Wenn du dich fürchtest vor dem Fall
Roman. Deutsche Erstausgabe
In diesem Roman erzählt der Autor auf ebenso fesselnde wie bewegende Weise von Menschen, die den Mut finden müssen, auch ohne schützendes Netz einen Sprung in ihrem Leben zu wagen: Da sind Amir und Rima, die sich bei einem nächtlichen Unfall begegnen und...
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Produktinformationen zu „Wenn du dich fürchtest vor dem Fall “
In diesem Roman erzählt der Autor auf ebenso fesselnde wie bewegende Weise von Menschen, die den Mut finden müssen, auch ohne schützendes Netz einen Sprung in ihrem Leben zu wagen: Da sind Amir und Rima, die sich bei einem nächtlichen Unfall begegnen und Liebende werden. Da ist Mala, eine junge Journalistin, die verzweifelt versucht, den Mord an einem kleinen Mädchen aufzuklären - und nicht zuletzt ein Kind, das in Todesangst um seine Eltern lebt und nur durch die Macht seiner Phantasie schließlich Rettung findet.
"Wenn du dich fürchtest vor dem Fall" erzählt von Menschen, die ihren täglichen Kampf gegen die Misshelligkeiten des Lebens bewältigen müssen. Doch selbst wenn ihr Dasein von Einsamkeit und Armut geprägt ist, lassen sie sich gleichwohl nicht beirren auf ihrer Suche nach der Reinheit und der Schönheit, die überall verborgen sind.
"Wenn du dich fürchtest vor dem Fall" erzählt von Menschen, die ihren täglichen Kampf gegen die Misshelligkeiten des Lebens bewältigen müssen. Doch selbst wenn ihr Dasein von Einsamkeit und Armut geprägt ist, lassen sie sich gleichwohl nicht beirren auf ihrer Suche nach der Reinheit und der Schönheit, die überall verborgen sind.
Klappentext zu „Wenn du dich fürchtest vor dem Fall “
In diesem Roman erzählt der Autor auf ebenso fesselnde wie bewegende Weise von Menschen, die den Mut finden müssen, auch ohne schützendes Netz einen Sprung in ihrem Leben zu wagen: Da sind Amir und Rima, die sich bei einem nächtlichen Unfall begegnen und Liebende werden. Da ist Mala, eine junge Journalistin, die verzweifelt versucht, den Mord an einem kleinen Mädchen aufzuklären - und nicht zuletzt ein Kind, das in Todesangst um seine Eltern lebt und nur durch die Macht seiner Phantasie schließlich Rettung findet."Wenn du dich fürchtest vor dem Fall" erzählt von Menschen, die ihren täglichen Kampf gegen die Misshelligkeiten des Lebens bewältigen müssen. Doch selbst wenn ihr Dasein von Einsamkeit und Armut geprägt ist, lassen sie sich gleichwohl nicht beirren auf ihrer Suche nach der Reinheit und der Schönheit, die überall verborgen sind.
"Schaut auf das Umschlagbild, da steht ein Kind, ein Mädchen in einem roten Kleid, und da fliegt ein Vogel, eine Krähe in einem bläulich weißen Himmel. Und dann sind da noch ein paar Dinge, die ihr nicht seht. ..." (Aus: Raj Kamal Jha "Wenn du dich fürchtest vor dem Fall")
Seit seinem preisgekrönten Debüt 'Das blaue Tuch' gilt Raj Kamal Jha als einer der herausragendsten Autoren Indiens. In seinem neuen Roman erzählt er auf ebenso fesselnde wie bewegende Weise von Menschen, die den Mut finden müssen, auch ohne schützendes Netz einen Sprung in ihrem Leben zu wagen: Da sind Amir und Rima, die sich bei einem nächtlichen Unfall begegnen und Liebende werden. Da ist Mala, eine junge Journalistin, die verzweifelt versucht, den Mord an einem kleinen Mädchen aufzuklären - und nicht zuletzt ein Kind, das in Todesangst um seine Eltern lebt und nur durch die Macht seiner Phantasie schließlich Rettung findet.
'Wenn du dich fürchtest vor dem Fall' erzählt von Menschen, die ihren täglichen Kampf gegen die Misshelligkeiten des Lebens bewältigen müssen. Doch selbst wenn ihr Dasein von Einsamkeit und Armut geprägt ist, lassen sie sich gleichwohl nicht beirren auf ihrer Suche nach der Reinheit und der Schönheit, die überall verborgen sind.
Der neue Roman von einem der renommiertesten jungen Autoren Indiens - eine literarische Odyssee durch ein Land von faszinierender Gegensätzlichkeit!
"Meisterhaft beherrscht Jha seine vielschichtige Geschichte, und beim Lesen ist es, als wandelte man durch ein verzaubertes Haus voller Spiegel. Ein herausragendes Buch, brillant geschrieben!" Sunday Tribune
"Jhas Prosa erreicht in diesem neuen Roman schier unglaubliche Höhen. Dabei lassen uns die Abgründe, über die er schreibt, zutiefst erschaudern." The Guardian
"'Wenn du dich fürchtest vor dem Fall' zeugt vom Reifungsprozess eines großartigen Autors!" The Indian Express
Seit seinem preisgekrönten Debüt 'Das blaue Tuch' gilt Raj Kamal Jha als einer der herausragendsten Autoren Indiens. In seinem neuen Roman erzählt er auf ebenso fesselnde wie bewegende Weise von Menschen, die den Mut finden müssen, auch ohne schützendes Netz einen Sprung in ihrem Leben zu wagen: Da sind Amir und Rima, die sich bei einem nächtlichen Unfall begegnen und Liebende werden. Da ist Mala, eine junge Journalistin, die verzweifelt versucht, den Mord an einem kleinen Mädchen aufzuklären - und nicht zuletzt ein Kind, das in Todesangst um seine Eltern lebt und nur durch die Macht seiner Phantasie schließlich Rettung findet.
