiner Frau erschoss, während der versuchte, aus dem Schlafzimmerfenster zu entkommen. Keine besonders knifflige Ermittlung. Die Fälle, mit denen Sie bisher zu tun hatten, waren schwierig, und Sie haben sie weiß Gott gut gelöst. Doch dabei war Können, Verstand und Instinkt gefragt, wovon Sie jede Menge besitzen. Was Sie aber nicht haben, sind kriminalistische Hilfsmittel, die dem neuesten Stand entsprechen. Ein Computersystem, das nicht seit bereits fünf Jahren veraltet ist, genügend Deputys, um den Bezirk, für den Sie verantwortlich sind, tatsächlich abdecken zu können, und einen Mediziner, dessen Spezialgebiet - und nicht dessen Hobby - die Forensik ist.« »Das habe ich gehört«, rief Dr. Shepherd herüber. »Das sollten Sie auch«, rief Alex unbeeindruckt zurück. Er wandte sich wieder an Miranda und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Fordern Sie die Leute vom FBI an, Randy. Niemand würde es Ihnen verübeln. Und, zum Teufel noch mal, wir brauchen die Hilfe.« »Die helfen nicht, sie übernehmen.« »Dann würde ich sagen: Sollen sie doch.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Alex. Ich kann das Problem nicht einfach jemand anderem überlassen, nur weil ich befürchte, dass es mir über den Kopf wächst.« »MacBride kann seine Autorität spielen lassen. Und Sie wissen, dass er das tun wird. Randy, es gab schon genug Bedenken, eine Frau zum Sheriff zu wählen, daher reagiert er sehr empfindlich auf jede Kritik der Wähler. Beim ersten Anzeichen, dass dieses Department mit der Ermittlung überfordert ist, wird er so laut wie möglich um Hilfe schreien.« »Nein«, entgegnete sie. »Das wird er nicht, nicht öffentlich. « »Dann wird er Sie dazu bringen, es selbst zu tun.« »Vielleicht.« »Randy ...« »Vorläufig gibt es keinerlei Anzeichen für etwas Ungewöhnliches «, wiederholte Miranda dickköpfig. »Und nur weil wir bei den Ermittlungen zu dem Mord an Kerry Ingram feststecken, heißt das nicht, dass wir mit diesem Fall nicht mehr Glück haben könnten. Eines ist jedenfalls sicher: Ich habe weiß Gott vor, mein Bestes zu geben. Ich werde keine Fremden hinzuziehen, es sei denn, uns bliebe keine andere Wahl.« Sie massierte ihren Nacken, wo sich offensichtlich ihre Anspannung bemerkbar machte, und betrachtete die Überreste von Adam Ramsay mit finsterer Miene. Alex beobachtete sie, ohne sich die Mühe zu machen, es diskret zu tun. Längst hatte er festgestellt, dass Miranda prüfende Männerblicke gar nicht wahrnahm. Zumindest nicht bei der Arbeit. Meist trug sie Pulli und Jeans, das schwarze Haar streng aus dem Gesicht, die Nägel kurz und unlackiert und nur das Nötigste an Make-up. Sie brauchte das alles nicht. Miranda Knight war eine dieser seltenen Frauen, die auch dann noch gut aussehen würden, wenn man sie in einen Hafersack gesteckt und in Schlamm gewälzt hätte. Sie trug auch im Dienst keine Uniform, ein Privileg, das sie sich mehr oder weniger ausbedungen hatte, ehe sie die Stellung annahm. Ihre engen Jeans und der dicke Pullover verbargen weder die Waffe an ihrer Hüfte noch ihre Maße, die denen eines Pin-up-Girls würdig gewesen wären. Alex war sich nicht ganz im Klaren darüber, was den Bürgermeister von Gladstone mehr anzog, die Waffe oder der Körper, doch es war ein offenes Geheimnis, dass John MacBride ein Auge auf Miranda geworfen hatte, schon lange bevor die beiden vor einem Jahr ins Amt gewählt worden waren. Was Miranda wiederum über den Bürgermeister dachte, war ein Geheimnis, das nur sie kannte. Wenn sie mit Alex sprach, erwähnte sie ihn hin und wieder ganz ungezwungen, doch in der Öffentlichkeit benahm sie sich dem Bürgermeister gegenüber ausnahmslos förmlich, höflich und respektvoll. Und sollte sie ihm tatsächlich gestattet haben, sie auf eine Tasse Kaffee einzuladen, hatte sie es in dieser neugierigen Stadt wohl an einem Ort getan, wo es niemand mitbekam.
Dennoch fragte sich Alex, ob sich MacBrides Bemühungen der letzten Monate ändern würden, falls Miranda sich weigerte, das politische Überleben des Bürgermeisters durch die unverzügliche Übergabe der Ermittlungen an die Bundesbehörde zu sichern. »Wir wissen doch gar nicht, ob hier etwas Ungewöhnliches vorliegt«, wiederholte sie erneut, und ihr nachdrücklicher Ton ließ Alex plötzlich aufhorchen. »Haben Sie irgendwas entdeckt?«, fragte er. Diesmal nahm Miranda seinen Blick offensichtlich wahr, vermied es jedoch, ihn zu erwidern. »Ich sagte nur ...« »Ich weiß, was Sie gesagt haben. Ich habe auch gehört, wie Sie es sagten. Und ich weiß, dass Sie manchmal Dinge sehen, die alle anderen übersehen. Was sehen Sie, was ich nicht sehe, Randy?« »Nichts. Ich sehe nichts.« Alex hatte den Eindruck, dass sie ihn anlog. Doch bevor er nachhaken konnte, kam Doc Shepherd auf sie zu. »Ich könnte Ihnen einen vorläufigen Bericht geben«, sagte er zu Miranda. »Sie bekommen ihn schriftlich, sobald ich wieder im Büro bin, doch falls Sie hören wollen, was drinstehen wird, während Brady die Fotos macht ...« »Lassen Sie hören.« »Unmöglich zu sagen, ob der Junge erdrosselt wurde wie das Ingram-Mädchen, aber es gibt Anzeichen dafür, dass ein paar Knochen noch vor Eintritt des Todes gebrochen wurden. « »Könnten sie versehentlich bei einem Sturz gebrochen sein?«, fragte Miranda. »Unwahrscheinlich. Meiner Ansicht nach hat man ihm die Arme derart verdreht, dass sie gebrochen sind, was eine beträchtliche, vorsätzliche Krafteinwirkung erfordert. Und zwei Knochen seiner linken Hand sind zertrümmert, wahrscheinlich von einem Hammer oder etwas Ähnlichem.« »Wollen Sie damit sagen, er ist gefoltert worden?«, fragte Alex zögerlich. »Ausschließen würde ich es nicht, doch ich habe nicht genug Beweise, um mir völlig sicher zu sein.« »Worin sind Sie sich denn sicher?«, wollte Miranda wissen. »Ich bin mir sicher, dass er mindestens drei oder vier Wochen tot ist, möglicherweise sogar länger. Ich bin sicher, dass er an einem anderen Ort getötet wurde. Dann wurde er hierher gebracht und in dieser flachen Grube vergraben, die seinen Körper nicht lange vor hungrigen Tieren schützen konnte.« Peter Shepherd hielt kurz inne. »Jetzt würde ich Sie gerne etwas fragen: Sind Sie sicher, dass es die Überreste von Adam Ramsay sind?« Die Frage überraschte Alex, doch als er zu Miranda blickte, schien das bei ihr nicht der Fall zu sein. »Wir haben hier seinen Schulring gefunden«, erklärte sie emotionslos. »Die Goldkrone auf dem Schneidezahn passt auch zu dem, was in den Unterlagen steht. Größe und geschätztes Gewicht könnten ebenfalls hinkommen. Und auf dem Stück Kopfhaut, das sich noch am Schädel befindet, sind rote Haare wie die von Adam Ramsay. Wir haben jeden Grund zur Annahme, dass die Identifizierung korrekt ist.« Sie hielt inne, und als sie fortfuhr, klang es, als würde sie die Frage nur ungern stellen. »Sie glauben, dass er es nicht ist?« Shepherd genoss seine Rolle offensichtlich. »Ich bin der Meinung, falls er es ist, muss seine Mutter wesentlich älter sein, als sie aussieht. Genaueres werde ich erst wissen, nachdem ich ein paar Tests durchgeführt habe, aber es würde mich wundern, wenn ich feststellen würde, dass diese Knochen von jemandem stammen, der jünger als vierzig Jahre ist.« Wieder schien Miranda nicht überrascht. »Wir haben die vollständigen zahnärztlichen Unterlagen«, sagte sie in dem gleichen emotionslosen Ton, »also dürfte es nicht lange dauern, seine Identität zu bestätigen. Falls es Adam ist.« »Adam war siebzehn«, stellte Alex verwirrt fest. »Diese Knochen sind älter«, antwortete Shepherd schulterzuckend. »Von ihm ist kaum mehr übrig, als in einen Schuhkarton passt«, wandte Alex ein. »Wie können Sie denn wissen ...« Miranda hob die Hand, um Alex zu unterbrechen. »Wir sollten warten, bis wir ein paar Fakten mehr haben, bevor wir uns darüber streiten. Doc, nehmen Sie die Überreste mit ins Leichenschauhaus, und ich schicke Ihnen den Gebissstatus. « »Ich weiß nicht, wer sein Hausarzt war, doch wenn Sie dessen Unterlagen auch ...« »Ich schicke sie mit.« Alex folgte Miranda, die sich ein Stück entfernte, um dem Arzt Platz zum Arbeiten zu machen. »Sie wussten, was er sagen würde, nicht?«, fragte er vorwurfsvoll. »Woher hätte ich das wissen sollen?« Ihr Ton war eher sachlich als ausweichend. Sie sah Shepherd zu, wie er die Reste in einem schwarzen Leichensack verstaute. »Genau das frage ich Sie ja, Randy. Wieso wussten Sie es? Verfügen Sie insgeheim auch noch über einen Abschluss in Gerichtsmedizin?« »Natürlich nicht.« »Also?« »Ich habe nichts anderes gesehen als Sie, Alex.« »Doch Sie wussten, dass es nicht das Skelett von Adam Ramsay ist?« Miranda drehte schließlich den Kopf und sah Alex an. In ihrem Gesicht lag etwas, das er nicht deuten konnte und das ihm gar nicht gefiel, eine Verschlossenheit, die er nie zuvor an ihr gesehen hatte. Zum ersten Mal in den knapp fünf Jahren, die er sie nun kannte, hatte Alex das Gefühl, eine Fremde anzusehen. »Im Gegenteil«, erwiderte sie ruhig. »Ich wusste - ich weiß - nur, dass wir alles gefunden haben, was von Adam Ramsay übrig ist.« »Das verstehe ich nicht.« »Es ist Adam Ramsay, Alex. Der Gebissstatus wird es beweisen. « »Aber wenn es die Knochen eines älteren Mann sind ...« Alex unterbrach sich und senkte die Stimme. »Dann irrt sich der Doc also darin?« »Das hoffe ich.« Alex ging nicht davon aus, dass Miranda dem Arzt eins auswischen wollte. »Wenn der Doc mit dem Alter der Knochen recht hat«, spekulierte er, »würde das bedeuten, das Opfer wäre jemand, den niemand als vermisst gemeldet hat. Und das hieße, wir könnten Adam Ramsays Leiche immer noch finden. Wenn aber Sie recht haben ...« »Wenn ich recht habe, bedeutet es etwas ganz anderes«, fiel ihm Miranda ins Wort. »Es würde bedeuten, wir hätten es mit einem viel größeren Rätsel zu tun als dem von zwei weggelaufenen Teenagern.« Liz Hallowell hatte die dreißig Jahre ihres Lebens in Gladstone verbracht und kannte daher nahezu jeden. Und da die Buchhandlung, die sie von ihren Eltern geerbt hatte, im Stadtzentrum lag und kürzlich durch ein kleines Café erweitert worden war, wo die Leute sitzen und sich in aller Ruhe unterhalten konnten, bekam sie alles, was sich so tat, innerhalb von Stunden mit. Also hatte sie die Neuigkeit dieses kalten Januarmorgens bereits gehört. Sie wusste, dass von einem dienstfreien Deputy, der frühmorgens auf die Jagd gehen wollte, im Wäldchen am Stadtrand eine Leiche - oder zumindest Knochen - gefunden worden war. Sie wusste, dass man annahm, es wären die Knochen von Adam Ramsay. Und sie wusste, dass die ganze Geschichte höchst seltsam war. Ein Mord war natürlich immer etwas Seltsames. Doch da war noch etwas, davon war sie überzeugt. Die Blätter in ihrem morgendlichen Tee hatten ihr einen Schauder über den ganzen Körper gejagt, und schon davor hatte es einige andere beunruhigende Vorzeichen gegeben. Letzte Nacht hatte sie einen schreienden Ziegenmelker gehört und dann geträumt, auf einem Pferd zu reiten - was sexuell konnotiert war, für Liz kaum überraschend angesichts ihrer kürzlichen Enttäuschungen -, und auch von einer Tür, die sie nicht hatte öffnen können, was überhaupt kein gutes Vorzeichen war. Zweimal war sie von einem heulenden Hund geweckt worden, und kurz vor Morgengrauen hatte es gedonnert, obwohl es nicht gewitterte. Am Morgen hatte dann der Hahn des Nachbarn mit Blickrichtung auf ihre Türe gekräht, was die Ankunft eines Fremden verhieß. Innerhalb der letzten zwei Tage hatte sie dreimal Salz verschüttet, aber nichts, was sie unternahm, um dem Unglück sofort entgegenzutreten, konnte es gänzlich verhindern. Und ein Vogel, dazu noch eine Taube, war gegen das Fenster ihres Frühstückszimmers geflogen und hatte sich den kleinen Hals gebrochen. Da Liz allein lebte, nahm sie an, sie sei diejenige, der der Tod ins Haus stünde. Alex hatte nur den Kopf geschüttelt, als sie es ihm erzählte, doch Liz' Großmutter war eine Roma gewesen, und sie selbst war mit einer Glückshaube geboren worden - und sie wusste über solche Dinge Bescheid. Das Böse war hier, und Schlimmeres war im Anmarsch. Daher hatte Liz, bevor sie das Haus verließ, sorgfältig verschiedene Amulette in dem Medizinbeutel verstaut, den sie an einem Lederriemen um den Hals trug: zwei Eschenblätter, eine Knoblauchzehe, kleine Stücke Glückswurzel, Eichenrinde und mehrere kleine Edelsteine - Blutstein, Karneol, Tigerauge, Granat, schwarzer Opal, Staurolith und Topas. In ihrer Handtasche hatte sie noch eine Hasenpfote, und ihre Ohrringe waren winzige goldene Wunschknochen. Das alles beschützte sie jedoch nicht vor Justin Marsh, was sehr traurig war. »Das ist Gotteslästerung, Elizabeth«, rief er und wedelte mit einem Buch vor ihrer Nase herum. Sie schob das Buch sacht so weit beiseite, dass sie den Titel lesen konnte, und erwiderte dann sanftmütig: »Das ist ein Roman, Justin. Eine erfundene Geschichte. Ich bezweifle stark, dass der Autor irgendjemanden davon zu überzeugen versucht, Jesus sei eine Frau gewesen. Doch falls Sie das tröstet, Sie sind der Erste, der das Buch hier je in die Hand genommen hat.