'Wenn du dich fürchtest vor dem Fall' erzählt von Menschen, die ihren täglichen Kampf gegen die Misshelligkeiten des Lebens bewältigen müssen. Doch selbst wenn ihr Dasein von Einsamkeit und Armut geprägt ist, lassen sie sich gleichwohl nicht beirren auf ihrer Suche nach der Reinheit und der Schönheit, die überall verborgen sind.
Der neue Roman von einem der renommiertesten jungen Autoren Indiens - eine literarische Odyssee durch ein Land von faszinierender Gegensätzlichkeit!
"Meisterhaft beherrscht Jha seine vielschichtige Geschichte, und beim Lesen ist es, als wandelte man durch ein verzaubertes Haus voller Spiegel. Ein herausragendes Buch, brillant geschrieben!" Sunday Tribune
"Jhas Prosa erreicht in diesem neuen Roman schier unglaubliche Höhen. Dabei lassen uns die Abgründe, über die er schreibt, zutiefst erschaudern." The Guardian
"'Wenn du dich fürchtest vor dem Fall' zeugt vom Reifungsprozess eines großartigen Autors!" The Indian Express
Lese-Probe zu „Wenn du dich fürchtest vor dem Fall “
Erster PrologSchaut auf das Umschlagbild, da steht ein Kind, ein Mädchen in einem roten Kleid, und da fliegt ein Vogel, eine Krähe in einem bläulich weißen Himmel. Und dann sind da noch ein paar Dinge, die ihr nicht seht.
Erstens: Das Mädchen ist elf oder zwölf. Es steht auf dem Balkon einer Zweizimmerwohnung in einem Haus, das von der Straße aus wie ein weinendes Gesicht aussieht. Die Fenster sind die Augen, halb geschlossen hinter fleckigen, zerknitterten Vorhängen. Regen, Wind und Sonne ungezählter Jahre haben sich ins
Mauerwerk gefressen, in langen Streifen, von denen zwei, einer unter jedem Fenster, wie Tränenspuren aussehen. Der Balkon ist der Mund, nach unten gezogen vom Gewicht gusseiserner Geländer, rostig und verbogen. Wie die verfärbten Zähne eines Menschen, der sehr traurig ist. Und sehr alt.
Zweitens: Von dem Balkon, auf dem das Kind steht, führt eine Tür in ein Zimmer. Dort schläft das Kind in einem schmalen Bett dicht an der Wand. Das Zimmer dient - weil die Wohnung nur zwei Zimmer hat - den Tag über als Wohnzimmer.
Sessel stehen darin, eine Topfpflanze und in der Mitte ein gebraucht gekaufter Tisch mit gesprungener Glasplatte, auf den das Kind ein paar Schulbücher gelegt hat, eines davon aufgeschlagen.
Drittens: Das Kind weint. Tränen stehen ihm in den Augen, vielleicht ist das der Grund, weshalb es die Krähe so verschwommen sieht, weshalb es mich nicht sehen kann.
Viertens: Ich sitze auf dem Rücken der Krähe, die Beine fest angepresst, den Körper leicht gehoben, damit der Vogel mein Gewicht nicht spürt.
Seit dem Morgen ziehe ich meine Kreise am Himmel und über die Stadt,den ganzen Tag bis in den Nachmittag,den Abend hinein,und behalte den Vater und die Mutter des Kindes im Auge.
Ein paar Mal schon bin ich herabgestoßen, zwischen die Oberleitungen der Straßenbahn, zu den Baumkronen und den Balkonen der Häuser, einmal sogar unter einem landenden Flugzeug hindurch. Am Vormittag hat es ein paar Stunden lang geregnet, und ich
... mehr
bekam Regen in die Augen, hoch oben, klaren, kalten Regen,
noch nicht vermischt mit dem Staub, den schlurfende Füße auf der
Straße unten aufwirbeln. Manchmal bin ich von meinem Vogel abgestiegen, um herumzugehen oder an einer Stelle stehen zu bleiben, wo ich einen besseren Blick auf ihre Eltern hatte. Manchmal auch nur,damit der arme Vogel sich ausruhen kann.
Jetzt setze ich zur Landung an, denn ich will dem Kind etwas zeigen, ihm etwas vorlesen: Bilder, die ich aufgenommen, Notizen, die ich mir gemacht habe.
Was nach meiner Landung geschieht, was wir tun werden, das Kind und ich, davon später - viel später, um genau zu sein, ganz zum Schluss,wenn das Kind zu Wort kommt.
Bis dahin wollen wir den blauen und weißen Morgen erst einmal in einen tiefroten Abend verwandeln. Denn unsere Geschichte nimmt im sterbenden Licht des Tages ihren Anfang.
Die Vorhänge werden dunkel, die Lampen der Straßenlaternen tupfen Flecken auf den Stoff, lassen das Gelb gelber, die Kanten des Balkons schärfer erscheinen, viel schärfer als auf dem Umschlagbild.
Wie mit einem dicken,schwarzen Bleistift auf Zement gezeichnet.
Im Zimmer hinter dem Kind sitzt sein Vater.
Der Vater ist mittelgroß, mittelalt, mittelschwer mit einer durchschnittlichen Nase, durchschnittlichen Augen, alles an ihm ist durchschnittlich. Selbst seine Hautfarbe, mittelbraun. Wie Holz, das lange in Hitze und Nässe gelegen hat.
Er kommt gerade von der Arbeit,aus dem Städtischen Bauamt, wo es seine Aufgabe ist,am Empfangstresen zu sitzen und von den Menschen, die in dieser zerfallenden Stadt ein neues Gebäude errichten wollen, die Baupläne entgegenzunehmen.
Er heftet ihre Unterlagen ab, macht für jeden Bauplan, den man ihm aushändigt, einen Eintrag in das Hauptbuch und gibt ihn weiter an jene,die zu entscheiden haben,ob irgendwelche Vorschriften verletzt worden sind. Und wenn ja, wie hoch das Bußgeld sein soll.
Vater zieht die Schuhe aus.
Im Nebenzimmer deckt Mutter den Tisch fürs Abendessen. Sie hat das gleiche Haar wie ihre Tochter, glatt und dunkel.
Als Vater die Socken zusammenrollt und jede einzeln in einen Schuh steckt, kann er den Geruch der Stadt an seinen Füßen riechen. Er bückt sich, nimmt die Schuhe hoch und trägt sie in die Zimmerecke, wo alle Schuhe und Sandalen ordentlich aufgereiht sind.
Aus dem Nebenzimmer hört er, wie Geschirr auf den Tisch gestellt, Wasser in Gläser geschenkt wird, Tischdeckgeräusche. Er geht aus dem Zimmer, um sich zu waschen - auch an seinen Händen nimmt er den Geruch der Stadt wahr.
Im Badezimmer kommt kein Wasser aus dem Hahn, mit einem Krug muss er Wasser aus dem Eimer schöpfen,um sich damit die Hände zu waschen,die Füße und den Mund; das Plätschern hallt wider von den roten Zementwänden und der weißen Kloschüssel,
beide fleckig und voller Risse.
Er betrachtet sein nasses Gesicht im Spiegel, dreht sich um, macht das Licht aus, geht zum Esstisch. Und während dieser zehn, elf Schritte vom Badezimmer bis zum Esstisch meint der Vater, ein Kind weinen zu hören, und er schließt einmal kurz die Augen - kaum länger als ein Blinzeln.
So sieht es zumindest von hier oben aus.
ERSTER TEIL
Vor dem Fall
Vor langer, langer Zeit in der großen Stadt
Vor langer, langer Zeit lebten in der großen Stadt eine Frau mit Namen Rima und ein Mann, der Amir hieß; die brachte eines späten Abends ein Unfall zusammen, von Angesicht zu Angesicht; sie las ihm Glassplitter aus der Haut; sie verliebten sich, und als es schon so aussah, als wollten sie bis an ihr Lebensende miteinander glücklich sein, geschah eines Nachts etwas Sonderbares: Rima wachte auf und hörte ein Kind weinen.
Sie konnte nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, denn es war ein Wimmern, an- und abschwellend, hier und da von einem Schluckauf unterbrochen, der aus einem sehr kleinen Brustkorb stammen musste. Sie stieg aus dem Bett, das Kissen rutschte auf den Boden, mit einem so leisen Plumps, dass es Amir nicht
weckte; sie teilte die Vorhänge, um hinauszuschauen, hin und her, nach links und nach rechts, aber es war nirgends etwas zu sehen. Außer der schwarzen Nacht natürlich, der schwarzen Straße. Und einem Hund.
Braun. Sie konnte zwei weiße Stellen an seinem Hals erkennen,wo etwas am Fell gefressen hatte. Der Schwanz war kaum länger als ein Stummel. Vielleicht war er unter einem wartenden Taxi eingeschlafen, hinter den Hinterrädern, und der Fahrer hatte ihn beim Zurücksetzen nicht gesehen und ihm ein Stück Schwanz abgefahren.
Solche Unfälle passieren Tag für Tag hier in der Stadt.
Rima sah den Hund das schwarze Wasser aus der Gosse schlabbern, an allem schnüffeln, was vorübertrieb, sich setzen,sich kratzen. So spät war kein Verkehr mehr, also rollte der Hund sich einfach mitten auf der Straße zusammen, die
Schnauze zwischen die Pfoten gelegt. Er hatte eben die Augen geschlossen, als das Kind zu weinen aufhörte.
Rima ging wieder zu Bett; Amir schlief tief und fest.
Am nächsten Morgen, als sie erwachte, hatte sie das Weinen vergessen. Nur ein- oder zweimal am Nachmittag, als ihr etwas Kleines, Unerhebliches aus der Hand fiel, eine Haarnadel oder ein Gummiband, und sie sich danach bückte, war es wieder zu hören. Und dann fiel ihr etwas auf:
Das Weinen kehrte zurück, wenn Amir im Zimmer war, doch sobald er sich von ihr entfernte, schien es abzuklingen, mit jedem seiner Schritte immer leiser zu werden.
Und wenn er das Zimmer verließ, wurde es zu einer fernen Melodie, hergetragen auf einem Wind, der fast nicht zu spüren war, so sacht wehte er. Der Klang war so flüchtig, dass sie sich seiner kaum innewurde, weder mit dem Verstand noch mit dem Gefühl.