« In seinem ständig gebräunten Gesicht funkelten blässlich braune Augen. Der volle Schopf weißer Haare und der übliche weiße Anzug verliehen ihm das Aussehen eines Fernsehpredigers, fand sie. Und so klang er auch. »Bücher wie dieses gehören auf den Index!«, verkündete er ihr lautstark. Liz stellte fest, dass kaum einer ihrer frühmorgendlichen Kunden den Kopf hob. Alle waren genauso wie sie an Justins Tiraden gewöhnt. »Wir verbieten hier keine Bücher, Justin.« »Wenn unschuldige Gemüter dies lesen ...!« »Glauben Sie mir, unschuldige Gemüter wagen sich nicht in diesen Bereich des Ladens. Sie drängeln sich alle bei den Regalen drei Reihen weiter und lesen Zeug über Ninjas und wie man sich in Computersysteme hackt.« Die Ironie war an ihm verschwendet, genau wie sie erwartet hatte. »Elizabeth, Sie haben die Aufgabe, den noch formbaren Geist junger Menschen vor Schund wie diesem zu bewahren. « Erneut fuchtelte er mit dem Buch vor ihrer Nase herum. »Nein, dafür sind ihre Eltern zuständig«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Liz führt nur eine Buchhandlung.« »Morgen, Alex«, erwiderte sie. »Hi. Ein Kaffee wär nicht schlecht, Liz.« »Kommt sofort.« Sie überließ es Alex, sich mit Justin herumzuschlagen, und ging hinter den Tresen, um zwei Tassen von dem Kaffee mit dem Schokoladenaroma einzuschenken, dem Alex seit Kurzem verfallen war. Als sie sich dann zu ihm wie immer an den Tisch beim Schaufenster setzte, war Justin verschwunden. »Wenn er jetzt da hinten ist und ein anderes Buch herausreißt ...« »Ich habe ihm für den nächsten Vorfall ein Bußgeld und eine Gefängnisstrafe angedroht, falls das was nützt.« Geistesabwesend pustete Alex in die Tasse, trank aber bereits, ohne zu warten, bis der Kaffee abgekühlt war. »Ich frage mich, warum er nicht irgendwo hingeht, eine religiöse Sekte gründet und uns, verdammt noch mal, zufriedenlässt.« »Dafür fehlt ihm das Charisma«, erklärte Liz mit Nachdruck. »Er ist ganz offensichtlich bloß ein leicht beschränkter Irrer. Mir tut nur Selena leid.« Alex schnaubte. »Sie wurde ja nicht gezwungen, ihn zu heiraten. Und so, wie sie ihn anschmachtet, hält sie ihn anscheinend für die Wiederkunft des Herrn - entschuldige die Blasphemie.« »Ich glaube, jede Stadt braucht mindestens einen wie Justin Marsh. Worüber sollten wir sonst reden?« »Über Mord?«, schlug er trocken vor. Liz sah in sein müdes, abgespanntes Gesicht. »Ich habe gehört, diesmal sei es Adam Ramsays Leiche gewesen. « »Sheriff Knight sagt Ja. Der Doc sagt Nein. Genaues werden wir erst wissen, wenn der Arzt die Zahnarztunterlagen einsehen konnte.« »Was glaubst du?« »Ich glaube, Randy irrt sich selten.« Er zuckte die Schultern und blickte stirnrunzelnd in seinen Kaffee. »Und wenn sie diesmal recht hat, dann geht hier etwas ganz Seltsames vor, Liz.« »Das haben mir die Teeblätter heute Morgen auch gesagt«, erwiderte Liz, ohne nachzudenken. Alex betrachtete sie voller Resignation. »Aha. Haben sie dir vielleicht sonst noch was verraten? Dass es in unserer hübschen kleinen Stadt einen brutalen Mörder gibt?« »Du glaubst doch nicht, dass es einer von uns war?«, rief sie erschrocken. Er lächelte sie auf eine seltsame Weise an, die sie nicht deuten konnte. »Liz, Gladstone könnte eine Stadt sein, die aus der Zeit gefallen ist. Es ist auf jeden Fall eine Stadt, an der die Touristen vorbeifahren. Wie viele Fremde fallen dir hier wöchentlich auf?« »Nun ja ... nicht viele.« »Nicht viele?« »Also gut, Fremde sind hier ganz selten, wenn man mal von den Versicherungsvertretern absieht. Doch das muss nicht bedeuten, dass einer von uns diese schrecklichen Dinge tut, Alex.« »Der Gedanke gefällt mir auch nicht. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass ein Fremder Gladstone auswählt, um dort Teenager umzubringen?« »Wenn du das so siehst ...« »Ja.« »Was auch immer da vorgeht«, sagte Liz nach kurzem Schweigen zögerlich, »es ist noch nicht vorüber, Alex.« »Wieder die Teeblätter?« »Ich weiß, was ich weiß.« Das war ihre Standardantwort auf Zweifel oder Unglauben. »Weil deine Großmutter Zigeunerin war? Liz ...« »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, doch diesmal musst du auf mich hören. Noch nie habe ich so viele düstere Omen gesehen. Es ist etwas Böses hier, etwas wirkliches, buchstäbliches Böses, das über dieser Stadt schwebt.« »So weit bin ich deiner Meinung. Hast du denn auch in deiner Kristallkugel gesehen, wie das Ganze ausgehen wird?« »Du weißt, dass ich keine habe.« Sie zögerte. »Aber ich weiß, dass jemand kommt. Die Blätter haben es mir gezeigt. Er kommt, um uns zu helfen, doch auch noch aus einem anderen Grund, einem geheimen. Und ich glaube ... ich weiß ... er wird sein Leben aufs Spiel setzen, um einen von uns zu retten.«
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Eigentlich hätte sich Lynet Grainger nicht zu ängstigen brauchen. Gladstone war eine sichere Stadt, war es immer gewesen. Mochte auch der Rest der Welt verrücktspielen, Schüler in ihren Schulen herumballern und frustrierte Angestellte an ihrem Arbeitsplatz Amok laufen, Autos geklaut und Kinder entführt werden, in Gladstone passierte so etwas nicht. Niemals. Allerdings passierte hier auch sonst nicht viel, zumindest bis vor Kurzem. Auch schon vor dem Bau der neuen Umgehungsstraße im vergangenen Jahr - die Gladstone tatsächlich völlig links liegen ließ -, war die kleine Stadt nicht mehr gewesen als ein Ort, in dem man zum Tanken anhielt oder auf der Durchreise nach Nashville zum Übernachten in der Bluebird Lodge abstieg. Jedenfalls würde man hier nicht länger als nötig Station machen. Es war nur ein Fleck auf der Landkarte, nicht hoch genug in den Bergen gelegen, um für Touristen als Wintersportort attraktiv zu sein - obwohl das Logo der Bluebird Lodge trotzig aus zwei gekreuzten Skiern bestand -, und doch wieder nicht weit genug von den Bergen entfernt, um sich guten Acker- oder Weidelandes rühmen zu können. Es war eben nur ein kleines Tal. Die Industrie bestand aus einer am Fluss