Aber als sie in der Nacht neben Amir im Bett lag, wiederholte sich die ganze Kette von Ereignissen. Das Weinen fing an, sie ging zum Fenster, um nachzuschauen. Auch diesmal war da nichts, außer dem Weinen und dem Hund,
demselben Hund, nur dass er diesmal einer imaginären Beute nachjagte, stehen blieb, umkehrte, wieder loslief, bis er sich endlich hinlegte und einschlief.
In dem Moment hörte das Weinen auch diesmal auf, und sie ging wieder ins Bett.
Vom zweiten Morgen an jedoch blieb Amir ganz zu Hause, und jetzt gab es vor dem Weinen kein Entrinnen mehr. Sie hörte es schon beim Erwachen, als sei das Kind
ihr in der Nacht, nachdem sie wieder eingeschlafen war, ins Ohr gekrochen, tief hinein, um sich dort einzurollen wie ein störrischer Fötus: ausgewachsen, aber nicht bereit, den Platz zu räumen, klammerte es sich fest, krallte sich an
ihren Nerven, ihren Knochen fest, kratzte ihr mit den Fingern übers Trommelfell und übertönte alle anderen Geräusche im Haus.
Es liegt nur an mir, sagte sich Rima, nicht daran, dass Amir hier ist. Wie wenn man Wasser ins Ohr bekommen hat, unter der Dusche oder im Regen, nicht mehr, nicht weniger. Also, was muss ich tun? Kräftig mit dem Kopf wackeln, auf einem Bein hüpfen, den Kopf auf die Seite gelegt, auch wenn es noch so komisch aussieht?
Aber es half nichts.
Vergiss es, sagte sie sich, du gewöhnst dich schon daran, eher früher als später löst das Weinen sich in andere Geräusche auf: Amir, der sein Glas mit Wasser füllt, der Fernseher in der oberen Wohnung, der Junge, der im Hof unten mit
seinem Kindermädchen Kricket spielt.
Auch das half nichts.
Sechs Tage lang hörte sie es in ihrem Kopf. Sechs Nächte lang erwachte sie aus dem Schlaf und hörte das Weinen von der Straße. Am siebten Morgen dachte sie: Ich muss Amir davon erzählen, was er dazu sagt.
Er sagte nicht viel. Gib mir Bescheid, wenn du es hörst, sagte er. Weck mich auf, dann lauschen wir zusammen.
Also weckte sie ihn in der nächsten Nacht, noch bevor das Weinen angefangen hatte, und sie stellten sich zusammen ans Fenster, Amir und Rima, seine Hand auf ihrer rechten Schulter. Er konnte die Gänsehaut an ihrem Hals sehen und spüren, roch das Shampoo in ihrem Haar unter seinem Kinn. Das Haar fiel ihr in einer glatten Welle auf die Schultern, aber ein, zwei Strähnen hatten sich im Schlaf daraus gelöst. Das lenkte ihn ab, weil sie ihn am Kinn kitzelten, er nahm den Kopf um eine Winzigkeit zurück, blies ihr sanft ins Haar.
Sie spürte nichts davon, und jetzt konnten sie ungestört hinausschauen und warten.
Ein Linienbus der städtischen Verkehrsbetriebe fuhr vorüber, rot, die Farbe ein Fließen, an seinen Seiten die Leuchtschrift: "Aufspringen verboten". Dann rumpelte ein Lastwagen vorbei, ein ausländischer Lastzug, lang wie ein
Häuserblock, beladen mit nagelneuen, in Holzkisten verpackten koreanischen Autos,zwei Reihen von je fast einem Dutzend. Ein stählerner Koloss, der in die Nacht grinste, die Autos die Zähne, die Holzkisten die Zahnklammern.
Zwei Männer gingen vorbei, miteinander redend, einer hustete, der andere lachte, der Hustende war betrunken, seine Füße wollten in eine andere Richtung als er, der Lachende brachte ihn immer wieder auf Kurs, bis sie beide um die Ecke bogen. Und dann fing das Weinen an.
Hör genau hin, flüsterte Rima mit einem Schaudern.
Genau wie gestern,dasselbe An- und Abschwellen, dasselbe Atmen. Als hätte es jemand auf eins von diesen hochsensiblen Tonbändern aufgenommen,wie die Radiosender sie benutzen, und säße jetzt damit irgendwo im Dunkeln und spielte es ab. Um mir Angst zu machen.
Denk dir nichts, sagte Amir. In dieser Stadt gibt es für Kinder tausendundeinen Grund zu weinen. Komm, lass uns wieder schlafen gehen, lass uns morgen darüber reden.
Nein, sagte Rima, ich muss wissen, was das für ein Kind ist, warum es weint, ich will nicht jede Nacht davon aufwachen, ich will es nicht den ganzen Tag im Ohr haben müssen.
Was sie nicht sagte, was er nicht wissen sollte: Sie wollte herausfinden, ob das Weinen aufhörte, wenn sie Amir verließ.
Und, fragte er, was willst du tun?
Ich will unten auf der Straße nachsehen, einfach ein paar
Schritte rauf und runter, dann komme ich wieder. Das Kind kann ja nicht weit sein.
Soll ich mitkommen?, fragte Amir.
Nein, nicht nötig, sagte sie. In ein paar Minuten bin ich wieder da.
Gut. Nimm den Schirm mit, es hat den ganzen Tag geregnet. Und sei vorsichtig, sagte er.
Mach ich, sagte sie.
Er hörte sie nach nebenan gehen, den eisernen Kleiderschrank öffnen, hörte die Aluminiumbügel gegeneinander klirren, ihre Kleider rascheln, als sie sich eins aussuchte.
Er hörte die Schranktür wieder zuklappen, das Schloss einschnappen; er hörte, wie sie sich noch einmal das Gesicht eincremte, wie sie die Plastikflasche auf die Frisierkommode zurückstellte, wie die Wohnungstür sich öffnete und ins Schloss fiel, das Klappern ihrer Schuhe, als sie die zwei Treppen zur Straße hinabstieg. All dies, während er im Bett wartete, bei noch immer geöffnetem Fenster, und an Dinge dachte,die nichts mit dem zu tun hatten,was um ihn
herum geschah.
Zum Beispiel daran, wie Rima aussah, wenn sie sich bückte, den Kühlschrank öffnete, um eine Flasche Wasser herauszunehmen; wie das grüne Licht auf ihr Gesicht und ihren Hals fiel.
Oder daran, wie ihre Hände manchmal ganz von allein zum Gesicht hinaufwanderten, um das Haar hinter das rechte Ohr zu klemmen. An das Waffelmuster auf ihrer
Wange, wenn sie im Korbsessel eingeschlafen war, das Gesicht an die Rückenlehne gedrückt.
Über solchen Gedanken glitt Amir langsam zurück in den Schlaf,nicht ahnend,dass im Handumdrehen alles vorbei sein würde,dass die Stadt,dieser Teil der Welt,sich vom Mond abkehren würde, der Sonne zu. Nicht ahnend, dass Rima gegangen war, um nie mehr zurückzukehren.
Dass sie ihn zurückgelassen hatte, allein, nur das Weinen eines Kindes zur Gesellschaft.
Das ist die Kurzform der Geschichte.
Aber sie muss in voller Länge erzählt werden, und sei es nur, damit klar wird, warum von allen Männern, Frauen und Kindern dieser Stadt, sechzehn Millionen nach der letzten Zählung, sich ausgerechnet Amir und Rima, diese zwei mit ihren sich spiegelnden Namen, bei einem Unfall begegnen mussten, von Angesicht zu Angesicht in einem Regen von Glassplittern.
Und so müssen wir, während die Geschichte ihren Lauf nimmt, die Einzelheiten vom Wegrand aufsammeln. Oft das Naheliegende, manchmal schwer Begreifliches. Der Stromausfall im Stadtviertel zum Beispiel, und Amirs Petroleumlampe. Seine Arbeit im Postamt, oder die Flecken in seiner gesprungenen Kloschüssel. Die Säure, die ihm bei dem Versuch, diese Flecken zu entfernen, eines Tages auf die Hand gespritzt ist, wodurch sich ein Stückchen Haut abgeschält hat und auf zwei Fingern dauerhafte weißliche Verfärbungen zurückgeblieben sind.
Was hat das alles mit Rima zu tun? Oder mit dem Tag, dem Abend, der Nacht des schicksalhaften Unfalls? Um das zu erfahren, sollten wir mit einer Zeit beginnen, bevor Rima und Amir sich kannten.
Lange bevor sie sich kannten
Lange bevor Rima und Amir sich kannten, wurde in dieser Stadt ein Gebäude errichtet, das man Paradise Park nannte. Es war ein besonderes Gebäude, so besonders, dass man nur irgendjemanden - ob Mann, Frau oder Kind, hungrig oder wohlgenährt, in Lumpen oder gut gekleidet - auf der Straße anhalten und fragen musste: Verzeihung, wo geht's zum Paradise Park?, und dieser Jemand veränderte
sich auf der Stelle, wie durch einen Zauber. Neigte etwa den Kopf, senkte respektvoll den Blick, beäugte einen von oben bis unten. Tat kleine Dinge, dass man sich besonders vorkam, vielleicht sogar verlegen wurde.
Wenn zum Beispiel heller Tag war und die Sonne hoch und heiß am Himmel stand,im Mai oder im Juni, dann trat er womöglich ein paar Schritte vor oder zurück,um einem etwas von seinem Schatten abzugeben. Damit man vor der Hitze geschützt war.Wenn es dagegen regnete, im Juli oder August, und dieser Jemand hatte einen Schirm dabei, einen großen, schwarzen, und man selber keinen, dann neigte er ihn ein Stück herüber, damit man nicht nass wurde.
noch nicht vermischt mit dem Staub, den schlurfende Füße auf der
Straße unten aufwirbeln. Manchmal bin ich von meinem Vogel abgestiegen, um herumzugehen oder an einer Stelle stehen zu bleiben, wo ich einen besseren Blick auf ihre Eltern hatte. Manchmal auch nur,damit der arme Vogel sich ausruhen kann.
Jetzt setze ich zur Landung an, denn ich will dem Kind etwas zeigen, ihm etwas vorlesen: Bilder, die ich aufgenommen, Notizen, die ich mir gemacht habe.
Was nach meiner Landung geschieht, was wir tun werden, das Kind und ich, davon später - viel später, um genau zu sein, ganz zum Schluss,wenn das Kind zu Wort kommt.
Bis dahin wollen wir den blauen und weißen Morgen erst einmal in einen tiefroten Abend verwandeln. Denn unsere Geschichte nimmt im sterbenden Licht des Tages ihren Anfang.