gelegenen, übel riechenden Papiermühle, in der ein Großteil der ansässigen Arbeiter beschäftigt war. In der Stadt selbst gab es ein paar kleinere Firmen: Autohäuser, Immobilienagenturen und Geschäfte, wie es sie überall gibt. Zum Glück war Gladstone nicht so klein, dass jeder genau wusste, was der Nachbar tat - aber doch fast so klein. Nur die Videothek in der Innenstadt war an Unterhaltungswert dem Klatsch und Tratsch überlegen. Daher war es eine Riesensensation, als die knapp vierzehnjährige Kerry Ingram vor einigen Monaten anscheinend von zu Hause ausriss. Viele behaupteten, damit sei zu rechnen gewesen, da Kerrys älterer Bruder vor einigen Jahren das Gleiche getan hatte, um in Nashville sein Glück als Sänger zu versuchen (was darauf hinausgelaufen war, dass er eine Frau und zwei kleine Kinder mit einem Mechanikerlohn durchbringen musste). Es sei eben die Art von Familie, hieß es, die ihren Kindern keinerlei Anhänglichkeit an ihre Heimatstadt vermittelte. Doch schon damals hatte sich trotz dieser Gerüchte ein gewisses Unbehagen breitgemacht, noch bevor sich herausstellte, was wirklich mit Kerry passiert war. Denn ungefähr zur gleichen Zeit, als sie verschwand, war kaum mehr als hundert Meilen entfernt in Concord etwas sehr Unheimliches passiert. Lynet kannte die genauen Einzelheiten zwar nicht, aber man sprach davon, dass ein grässlicher Mann Frauen verfolgt und vergewaltigt hätte und erst gefasst worden sei, als man eine Spezialeinheit des FBI einschaltete. Zu gerne hätte Lynet einer solchen Einheit beim Einsatz zugesehen. Sie interessierte sich für die Arbeit der Polizei, und nachdem Sheriff Knight letzten Frühling beim Career Day so geduldig Lynets Fragen beantwortet hatte, war ihr Interesse nur noch gestiegen. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Kerry Ingrams Leiche gefunden wurde und sich einige Details herumgesprochen hatten. Lynet hatte sich richtig elend gefühlt, als sie die Einzelheiten gehört hatte. Sie redete sich ein, das Ganze ginge ihr nur deshalb so an die Nieren, weil sie Kerry tatsächlich gekannt hatte, und nicht wegen eines schwachen Magens, der ungeeignet war für die Arbeit einer Polizistin oder besser noch einer FBI-Agentin. Nein, es lag nur daran, dass sie Kerry gekannt hatte, die nur eine Klasse über ihr in der Schule gewesen und jeden Tag mit demselben Schulbus gefahren war. Und weil sie sich so lebhaft an die glänzende Schleife erinnerte, die Kerry immer im Haar trug, und an ihr schüchternes Lächeln, wenn einer der Jungs sie ansprach. Und sie erinnerte sich daran, wie stolz Kerry gewesen war, dass sie zu den Jahrgangsbesten zählte, denn Mathe fiel ihr ziemlich schwer, und sie hatte sich wirklich anstrengen müssen in diesem Jahr ... Lynet verdrängte diese Erinnerungen und sah sich misstrauisch um, während sie forsch den Gehsteig entlangging. Nahezu alle Geschäfte in der Innenstadt hatten wie üblich auch an diesem Mittwoch zeitig geschlossen, und um neun Uhr abends waren weder Autos noch Fußgänger unterwegs. Trotzdem, es gab keinen Grund für Lynet, sich zu ängstigen. Sheriff Knight hatte gesagt, die arme Kerry sei wahrscheinlich ausgerutscht und in diese schreckliche Schlucht gefallen, in die sonst Abfall gekippt wurde. Jedenfalls hatte man dort Kerrys Leiche gefunden. Doch Lynet hatte darüber munkeln gehört, was man Kerry möglicherweise angetan hatte, bevor sie starb. Und auch wenn es sich dabei nur um wilde Spekulationen handelte, waren die doch dazu angetan, einem Mädchen Angst zu machen, das nach Einbruch der Dunkelheit allein unterwegs war. An der Ecke Main Street und Trade Street blieb sie stehen und überlegte kurz, ob sie wie sonst die Abkürzung durch den Park nehmen sollte. Sehr kurz nur. Besser, ich bleibe auf dem Gehsteig im Licht der Straßenlaternen, dachte sie, auch wenn dadurch der Heimweg eine Viertelstunde länger dauert. Also marschierte sie weiter, ärgerte sich über sich selbst, dass sie in der Bibliothek so lange herumgetrödelt hatte, und sehnte ihren sechzehnten Geburtstag herbei, damit sie endlich mit dem zerbeulten Honda ihrer Mutter fahren konnte, statt überallhin zu Fuß gehen zu müssen. »Lynet, was in aller Welt machst du noch so spät hier draußen?« Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, und sie presste sich unbewusst mit einer dramatischen Geste die Hand an die Brust, als stünde sie kurz vor dem Herzinfarkt. »Ach, Sie sind es! Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!« »Das tut mir leid. Du solltest so spät nicht mehr unterwegs sein. Wieso bist du nicht zu Hause?« »Ich musste an den Computer in der Bibliothek. Sie wissen ja, dass ich noch keinen eigenen habe.« »Gut, aber nächstes Mal lass dich von jemandem heimfahren.«
»Mach ich.« Lynet lächelte freundlich. »Wir können bis zur nächsten Ecke zusammen gehen. Das ist doch auch Ihr Weg, nicht?« »Ja.« »Prima. Zu zweit wird uns niemand belästigen.« »Nein, bestimmt nicht.« »Ich bin überrascht, Sie hier draußen zu sehen«, plauderte Lynet munter weiter. »Gehen Sie spazieren? Ich weiß, einige Leute tun das, um sich ein bisschen zu bewegen. Aber nur im Sommer, dachte ich.« »Heute Abend ist es nicht kalt.« »Ihnen ist nicht kalt? Mir schon. Doch flott zu gehen hilft etwas. Wenn wir schneller ...« Lynet machte einen weiteren Schritt und blieb stehen, als sie erkannte, was da auf sie gerichtet war. »Oh«, brachte sie benommen hervor. »Oh nein. Sie ...« »Du weißt, was das ist. Und was man damit tun kann.« »Ja«, hauchte Lynet. »Dann wirst du also mit mir kommen und keinen Ärger machen, nicht wahr, Lynet?« »Tun Sie mir nicht weh. Bitte, nicht ...« »Es tut mir leid, Lynet. Wirklich.«
1
Donnerstag, 6. Januar Die Leiche war schon mindestens zwei oder drei Tage der Witterung ausgesetzt gewesen. Und über die Lichtung mussten sich Dutzende von Pfoten- und Klauenspuren gezogen haben, bevor der heftige Regen der letzten Nacht sie fortgewaschen hatte. Es sah nach einem langen, kalten Winter aus, und die Tiere waren hungrig. Deputy Alex Mayse fröstelte, während er sich vorsichtig an dem einzigen gerichtsmedizinischen »Experten« der Stadt vorbeidrückte, einem jungen Arzt, den man zum Gerichtsmediziner gemacht hatte, weil sonst keiner den Job wollte. Der Arzt kroch auf allen vieren auf der Lichtung herum, die Nase nur wenige Zentimeter über dem feuchten Boden, während er die verstreuten Knochen und andere von den Tieren übrig gelassenen Teile zusammensuchte und markierte. »Sie brauchen nicht vor sich hin zu summen, Doc«, knurrte Alex gereizt. »Wir wissen alle, wie erfreut Sie sind.« »Wenn ich mich über einen ermordeten Teenager freuen würde, wäre ich schlimmer als ein Leichen fressender Dämon. Mich fasziniert nur das Puzzle, mehr nicht«, erwiderte Dr. Peter Shepherd gelassen, ohne sich aus seiner gebückten Stellung aufzurichten. Einige Schritte hinter dem Arzt verdrehte Deputy Brady Shaw die Augen, während er mit der Kamera in der Hand geduldig darauf wartete, Fotos von jeder markierten Stelle machen zu können. Alex grinste mitfühlend. »Ist ja schon gut. Aber sehen Sie zu, dass Sie diesmal was Verwertbares finden, ja?« »Werde mein Bestes tun«, erwiderte der Arzt, während er etwas betrachtete, das wie ein ausgebleichter Zweig aussah. Alex ging zu der Stelle, wo der größte Teil der Leiche gefunden worden war, und bemerkte durchaus mit Mitgefühl, dass sich Sandy Lynch drüben hinter einem Baum die Seele aus dem Leib kotzte. Eine schlimme Einführung in den Job für das arme Kind! Nicht, dass die alten Hasen damit besser zurechtgekommen wären, wirklich nicht. Carl Tierney hatte das Pech gehabt, die sterblichen Überreste von Adam Ramsay zu entdecken, worauf er, der Veteran des Sheriffdepartments, prompt seinen morgendlichen Egg McMuffin von sich gegeben hatte. Alex selbst hatte während der letzten Stunden ein paar mulmige Augenblicke durch Zähnezusammenbeißen überstanden. Die Einzige der Belegschaft des Sheriffdepartments von Cox County, der nicht anzusehen war, dass ihr der grausige Anblick auf den Magen schlug, war Sheriff Knight. Das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dachte Alex, als er sich zu Sheriff Knight gesellte, die etwa einen Meter von Adam Ramsays Überresten entfernt hockte, die Ellbogen auf den Knien, die Fingerspitzen gegeneinander gedrückt. Die kleine Stadt Gladstone war während ihrer gesamten Geschichte kaum je von einem Mordfall erschüttert worden. Eine lange Reihe von Sheriffs war im Amt ergraut und hatte es nur mit Kleinkriminalität und unerheblichen Vergehen zu tun gehabt und an polizeilicher Ausbildung nicht mehr als das Laden einer Waffe benötigt, die nur auf Zielscheiben oder gelegentlich auf ein unglückliches Kaninchen abgefeuert wurde. Es war ein stadtbekannter Spruch, dass die einzige Herausforderung an den Sheriff von Cox County die jährliche Weihnachtsparade auf der Main Street war, bei der er in seinem Santa-Claus-Kostüm eine gute Figur machen musste. Bis voriges Jahr. Da hatte die Stadt jemanden mit einem Juradiplom und dem Nebenfach Kriminalistik zum Sheriff gewählt. Und was geschah? Prompt passierten richtige Verbrechen. Doch sie hatten Glück, denn gerade dieser Sheriff legte die beinahe unheimliche Fähigkeit an den Tag, den Dingen in kürzester Zeit auf den Grund gehen zu können. Zumindest bis vor Kurzem. »Jetzt sind es schon zwei«, sagte Alex, dem das Schweigen inzwischen zu lange dauerte. »Ja.« »Gleicher Mörder, was glauben Sie?« Erstaunlich blaue Augen blickten ihn schräg von unten an. »Schwer zu sagen, mit nichts als Knochen.« Alex wollte schon erwidern, dass hier und da auch noch ein bisschen verwestes Fleisch vorhanden war, hielt jedoch den Mund. An Adam Ramsays Skelett war weiß Gott nicht mehr viel davon dran, und an den Resten ließ sich nicht auf Anhieb erkennen, wer ihn umgebracht hatte und wie. Es war nicht möglich festzustellen, ob die Leiche des Jungen die gleichen Blutergüsse und Schnitte aufwies, wie sie bei Kerry Ingram gefunden worden waren. Dennoch war es naheliegend, davon auszugehen, dass zwischen zwei innerhalb eines Monats aufgefundenen Mordopfern ein gewisser Zusammenhang bestehen musste. Alex seufzte. »Durch die Behauptung, es wäre ein Unfall gewesen, wird das Gerede nicht aufhören. Wir wissen zwar noch nicht, wie er starb, aber es ist doch sonnenklar, dass ein Unfallopfer niemals seine eigene Leiche begraben hätte. Und Sie können wetten, dass sich dieses Detail bald herumgesprochen hat.« »Ich weiß.« »Also haben wir ein Problem. Ein großes Problem.« »Mist«, kam es leise von Sheriff Knight. Alex fragte sich, ob in dem, was er da hörte, Schuldgefühle mitschwangen. »Auch wenn wir bekannt gegeben hätten, dass Kerry Ingram ermordet wurde, hätte das den Mord hier nicht verhindert«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Ich bin vielleicht kein Experte, doch ich nehme an, dass Adam bereits vor mehreren Wochen gestorben ist.« »Ja, vermutlich.« »Und seine Mutter hat ihn erst kurz vor Halloween als vermisst gemeldet, obwohl er da bereits seit Wochen verschwunden war.« »Weil sie einen Mordskrach hatten und er abgehauen war, um bei seinem Vater in Florida zu leben, was er schon mindestens zweimal zuvor getan hatte. Jedenfalls glaubte sie das.« »Ich will darauf hinaus, dass wir nichts hätten tun können, um Adam Ramsay zu retten.« »Möglich«, entgegnete Sheriff Knight nachdenklich. »Aber vielleicht hätten wir Kerry Ingram retten können.« In die folgende Stille hinein sagte Alex: »Wie gut, dass er seinen Schulring trug. Und dass er diesen Goldzahn hatte. Ansonsten hätten wir ihn nie identifizieren können. Doch welches Kind in seinem Alter hat denn einen Goldzahn? Das wollte ich vorhin schon fragen, aber ...« »Keinen Zahn, eine Krone. Er hat einen Ring seines Vaters einschmelzen lassen, und ein Zahnarzt in der Stadt hat ihm die Krone gemacht.« »Aber wieso in aller Welt?« »Seine Mutter wusste es entweder nicht oder wollte es nicht sagen. Und ihn können wir jetzt nicht mehr fragen.« Und noch immer in Hockstellung, fügte Sheriff Knight hinzu: »Ich bezweifle, dass es von Bedeutung ist, zumindest für die Frage, wer ihn ermordet hat und warum.« »Tja, das wird wohl stimmen. Haben Sie schon irgendeine Vorstellung in dieser Richtung?« »Nein.« Alex seufzte. »Ich auch nicht. Das wird dem Bürgermeister nicht gefallen, Randy.« »Niemandem wird das gefallen, Alex. Vor allem nicht Adam Ramsays Mutter.« »Sie wissen schon, was ich meine.« »Ja. Ich weiß.« Sheriff Miranda Knight seufzte, erhob sich aus der Hocke und dehnte gedankenverloren ihre verkrampften Muskeln. »Mist«, murmelte sie erneut. Deputy Sandy Lynch, immer noch leichenblass, wagte sich einen Schritt näher, vermied es aber tunlichst, den Blick auf die Leichenreste zu richten. »Tut mir leid, Sheriff«, sagte sie nervös. Sie war noch so neu in ihrem Job, dass sie Angst hatte, ihn wieder zu verlieren. Miranda sah sie an. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Sandy. Hier können Sie sowieso nichts mehr tun. Fahren Sie zurück ins Büro und helfen Sie Grace bei den ganzen Telefonanrufen.« »Okay, Sheriff.« Sie hielt inne. »Was sollen wir den Leuten sagen?« »Sagen Sie ihnen, wir hätten zur Zeit noch keinerlei Informationen. « »Ja, Chef.« »Das wird die Leute auch nicht lange aufhalten«, bemerkte Alex, während die junge Polizistin sichtlich erleichtert zu ihrem Wagen zurückging. »Lange genug, mit etwas Glück. Ich hätte gerne erst noch ein paar Antworten, bevor ich John Vorschläge präsentiere.« »Nachdem ihm der Tumult drüben in Concord einen solchen Schreck eingejagt hat, wird er bestimmt überreagieren und behaupten, wir hätten es mit einem Serienmörder zu tun.« »Zwei Morde machen noch keinen Serienmörder.« »Sie wissen das, und ich weiß das. Aber der Bürgermeister wird es vorziehen, auf Nummer sicher zu gehen. Er liebt sein Amt und will es behalten. Der Bürgermeister von Concord wurde buchstäblich aus der Stadt gejagt, weil er nicht darauf bestanden hatte, schon eher eine Spezialeinheit anzufordern. John MacBride wird nicht gewillt sein, denselben Fehler zu machen.« Miranda nickte stirnrunzelnd. »Ich weiß, ich weiß.« - »Dann kommen Sie ihm doch zuvor. Sagen Sie ihm, Sie würden vorschlagen, die Spezialeinheit sofort anzufordern.« Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Sie haben das Rundschreiben ja auch gelesen. Die Spezialeinheit wurde geschaffen, um ungewöhnliche Verbrechen mit unerklärlichen Aspekten aufzuklären, Fälle, die sich durch normale Polizeiarbeit nicht lösen lassen. Soweit wir wissen, handelt es sich hier um zwei Teenager, die Opfer eines Streits oder einer gewalttätigen Auseinandersetzung wurden. Beide wurden wahrscheinlich von jemandem ermordet, den sie kannten, und aus äußerst banalen Gründen. Von etwas Ungewöhnlichem wissen wir nichts.« »Randy, niemand wird es Ihnen zum Vorwurf machen, die Leute vom FBI geholt zu haben, egal, ob diese Morde ungewöhnlich sind oder nicht. Wir sind ein unterbesetztes Sheriffdepartment einer kleinen Stadt und nahezu ohne jegliche technische Ausrüstung. Der letzte Mord vor dem Ingram- Mädchen, den ein Sheriff von Cox County aufklären musste, liegt zwanzig Jahre zurück: ein gehörnter Ehemann, der den Liebhaber seiner Frau erschoss, während der versuchte, aus dem Schlafzimmerfenster zu entkommen. Keine besonders knifflige Ermittlung. Die Fälle, mit denen Sie bisher zu tun hatten, waren schwierig, und Sie haben sie weiß Gott gut gelöst. Doch dabei war Können, Verstand und Instinkt gefragt, wovon Sie jede Menge besitzen. Was Sie aber nicht haben, sind kriminalistische Hilfsmittel, die dem neuesten Stand entsprechen. Ein Computersystem, das nicht seit bereits fünf Jahren veraltet ist, genügend Deputys, um den Bezirk, für den Sie verantwortlich sind, tatsächlich abdecken zu können, und einen Mediziner, dessen Spezialgebiet - und nicht dessen Hobby - die Forensik ist.« »Das habe ich gehört«, rief Dr. Shepherd herüber. »Das sollten Sie auch«, rief Alex unbeeindruckt zurück. Er wandte sich wieder an Miranda und fuhr mit leiserer Stimme fort: »Fordern Sie die Leute vom FBI an, Randy. Niemand würde es Ihnen verübeln. Und, zum Teufel noch mal, wir brauchen die Hilfe.« »Die helfen nicht, sie übernehmen.« »Dann würde ich sagen: Sollen sie doch.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, Alex. Ich kann das Problem nicht einfach jemand anderem überlassen, nur weil ich befürchte, dass es mir über den Kopf wächst.« »MacBride kann seine Autorität spielen lassen. Und Sie wissen, dass er das tun wird. Randy, es gab schon genug Bedenken, eine Frau zum Sheriff zu wählen, daher reagiert er sehr empfindlich auf jede Kritik der Wähler. Beim ersten Anzeichen, dass dieses Department mit der Ermittlung überfordert ist, wird er so laut wie möglich um Hilfe schreien.« »Nein«, entgegnete sie. »Das wird er nicht, nicht öffentlich. « »Dann wird er Sie dazu bringen, es selbst zu tun.« »Vielleicht.« »Randy ...« »Vorläufig gibt es keinerlei Anzeichen für etwas Ungewöhnliches «, wiederholte Miranda dickköpfig. »Und nur weil wir bei den Ermittlungen zu dem Mord an Kerry Ingram feststecken, heißt das nicht, dass wir mit diesem Fall nicht mehr Glück haben könnten. Eines ist jedenfalls sicher: Ich habe weiß Gott vor, mein Bestes zu geben. Ich werde keine Fremden hinzuziehen, es sei denn, uns bliebe keine andere Wahl.« Sie massierte ihren Nacken, wo sich offensichtlich ihre Anspannung bemerkbar machte, und betrachtete die Überreste von Adam Ramsay mit finsterer Miene. Alex beobachtete sie, ohne sich die Mühe zu machen, es diskret zu tun. Längst hatte er festgestellt, dass Miranda prüfende Männerblicke gar nicht wahrnahm. Zumindest nicht bei der Arbeit. Meist trug sie Pulli und Jeans, das schwarze Haar streng aus dem Gesicht, die Nägel kurz und unlackiert und nur das Nötigste an Make-up. Sie brauchte das alles nicht. Miranda Knight war eine dieser seltenen Frauen, die auch dann noch gut aussehen würden, wenn man sie in einen Hafersack gesteckt und in Schlamm gewälzt hätte. Sie trug auch im Dienst keine Uniform, ein Privileg, das sie sich mehr oder weniger ausbedungen hatte, ehe sie die Stellung annahm. Ihre engen Jeans und der dicke Pullover verbargen weder die Waffe an ihrer Hüfte noch ihre Maße, die denen eines Pin-up-Girls würdig gewesen wären. Alex war sich nicht ganz im Klaren darüber, was den Bürgermeister von Gladstone mehr anzog, die Waffe oder der Körper, doch es war ein offenes Geheimnis, dass John MacBride ein Auge auf Miranda geworfen hatte, schon lange bevor die beiden vor einem Jahr ins Amt gewählt worden waren. Was Miranda wiederum über den Bürgermeister dachte, war ein Geheimnis, das nur sie kannte. Wenn sie mit Alex sprach, erwähnte sie ihn hin und wieder ganz ungezwungen, doch in der Öffentlichkeit benahm sie sich dem Bürgermeister gegenüber ausnahmslos förmlich, höflich und respektvoll. Und sollte sie ihm tatsächlich gestattet haben, sie auf eine Tasse Kaffee einzuladen, hatte sie es in dieser neugierigen Stadt wohl an einem Ort getan, wo es niemand mitbekam.