Die Vorhänge werden dunkel, die Lampen der Straßenlaternen tupfen Flecken auf den Stoff, lassen das Gelb gelber, die Kanten des Balkons schärfer erscheinen, viel schärfer als auf dem Umschlagbild.
Wie mit einem dicken,schwarzen Bleistift auf Zement gezeichnet.
Im Zimmer hinter dem Kind sitzt sein Vater.
Der Vater ist mittelgroß, mittelalt, mittelschwer mit einer durchschnittlichen Nase, durchschnittlichen Augen, alles an ihm ist durchschnittlich. Selbst seine Hautfarbe, mittelbraun. Wie Holz, das lange in Hitze und Nässe gelegen hat.
Er kommt gerade von der Arbeit,aus dem Städtischen Bauamt, wo es seine Aufgabe ist,am Empfangstresen zu sitzen und von den Menschen, die in dieser zerfallenden Stadt ein neues Gebäude errichten wollen, die Baupläne entgegenzunehmen.
Er heftet ihre Unterlagen ab, macht für jeden Bauplan, den man ihm aushändigt, einen Eintrag in das Hauptbuch und gibt ihn weiter an jene,die zu entscheiden haben,ob irgendwelche Vorschriften verletzt worden sind. Und wenn ja, wie hoch das Bußgeld sein soll.
Vater zieht die Schuhe aus.
Im Nebenzimmer deckt Mutter den Tisch fürs Abendessen. Sie hat das gleiche Haar wie ihre Tochter, glatt und dunkel.
Als Vater die Socken zusammenrollt und jede einzeln in einen Schuh steckt, kann er den Geruch der Stadt an seinen Füßen riechen. Er bückt sich, nimmt die Schuhe hoch und trägt sie in die Zimmerecke, wo alle Schuhe und Sandalen ordentlich aufgereiht sind.
Aus dem Nebenzimmer hört er, wie Geschirr auf den Tisch gestellt, Wasser in Gläser geschenkt wird, Tischdeckgeräusche. Er geht aus dem Zimmer, um sich zu waschen - auch an seinen Händen nimmt er den Geruch der Stadt wahr.
Im Badezimmer kommt kein Wasser aus dem Hahn, mit einem Krug muss er Wasser aus dem Eimer schöpfen,um sich damit die Hände zu waschen,die Füße und den Mund; das Plätschern hallt wider von den roten Zementwänden und der weißen Kloschüssel,
beide fleckig und voller Risse.
Er betrachtet sein nasses Gesicht im Spiegel, dreht sich um, macht das Licht aus, geht zum Esstisch. Und während dieser zehn, elf Schritte vom Badezimmer bis zum Esstisch meint der Vater, ein Kind weinen zu hören, und er schließt einmal kurz die Augen - kaum länger als ein Blinzeln.
So sieht es zumindest von hier oben aus.
ERSTER TEIL
Vor dem Fall
Vor langer, langer Zeit in der großen Stadt
Vor langer, langer Zeit lebten in der großen Stadt eine Frau mit Namen Rima und ein Mann, der Amir hieß; die brachte eines späten Abends ein Unfall zusammen, von Angesicht zu Angesicht; sie las ihm Glassplitter aus der Haut; sie verliebten sich, und als es schon so aussah, als wollten sie bis an ihr Lebensende miteinander glücklich sein, geschah eines Nachts etwas Sonderbares: Rima wachte auf und hörte ein Kind weinen.
Sie konnte nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, denn es war ein Wimmern, an- und abschwellend, hier und da von einem Schluckauf unterbrochen, der aus einem sehr kleinen Brustkorb stammen musste. Sie stieg aus dem Bett, das Kissen rutschte auf den Boden, mit einem so leisen Plumps, dass es Amir nicht
weckte; sie teilte die Vorhänge, um hinauszuschauen, hin und her, nach links und nach rechts, aber es war nirgends etwas zu sehen. Außer der schwarzen Nacht natürlich, der schwarzen Straße. Und einem Hund.
Braun. Sie konnte zwei weiße Stellen an seinem Hals erkennen,wo etwas am Fell gefressen hatte. Der Schwanz war kaum länger als ein Stummel. Vielleicht war er unter einem wartenden Taxi eingeschlafen, hinter den Hinterrädern, und der Fahrer hatte ihn beim Zurücksetzen nicht gesehen und ihm ein Stück Schwanz abgefahren.
Solche Unfälle passieren Tag für Tag hier in der Stadt.
Rima sah den Hund das schwarze Wasser aus der Gosse schlabbern, an allem schnüffeln, was vorübertrieb, sich setzen,sich kratzen. So spät war kein Verkehr mehr, also rollte der Hund sich einfach mitten auf der Straße zusammen, die
Schnauze zwischen die Pfoten gelegt. Er hatte eben die Augen geschlossen, als das Kind zu weinen aufhörte.
Rima ging wieder zu Bett; Amir schlief tief und fest.
Am nächsten Morgen, als sie erwachte, hatte sie das Weinen vergessen. Nur ein- oder zweimal am Nachmittag, als ihr etwas Kleines, Unerhebliches aus der Hand fiel, eine Haarnadel oder ein Gummiband, und sie sich danach bückte, war es wieder zu hören. Und dann fiel ihr etwas auf:
Das Weinen kehrte zurück, wenn Amir im Zimmer war, doch sobald er sich von ihr entfernte, schien es abzuklingen, mit jedem seiner Schritte immer leiser zu werden.