Dennoch fragte sich Alex, ob sich MacBrides Bemühungen der letzten Monate ändern würden, falls Miranda sich weigerte, das politische Überleben des Bürgermeisters durch die unverzügliche Übergabe der Ermittlungen an die Bundesbehörde zu sichern. »Wir wissen doch gar nicht, ob hier etwas Ungewöhnliches vorliegt«, wiederholte sie erneut, und ihr nachdrücklicher Ton ließ Alex plötzlich aufhorchen. »Haben Sie irgendwas entdeckt?«, fragte er. Diesmal nahm Miranda seinen Blick offensichtlich wahr, vermied es jedoch, ihn zu erwidern. »Ich sagte nur ...« »Ich weiß, was Sie gesagt haben. Ich habe auch gehört, wie Sie es sagten. Und ich weiß, dass Sie manchmal Dinge sehen, die alle anderen übersehen. Was sehen Sie, was ich nicht sehe, Randy?« »Nichts. Ich sehe nichts.« Alex hatte den Eindruck, dass sie ihn anlog. Doch bevor er nachhaken konnte, kam Doc Shepherd auf sie zu. »Ich könnte Ihnen einen vorläufigen Bericht geben«, sagte er zu Miranda. »Sie bekommen ihn schriftlich, sobald ich wieder im Büro bin, doch falls Sie hören wollen, was drinstehen wird, während Brady die Fotos macht ...« »Lassen Sie hören.« »Unmöglich zu sagen, ob der Junge erdrosselt wurde wie das Ingram-Mädchen, aber es gibt Anzeichen dafür, dass ein paar Knochen noch vor Eintritt des Todes gebrochen wurden. « »Könnten sie versehentlich bei einem Sturz gebrochen sein?«, fragte Miranda. »Unwahrscheinlich. Meiner Ansicht nach hat man ihm die Arme derart verdreht, dass sie gebrochen sind, was eine beträchtliche, vorsätzliche Krafteinwirkung erfordert. Und zwei Knochen seiner linken Hand sind zertrümmert, wahrscheinlich von einem Hammer oder etwas Ähnlichem.« »Wollen Sie damit sagen, er ist gefoltert worden?«, fragte Alex zögerlich. »Ausschließen würde ich es nicht, doch ich habe nicht genug Beweise, um mir völlig sicher zu sein.« »Worin sind Sie sich denn sicher?«, wollte Miranda wissen. »Ich bin mir sicher, dass er mindestens drei oder vier Wochen tot ist, möglicherweise sogar länger. Ich bin sicher, dass er an einem anderen Ort getötet wurde. Dann wurde er hierher gebracht und in dieser flachen Grube vergraben, die seinen Körper nicht lange vor hungrigen Tieren schützen konnte.« Peter Shepherd hielt kurz inne. »Jetzt würde ich Sie gerne etwas fragen: Sind Sie sicher, dass es die Überreste von Adam Ramsay sind?« Die Frage überraschte Alex, doch als er zu Miranda blickte, schien das bei ihr nicht der Fall zu sein. »Wir haben hier seinen Schulring gefunden«, erklärte sie emotionslos. »Die Goldkrone auf dem Schneidezahn passt auch zu dem, was in den Unterlagen steht. Größe und geschätztes Gewicht könnten ebenfalls hinkommen. Und auf dem Stück Kopfhaut, das sich noch am Schädel befindet, sind rote Haare wie die von Adam Ramsay. Wir haben jeden Grund zur Annahme, dass die Identifizierung korrekt ist.« Sie hielt inne, und als sie fortfuhr, klang es, als würde sie die Frage nur ungern stellen. »Sie glauben, dass er es nicht ist?« Shepherd genoss seine Rolle offensichtlich. »Ich bin der Meinung, falls er es ist, muss seine Mutter wesentlich älter sein, als sie aussieht. Genaueres werde ich erst wissen, nachdem ich ein paar Tests durchgeführt habe, aber es würde mich wundern, wenn ich feststellen würde, dass diese Knochen von jemandem stammen, der jünger als vierzig Jahre ist.« Wieder schien Miranda nicht überrascht. »Wir haben die vollständigen zahnärztlichen Unterlagen«, sagte sie in dem gleichen emotionslosen Ton, »also dürfte es nicht lange dauern, seine Identität zu bestätigen. Falls es Adam ist.« »Adam war siebzehn«, stellte Alex verwirrt fest. »Diese Knochen sind älter«, antwortete Shepherd schulterzuckend. »Von ihm ist kaum mehr übrig, als in einen Schuhkarton passt«, wandte Alex ein. »Wie können Sie denn wissen ...« Miranda hob die Hand, um Alex zu unterbrechen. »Wir sollten warten, bis wir ein paar Fakten mehr haben, bevor wir uns darüber streiten. Doc, nehmen Sie die Überreste mit ins Leichenschauhaus, und ich schicke Ihnen den Gebissstatus. « »Ich weiß nicht, wer sein Hausarzt war, doch wenn Sie dessen Unterlagen auch ...« »Ich schicke sie mit.« Alex folgte Miranda, die sich ein Stück entfernte, um dem Arzt Platz zum Arbeiten zu machen. »Sie wussten, was er sagen würde, nicht?«, fragte er vorwurfsvoll. »Woher hätte ich das wissen sollen?« Ihr Ton war eher sachlich als ausweichend. Sie sah Shepherd zu, wie er die Reste in einem schwarzen Leichensack verstaute. »Genau das frage ich Sie ja, Randy. Wieso wussten Sie es? Verfügen Sie insgeheim auch noch über einen Abschluss in Gerichtsmedizin?« »Natürlich nicht.« »Also?« »Ich habe nichts anderes gesehen als Sie, Alex.« »Doch Sie wussten, dass es nicht das Skelett von Adam Ramsay ist?« Miranda drehte schließlich den Kopf und sah Alex an. In ihrem Gesicht lag etwas, das er nicht deuten konnte und das ihm gar nicht gefiel, eine Verschlossenheit, die er nie zuvor an ihr gesehen hatte. Zum ersten Mal in den knapp fünf Jahren, die er sie nun kannte, hatte Alex das Gefühl, eine Fremde anzusehen. »Im Gegenteil«, erwiderte sie ruhig. »Ich wusste - ich weiß - nur, dass wir alles gefunden haben, was von Adam Ramsay übrig ist.« »Das verstehe ich nicht.« »Es ist Adam Ramsay, Alex. Der Gebissstatus wird es beweisen. « »Aber wenn es die Knochen eines älteren Mann sind ...« Alex unterbrach sich und senkte die Stimme. »Dann irrt sich der Doc also darin?« »Das hoffe ich.« Alex ging nicht davon aus, dass Miranda dem Arzt eins auswischen wollte. »Wenn der Doc mit dem Alter der Knochen recht hat«, spekulierte er, »würde das bedeuten, das Opfer wäre jemand, den niemand als vermisst gemeldet hat. Und das hieße, wir könnten Adam Ramsays Leiche immer noch finden. Wenn aber Sie recht haben ...« »Wenn ich recht habe, bedeutet es etwas ganz anderes«, fiel ihm Miranda ins Wort. »Es würde bedeuten, wir hätten es mit einem viel größeren Rätsel zu tun als dem von zwei weggelaufenen Teenagern.« Liz Hallowell hatte die dreißig Jahre ihres Lebens in Gladstone verbracht und kannte daher nahezu jeden. Und da die Buchhandlung, die sie von ihren Eltern geerbt hatte, im Stadtzentrum lag und kürzlich durch ein kleines Café erweitert worden war, wo die Leute sitzen und sich in aller Ruhe unterhalten konnten, bekam sie alles, was sich so tat, innerhalb von Stunden mit. Also hatte sie die Neuigkeit dieses kalten Januarmorgens bereits gehört. Sie wusste, dass von einem dienstfreien Deputy, der frühmorgens auf die Jagd gehen wollte, im Wäldchen am Stadtrand eine Leiche - oder zumindest Knochen - gefunden worden war. Sie wusste, dass man annahm, es wären die Knochen von Adam Ramsay. Und sie wusste, dass die ganze Geschichte höchst seltsam war. Ein Mord war natürlich immer etwas Seltsames. Doch da war noch etwas, davon war sie überzeugt. Die Blätter in ihrem morgendlichen Tee hatten ihr einen Schauder über den ganzen Körper gejagt, und schon davor hatte es einige andere beunruhigende Vorzeichen gegeben. Letzte Nacht hatte sie einen schreienden Ziegenmelker gehört und dann geträumt, auf einem Pferd zu reiten - was sexuell konnotiert war, für Liz kaum überraschend angesichts ihrer kürzlichen Enttäuschungen -, und auch von einer Tür, die sie nicht hatte öffnen können, was überhaupt kein gutes