Und wenn er das Zimmer verließ, wurde es zu einer fernen Melodie, hergetragen auf einem Wind, der fast nicht zu spüren war, so sacht wehte er. Der Klang war so flüchtig, dass sie sich seiner kaum innewurde, weder mit dem Verstand noch mit dem Gefühl.
Aber als sie in der Nacht neben Amir im Bett lag, wiederholte sich die ganze Kette von Ereignissen. Das Weinen fing an, sie ging zum Fenster, um nachzuschauen. Auch diesmal war da nichts, außer dem Weinen und dem Hund,
demselben Hund, nur dass er diesmal einer imaginären Beute nachjagte, stehen blieb, umkehrte, wieder loslief, bis er sich endlich hinlegte und einschlief.
In dem Moment hörte das Weinen auch diesmal auf, und sie ging wieder ins Bett.
Vom zweiten Morgen an jedoch blieb Amir ganz zu Hause, und jetzt gab es vor dem Weinen kein Entrinnen mehr. Sie hörte es schon beim Erwachen, als sei das Kind
ihr in der Nacht, nachdem sie wieder eingeschlafen war, ins Ohr gekrochen, tief hinein, um sich dort einzurollen wie ein störrischer Fötus: ausgewachsen, aber nicht bereit, den Platz zu räumen, klammerte es sich fest, krallte sich an
ihren Nerven, ihren Knochen fest, kratzte ihr mit den Fingern übers Trommelfell und übertönte alle anderen Geräusche im Haus.
Es liegt nur an mir, sagte sich Rima, nicht daran, dass Amir hier ist. Wie wenn man Wasser ins Ohr bekommen hat, unter der Dusche oder im Regen, nicht mehr, nicht weniger. Also, was muss ich tun? Kräftig mit dem Kopf wackeln, auf einem Bein hüpfen, den Kopf auf die Seite gelegt, auch wenn es noch so komisch aussieht?
Aber es half nichts.
Vergiss es, sagte sie sich, du gewöhnst dich schon daran, eher früher als später löst das Weinen sich in andere Geräusche auf: Amir, der sein Glas mit Wasser füllt, der Fernseher in der oberen Wohnung, der Junge, der im Hof unten mit
seinem Kindermädchen Kricket spielt.
Auch das half nichts.
Sechs Tage lang hörte sie es in ihrem Kopf. Sechs Nächte lang erwachte sie aus dem Schlaf und hörte das Weinen von der Straße. Am siebten Morgen dachte sie: Ich muss Amir davon erzählen, was er dazu sagt.
Er sagte nicht viel. Gib mir Bescheid, wenn du es hörst, sagte er. Weck mich auf, dann lauschen wir zusammen.
Also weckte sie ihn in der nächsten Nacht, noch bevor das Weinen angefangen hatte, und sie stellten sich zusammen ans Fenster, Amir und Rima, seine Hand auf ihrer rechten Schulter. Er konnte die Gänsehaut an ihrem Hals sehen und spüren, roch das Shampoo in ihrem Haar unter seinem Kinn. Das Haar fiel ihr in einer glatten Welle auf die Schultern, aber ein, zwei Strähnen hatten sich im Schlaf daraus gelöst. Das lenkte ihn ab, weil sie ihn am Kinn kitzelten, er nahm den Kopf um eine Winzigkeit zurück, blies ihr sanft ins Haar.
Sie spürte nichts davon, und jetzt konnten sie ungestört hinausschauen und warten.
Ein Linienbus der städtischen Verkehrsbetriebe fuhr vorüber, rot, die Farbe ein Fließen, an seinen Seiten die Leuchtschrift: "Aufspringen verboten". Dann rumpelte ein Lastwagen vorbei, ein ausländischer Lastzug, lang wie ein
Häuserblock, beladen mit nagelneuen, in Holzkisten verpackten koreanischen Autos,zwei Reihen von je fast einem Dutzend. Ein stählerner Koloss, der in die Nacht grinste, die Autos die Zähne, die Holzkisten die Zahnklammern.
Zwei Männer gingen vorbei, miteinander redend, einer hustete, der andere lachte, der Hustende war betrunken, seine Füße wollten in eine andere Richtung als er, der Lachende brachte ihn immer wieder auf Kurs, bis sie beide um die Ecke bogen. Und dann fing das Weinen an.
Hör genau hin, flüsterte Rima mit einem Schaudern.
Genau wie gestern,dasselbe An- und Abschwellen, dasselbe Atmen. Als hätte es jemand auf eins von diesen hochsensiblen Tonbändern aufgenommen,wie die Radiosender sie benutzen, und säße jetzt damit irgendwo im Dunkeln und spielte es ab. Um mir Angst zu machen.
Denk dir nichts, sagte Amir. In dieser Stadt gibt es für Kinder tausendundeinen Grund zu weinen. Komm, lass uns wieder schlafen gehen, lass uns morgen darüber reden.
Nein, sagte Rima, ich muss wissen, was das für ein Kind ist, warum es weint, ich will nicht jede Nacht davon aufwachen, ich will es nicht den ganzen Tag im Ohr haben müssen.
Was sie nicht sagte, was er nicht wissen sollte: Sie wollte herausfinden, ob das Weinen aufhörte, wenn sie Amir verließ.
Und, fragte er, was willst du tun?
Ich will unten auf der Straße nachsehen, einfach ein paar
Schritte rauf und runter, dann komme ich wieder. Das Kind kann ja nicht weit sein.
Soll ich mitkommen?, fragte Amir.