Vorzeichen war. Zweimal war sie von einem heulenden Hund geweckt worden, und kurz vor Morgengrauen hatte es gedonnert, obwohl es nicht gewitterte. Am Morgen hatte dann der Hahn des Nachbarn mit Blickrichtung auf ihre Türe gekräht, was die Ankunft eines Fremden verhieß. Innerhalb der letzten zwei Tage hatte sie dreimal Salz verschüttet, aber nichts, was sie unternahm, um dem Unglück sofort entgegenzutreten, konnte es gänzlich verhindern. Und ein Vogel, dazu noch eine Taube, war gegen das Fenster ihres Frühstückszimmers geflogen und hatte sich den kleinen Hals gebrochen. Da Liz allein lebte, nahm sie an, sie sei diejenige, der der Tod ins Haus stünde. Alex hatte nur den Kopf geschüttelt, als sie es ihm erzählte, doch Liz' Großmutter war eine Roma gewesen, und sie selbst war mit einer Glückshaube geboren worden - und sie wusste über solche Dinge Bescheid. Das Böse war hier, und Schlimmeres war im Anmarsch. Daher hatte Liz, bevor sie das Haus verließ, sorgfältig verschiedene Amulette in dem Medizinbeutel verstaut, den sie an einem Lederriemen um den Hals trug: zwei Eschenblätter, eine Knoblauchzehe, kleine Stücke Glückswurzel, Eichenrinde und mehrere kleine Edelsteine - Blutstein, Karneol, Tigerauge, Granat, schwarzer Opal, Staurolith und Topas. In ihrer Handtasche hatte sie noch eine Hasenpfote, und ihre Ohrringe waren winzige goldene Wunschknochen. Das alles beschützte sie jedoch nicht vor Justin Marsh, was sehr traurig war. »Das ist Gotteslästerung, Elizabeth«, rief er und wedelte mit einem Buch vor ihrer Nase herum. Sie schob das Buch sacht so weit beiseite, dass sie den Titel lesen konnte, und erwiderte dann sanftmütig: »Das ist ein Roman, Justin. Eine erfundene Geschichte. Ich bezweifle stark, dass der Autor irgendjemanden davon zu überzeugen versucht, Jesus sei eine Frau gewesen. Doch falls Sie das tröstet, Sie sind der Erste, der das Buch hier je in die Hand genommen hat.« In seinem ständig gebräunten Gesicht funkelten blässlich braune Augen. Der volle Schopf weißer Haare und der übliche weiße Anzug verliehen ihm das Aussehen eines Fernsehpredigers, fand sie. Und so klang er auch. »Bücher wie dieses gehören auf den Index!«, verkündete er ihr lautstark. Liz stellte fest, dass kaum einer ihrer frühmorgendlichen Kunden den Kopf hob. Alle waren genauso wie sie an Justins Tiraden gewöhnt. »Wir verbieten hier keine Bücher, Justin.« »Wenn unschuldige Gemüter dies lesen ...!« »Glauben Sie mir, unschuldige Gemüter wagen sich nicht in diesen Bereich des Ladens. Sie drängeln sich alle bei den Regalen drei Reihen weiter und lesen Zeug über Ninjas und wie man sich in Computersysteme hackt.« Die Ironie war an ihm verschwendet, genau wie sie erwartet hatte. »Elizabeth, Sie haben die Aufgabe, den noch formbaren Geist junger Menschen vor Schund wie diesem zu bewahren. « Erneut fuchtelte er mit dem Buch vor ihrer Nase herum. »Nein, dafür sind ihre Eltern zuständig«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Liz führt nur eine Buchhandlung.« »Morgen, Alex«, erwiderte sie. »Hi. Ein Kaffee wär nicht schlecht, Liz.« »Kommt sofort.« Sie überließ es Alex, sich mit Justin herumzuschlagen, und ging hinter den Tresen, um zwei Tassen von dem Kaffee mit dem Schokoladenaroma einzuschenken, dem Alex seit Kurzem verfallen war. Als sie sich dann zu ihm wie immer an den Tisch beim Schaufenster setzte, war Justin verschwunden. »Wenn er jetzt da hinten ist und ein anderes Buch herausreißt ...« »Ich habe ihm für den nächsten Vorfall ein Bußgeld und eine Gefängnisstrafe angedroht, falls das was nützt.« Geistesabwesend pustete Alex in die Tasse, trank aber bereits, ohne zu warten, bis der Kaffee abgekühlt war. »Ich frage mich, warum er nicht irgendwo hingeht, eine religiöse Sekte gründet und uns, verdammt noch mal, zufriedenlässt.« »Dafür fehlt ihm das Charisma«, erklärte Liz mit Nachdruck. »Er ist ganz offensichtlich bloß ein leicht beschränkter Irrer. Mir tut nur Selena leid.« Alex schnaubte. »Sie wurde ja nicht gezwungen, ihn zu heiraten. Und so, wie sie ihn anschmachtet, hält sie ihn anscheinend für die Wiederkunft des Herrn - entschuldige die Blasphemie.« »Ich glaube, jede Stadt braucht mindestens einen wie Justin Marsh. Worüber sollten wir sonst reden?« »Über Mord?«, schlug er trocken vor. Liz sah in sein müdes, abgespanntes Gesicht. »Ich habe gehört, diesmal sei es Adam Ramsays Leiche gewesen. « »Sheriff Knight sagt Ja. Der Doc sagt Nein. Genaues werden wir erst wissen, wenn der Arzt die Zahnarztunterlagen einsehen konnte.« »Was glaubst du?« »Ich glaube, Randy irrt sich selten.« Er zuckte die Schultern und blickte stirnrunzelnd in seinen Kaffee. »Und wenn sie diesmal recht hat, dann geht hier etwas ganz Seltsames vor, Liz.« »Das haben mir die Teeblätter heute Morgen auch gesagt«, erwiderte Liz, ohne nachzudenken. Alex betrachtete sie voller Resignation. »Aha. Haben sie dir vielleicht sonst noch was verraten? Dass es in unserer hübschen kleinen Stadt einen brutalen Mörder gibt?« »Du glaubst doch nicht, dass es einer von uns war?«, rief sie erschrocken. Er lächelte sie auf eine seltsame Weise an, die sie nicht deuten konnte. »Liz, Gladstone könnte eine Stadt sein, die aus der Zeit gefallen ist. Es ist auf jeden Fall eine Stadt, an der die Touristen vorbeifahren. Wie viele Fremde fallen dir hier wöchentlich auf?« »Nun ja ... nicht viele.« »Nicht viele?« »Also gut, Fremde sind hier ganz selten, wenn man mal von den Versicherungsvertretern absieht. Doch das muss nicht bedeuten, dass einer von uns diese schrecklichen Dinge tut, Alex.« »Der Gedanke gefällt mir auch nicht. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass ein Fremder Gladstone auswählt, um dort Teenager umzubringen?« »Wenn du das so siehst ...« »Ja.« »Was auch immer da vorgeht«, sagte Liz nach kurzem Schweigen zögerlich, »es ist noch nicht vorüber, Alex.« »Wieder die Teeblätter?« »Ich weiß, was ich weiß.« Das war ihre Standardantwort auf Zweifel oder Unglauben. »Weil deine Großmutter Zigeunerin war? Liz ...« »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, doch diesmal musst du auf mich hören. Noch nie habe ich so viele düstere Omen gesehen. Es ist etwas Böses hier, etwas wirkliches, buchstäbliches Böses, das über dieser Stadt schwebt.« »So weit bin ich deiner Meinung. Hast du denn auch in deiner Kristallkugel gesehen, wie das Ganze ausgehen wird?« »Du weißt, dass ich keine habe.« Sie zögerte. »Aber ich weiß, dass jemand kommt. Die Blätter haben es mir gezeigt. Er kommt, um uns zu helfen, doch auch noch aus einem anderen Grund, einem geheimen. Und ich glaube ... ich weiß ... er wird sein Leben aufs Spiel setzen, um einen von uns zu retten.«
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Kay Hooper
Kay Hooper lebt in North Carolina. Sie ist die preisgekrönte Autorin zahlloser Bestseller, ihre Bücher wurden weltweit über sechs Millionen Mal verkauft. Das erfolgreiche und etwas andere Profiler-Team um Noah Bishop taucht gleich in mehreren verschiedenen Thrillerserien von Kay Hoopers auf.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kay Hooper
- 2012, 1, 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652967
- ISBN-13: 9783863652968
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