Nein, nicht nötig, sagte sie. In ein paar Minuten bin ich wieder da.
Gut. Nimm den Schirm mit, es hat den ganzen Tag geregnet. Und sei vorsichtig, sagte er.
Mach ich, sagte sie.
Er hörte sie nach nebenan gehen, den eisernen Kleiderschrank öffnen, hörte die Aluminiumbügel gegeneinander klirren, ihre Kleider rascheln, als sie sich eins aussuchte.
Er hörte die Schranktür wieder zuklappen, das Schloss einschnappen; er hörte, wie sie sich noch einmal das Gesicht eincremte, wie sie die Plastikflasche auf die Frisierkommode zurückstellte, wie die Wohnungstür sich öffnete und ins Schloss fiel, das Klappern ihrer Schuhe, als sie die zwei Treppen zur Straße hinabstieg. All dies, während er im Bett wartete, bei noch immer geöffnetem Fenster, und an Dinge dachte,die nichts mit dem zu tun hatten,was um ihn
herum geschah.
Zum Beispiel daran, wie Rima aussah, wenn sie sich bückte, den Kühlschrank öffnete, um eine Flasche Wasser herauszunehmen; wie das grüne Licht auf ihr Gesicht und ihren Hals fiel.
Oder daran, wie ihre Hände manchmal ganz von allein zum Gesicht hinaufwanderten, um das Haar hinter das rechte Ohr zu klemmen. An das Waffelmuster auf ihrer
Wange, wenn sie im Korbsessel eingeschlafen war, das Gesicht an die Rückenlehne gedrückt.
Über solchen Gedanken glitt Amir langsam zurück in den Schlaf,nicht ahnend,dass im Handumdrehen alles vorbei sein würde,dass die Stadt,dieser Teil der Welt,sich vom Mond abkehren würde, der Sonne zu. Nicht ahnend, dass Rima gegangen war, um nie mehr zurückzukehren.
Dass sie ihn zurückgelassen hatte, allein, nur das Weinen eines Kindes zur Gesellschaft.
Das ist die Kurzform der Geschichte.
Aber sie muss in voller Länge erzählt werden, und sei es nur, damit klar wird, warum von allen Männern, Frauen und Kindern dieser Stadt, sechzehn Millionen nach der letzten Zählung, sich ausgerechnet Amir und Rima, diese zwei mit ihren sich spiegelnden Namen, bei einem Unfall begegnen mussten, von Angesicht zu Angesicht in einem Regen von Glassplittern.
Und so müssen wir, während die Geschichte ihren Lauf nimmt, die Einzelheiten vom Wegrand aufsammeln. Oft das Naheliegende, manchmal schwer Begreifliches. Der Stromausfall im Stadtviertel zum Beispiel, und Amirs Petroleumlampe. Seine Arbeit im Postamt, oder die Flecken in seiner gesprungenen Kloschüssel. Die Säure, die ihm bei dem Versuch, diese Flecken zu entfernen, eines Tages auf die Hand gespritzt ist, wodurch sich ein Stückchen Haut abgeschält hat und auf zwei Fingern dauerhafte weißliche Verfärbungen zurückgeblieben sind.
Was hat das alles mit Rima zu tun? Oder mit dem Tag, dem Abend, der Nacht des schicksalhaften Unfalls? Um das zu erfahren, sollten wir mit einer Zeit beginnen, bevor Rima und Amir sich kannten.
Lange bevor sie sich kannten
Lange bevor Rima und Amir sich kannten, wurde in dieser Stadt ein Gebäude errichtet, das man Paradise Park nannte. Es war ein besonderes Gebäude, so besonders, dass man nur irgendjemanden - ob Mann, Frau oder Kind, hungrig oder wohlgenährt, in Lumpen oder gut gekleidet - auf der Straße anhalten und fragen musste: Verzeihung, wo geht's zum Paradise Park?, und dieser Jemand veränderte
sich auf der Stelle, wie durch einen Zauber. Neigte etwa den Kopf, senkte respektvoll den Blick, beäugte einen von oben bis unten. Tat kleine Dinge, dass man sich besonders vorkam, vielleicht sogar verlegen wurde.
Wenn zum Beispiel heller Tag war und die Sonne hoch und heiß am Himmel stand,im Mai oder im Juni, dann trat er womöglich ein paar Schritte vor oder zurück,um einem etwas von seinem Schatten abzugeben. Damit man vor der Hitze geschützt war.Wenn es dagegen regnete, im Juli oder August, und dieser Jemand hatte einen Schirm dabei, einen großen, schwarzen, und man selber keinen, dann neigte er ihn ein Stück herüber, damit man nicht nass wurde.
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Autoren-Porträt von Raj K. Jha
Raj Kamal Jha wurde 1966 geboren und verbrachte die ersten achtzehn Lebensjahre in Kalkutta. Er studierte Journalismus an der University of Southern California und arbeitete für verschiedene Zeitungen in Los Angeles und Washington. 1992 kehrte er nach Kalkutta zurück und schrieb dort für "The Statesman". Seit 1994 lebt Raj Kamal Jha mit seiner Frau in New Delhi, wo er als Redakteur des "Indian Express" tätig ist. "Das blaue Tuch" ist sein erster, von der britischen Kritik gefeierter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Raj K. Jha
- 2005, 348 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Dtsch. v. Walter Ahlers
- Verlag: Arkana
- ISBN-10: 3442310156
- ISBN-13: 9783442310159
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